Morgendämmerung der Liebe

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Hat Jake mich wirklich geküsst - oder war es nur ein Traum? fragt Jessica sich verwirrt, als der Morgen dämmert. Eins weiß sie dagegen sicher: Die Gefühle für ihren heimlichen Traummann sind genauso sehnsüchtig wie früher! Aber das Glück mit ihm scheint unerreichbar: Denn Jake ist mit der schönen Amanda liiert, die eifersüchtig über ihn wacht. Doch was geschah dann gestern Nacht? Schwach kann Jessica sich noch erinnern, dass sie das Bewusstsein verlor, Jake sie in ihr Zimmer getragen und zärtlich zugedeckt hat. War all das nur ein wunderschöner Traum?


  • Erscheinungstag 03.11.2008
  • Bandnummer 1843
  • ISBN / Artikelnummer 9783863493004
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Jessica atmete tief durch, ehe sie das Haus ihrer Cousine betrat. Es kostete sie jedes Mal unendlich viel Kraft, einem Mitglied ihrer Familie gegenüberzutreten. Zu schmerzlich waren die Erinnerungen, die sie in diesen Momenten immer wieder einholten.

„Es ist so schön, dich hier zu haben, Jessica. Wir freuen uns wirklich, dass du kommen konntest.“ Beth umarmte sie herzlich. „Es ist so lange her, dass wir uns gesehen haben. Du siehst abgespannt aus. Onkel Mark erwähnte schon, wie hart du arbeitest.“

„So furchtbar viel arbeite ich nicht. Mark übertreibt doch immer, das weißt du“, entgegnete Jessica warmherzig. Nie würde sie ein böses Wort über ihren Stiefvater sagen, sie liebte Mark wie einen eigenen Vater.

Die Einladung, das Wochenende bei ihrer Cousine und deren Mann in Bristol zu verbringen, hatte gerade noch in ihren übervollen Terminkalender gepasst. Und jetzt war sie hier … Sie unterdrückte das mulmige Gefühl, das seit ihrer Ankunft stetig in ihr gewachsen war.

„Erzähle mir von meiner Patentochter“, bat Jessica. „Es ist schließlich fast sechs Monate her, seit ich Sarah zuletzt gesehen habe.“

„Und wessen Schuld ist das?“, konterte Beth vorwurfsvoll. „Wir sind zu Weihnachten nach Queensmeade gefahren. Warum bist du nicht gekommen? Deine Mutter war bitterlich enttäuscht.“

In Jessicas Augen trat der Ausdruck von Schuldbewusstsein und vertrieb für einen Moment die Verschlossenheit aus ihrem Blick. „Das Geschäft“, führte sie als Begründung an. „Ich hatte gehofft, ich würde es schaffen, Weihnachten mit der Familie zu feiern. Aber ich bekam einen Auftrag in New York, den ich unmöglich absagen konnte.“

Ihre eigene Stimme zu hören, so kühl und distanziert, hätte sie fast auflachen lassen. Sie entwarf hier absichtlich ein völlig falsches Bild von sich. Aber das machte sie schon so lange, dass es ein Teil von ihr geworden war.

Jeder in ihrer Familie sah in ihr die erfolgreiche und nüchterne Geschäftsfrau, ein Eindruck, den sie sich hart erarbeitet hatte. Mit einem Blick auf die langen lackierten Nägel seufzte sie still. Früher war sie eine Range gewesen, wild und keck, die frei über das große Anwesen von Queensmeade tobte. Doch das war inzwischen mehr als zehn Jahre her, und zwischen dem unbeschwerten Kind von damals und der Frau, die sie heute war, lag eine Kluft, die keine Brücke jemals überwinden würde.

Genau so wollte sie es auch haben.

