Nur dir verrat ich meine Träume

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Eine Enttäuschung hat Nicole den Glauben an die Liebe genommen, seitdem lebt sie nur für ihre Arbeit. Mit einer Ausnahme: Im Internet chattet sie regelmäßig mit einem Fremden. Ein echter Freund ist er geworden, ihm vertraut sie sogar ihren größten Traum an: Sie möchte ein altes Kino zum Leben erwecken. Als eines Tages der arrogante Unternehmer Gabriel Hunter das Kino abreißen und einen Parkplatz bauen will, bittet sie ihren Chatfreund um Hilfe. Nicht ahnend, dass ihr liebster Vertrauter und ihr Feind ein und dieselbe Person sind …


  • Erscheinungstag 27.03.2018
  • Bandnummer 2329
  • ISBN / Artikelnummer 9783733710040
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ist alles in Ordnung, Miss Thomas?“, fragte der Rechtsanwalt besorgt.

„Ja, danke“, erwiderte Nicole mechanisch. Sie versuchte immer noch, die Neuigkeit zu verdauen. Ihr Großvater hatte ihr ein Kino vererbt. Der Mann, der ihre Mutter vor neunundzwanzig Jahren auf die Straße gesetzt hatte, als er von deren Schwangerschaft erfuhr. Ein Mann, dem sie nie begegnet war.

War es ein Akt der Wiedergutmachung? Unwahrscheinlich, denn in dem Fall hätte er das Kino ihrer Mutter hinterlassen. Oder hatte er möglicherweise noch im Nachhinein einen Keil zwischen Susan und ihre Tochter treiben wollen?

Im Stillen schüttelte Nicole den Kopf über ihren Zynismus. Anscheinend war sie wirklich schon zu lange im Bankgeschäft.

„Die Immobilie befindet sich übrigens in Surrey Quays, nicht allzu weit von Ihrer Wohnung entfernt“, drang die Stimme des Anwalts an ihr Ohr.

Plötzlich wusste Nicole ganz genau, welches Kino gemeint war. „Sprechen wir über den Electric Palace bei den Mortimer Gardens?“

Als der Anwalt bestätigend nickte, begann ihr ganzer Körper vor Aufregung zu kribbeln. Sie kam jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit dort vorbei, und jedes Mal versetzte der Anblick des alten Kinos ihr einen schmerzlichen Stich. Eine Schande, dass man so ein schönes Gebäude einfach verkommen lässt, hatte sie oft gedacht.

Und nun war sie plötzlich seine Eigentümerin – unfassbar!

Kaum hatte Nicole die Anwaltskanzlei verlassen, rief sie ihre Mutter an, doch sie erreichte nur die Mailbox. Bei Jessie brauchte sie es gar nicht erst zu versuchen. Ihre beste Freundin war Lehrerin und in dieser Woche bis spät in den Abend mit Prüfungskorrekturen beschäftigt. Blieben nur noch ihre Arbeitskollegen, doch mit denen wollte Nicole ganz sicher nicht über die unerwartete Erbschaft reden. Sie würden ihr sowieso nur alle raten, das Kino möglichst gut zu verkaufen und das Geld gewinnbringend anzulegen.

Was wahrscheinlich wirklich das Beste wäre. Sie hatte keine Ahnung, wie man ein Kino betrieb, und selbst wenn – die Erbschaft stand Susan Thomas zu, die sich jahrelang als alleinerziehende Mutter durchgekämpft hatte und zeitweise drei Jobs auf einmal annehmen musste, um die Miete bezahlen zu können. Sollte sich tatsächlich ein Käufer finden, der bereit war, einen fairen Preis für das Kino zu bezahlen, könnte sie die Hypothek für das Haus ablösen, sich ein neues Auto anschaffen und endlich einmal in Urlaub fahren.

Dazu müsstest du sie allerdings erst mal dazu bringen, Geld anzunehmen, das von ihrem Vater stammt …

Natürlich konnte Nicole die Erbschaft auch einfach ablehnen. Ihr Großvater war nie Teil ihres Lebens gewesen. Nie hatte er Interesse an ihr gezeigt. Warum sollte sie sich jetzt für sein Geld interessieren?

