Über den Wolken von Bali

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Blütenweißer Strand, türkisfarbenes Wasser … Allison kann die exotische Landschaft kaum genießen. Sie ist nach Bali gekommen, um ihre Höhenangst zu überwinden. Dabei soll ihr der aufregende Fluglehrer Dylan helfen. Aber warum verhält er sich ihr gegenüber so feindselig?


  • Erscheinungstag 13.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737894
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Der Strand war blütenweiß, gesäumt von Kokospalmen und türkisfarbenem Wasser, das so klar war, dass es schon beinahe unwirklich erschien. Über allem spannte sich der strahlend blaue Himmel, an dem nicht eine einzige Wolke zu sehen war. Ein Bild wie von einer Ansichtskarte.

Und leider handelte es sich auch nur um eine solche.

Seufzend legte Allison die Karte zurück auf den runden Cafétisch, an dem sie zusammen mit ihren beiden Drillingsschwestern saß. Ringe aus angetrocknetem Milchschaum, Krümel und die zusammengeknüllte Papierumhüllung eines Muffins zierten die Oberfläche. Die Luft war erfüllt vom lauten Summen und Zischen des Kaffeeautomaten und den Gesprächen der anderen Gäste der Caféhauskette.

„Ich hab’s mir überlegt. Ich mache das nicht!“, stellte Allison energisch klar, ohne ihre beiden Schwestern anzusehen.

„Du hast Tante Tillys Brief doch gelesen“, entgegnete Amelia kühl. Immer wenn Allison sie anschaute, hatte sie das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. Obwohl sie keine eineiigen Drillinge waren, waren Amelia und sie sich im Gegensatz zu Anne unglaublich ähnlich – zumindest rein äußerlich. „Es ist ihr letzter Wunsch. Das ist doch wirklich nicht so schwer, oder?“

Typisch Amelia. Sie war nur zwei Minuten älter als Allison. Woher nahm sie das Recht, sich ihr gegenüber so herablassend zu verhalten? Aber das war ja im Grunde nichts Neues. Allison hatte schließlich seit jeher im Schatten ihrer beiden Schwestern gestanden. Der selbstbewussten Amelia und der vorlauten Anne.

Sie war immer die Stille, die Ängstliche gewesen. Die, die beim Schulsport als Letzte gewählt wurde, weil sie so schüchtern und zurückhaltend war. Die graue Maus, die die Jungs nie auch nur eines zweiten Blickes gewürdigt hatten. Die Langweilerin, der Bücherwurm – die Liste ließ sich endlos fortsetzen.

Der einzige Mensch, der sie alle drei immer gleich behandelt hatte, war Tante Tilly gewesen.

Und Tante Tilly war jetzt tot.

Tränen stiegen Allison in die Augen, doch sie blinzelte sie fort. Sie hatte bei der Beisetzung vorhin auf dem Friedhof schon genug geweint. Ihre Tante hätte nicht gewollt, dass sie unglücklich waren. Das hatte sie in dem Brief, den sie ihren drei Nichten hinterlassen hatte, mehr als deutlich gemacht. Außerdem hatte sie sich gewünscht, dass Allison, Amelia und Anne sich wieder miteinander versöhnten – und darüber hinaus noch ein paar andere Dinge, die, wie sich herausgestellt hatte, sogar noch unmöglicher zu realisieren waren.

Die Drillinge waren schon als Jugendliche nicht mehr besonders gut miteinander ausgekommen. Doch Tante Tilly hatte alles noch zusammenhalten können. Bei ihr waren sie aufgewachsen, nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Damals waren die Mädchen gerade einmal vier Jahre alt gewesen. Ihre Tante hatte stets zwischen den drei ungleichen Schwestern vermittelt und die Friedensstifterin gespielt.

Bis zu dem Moment, an dem dies schlichtweg nicht mehr möglich gewesen war. Und schuld an allem war ein Mann.

Callum.

Hastig schob Allison die Erinnerung an jene schlimme Zeit in ihrem Leben beiseite. Fest stand, dass sie Tante Tilly sehr viel verdankte. Und deshalb war sie auch gern bereit, ihren Teil dazu beizutragen, dass ihre letzten Wünsche erfüllt wurden.

Aber nicht ausgerechnet so!