„Morgen kannst du dich wieder mit meiner Tochter anfreunden.“ Beth ließ sich nicht ablenken. „Erzähl mir lieber von dir. Onkel Mark ist schrecklich stolz auf dich. Sogar noch mehr als auf Jake, glaube ich fast. Ich hab übrigens den Artikel in ‚Homes and Gardens‘ letzte Woche gelesen. Die Räume, die du eingerichtet hast … die Fotos sind einfach fantastisch!“

Ja, dieser Auftrag war ihr wirklich gut gelungen. Und er hatte ihr zudem viele zusätzliche Aufträge als Innenarchitektin eingebracht. Jessica bereute es nicht, dass sie sich auf antike Lacktechniken und traditionelle Aspekte der Inneneinrichtung spezialisiert hatte. Sie hatte einen hervorragenden Ruf in der Branche, wenn es um Marmorverkleidungen, Mosaike, Stuck und Strukturputz ging.

„Wenn du schon hier bist, werde ich die Gelegenheit nutzen und dich mit Fragen bombardieren“, gab Beth offen zu. „Als wir hier einzogen, hatten wir alle möglichen Pläne. Doch Richard ist so beschäftigt, dass wir noch nicht einmal dazu gekommen sind, eine neue Tapete auszusuchen.“

Richard, Beths grundsolider Mann, hatte vor einiger Zeit beschlossen, seinen festen Job aufzugeben und sich selbstständig zu machen. Da Jessica diese Phase selbst durchgemacht hatte, konnte sie sich bestens vorstellen, dass die Einrichtung des kürzlich gekauften Hauses für ihn im Moment zu den unwichtigsten Dingen zählte.

„Wir gehen morgen zusammen von Raum zu Raum“, versprach Jessica und erntete dafür ein erfreutes Lächeln von ihrer jüngeren Cousine.

„Manchmal beneide ich dich richtig.“ Beth seufzte leise. „Du siehst immer so gepflegt und elegant aus.“

Jessica zuckte die schmalen Schultern. „Das ist nur eine Fassade, die ich für mein Geschäft brauche. Aber im Grunde habe ich mich nicht geändert.“

Beth hob den Blick, um ihrer Cousine in die Augen zu sehen. Diese Augenfarbe, ein so dunkles Blau, dass es fast violett wirkte, hatte sie schon als Kind fasziniert. „Es ist lange her, seit du das letzte Mal auf Queensmeade warst, oder?“

Da sie den leichten Vorwurf aus Beths Worten heraushörte, achtete Jessica darauf, ihre Stimme völlig neutral zu halten. „Die Yorkshire Dales sind weit von London entfernt.“ Ein kleines Lächeln eroberte ihre Lippen bei der Erwähnung von Queensmeade, ihrem Elternhaus. Jessica war glücklich gewesen in dem Haus, das trotz seiner Größe immer gemütlich war. Hier hatte sie ihre Kindheit gemeinsam mit ihrer Mutter, deren zweitem Mann Mark und seinem Sohn Jake verbracht. Wie unbeschwert sie tatsächlich aufgewachsen war, wurde ihr jedes Mal bewusst, wenn sie sich die Erzählungen ihrer Freunde über zweite Ehen der Eltern anhörte.

Sicherlich hatte es auch damit zu tun, dass sie erst zwei Jahre alt gewesen war, als ihr Vater starb. Deshalb hatte sie Mark anstandslos akzeptiert. Sie war bereit gewesen, ihn wie einen Vater zu lieben, ebenso wie er sie nie hatte spüren lassen, dass sie nicht seine eigene Tochter war.

Jessica hob den Kopf und sah zu Beth. Sie sah etwas in den Augen der Cousine aufflackern, und plötzlich griff ein Gefühl der Angst nach ihrem Herzen. „Was ist los, Beth? Stimmt etwas nicht mit meiner Mutter? Mit Mark?“

Wann hatte sie eigentlich damit begonnen, ihren Stiefvater „Mark“ zu nennen statt des liebevollen „Dad“? Es mochte so aussehen, als benutze sie den Vornamen, um zwischen ihrem Stiefvater und ihrem leiblichen Vater zu unterscheiden. Aber das stimmte nicht. Sie hatte diese Angewohnheit von Jake übernommen – natürlich! –, ohne dass es ihr überhaupt bewusst gewesen war.