Sie sehnte sich nach einem starken Kaffee und einem Menschen, mit dem sie reden konnte. Und außer ihrer Mutter und Jessie gab es nur noch einen, auf dessen Rat sie etwas gab.

In einem Café in der Nähe bestellte Nicole einen doppelten Espresso an der Bar und suchte sich einen ruhigen Tisch, um Clarence eine Nachricht zu schicken. Wenn er gerade Mittagspause machte, hatte er vielleicht ein bisschen Zeit für sie.

Nicole hatte ihn vor sechs Monaten im Chat des Bürgerforums von Surrey Quays kennengelernt. Sie waren einander nie persönlich begegnet und kannten nur ihre Nicknames: Georgygirl und Clarence. Gleich zu Anfang hatten sie sich darauf geeinigt, keine Details auszutauschen, die ihre Identität verraten hätten – woran sie sich bis jetzt auch gehalten hatten. Und doch kannte Clarence sie vermutlich besser als jeder andere Mensch in ihrem Leben. Unbelastet vom Image der toughen Bankerin hatte Nicole ihm während ihrer vielen spätabendlichen Online-Chats Dinge anvertraut, von denen nicht einmal ihre Mutter und Jessie wussten.

Vielleicht könnte er ihr jetzt dabei helfen, die richtige Entscheidung zu treffen.

Mit zusammengepressten Lippen verließ Gabriel Hunter das Büro seines Vaters.

Wie lange soll das noch so weitergehen? fragte er sich entnervt. Wollte sein alter Herr ihn bis in alle Ewigkeit für den dummen Fehler büßen lassen, den er als Teenager gemacht hatte?

Na schön, ein bisschen mehr als das war es schon gewesen. Er hatte sich nach einer Party angetrunken hinters Steuer gesetzt und war – angestachelt von seiner ebenfalls nicht mehr nüchternen Clique – mit einem Affenzahn durch die Stadt geheizt, bis sein Wagen in einer etwas zu waghalsig genommenen Kurve ins Schleudern geriet und durch die Fensterscheibe eines pakistanischen Lebensmittelladens donnerte.

Der Sachschaden war erheblich gewesen, aber zum Glück war niemand verletzt worden, und Gabriel hatte seine Lektion sofort gelernt. Er hatte sich von seinen Freunden getrennt, die an jenem Abend – nur so zum Spaß – seinen Orangensaft heimlich mit Wodka versetzt hatten. Er hatte sich ganz auf sein Studium konzentriert und seinen Abschluss als Jahresbester gemacht. Er hatte alles getan, was von ihm erwartet wurde, und doch brachte sein Vater ihm nach wie vor weder Vertrauen noch Respekt entgegen.

Vielleicht sollte er endlich aufhören, gegen das negative Bild anzukämpfen, das sein Vater von ihm hatte, und etwas Eigenes auf die Beine stellen. Nur was könnte das sein? Seit seinem Examen vor sieben Jahren arbeitete Gabriel im Familienbetrieb. Er wusste alles über die Hunter Hotels und war stets darauf bedacht gewesen, seiner Verantwortung gerecht zu werden und nur ja keinen Fehler zu machen. Den leichtsinnigen Teenager von damals gab es nicht mehr, und manchmal fragte Gabriel sich, was wohl ohne diesen Unfall aus ihm geworden wäre. Wäre er mit der Zeit ganz von allein erwachsen geworden? Hätte er weniger Skrupel gehabt, seinen eigenen Weg zu gehen und vielleicht schon eine eigene Familie gegründet?

Die Frauen, mit denen Gabriel in den letzten Jahren in Kontakt gekommen war, ließen sich generell in zwei Gruppen aufteilen. Die einen sahen den steinreichen Erben einer Hotelkette in ihm, der ihnen jede Menge Luxus und Prestige bieten konnte. Die anderen – in der Regel die weniger oberflächlichen und interessanteren – hielten Abstand zu ihm, weil sie dem schlechten Ruf misstrauten, der seit seiner wilden Studentenzeit noch immer hartnäckig an ihm klebte.