„Sei nicht so selbstsüchtig“, tadelte Anne und strich ihr langes rabenschwarzes Haar über die Schulter zurück. „Du wirst doch Tante Tilly zuliebe ein einziges Mal über deinen Schatten springen können.“

Panik stieg in Allison auf, wenn sie auch nur daran dachte!

„Ihr versteht das nicht“, stieß sie heiser hervor. „Ich kann das wirklich nicht tun. Es geht nicht. Einfach unmöglich!“ Wenig hoffnungsvoll blickte sie ihre Schwestern an. „Kann ich nicht einfach irgendetwas anderes tun? An einem Ort, an den zu gelangen ich nicht in eine solche Höllenmaschine steigen muss?“

Anne und Amelia schüttelten simultan die Köpfe. „Du warst einverstanden. Sei doch froh, Alli. Bali soll zu dieser Jahreszeit wunderschön sein. Du hättest es wirklich schlechter treffen können …“

Es gab drei Orte, an die ihre Tante vor ihrem Tod gern noch gereist wäre. Von diesen hatte sie Ansichtskarten besorgt, die sie ihrem Abschiedsbrief beigelegt hatte. Jenem Abschiedsbrief, den Allison jetzt noch einmal zur Hand nahm.

Meine Lieben,

in den vergangenen Monaten, als ich wegen meiner Therapie kaum mehr das Haus verlassen konnte, habe ich sehr viel nachgedacht. Über mein Leben, meine Wünsche – und über euch.

Ich habe immer versucht, zwischen euch zu vermitteln. Leider kann ich euch nun nicht mehr zur Seite stehen. Daher muss ich mich darauf verlassen, dass ihr selbst einen Weg findet, miteinander Frieden zu schließen. Ebenso wie ich mich darauf verlasse, dass ihr mir einen weiteren Wunsch erfüllt.

Drei Eigenschaften gibt es, die mich in meinem Leben vorangebracht haben: Mut, Zuversicht und die Fähigkeit, anderen ihre Fehler zu vergeben. Leider habe ich zu spät erkannt, wie wichtig diese Charakterzüge wirklich sind. Ein Fehler, den ich euch gern ersparen möchte. Und deshalb bitte ich euch, Folgendes für mich zu tun: Seht furchtlos eurer größten Angst ins Auge. Seid zuversichtlich, auch wenn es euch unmöglich erscheint, und vergebt denen, die euch Unrecht zugefügt haben …

Allison schluckte. Sie wusste wirklich nicht, ob es ihnen gelingen würde, sich miteinander auszusöhnen. Wenn sie ehrlich war, zweifelte sie daran. Ja, sie konnte nicht einmal sagen, ob sie es wirklich wollte.

Umso mehr musste sie versuchen, alles andere zu tun, worum Tante Tilly sie gebeten hatte. Und deshalb blieb ihr nur eines: die Zähne zusammenzubeißen und sich ihren Ängsten zu stellen.

„Also schön“, stieß sie gepresst hervor. „Ich werde es versuchen.“

1. KAPITEL

Am liebsten wäre sie gar nicht mehr aus der Bordtoilette herausgekommen.

Allison Weatherspoon konnte kaum zählen, wie oft sie während des fast fünfstündigen Flugs von London nach Bali schon in einem der Waschräume verschwunden war.

Aber immer noch besser, als vor sämtlichen Mitreisenden zu …

Sie betätigte die Spülung, ließ sich noch eine Weile kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, was ihrem Kreislauf guttat, und betrachtete währenddessen im Spiegel über dem kleinen Waschbecken ihr Gesicht. Ein Wunder, dass sich ihretwegen noch niemand erkundigt hatte, ob ein Arzt an Bord war. Sie sah ja aus wie der wandelnde Tod! Blass, mit dunklen Ringen unter den leicht geröteten Augen, das blonde schulterlange Haar völlig zerzaust …

Leise aufstöhnend schüttelte sie den Kopf. Wie hatte sie sich bloß auf diese Sache einlassen können? Sie und Flugzeuge – ausgerechnet! Und es war ja nicht gerade so, dass sie es hinter sich hatte, wenn sie gleich ihr Ziel erreichte. Im Gegenteil! Gegen die Sache, die der Grund für ihre Reise nach Bali war, war das hier ein Kinderspiel …

Seufzend schloss sie die Augen. Es war besser, nicht weiter darüber nachzudenken. Je mehr sie sich jetzt verrückt machte, desto schwerer wurde es für sie. Einfach nur einen Schritt nach dem anderen zu machen und nicht daran zu denken, was ihr noch bevorstand, war wohl das Beste, was sie im Augenblick tun konnte. Leider war das leichter gesagt als getan. Schon auf dem Flughafen London Heathrow hatte sie Mühe gehabt, nicht einfach davonzulaufen. Allein beim Gedanken an den bevorstehenden Flug war ihr der kalte Schweiß ausgebrochen.