In jenen Tagen war Jake ihr Idol gewesen. Sie hatte es damals für eine unermessliche Ehre gehalten, dieses außergewöhnliche Wesen zum Stiefbruder zu haben. Ihre Lippen verzogen sich bei dem Gedanken. Unfassbar, wie einfältig sie früher gewesen war.

„Ich hätte es besser nicht erwähnt“, drang Beths Stimme verlegen in ihre Gedanken. „Mark geht es nicht gut. Er hat schon seit Längerem immer wieder Schmerzen in der Brust. Der Arzt sagt, es sei das Herz. Im Moment ist es nicht schlimm, aber Mark darf sich nicht mehr anstrengen. Stress und Sorgen sind Gift für ihn. Deine Mutter will ihn überreden, dass er sich zur Ruhe setzt und die Leitung der Firma an Jake übergibt.“

Jessica konnte nicht verheimlichen, wie sehr es sie schmerzte, diese Information von ihrer Cousine zu erfahren und nicht aus erster Hand. Aber daran war sie selbst schuld. Schließlich hatte sie ganz bewusst Abstand von Zuhause gehalten. Sie hatte sich eine Karriere aufgebaut, die sie so weit wie nur möglich von ihrem Elternhaus fortführte. Dennoch: Sie telefonierte regelmäßig mit ihren Eltern, doch ihre Mutter hatte Marks Krankheit nicht erwähnt.

„Deine Mutter wollte dich nicht damit belasten.“ Beth sah die Trauer in Jessicas Augen. „Sie weiß doch, wie nah du und Onkel Mark euch steht.“

„Sicher. Ich kann mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, wie es ihr gelingen soll, ihn in seinem Tatendrang zu zügeln.“

Beths Miene hellte sich auf. „Genau das hat Jake auch gesagt. Schon komisch, dass ihr beide in bestimmten Situationen immer ähnlich reagiert. Dabei könnt ihr euch selbst über Kleinigkeiten nicht einigen, wenn man euch zusammen in einen Raum steckt. Ich erinnere mich noch, auf unserer Hochzeit … Es sah aus, als würdet ihr euch jeden Moment an die Gurgel gehen.“

Jessica überprüfte millimetergenau den Lack auf ihren Fingernägeln. „Ich weiß. So war es immer bei uns.“

„Nein, war es nicht.“

Bei der Herausforderung in Beths Stimme setzte Jessicas Herz einen Schlag lang aus.

„Warum kommt ihr beide eigentlich nicht mehr miteinander zurecht?“, hakte Beth nach. „Deine Mutter und Mark sind traurig darüber, es setzt ihnen zu. Sie lieben euch beide sehr. Bei Familienfesten fällt es inzwischen jedem auf – entweder du bist da oder Jake, aber nie kommt ihr beide. Als hättet ihr euch abgesprochen.“

„Nun, das haben wir nicht“, erwiderte Jessica harsch und bereute ihren Ton, als sie Beths verletzte Miene sah. „Entschuldige, ich bin ein wenig gereizt. Ich hasse es, über den Atlantik zu fliegen. Und über die Zeitverschiebung bin ich wohl auch noch nicht hinweg.“

Zeitverschiebung? Verlegenheit und Demütigung trafen es wohl eher, doch diese Gefühle gehörten zu einer Jessica, die nicht mehr existierte und die es auch nie wieder geben würde. Die Jessica von heute war kühl und überlegen, ließ sich nicht zu sentimentalen Gefühlen hinreißen.

