Wehrlos vor Liebe

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Chloe Russo ist außer sich: Nico Di Fiore, der ihr einst das Herz gebrochen hat, ist plötzlich ihr Boss! Ihr Vater hat den maßlos arroganten Italiener überraschend zum CEO für das Russo-Kosmetikimperium in Manhattan bestimmt. Nur Geschäftserfolg scheint Nico seither zu interessieren. Aber manchmal sieht Chloe in seinen Augen ein gefährliches Feuer. Bildet sie es sich nur ein - oder begehrt ihr unbeugsamer Boss sie? Doch wieso behandelt er sie dann so kühl? Chloe ahnt nichts von Nicos ehrenhaftem Versprechen, an das er seit dem Tod ihres Vaters gebunden ist …


  • Erscheinungstag 06.11.2018
  • Bandnummer 2361
  • ISBN / Artikelnummer 9783733710521
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Dieses Mal würde sie nicht verlieren.

Chloe Russo richtete ihren Blick fest auf das gelbe Taxi, das wie ein Geschenk des Himmels im dichten Verkehr der First Avenue auftauchte. Das erleuchtete Schild auf dem Dach war ihre einzige Rettung in diesem Monsun, der über Manhattan hereingebrochen war.

Sie schirmte ihre Augen gegen den Regen ab, trat einen Schritt tiefer in den hupenden, drängelnden Verkehr hinein und hob ihre rechte Hand hoch in die Luft. Der Fahrer eines Bentleys hupte sie wütend an, als er ihr schlingernd auswich, aber Chloe hielt mit klopfendem Herzen ihren Blick fest auf das Gesicht des Taxifahrers gerichtet und versuchte, ihn durch Kraft ihrer Gedanken dazu zu bringen anzuhalten.

Bremsen kreischten, Wasser spritzte, und schließlich blieb das Taxi unmittelbar vor ihr stehen. Sie stapfte durch die riesige Pfütze, die zwischen ihr und ihrem Sieg stand, öffnete die hintere Tür des Wagens und schlüpfte hinein. Dann ratterte sie die Adresse von Evolution in der Fifth Avenue hinunter, gefolgt von der Bitte, aufs Gas zu treten.

Der Taxifahrer verdrehte die Augen. „Lady, haben Sie mal rausgeguckt?“

Ich habe eine halbe Stunde draußen gestanden, hätte sie am liebsten geschrien. Während fünfunddreißig seiner Kollegen an ihr vorbeigefahren waren – das wusste sie so genau, weil sie jeden einzelnen gezählt hatte. Aber mit dem letzten verbliebenen Taxifahrer in Manhattan einen Streit anzufangen, erschien ihr angesichts ihrer momentanen Situation nicht besonders klug.

Sie kam zu ihrer ersten Vorstandssitzung als Direktorin für die Parfümabteilung von Evolution zu spät. Kein guter Anfang.

Ihr war so kalt, dass ihre Zähne klapperten. Sie schob die Kapuze ihres Regenmantels nach hinten und wischte sich ihr Gesicht mit einem Taschentuch ab. Zum Glück war ihre Wimperntusche wasserfest. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Sie hätte früher losgehen sollen. Sie hatte vergessen, dass Taxen an einem regnerischen Tag in Manhattan praktisch unmöglich zu bekommen waren. Aber wenn sie ehrlich war, hatte ihr einfach vor dem heutigen Tag gegraut.

Eine laute Melodie ertönte aus ihrer Handtasche. Schnell fischte sie ihr Handy heraus, bevor ihr grummeliger Taxifahrer sie wieder in den Regen hinausjagte.

„Ich bin gerade gelandet“, verkündete ihre Schwester Mireille. „Geht es dir gut? Wie war dein Flug? Hast du dich schon eingelebt? Es ist so toll, dass du wieder in New York bist!“

Die Flut an Worten ließ sie lächeln. „Gut, gut und ja. Auch wenn ich gerade eine halbe Stunde gebraucht habe, um ein Taxi zu kriegen. Ich bin bis auf die Knochen durchnässt.“

„Du hast zu lange in Europa gelebt.“ Ihre Schwester senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Natürlich rufe ich eigentlich an, um zu hören, wie dein Dinner mit Nico gelaufen ist. Ich sterbe vor Neugier. Onkel Giorgio ist total von der Rolle wegen dieser Kampagne gegen ihn.“

Chloe biss sich auf die Unterlippe. Nico Di Fiore, der neue CEO von Evolution, der Kosmetikfirma ihrer Familie, war ein etwas heikles Thema. Als Patensohn ihres Vaters war er nach dem Tod ihrer Eltern im letzten Frühling zum CEO ernannt worden, genau, wie es im letzten Willen ihres Vaters gestanden hatte. Dieser Posten hätte eigentlich an ihren Onkel Giorgio gehen sollen. Nico war außerdem als finanzieller Vormund für Chloe und Mireille eingesetzt worden, bis die beiden ihren dreißigsten Geburtstag erreichten – eine unerwartete und nicht akzeptable Entwicklung für Chloe, weil das bedeutete, ihn vier Jahre in ihrem Leben zu haben.