Allison litt seit ihrer Kindheit an Höhenangst. Und dummerweise gehörte es zum Fliegen nun mal dazu, dass das Flugzeug irgendwann von der Startbahn abhob. Deshalb hatte sie es auch bisher immer vermieden, sich auf diese Weise fortzubewegen. Jetzt aber hatte es keine andere Möglichkeit gegeben.

Und zwar aus zwei Gründen: Stolz und Schuld. Ihr Stolz hatte sie davon abgehalten, vor ihren Schwestern auf die Knie zu fallen und sie darum zu bitten, noch einmal neu auszulosen.

Bei dieser ganzen Sache überhaupt mitzumachen war sie einer anderen, ganz bestimmten Person schuldig.

Tante Tilly …

Als Allison jetzt die Augen wieder öffnete, kullerten zwei einzelne Tränen ihre Wangen hinunter. Der Gedanke an ihre Tante ließ ihr das Herz schwer werden und erinnerte sie daran, dass es weitaus Schlimmeres gab als das, was ihr bevorstand.

Von neuer Entschlossenheit gepackt, nahm sie zwei Papierhandtücher aus dem Spender, trocknete sich die Hände ab und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie würde – musste! – es schaffen. Tante Tilly zuliebe. Und genau deshalb würde sie jetzt auch zu ihrem Platz zurückkehren. Außerdem hatte der Pilot schon vor einer ganzen Weile verkündet, dass der Landeanflug kurz bevorstand. Endlich!

Sie verließ die kleine Kabine und versuchte, so sicher wie möglich zu ihrem Sitz zurückzugelangen. Doch da sich die Maschine bereits im Sinkflug befand, war sie nicht ganz ruhig, sodass Allison sich an den Kopfstützen der Sitze, an denen sie vorbeikam, festhalten musste, um nicht den Halt zu verlieren.

In dem Moment erblickte sie ein kleines Mädchen, das ganz entspannt auf ihrem Platz saß und in einem Buch blätterte. Das Kind war höchstens zwölf Jahre alt und hatte offenbar überhaupt keine Angst. Und sie selbst, eine erwachsene Frau, stellte sich so an!

Allison ärgerte sich darüber, konnte es aber einfach nicht ändern. Immerhin hatte sie sich zuvor ein bisschen im Internet erkundigt, wie andere Menschen, die an Höhenangst litten, Flüge überstanden, und den wichtigsten Rat befolgt: beim Start auf keinen Fall aus dem Fenster zu schauen. Auch bei der Landung sollte man das besser lassen. Und daran würde sie sich gleich halten.

Sie erreichte ihre Reihe, ließ sich auf ihren Platz sinken und nickte ihrer Sitznachbarin, einer älteren Dame mit grauem Haar, die bisher kaum ein Wort gesprochen hatte, zu. In dem Moment verkündete die Stewardess, dass die Landung in wenigen Minuten erfolgen würde, und forderte alle Passagiere auf, die Plätze nun nicht mehr zu verlassen.

Hastig begann Allison, sich ihren Sicherheitsgurt anzulegen. Ihre Finger zitterten leicht, und ihr brach der kalte Schweiß aus. Dann endlich rastete die Schnalle ihres Gurtes ein, und Allison zog noch einmal kräftig an einem Ende, damit auch alles schön eng saß.

„Sehen Sie nur, ist das nicht herrlich?“, fragte in dem Moment ihre Sitznachbarin und deutete neben sich zum Fenster.

Allison folgte ihrem Blick ganz automatisch, obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hatte, keinesfalls nach draußen zu schauen, weshalb sie auch extra einen Platz am Gang gebucht hatte.