Beth schaute auf Jessicas seidig glänzendes dunkelrotes Haar, als die Cousine den Kopf beugte. Dann änderte sie taktvoll das Thema. „Wie schaffst du es nur, deine Nägel so perfekt zu lackieren?“

„Das ist nicht schwierig. Alles, was du dazu brauchst, sind ein gutes Auge und eine ruhige Hand.“ Jessica sah auf und grinste. „Außerdem … wer wird mich schon als Dekorateurin anheuern, wenn ich nicht einmal meine Nägel richtig anmalen kann?“

„Ich schaffe es nicht einmal, meine Nägel so lang wachsen zu lassen.“ Beth seufzte. Jessica war mit jedem nur denkbaren weiblichen Attribut ausgestattet. Obwohl sie gern verkündete, sie glaube weder an die Liebe, noch habe sie die Absicht zu heiraten, war sich Beth sicher, dass ihre Cousine unzählige Verehrer hatte.

Vielleicht konnte man Jessica nicht im üblichen Sinne hübsch nennen, doch sie besaß etwas, das attraktiver war als augenscheinliche Schönheit. Wer sie ansah, meinte, in einen Bergsee mit kristallklarem Wasser zu schauen, so tief und so rein, dass man automatisch den Atem anhielt. Jessica strahlte Ruhe und innere Gelassenheit aus. Doch sie war nicht immer so gewesen. Beth erinnerte sich noch gut an das kleine Mädchen, das auf Bäume kletterte, Wettrennen gewann und ständig mit blauen Flecken übersät war. In jenen Tagen hatten die violetten Augen immer übermütig gefunkelt, ihr Mund hatte selten stillgestanden, und sie war ständig in Bewegung gewesen.

Mit zehn war Beth grenzenlos eifersüchtig auf die vier Jahre ältere Cousine und deren Nähe zu ihrem Stiefbruder gewesen. Obwohl Jake bereits zur Universität ging, verbrachte er einen großen Teil seiner freien Zeit mit seiner jüngeren Stiefschwester. Als Einzelkind hatte sie die beiden immer um ihre Nähe zueinander beneidet, doch dann war irgendetwas geschehen … Wenn sie jetzt Jessica gegenüber Jakes Namen erwähnte, spürte sie genau, wie Jessica sich gereizt verschloss. Und jedes Mal, wenn sie im Beisein von Jake über Jessica sprach, verzog er nur spöttisch den Mund, und seine Augen blickten kalt wie Eis.

„Ich habe noch nichts für das Wochenende geplant“, hob Beth jetzt an. „Ich dachte mir, du würdest heute vielleicht einen ruhigen Abend vorziehen, und für morgen laden wir ein paar Freunde zum Dinner ein. Ich möchte doch so gern mit meiner erfolgreichen Cousine angeben. Und mit Jake, natürlich“, fügte sie zerstreut hinzu. „Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass seine jetzige Freundin hier ganz in der Nähe wohnt? Amanda ist ein nettes Mädchen, aber ein bisschen jung für Jake. Sehr hübsch und sehr ehrgeizig.“

Jessica war nur froh, dass sie Beth in diesem Moment nicht ansehen musste. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Jake wollte hierherkommen? Ihr erster Gedanke war der an Flucht, doch sie konnte unmöglich von hier verschwinden, das wusste sie. Wenn sie jetzt abfuhr, würde Beth es erraten. Es war eine Sache, dass die Familie dachte, Jake und sie könnten sich nicht ausstehen, aber niemand sollte erfahren, wie verletzt sie wirklich war.

„Jessica, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist plötzlich schrecklich blass.“

„Ein Rotschopf muss blass ein.“ Jessica versteckte sich hinter einer überheblichen Miene. „Wenn es Mark nicht gut geht, wundert es mich, dass Jake sich freimachen kann.“