Es war fast schon komisch, dass die einzige Person, die sein wahres Ich kannte und mochte, ein Cyberwesen war. Na gut, sie war eine reale Frau, aber weder wusste Gabriel, wie sie aussah, noch kannte er ihren richtigen Namen. Und doch war Georgygirl aus dem Surrey-Quays-Forum während der letzten sechs Monate zu seiner wichtigsten Bezugsperson geworden.

Die besondere Ironie dabei war, dass Gabriel dem Forum nur auf Drängen seines Vaters beigetreten war. Er sollte unter einem Pseudonym nach unzufriedenen Bürgern Ausschau halten, die etwas gegen das neue Hunter-Hotel haben könnten, das gerade aus einem heruntergekommenen ehemaligen Gewürzlager in Surrey Quays entstand. Mit entsprechenden Kommentaren sollte er ihre Bedenken zerstreuen und sie dazu bringen, die Dinge auf die Hunter-Art zu sehen.

Gabriel stellte rasch fest, dass ihm die Anonymität seiner Online-Identität gefiel. So konnte er Menschen auf eine Weise kennenlernen, wie es im echten Leben nie möglich gewesen wäre. Er musste nicht gegen Vorurteile ankämpfen und wurde so akzeptiert, wie er war.

Besonders die Userin Georgygirl schien vieles mit ihm gemeinsam zu haben. Je mehr Beiträge er von ihr las, umso deutlicher spürte er, dass sie auf einer Wellenlänge waren. Mit der Zeit entwickelte sich ein kleiner Flirt zwischen ihnen – was im Netz glücklicherweise ungefährlich war –, und irgendwann konnte Gabriel nicht länger widerstehen. Er ließ ihr eine persönliche Nachricht zukommen, und seitdem chatteten sie regelmäßig im Privatbereich des Forums. Allerdings waren sie übereingekommen, sich auch dort an die Regeln zu halten: kein Austausch von Details, die Aufschluss über die wahre Identität gaben.

Gabriel blickte auf seine Armbanduhr. Beinah Mittagszeit. Vielleicht hatte Georgygirl gerade Zeit. Er brauchte jetzt dringend ihren Optimismus, ihren Humor und ihre Anteilnahme, um sich aus seiner düsteren Stimmung zu reißen.

Er informierte seine Sekretärin, dass er für eine Stunde außer Haus sein würde, und machte sich auf den Weg zu den Surrey Quays. In seinem Lieblingscafé bestellte er sich einen doppelten Espresso, holte sein Smartphone heraus und loggte sich im Forum ein.

Hey, Clarence, bist du auf Empfang?

Die Nachricht war vor fünfzehn Minuten gesendet worden – als Gabriel gerade aus dem Büro seines Vaters gekommen war und am liebsten gegen die Wand geschlagen hätte. Mit einem Lächeln auf den Lippen antwortete er:

Ja, bin ich.

Er trank einen Schluck Espresso und wartete. Eine Weile rührte sich nichts, dann kam die Antwort.

Hi. Wie war dein Tag?

Habe schon bessere erlebt. Und wie sieht’s bei dir aus? Hat dieser Anwalt sich schon gemeldet?

Ich habe eine Erbschaft gemacht.

Wow, herzlichen Glückwunsch. Was genau hast du denn geerbt?

Eine Immobilie. Aber es gibt einen Haken dabei.

Sag jetzt nicht, dass es sich um ein Schloss auf einer verlassenen Insel handelt, in dem du ein ganzes Jahr allein leben musst, bevor dir das Erbe zufällt.

Nicht ganz, aber danke, dass du mich zum Lachen gebracht hast.

Gabriel runzelte die Stirn. Bedeutete das, dass Georgygirl eigentlich nach Weinen zumute war?

Was ist dann das Problem?

Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten.

Es müsste viel an dem Gebäude gemacht werden, aber das eigentliche Problem ist die Tatsache, dass mein Großvater es mir vererbt hat. Wie kann ich etwas von jemandem annehmen, der meine Mutter so schlecht behandelt hat?