Doch das, was sie jetzt durch die kleine Fensterscheibe sah, raubte ihr den Atem – und machte es ihr unmöglich, den Blick wieder abzuwenden. Alles war geradezu unglaublich grün: die Insel mit ihren terrassenförmigen Hängen, das glasklare türkisblaue Wasser …

„Das …“ Allison musste sich räuspern, um sprechen zu können. Ihre Kehle war mit einem Mal ganz trocken. „Das ist einfach herrlich!“

Die ältere Dame blickte sie lächelnd an. „Nicht wahr? Und warten Sie ab, bis Sie erst da sind. Bali ist wirklich ein Traum.“ Sie hielt kurz inne. „Es ist doch Ihr erster Besuch auf der Insel?“

Allison nickte. „Allerdings. Aber woher …?“ Sie musste lachen. „Ach, was frage ich? Es dürfte Ihnen ja wohl kaum verborgen geblieben sein, dass ich nicht gerade häufig fliege. Um ehrlich zu sein, dies ist mein erster Flug.“

„Dann haben Sie es ja gleich geschafft. Und – war es so schlimm?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Es geht. Ich hatte es mir schlimmer ausgemalt. Aber ich kann mir auch Schöneres vorstellen. Und Sie? Fliegen Sie oft?“

„Oh ja!“ Ein Strahlen legte sich auf das Gesicht der alten Dame. Ihre grauen Augen funkelten. „Seit ich keine Verpflichtungen mehr habe, verreise ich häufig. Ich möchte noch so viel wie möglich von der Welt sehen. Und auf Bali war ich auch schon einige Male. Glauben Sie mir, sobald Sie angekommen sind, fühlen Sie sich wie im Paradies.“

Das Gespräch ging noch eine Weile weiter, und die Dame, die sich irgendwann als Edna vorstellte und erzählte, dass sie in Bloomsbury lebte, gab Allison, die ganz gebannt zuhörte, noch einige Tipps für ihren Aufenthalt.

„Und vor dem Fliegen brauchen Sie wirklich keine Angst zu haben“, sagte Edna irgendwann und lächelte milde. „Flugzeuge sind immer noch das sicherste Fortbewegungsmittel der Welt. Da ist die Gefahr, dass auf dem Weg zum Flughafen hin oder vom Flughafen weg etwas passiert, weitaus größer.“

„Ich weiß das ja eigentlich.“ Allison nickte. „Theoretisch. Aber Start und Landung sind eben doch sehr kritische Momente.“

„Das mag sein. Aber selbst dabei passiert höchst selten etwas. Und Sie selbst haben ja heute beides heil überstanden.“

Allison krauste die Stirn. „Beides? Aber ich …“ Sie stockte, als ein Blick durchs Fenster ihr verriet, dass die Maschine bereits aufgesetzt hatte. „Wir sind schon gelandet?“ Sie schüttelte den Kopf. „Davon habe ich ja gar nichts mitbekommen.“

„Natürlich nicht, Darling. Sie waren ja auch abgelenkt.“

Allison atmete auf. Dankbar lächelte sie der freundlichen Dame zu. Wenige Minuten später trennten sich ihre Wege. Während ihre Sitznachbarin die Maschine in aller Ruhe verließ, war Allison doch froh, endlich ins Flughafengebäude zu gelangen, und beeilte sich entsprechend. Nachdem sie die Passkontrolle hinter sich gelassen hatte, steuerte sie die Gepäckbänder an, um ihren Trolley hoffentlich schnell in Empfang nehmen zu können.

Doch das Gegenteil war der Fall. Als sie das entsprechende Ausgabeband erreichte, stand dieses still, und kein Koffer war zu sehen.

Allison rümpfte die Nase. Sie hatte keine Ahnung, wie lange so etwas dauern konnte, immerhin war dies ihr erster Flug überhaupt. Aber im Internet hatte sie gelesen, dass es heutzutage in der Regel relativ zügig ging.

Die Minuten vergingen, und die Traube aus wartenden Menschen vor dem Gepäckband wurde zusehends größer. Direkt ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Bandes, erblickte sie das kleine Mädchen wieder, das ihr vorhin im Flugzeug bereits aufgefallen war. Jetzt hatte Allison Gelegenheit, die Kleine genauer zu mustern: Sie hatte ein hübsches, mit Sommersprossen übersätes Gesicht, das von langem rotem Haar eingerahmt wurde. Die Augen des Mädchens waren ununterbrochen auf ihr Smartphone gerichtet, in das sie mit der rechten Hand irgendwelche Nachrichten tippte, während sie in der linken Hand einen Müsliriegel hielt, von dem sie immer wieder abbiss. Bei ihr war ein älterer Mann, dessen graumeliertes Haar schon ziemlich licht war. Ein typischer Geschäftsmann im maßgeschneiderten Business-Anzug. Allison schätzte ihn auf Anfang sechzig und ging davon aus, dass es sich um den Großvater des Mädchens handelte. Er hielt sich ein Handy ans Ohr gepresst und telefonierte lautstark auf Englisch.