„Oh, zum Teil hat sein Besuch wohl geschäftliche Gründe. Onkel Marks Firma ‚Brierton Plastics‘ und das Unternehmen von Amandas Vater fusionieren. Es ist kein Geheimnis: Ihre Eltern hoffen darauf, dass Amanda und Jake heiraten. Ich persönlich halte das für eher unwahrscheinlich. Amanda ist erst neunzehn. Sicher, sie ist nett, aber nicht die Frau, die Jake für ein gemeinsames Leben wählen würde.“ Beth krauste die Nase. „Obwohl Onkel Mark ihn bestimmt gern verheiratet sähe. Er und deine Mutter beschweren sich immer, dass du ihnen wohl so bald keine Enkelkinder schenken wirst.“

„Stimmt, das ist eher unwahrscheinlich.“ Jessica betete darum, dass Beth nicht hinter ihre kühle Fassade sehen konnte. Jake … verheiratet! Die Vorstellung zerriss sie, ließ die Schutzmauer, die sie in sechs Jahren aufgebaut hatte, in Bruchteilen von Sekunden zu einer Ruine verfallen. Dabei hatte sie doch immer gewusst, dass Jake heiraten wollte, schon vor sechs Jahren. Er wünschte sich einen Sohn, der die Firma weiterführen sollte, so wie auch er sie von seinem Vater übernehmen würde. Jake war ehrgeizig und entschlossen. Und grausam. Aber darüber war sie hinweg. Den Jake, den sie einst geliebt hatte, gab es nicht wirklich. Es war nur eine Maske gewesen, hinter der sich der echte Jake versteckt hatte.

Glücklicherweise hatte sie die Wahrheit entdeckt, ehe es zu spät gewesen war. Bevor sie in einer Ehe gefangen gewesen wäre, die nur aus Habgier und Ehrgeiz zustande gekommen wäre.

Nun, sie war nicht mehr so naiv wie mit achtzehn, sie hatte genug von der Welt gesehen, um zu wissen, dass Jake nicht der Einzige war, der aus reiner Profitgier eine Ehe eingehen würde. Aber dass er grausam genug gewesen war, sie glauben zu lassen …

„Das Telefon klingelt! Bleib du nur hier und ruh dich noch aus. Ich bringe dir gleich eine Tasse Tee.“

Allein in dem freundlichen Gästezimmer mit Blick auf den Garten ging Jessica zum Fenster und starrte mit leerem Blick hinaus. Wusste Jakes Freundin, diese Amanda, wie er wirklich war? Oder täuschte er das Mädchen ebenso, wie er sie damals getäuscht hatte – mit dem wunderbar trägen Lächeln, mit den kühlen grünen Augen, die plötzlich feurig blitzen konnten, mit diesem Mund, der …

Jessica schloss die Augen. Sie war darüber hinweg! Sie war ein anderer Mensch, nicht mehr das naive junge Mädchen. Jake hatte keine Macht mehr über sie.

Und warum hämmerte ihr Herz dann wie wild? Wieso erinnerte sie sich dann noch immer an das Gefühl seiner Lippen auf ihrem Mund?

Der einzige Strohhalm, an den sie sich klammern konnte, war die Tatsache, dass niemand es gewusst hatte. Keiner hatte auch nur geahnt, dass sie und Jake ein Paar gewesen waren. Dass er ihr Worte der Liebe zugeflüstert hatte, sie heiraten wollte. Dann hatte seine Geliebte, Wanda, sie aufgeklärt: Jake wollte Jessica nur heiraten, weil er wusste, dass sein Vater ihnen die Firma zu gleichen Teilen überlassen würde. Zuerst konnte Jessica Wandas Anschuldigungen nicht glauben. Sie vermutete, die Konkurrentin mache Jake schlecht, weil sie eifersüchtig sei. Doch als Jessica ihn besuchen und ein klärendes Gespräch mit ihm führen wollte, hatte sie Jake und Wanda in enger Umarmung vorgefunden.