Gabriel rieb sich nachdenklich das Kinn. Vor einiger Zeit hatte Georgygirl ihm die Geschichte ihrer Mutter anvertraut. Mit siebzehn hatte sie sich unsterblich in einen zwanzig Jahre älteren Mistkerl verliebt, der ihr die große Liebe vorspielte, obwohl er verheiratet und nur an einem kleinen Abenteuer interessiert war. Als Georgygirls Mutter schwanger wurde und ihren Eltern die ganze traurige Wahrheit gestehen musste, hatten die sie mitleidlos auf die Straße gesetzt und jeden Kontakt zu ihr abgebrochen.

Vielleicht war das seine Art, sich bei ihr zu entschuldigen, antwortete er vorsichtig.

Nein, das glaube ich nicht, kam es entschieden zurück. Ich sehe es eher als einen Versuch, sich im Nachhinein reinzuwaschen. Aber für so etwas lasse ich mich nicht benutzen. Er hat meine Mutter eiskalt im Stich gelassen, als sie seine Hilfe brauchte. Mit der Annahme des Erbes würde ich so tun, als wäre alles vergeben und vergessen, und dazu bin ich nicht bereit.

Gabriel konnte sie nur zu gut verstehen.

Was ist mit deiner Großmutter? Wenn sie noch lebt, könntest du sie besuchen und mit deiner Version der Geschichte konfrontieren. Vielleicht entschuldigt sie sich dann für ihren Mann und auch für sich selbst.

Ich weiß nicht, ob sie noch lebt, und selbst wenn, würde ich sie nicht sehen wollen. Sie und mein Großvater hatten neunundzwanzig Jahre Zeit, Kontakt zu mir aufzunehmen, aber ich habe nie etwas von ihnen gehört. Meine Mutter schickte ihnen regelmäßig Fotos von mir, aber ich war ihnen nicht mal eine Geburtstagskarte wert.

Vielleicht schämten sie sich für das, was sie getan hatten, und schafften es nicht, ihren Fehler zuzugeben. Manchmal steht den Menschen ihr Stolz im Weg.

Stimmt. Aber warum hat mein Großvater mich zur Erbin gemacht und nicht meine Mutter? Das ergibt doch keinen Sinn.

Möglicherweise konnte er sich nicht überwinden, sich direkt an deine Mutter zu wenden.

Nachdem er schon tot war? Typisch männliche Logik.

Gabriel verbiss sich ein Grinsen. Weiß deine Mutter schon Bescheid?

Ich konnte sie noch nicht erreichen. Außerdem bist verrückterweise du derjenige, dessen Rat ich jetzt brauche. Du siehst die Dinge immer so klar.

Ein Gefühl von Wärme breitete sich in Gabriels Brust aus. Ich freue mich, wenn ich für dich da sein kann. Wofür sind Freunde schließlich da?

Und sie waren Freunde. Obwohl sie einander nie begegnet waren, war Gabriels Beziehung zu Georgygirl in vieler Hinsicht realer als seine Kontakte im wirklichen Leben.

Tut mir leid, dass ich so ein Jammerlappen bin, Clarence.

Das bist du nicht! Du hast allen Grund, durch den Wind zu sein und dir Fragen zu stellen. Falls diese Erbschaft als Entschuldigung gemeint war, stimme ich dir zu, dass diese Geste zu spät kommt und nicht ausreichend ist. Dein Großvater hätte viel früher auf deine Mutter zugehen sollen. Hätte er es getan, wäre er stolz auf sie gewesen, weil sie einen so wunderbaren Menschen wie dich großgezogen hat.

Vorsichtig, mein Freund. Sonst bleibe ich nachher noch mit meinem aufgeplusterten Ego in der Cafétür stecken.

Café? Aller Vernunft zum Trotz ließ Gabriel den Blick durch den Raum schweifen, doch außer einer bieder wirkenden Blondine in den Vierzigern und einem in seine Papiere vertieften Geschäftsmann saß niemand allein an einem der Tische.

Obwohl er keinen Beweis dafür hatte, war Gabriel sicher, dass Georgygirl kein Mann war. Und die Blondine kam ebenfalls nicht infrage. Georgygirl war neunundzwanzig Jahre alt, genau wie er. Diese Information war ihr herausgerutscht, als sie sich über das lange Schweigen ihrer Großmutter empörte.