Gerade als Allison den Blick wieder abwenden wollte, geschah es: Das Mädchen hob den Kopf, riss Augen und Mund auf und begann zu röcheln. Innerhalb von Sekunden lief ihr Gesicht rot an, und während sie ihr Smartphone so krampfhaft umfasste, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, rutschte ihr der Müsliriegel aus der anderen Hand und fiel zu Boden.

Der Mann an ihrer Seite unterbrach sein Telefonat und sah das Mädchen erst leicht genervt, dann überrascht und schließlich eindeutig besorgt an – so wie auch die anderen Leute um das Mädchen herum.

„Hast du dich verschluckt, Jenny?“, fragte der Mann irritiert und klopfte der Kleinen leicht auf den Rücken, woraufhin die noch lauter röchelte und aufgeregt auf der Stelle zu hüpfen begann.

In dem Moment begriff Allison, dass die Lage ernst war.

Lieber Himmel, das Mädchen erstickt ja!

Im ersten Augenblick wusste sie selbst nicht, was sie tun sollte. Fest stand nur, dass sie helfen musste. Und so vergaß sie alles um sich herum und kletterte über das immer noch stillstehende Gepäckband, um auf schnellstem Weg zu dem Mädchen – Jenny – zu gelangen.

Nur am Rande nahm sie wahr, dass die ganzen anderen Leute tatenlos um sie herum standen, vor Schreck wie erstarrt. Manche guckten nur, andere hielten sich erschrocken die Hand vor den Mund, irgendwann schrie jemand: „Hilfe! Das Kind braucht Hilfe!“

Endlich erreichte Allison das Mädchen. Ohne selbst genau zu registrieren, was sie eigentlich tat, stellte sie sich hinter Jenny und ging auf die Knie.

„Keine Angst, ich helfe dir“, sprach sie beruhigend auf die Kleine ein und umfasste sie von hinten mit beiden Armen, wobei sie ihre Hände relativ weit unten am Bauch des Mädchens platzierte. Noch einmal atmete sie tief durch, dann zog sie ihre Arme ruckartig zu sich heran.

Einmal.

Zweimal.

Endlich machte es „plopp“, und im nächsten Moment schoss etwas – wahrscheinlich ein Stück des Müsliriegels – in hohem Bogen aus Jennys Mund und landete irgendwo hinter dem Gepäckband.

Das Mädchen hustete noch ein paar Mal und schnappte röchelnd nach Luft, dann beruhigte es sich langsam.

Erleichtert atmete Allison auf und drehte die Kleine zu sich herum. „Und?“, fragte sie und bemühte sich um ein Lächeln. „Geht’s wieder?“

Jenny nickte. In ihrem Blick lagen Schreck und Irritation. „Ich … ich hab mich wohl verschluckt“, sagte sie.

Allison lachte. „Kann schon mal vorkommen, was?“ Sie strich dem Mädchen übers Haar und stand auf.

„Du meine Güte, Jenny!“, erklang da die Stimme des grauhaarigen Mannes. „Geht es dir gut, Kleines?“

Die beiden wechselten einige Worte, und anschließend wandte der Mann sich Allison zu. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sie … Sie haben meiner Enkelin das Leben gerettet!“

Verlegen winkte Allison ab. „Ach was! Das war doch nichts. Und hätte zudem jeder getan.“

„Jeder?“ Der Mann deutete mit einer alles umfassenden Handbewegung auf die umstehenden Leute, die sich bereits wieder anderen Dingen widmeten. „Sehen Sie hier irgendjemanden, der sich auch nur gerührt hat? Und da schließe ich mich ausdrücklich ein.“ Er hob die Arme. „Ich war einfach nur vollkommen erstarrt, so wie wohl alle anderen auch. Sie aber haben sofort gewusst, was zu tun ist, und entsprechend reagiert.“ Er kniff die Augen zusammen. „Sind Sie Ärztin?“

Allison lachte bitter auf und schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nicht einmal studiert. Sagen wir einfach, ich bin medizinisch interessiert.“ Nun, das entsprach durchaus der Wahrheit. Denn Allison hatte einmal Ärztin werden wollen. Allerdings hatte das, wie so vieles andere in ihrem Leben, nicht geklappt.