Jake hatte sie gesehen, wie sie in der Tür stand, und ihr hinterhergerufen. Aber Jessica hatte sich auf dem Absatz umgedreht und war zu ihrem Wagen gerannt. Wie der Teufel war sie von York Richtung Queensmeade zurückgefahren. Mark und ihre Mutter waren damals in Urlaub gewesen, auf den Bermudas. Deshalb hatten Jake und sie noch nichts von ihren Hochzeitsplänen verraten – sie wollten warten, bis die Eltern wieder zurück waren, und sie damit überraschen.

Auf dem Weg nach Hause wurde ihr klar, dass Jake ihr nachfahren würde. Also wendete sie den Wagen und fuhr Richtung Süden. Damals arbeitete sie gelegentlich in einem kleinen Dekorationsgeschäft. Der Job brachte nicht viel ein, doch Mark zahlte ihr regelmäßig eine kleine Summe, und sie hatte genug Geld auf ihrem Konto, um sich für ein paar Tage in einer kleinen Pension einzuquartieren und sich zu überlegen, was sie nun mit ihrem Leben anfangen wollte.

Ein kurzer Kündigungsbrief ging an ihren Arbeitgeber, mit der Erklärung, dass sie lieber in London arbeiten wolle. Ein zweiter, ausführlicher Brief war für ihre Eltern gedacht. Doch auch in diesem beschrieb sie lediglich ihre Pläne für die Zukunft. Und einen dritten, in dem sie die Beziehung zu ihm beendete, adressierte sie an Jake. Sie sei noch nicht bereit für Ehe und Kinder, sie wolle nicht auf ihre Freiheit und ihre Karriere verzichten. Wanda erwähnte sie mit keinem Wort. Ihr Stolz war zu sehr verletzt.

Als ihre Mutter und Mark drei Wochen später aus dem Urlaub zurückkehrten, hatte sie ihr Leben bereits verändert. Sie hatte sich für mehrere Kurse eingetragen, die den Grundstock zu ihrem Erfolg bilden sollten, und war in eine Wohngemeinschaft mit zwei anderen jungen Frauen gezogen. Auch äußerlich spürte jeder ihre Wandlung: Sie hatte sich das Haar bis auf Schulterlänge abschneiden lassen und ihre gesamte Garderobe ausgetauscht. Nichts erinnerte mehr an den übermütigen Teenager. Innerhalb von drei kurzen Wochen hatte sie das Bild von der kühlen Geschäftsfrau, die sie werden wollte, perfektioniert.

Natürlich waren ihre Eltern schockiert, vor allem Mark. Er wollte sie näher zu Hause wissen. Er wandte ein, sie brauche doch nicht ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Und wenn Jessica auch in den ersten Monaten oft am liebsten nach Hause zurückgekehrt wäre, so hielt sie der Gedanke, dann unweigerlich Jake über den Weg zu laufen, immer wieder davon zurück. An dem Abend, als sie aus seiner Wohnung geflohen war, hatte sie sich geschworen, dass sie nichts fühlen würde, wenn sie ihm begegnete. Nie wieder.

Die folgenden sechs Jahre waren hektisch und anstrengend gewesen. Im College hatte sie sich mit Ralph Howard angefreundet. Er war inzwischen ihr Geschäftspartner. Sie verstanden sich so gut, dass viele dachten, die beiden seien ein Paar. Doch tatsächlich war Ralph für sie der Bruder, den sie nie gehabt hatte. Die Beziehung zu ihm war viel freundschaftlicher als die Bewunderung, die sie früher für Jake empfunden hatte.

Die harte Arbeit hatte sich ausgezahlt: Ralph und sie waren mittlerweile äußerst erfolgreich und gern gesehene Gäste auf allen möglichen Veranstaltungen. Sie gaben ein schönes Paar ab, das war Jessica bewusst. Ralph war groß und blond, mit der Figur eines Basketballspielers. Und Jessica erachtete es nie als notwendig, den Irrtum klarzustellen, Ralph und sie seien ein Liebespaar. So hielt sie unerwünschte Verehrer ohne großen Aufwand auf Abstand.