Er blickte wieder auf sein Smartphone und tippte:

Hör zu, vielleicht solltest du diese Erbschaft als Rettung betrachten. Wenn du verkaufst und das Geld mit deiner Mutter teilst, könntest du dir eine berufliche Auszeit leisten, um herauszufinden, was du wirklich tun willst.

Ich weiß nicht, ob ich das so abgeklärt sehen kann.

Es ist, wie es ist, Georgy. Dein Großvater war nicht da, als er hätte da sein sollen, aber jetzt hat er dir eine Immobilie vererbt. Warum solltest du nicht das Beste für dich und deine Mutter daraus machen?

Die Immobilie ist aber kein Wohnhaus, sondern ein Gewerbegebäude. Und es ist schon eine ganze Weile nicht mehr in Betrieb, was einen Verkauf nicht gerade leichter macht.

An dieser Stelle wären einige Details hilfreich gewesen. Doch Gabriel konnte nicht zu direkt nachfragen, da er damit eine ihrer Kommunikationsregeln verletzt hätte. Er beschloss, so vage wie möglich nachzuhaken:

Könnte man das Geschäft wieder zum Laufen bringen?

Theoretisch ja. Allerdings habe ich weder in der Dienstleistungs- noch in der Unterhaltungsbranche Erfahrung.

Na, wenn das kein Volltreffer war! Gabriel fühlte sich plötzlich wie elektrisiert.

Zufällig sind genau das meine Spezialgebiete.

Er ging damit zwar ein kleines Risiko ein, aber im Grunde konnte niemand nur aufgrund dieser Information auf die Hunter-Hotels schließen.

Die Frage, die er nun von ihr erwartete, kam sofort:

Was schlägst du also vor?

An deiner Stelle würde ich mich zuerst über die Angebote meiner Konkurrenten informieren und dann ein Konzept entwickeln, das sich davon abhebt. Wenn es dir finanziell tragfähig erscheint, solltest du dich von einem Spezialisten für Unternehmensgründungen über mögliche Zuschüsse beraten lassen.

Nicole kämpfte mit ihren widerstreitenden Gefühlen. Clarence schien wirklich zu wissen, wovon er redete. Die Versuchung, ihm alles zu erzählen, war groß, doch das wäre gegen ihre Abmachung gewesen. Er hatte ihr bereits zu viel verraten, als er auf seine Branchenkenntnisse hinwies. Und sie hatte ihm dummerweise ihr Alter preisgegeben.

Schließlich siegte die Vernunft, und Nicole wechselte das Thema.

Du hast erwähnt, dass dein Tag nicht so toll war. Was ist denn passiert?

Nichts Spektakuläres. Ich war nur wieder mal drauf und dran, alles hinzuschmeißen und mir einen anderen Job zu suchen. Aber dann hat wie immer der brave Sohn in mir gesiegt und dem aufsässigen Clarence klargemacht, dass eine Abkehr vom Familienunternehmen eine unverzeihliche Pflichtverletzung wäre.

Clarence hatte ihr einmal in groben Zügen von dem Vorfall erzählt, der ihn zum schwarzen Schaf der Familie gemacht hatte. Seitdem versuchte er vergeblich, seinen Vater davon zu überzeugen, dass er seine Lektion gelernt und sich geändert hatte.

Ich finde, du solltest ganz offen mit deinem Vater sprechen, Clarence. Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens mit Wiedergutmachung verbringen.

Ja, vielleicht sollte ich das tun.

Nicole runzelte die Stirn. Das klang nicht gerade enthusiastisch.

Und wenn du deine Position in der Firma wechselst? Es gibt dort doch sicher Aufgabenbereiche, die dir mehr liegen.

Guter Vorschlag. Ich werde darüber nachdenken.

Wieder so eine unverbindliche Floskel, die sich wie eine Zurückweisung anfühlte. Nicole, die schon im Begriff gewesen war, ein gemeinsames Abendessen zum Reden vorzuschlagen, entschied sich gerade noch rechtzeitig um.

Eine persönliche Begegnung wäre eine ganz schlechte Idee. Nicht, weil sie befürchtete, Clarence könnte schon vergeben sein. Sie wollte keine Beziehung, da konnte ihr das egal sein. Nein, sie hatte Angst davor, dass der wirkliche Clarence ganz anders war als der aus dem Netz. Dass sie einander unsympathisch sein könnten.