Einer von vielen Punkten, in denen sie sich nicht im Geringsten von ihren Drillingsschwestern unterschied. Denn keine von ihnen hatte bisher irgendetwas erreicht …

„Hören Sie“, riss der Mann sie aus ihren Gedanken. „Ich weiß nicht, wie ich“, er blickte kurz auf seine Enkelin, die sich bereits wieder mit ihrem Smartphone beschäftigte, „wie wir uns bei Ihnen bedanken können. Sie haben …“

„Hören Sie, das war wirklich selbstverständlich. Und wenn Sie etwas für Ihre Enkelin tun wollen, gehen Sie sicherheitshalber mit ihr zum Arzt. Die Heimlich-Methode, die ich angewendet habe, kann durchaus mal eine angeknackste Rippe nach sich ziehen. Sie sollten das lieber checken lassen.“

Der Mann nickte dankbar. „Das werde ich. Ach, warten Sie.“ Aus der Tasche seines Jacketts zog er eine Visitenkarte hervor und reichte sie ihr. „Sollten Sie einmal Hilfe benötigen oder irgendwelche Probleme hier auf Bali haben – bitte rufen Sie mich an. Sie würden mir eine große Freude machen.“

„Danke.“ Allison nahm die Karte entgegen und steckte sie ein, ohne sie näher anzusehen. Sie wollte nicht unhöflich sein, war sich aber sicher, dass sie das Angebot des Mannes ohnehin nicht annehmen würde. Und so atmete sie auch erleichtert auf, als das Gepäckband schließlich ansprang und die ersten Koffer auftauchten. Ihr stand jetzt einfach nicht der Sinn nach einer längeren Unterhaltung mit dem älteren Herrn. Dazu hatte sie das eben Erlebte selbst viel zu sehr aufgewühlt. Sie brauchte jetzt dringend ein bisschen Ruhe.

Bevor sie sich der Aufgabe widmete, die sie nach Bali geführt hatte.

Hier muss es irgendwo sein …

Angestrengt spähte Allison vier Stunden später durch die Windschutzscheibe, während sie ihren Mietwagen, einen kleinen, schon recht altersschwachen Mazda – mehr hatte ihr schmales Budget einfach nicht hergegeben – den schmalen holprigen Weg entlanglenkte.

Nachdem sie am Flughafen ihren Koffer an sich genommen und den Wagen abgeholt hatte, war sie auf direktem Weg nach Denpasar gefahren, wo sie schon von England aus ein günstiges Zimmer angemietet hatte. Die Fahrt dorthin hatte sie kaum genießen können, zu groß war die Erschöpfung gewesen, die sie nach den ganzen Anstrengungen des Tages verspürte. Dass sie trotz des völlig chaotischen Verkehrs überhaupt angekommen war, war im Grunde ein Wunder. Wenn es irgendwelche Regeln gab, an die die unzähligen Fahrräder, Autos und Busse sich hielten, dann hatte Allison sie nicht ausmachen können. Und so war sie dann auch, kaum dass sie ihr kleines, aber sauberes Zimmer betreten hatte, ins Bett gefallen, um für ein Stündchen die Augen zuzumachen.

Nun, am späten Nachmittag, befand sie sich wieder in ihrem Mietwagen und näherte sich nach einer halben Stunde Fahrt ihrem Ziel, das sie dank des eingebauten Navigationsgerätes gut gefunden hatte. Und dieses Mal war sie auch in der Lage gewesen, die Fahrt zu genießen – keine große Kunst, bei der Aussicht, die sich ihr geboten hatte: sanft geschwungene Hügel, bedeckt von üppigem Grün – und funkelndes Saphirblau, das zwischen den Bäumen hervorblitzte, als sie der Küstenstraße folgte.

Autor

Penny Roberts
Penny Roberts verspürte schon als junges Mädchen die Liebe zum Schreiben. Ihre Mutter sah es gar nicht gern, dass sie statt Schule und Hausaufgaben ständig nur ihre Bücher im Kopf hatte. Aber Penny war sich immer sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, und ihr Erfolg als Autorin gibt ihr...
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