Ralph selbst zeigte gelegentlich Neugier, was ihr Liebesleben – oder den Mangel daran – anbelangte, aber er respektierte ihre Privatsphäre. Über ihre Vergangenheit wusste er nichts, Jake hatte sie ihm gegenüber nie erwähnt. Beth und Richard hatten Ralph kennengelernt, als er Jessica zu Sarahs Taufe begleitet hatte. Auch Jake war als Pate dort gewesen. Doch außer jenem einen Moment, in dem er das Baby am Taufbecken gehalten und dann an Jessica als Patin übergeben hatte, hatte Jessica sich strikt von ihm ferngehalten.

In der Erinnerung daran zuckte ein müdes Lächeln um ihre Lippen. Wie peinlich musste es sein, wenn man als das erkannt wurde, was man so unbedingt verbergen wollte? Egoistisch, geldgierig, kalt. Doch Jake hatte sich nie anmerken lassen, ob es ihm unangenehm war, dass Jessica ihn durchschaut hatte. Er hatte sie weiterhin mit diesem spöttischen Blick angesehen. Diese unglaubliche Arroganz! Hatte er sich je überlegt, was wohl passiert wäre, wenn sie zu Mark gegangen und ihrem Stiefvater alles eröffnet hätte? Dass sein geliebter Sohn die Stiefschwester verführt und ihr die Ehe versprochen hatte, nur weil er auch die andere Hälfte des Vermögens seines Vaters in die Hände bekommen wollte?

Doch das hatte sie nicht über sich gebracht. Mark und auch ihre Mutter beteten Jake an. Es hätte ihnen das Herz gebrochen, die Wahrheit zu erfahren. Und so hatte Jessica geschwiegen, hatte sich ein neues Leben aufgebaut und sich selbst und jeden anderen davon überzeugt, dass ihr nur Karriere und Erfolg wichtig waren.

Die späte Herbstsonne versank langsam am Horizont. Sechs Jahre war es jetzt her, und noch immer war sie nicht darüber hinweg. Sie hatte lediglich erreicht, den Schmerz zu ignorieren und der restlichen Welt vorzumachen, nichts könne ihr etwas anhaben.

Andere Frauen waren über ein ähnlich schockierendes Erlebnis hinweggekommen, hatten andere Männer kennengelernt, neue Beziehungen begonnen. Warum war es ihr nie gelungen, jemanden zu finden, der Jakes Platz in ihrem Herzen einnehmen konnte?

Vielleicht, weil der Betrug für sie so schwer wog. Jake war nicht nur ihre erste Liebe und ihr erster Liebhaber, sondern er war gleichzeitig der Mensch gewesen, der ihr am nächsten gestanden hatte. Mit seinem Betrug war ihr nicht nur der Liebhaber genommen worden, sondern auch der Bruder, der Freund und der Fels in der Brandung, auf den sie sich jederzeit hatte verlassen können.

Sie hatte gewusst, dass er bereits andere Freundinnen vor ihr gehabt hatte. Schließlich war er acht Jahre älter als sie. Er hatte die Universität absolviert, ein eigenständiges Leben geführt. Und außerdem war er ein Mann mit einer enormen sinnlichen Anziehungskraft.

Die arme Frau, die ihn heiratet, dachte sie voller Abscheu. Er würde ihr nicht lange treu bleiben, vor allem nicht einer naiven Neunzehnjährigen.

Rückblickend erkannte sie, dass er sich immer zurückgenommen hatte, wenn sie sich liebten, als sei ihre Unerfahrenheit eine Prüfung für ihn. Damals hatte sie es natürlich nicht bemerkt, sie war viel zu glücklich darüber, dass er ihre Gefühle erwiderte. Allein ein sanftes Streicheln von ihm, und sie hätte vor Glück jubeln mögen. In ihrer Naivität hatte sie fest angenommen, für ihn müsse es ebenso sein. Er war so geduldig gewesen, so zärtlich und behutsam … Aber natürlich, das musste er ja auch sein, dachte sie. Er wollte sie schließlich nicht verschrecken. Und nebenbei hatte er jederzeit Frauen wie Wanda haben können, die ihm das gaben, was er bei Jessica vermisste …

Ein jäher Schauer erfasste Jessica, sie wandte sich vom Fenster ab. Ihre Gedanken schlugen eine gefährliche Richtung ein. Sie musste die Vergangenheit hinter sich lassen. Vor allem, wenn er morgen hier ankommen sollte, zusammen mit seiner neuen Freundin. Würde sie die Kraft haben, ihm gegenüberzutreten?