Vielleicht war es feige, aber diese Freundschaft war Nicole einfach zu wichtig, um dieses Risiko einzugehen.

Es gefiel Gabriel, dass Georgygirl sich ernsthaft Gedanken darüber machte, wie er sein Leben zum Besseren wenden könnte.

Einen verrückten Moment lang wollte er sich mit ihr zum Abendessen verabreden, um ausführlich und in Ruhe mit ihr über ihre Erbschaft zu reden. Doch dann entschied er sich dagegen. Erstens ging ihn diese Angelegenheit nichts an, zweitens befürchtete er, dass Georgygirl ganz anders sein könnte, als er sie sich vorstellte. Was, wenn sie einander nicht mochten? Der Kontakt zu ihr bedeutete ihm sehr viel, und er wollte diese Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Daher schrieb er nur:

Danke für die Schulter zum Ausweinen und die Aufmunterung. Aber jetzt muss ich wieder ins Büro. Lass uns heute Abend noch mal chatten, okay?

2. KAPITEL

Als Nicole das Restaurant betrat, in dem sie mit ihrer Mutter verabredet war, wusste sie dank der Surrey-Quays-Website bereits einiges über den Electric Palace und seine Geschichte. Brian Thomas hatte das Kino in den 1950er Jahren gekauft und einige Jahrzehnte lang erfolgreich geführt. Mit dem Auftauchen der Multiplex-Kinos war es mit dem alten Lichtspielhaus jedoch unaufhaltsam bergab gegangen.

Es war ein seltsames Gefühl für Nicole gewesen, die Fotos aus dieser Zeit zu betrachten. Den stämmigen, dunkelhaarigen Mann hinter dem Tresen des Cafés, der ihr eigener Großvater war. Susan sprach fast nie über ihre Familie, sodass Nicole nicht wusste, ob sie aus Surrey Quays stammte oder irgendwann zugezogen war. Als sie vor drei Jahren eine kleine Wohnung in dem Viertel kaufte, hatte ihre Mutter nichts in der Richtung erwähnt.

Nicole entdeckte ihre Mutter an einem der Tische und steuerte auf sie zu.

„Hallo, mein Schatz.“ Susan Thomas strich ihr liebevoll über die Wange, als sie sich zu ihr an den Tisch setzte. „Es muss ja um etwas ungeheuer Wichtiges gehen, wenn du dich schon um diese Zeit von der Arbeit losreißt.“

„Bitte, Mum! Könnten wir dieses Thema heute ausnahmsweise mal außen vor lassen?“ Es war kurz nach halb acht, doch Nicole war nicht in der Stimmung, sich zum x-ten Mal für ihre exzessiven Arbeitszeiten zu rechtfertigen.

„Schon gut, ich werde dich nicht weiter damit nerven“, versprach Susan. „Aber du arbeitest wirklich zu hart. So, und nun schieß los, Liebes. Was ist passiert?“

Nicole atmete tief durch. „Du weißt ja, dass ich heute diesen Anwalt getroffen habe. Ich habe eine Erbschaft gemacht, Mum, aber ich glaube nicht, dass ich sie annehmen werde. Weil …“ Es gab keinen Weg, es schonend zu umschreiben. „Weil es dabei nämlich um den Electric Palace geht.“

Wie erwartet, löste die Nachricht keinen Freudentaumel aus. Allerdings auch keine große Überraschung

„Verstehe“, murmelte Susan nach einigen Sekunden des Schweigens. „Ich hatte mich schon gefragt, ob er das am Ende tun würde.“

Nicole sah sie entgeistert an. „Heißt das etwa, du hast davon gewusst?“

„Wissen ist zu viel gesagt, aber irgendwem musste er das Kino ja hinterlassen. Und ich bin froh, dass er endlich das Richtige getan und es dir vererbt hat.“

„Aber du bist seine Tochter, Mum! Er hätte es dir vermachen sollen, nicht mir.“

„Ich will es nicht haben.“ Susan hob das Kinn. „Alles, was ich besitze, habe ich mir aus eigener Kraft erarbeitet, und so soll es auch bleiben. Das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit.“

Zärtlich gab Nicole ihr einen Kuss auf die Wange. „Und da fragst du dich, woher ich meine Sturheit habe? Aber mal im Ernst, Mum. Ich kann das Erbe auch nicht annehmen. Ich werde den Anwalt bitten, es dir zu überschreiben.“

„Du kennst meine Antwort.“

„Aber du bist seine Tochter“, beharrte Nicole.

„Und du seine Enkelin.“

„Na schön. Dann verkaufe ich das Kino eben.“

„Wunderbar“, stimmte Susan zu. „Und das Geld verwendest du für etwas, das dich glücklich macht.“

„Einverstanden. Es wird mich sogar sehr glücklich machen, es dir zu geben. Du kannst davon das Haus abbezahlen und deine uralte Rostlaube gegen ein vernünftiges Auto tauschen. Und dann machst du eine Reise nach Norwegen und schaust dir die Nordlichter an. Zufällig weiß ich nämlich, dass das seit Jahren ganz oben auf deiner Wunschliste steht.“

„Du weißt gar nichts.“ Susan verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn du mir wirklich eine Freude machen willst, verwendest du das Geld dazu, dich aus diesem höllischen Job zu befreien.“

„Jetzt lass doch mal meinen Job aus dem Spiel.“ Nicole schüttelte den Kopf. „Versteh doch, Mum. Es würde sich für mich wie … Blutgeld anfühlen. Wie kann ich etwas von jemandem annehmen, der dich so schlecht behandelt hat?“

„Von jemandem, der zu stur war, sein Unrecht zuzugeben“, korrigierte Susan. „Ich glaube, dir dieses Kino zu hinterlassen, war seine Art, sich zu entschuldigen.“

„Genau das hat Clarence auch …“ Nicole biss sich rasch auf die Lippe, doch der Name war schon heraus.

„Clarence?“ Susan legte den Kopf schief und musterte ihre Tochter amüsiert. „Gibt es da etwas, das du deiner alten Mutter bisher verschwiegen hast?“

Nicole spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Wir sind einfach Freunde, Mum. Nichts weiter.“

Sie wollte nicht zugeben, dass sie und Clarence sich nur aus dem Internet kannten und bei ihren Chats nicht einmal ihre richtigen Namen benutzten. Ihre Mutter würde sofort daraus folgern, dass ihre Tochter ein Feigling war. Und daran war viel Wahres, wie Nicole zugeben musste. In puncto Beziehungen war sie definitiv feige. Sie hatte sich beim letzten Mal schlimm die Finger verbrannt und legte keinen Wert darauf, diese Erfahrung so bald zu wiederholen.

Wie so oft, schien ihre Mutter auch jetzt ihre Gedanken lesen zu können. „Du hast einmal eine falsche Wahl getroffen“, bemerkte sie behutsam. „Aber nicht alle Männer sind solche rückgratlosen Opportunisten wie Jeff.“

„Sicher nicht“, stimmte Nicole ihr zu, bevor sie das Thema wechselte. „Dann bis du also in Surrey Quays aufgewachsen?“

Susan nickte. „Wir wohnten in den Mortimer Gardens, nur einen Sprung vom Kino entfernt. Die Häuser, die damals dort standen, wurden aber schon vor langer Zeit abgerissen und die Grundstücke neu erschlossen.“

„Warum hast du mir nichts davon gesagt, als ich in die Gegend gezogen bin?“

Susan zuckte die Schultern. „Du hattest genug damit zu tun, die Geschichte mit Jeff zu verarbeiten, da wollte ich dich nicht auch noch mit meiner Vergangenheit belasten.“

„Ich hätte also die ganze Zeit über praktisch jeden Tag meinen Großeltern in die Arme laufen können, ohne zu wissen, wer sie sind?“

Susan schüttelte den Kopf. „Deine Großmutter ist vor zehn Jahren gestorben, Liebes. Da wohnten sie und Brian schon lange am anderen Ende von Surrey Quays. Es ist also mehr als unwahrscheinlich, dass du ihnen je begegnet bist.“

Autor

Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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