Als ob sie eine Wahl hätte! Wenn sie jetzt abfuhr, würde Beth misstrauisch werden. Und schließlich hatte sie nichts zu befürchten. Niemand in der Familie wusste von dem kurzen Monat voller Liebe und Hingabe, den er ihr geschenkt hatte, bevor sein Betrug ihn einholte. Nein, nur sie und Jake erinnerten sich an die Abende in seiner Wohnung, wenn sie in seinen Armen lag und er ihr immer wieder sagte, wie ungeduldig er darauf gewartet habe, dass sie endlich erwachsen werden und ihn als Mann, nicht nur als Stiefbruder ansehen würde …

Es wurde dunkel. Wie lange stand sie schon hier? Jessica sah auf ihre Armbanduhr. Fast eine Stunde. Beth würde sich fragen, was sie hier oben trieb.

Nun, zumindest waren ihr ein paar Stunden vergönnt gewesen, um sich vorzubereiten. Sie warf einen Blick zum Koffer auf dem Bett und ließ die Schlösser aufschnappen. Sie hatte nur einen kurzen Zwischenstopp in London gemacht, um zu duschen und für das Wochenende zu packen, und war dann sofort nach Bristol weitergefahren.

In New York hatte sie zuvor die wenige Freizeit genutzt, um einkaufen zu gehen. Für Beth hatte sie einen wunderschönen Pullover erstanden und für ihre Patentochter eine entzückende Stoffpuppe.

Mit automatischen Handgriffen packte Jessica ihren Koffer aus. Das Kleid von Calvin Klein hatte sie eigentlich nur aus einer Laune heraus eingepackt. Auf dem Bügel sah es wenig beeindruckend aus, doch am Körper schmiegte sich die lavendelfarbene Seide wie eine zweite Haut um ihre Figur, und die Farbe hatte den Ton ihrer Augen. Das Kleid sexy zu nennen, war sicher nicht übertrieben. Sie wollte es morgen Abend anziehen, beschloss sie. Wie es auch immer um ihre Gefühle bestellt sein mochte, Jake sollte auf Anhieb erkennen, dass es die frühere, weltfremde Jessica nicht mehr gab.

Während sie das Kleid auf den Bügel hängte, dachte sie darüber nach, wie praktisch es war, flirten zu können, ohne sich auf mehr einzulassen. Das hatte sie in den vergangenen Jahren gelernt. So wie sie ihre Cousine kannte, hatte Beth bestimmt einen Partner für sie beim Dinner eingeladen. Sie würde diesem Mann eine anregende Tischpartnerin sein …

Sie hörte Beths Stimme vor ihrer Tür und setzte eine gefasste Miene auf, bevor sie öffnete. „Sarah ist wach.“ Beth stand mit einem blonden, blauäugigen Baby vor der Tür und hielt Jessica die Kleine hin.

„Himmel, ist sie groß geworden!“

Nach einer langen und gründlichen Begrüßung ließ Sarah ihr entzückendes zahnloses Lächeln sehen.

„Es ist Zeit für ihr Bad.“ Beth betrachtete den makellosen Aufzug ihrer Cousine und sah an ihren eigenen abgewetzten Jeans hinab. „Tut mir leid, dass ich eine so schlechte Gastgeberin bin. Wenn du schon mal hinuntergehen und warten willst …“

Autor

Penny Jordan

Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...

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