„Ich war nicht mit ihm essen.“ Ihr lässiger Tonfall verbarg ihre Anspannung, von der ihre Hände ganz feucht waren. „Ich wollte es auf der rein geschäftlichen Ebene belassen und habe vorgeschlagen, dass wir uns stattdessen morgen treffen – an meinem ersten Tag zurück in der Firma.“

Mireille atmete hörbar ein. „Du hast Nico abgesagt?“

„Nein, so war es nicht.“ Okay, es war genau so.

Es entstand eine bedeutungsschwangere Pause. „Das war nicht wirklich clever, Chloe.“

„Er hat mich zum Dinner mit sich einbestellt“, verteidigte sie sich. Genauso wie er sie aus Paris einbestellt hatte, wo sie sehr glücklich gewesen war. „Das ist unsere Firma, nicht seine. Macht es dich nicht wahnsinnig, dass er die Kontrolle hat?“

„Es ist das, was Vater wollte.“ Mireille seufzte. „Ich weiß, dass Evolution weit mehr dein Baby ist als meins. Und dass Onkel Giorgio dich mit seiner Aufregung angesteckt hat. Aber du musst dich der Realität stellen. Nico leitet die Firma. Ich weiß nicht, was zwischen euch beiden los ist, aber du wirst dich damit abfinden müssen.“

„Zwischen uns ist gar nichts los.“ Und zwar nicht mehr, seitdem Nico ihr vor viel zu vielen Jahren das Herz gebrochen hatte. Sie hatte ja vorgehabt, genau das zu tun – sich mit der neuen Realität anfreunden, in der Nico nach dem Autounfall ihrer Eltern vor sechs Monaten in der Toskana, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, die Leitung der Firma übernahm. Aber bislang war ihr das noch nicht recht gelungen.

Das beeindruckende, goldgetönte Hauptquartier von Evolution erhob sich majestätisch vor ihr, als das Taxi auf die Fifth Avenue einbog. In ihrer Brust bildete sich ein Kloß, der es ihr schwermachte, zu atmen.

„Ich muss jetzt auflegen“, murmelte sie. „Heute ist die Vorstandssitzung.“

„Stimmt ja. Na, besser du als ich“, sagte ihre Schwester. Als Nachwuchsführungskraft in der PR-Abteilung der Firma war Chloes jüngere Schwester kein Mitglied des Vorstands. „Versprich mir, dass du dich nicht mit ihm streitest, Chloe.“

„Das“, erwiderte sie grimmig, „ist unmöglich. Ich liebe dich. Wir sehen uns morgen.“

Das Taxi hielt vor dem Gebäude an, und sie bezahlte den Fahrer. Dann trat sie auf den Bürgersteig und erstarrte innerlich, als sie zu den riesigen goldenen Lettern über dem Eingang hinaufschaute. Evolution. Ihre Eltern Martino und Juliette Russo hatten Evolution in zwei Jahrzehnten zu einer legendären Kosmetikmarke aufgebaut. Sie waren das Herz und die Seele der Firma gewesen. Und von mir.

Seit ihrem Tod hatte sie sich im Labor in Paris vergraben und dieses Gebäude nicht mehr betreten. Der Gedanke, nun hineinzugehen, ohne dass sie da waren, kam ihr wie das finale Eingeständnis vor, dass die beiden wirklich fort waren.

Die über den Bürgersteig hetzenden Menschen flossen um sie herum, während sie dort wie festgewachsen stand. Erst als eine Frau sie anherrschte, sie solle endlich weitergehen, löste sie sich aus ihrer Trance und ging auf die Glastüren zu. Sie zeigte dem Wachmann ihre Karte und fuhr mit dem Fahrstuhl in den fünfzigsten Stock, wo sich die Vorstandsbüros befanden.

Eine schlanke blonde Frau mit modischer Brille kam auf sie zu, als sie in die elegante, mit cremefarbenem Marmor ausgestattete Empfangshalle trat. „Clara Jones, Ihre neue persönliche Assistentin“, stellte sie sich vor und erlöste Chloe im gleichen Atemzug von ihrem tropfnassen Regenmantel. „Die anderen sind alle schon da. Nico ist … nun ja, Sie wissen schon …“ Sie warf Chloe einen bedeutungsvollen Blick zu. „Er fängt gerne pünktlich an.“

Ihr Herz pochte bis in ihre Kehle. „Ich habe kein Taxi bekommen.“

„Ja, das ist hier wirklich schlimm.“

Clara führte sie den Flur hinunter zu dem großen, vornehmen Konferenzraum mit Ausblick auf den herbstlichen, von Laternen erleuchteten Central Park. „Nico hat mir Ihre Präsentation weitergeleitet. Sie können also sofort loslegen.“

Wenn das nur stimmte. Erinnerungen überfluteten sie, als sie sich in dem vollen, warm erleuchteten Raum umschaute, in dem die Vorstandsmitglieder vor Beginn der Sitzung ein Glas Wein und Hors d’Œuvres genossen. Erinnerungen an ihren Vater, der den Platz am Kopf des Tisches eingenommen hatte, der nun Nico als Vorstandsvorsitzendem zustand. An ihre Mutter, die die anderen Vorstände mit ihrem Esprit und Charme gefesselt hatte.

Ihr Magen zog sich vor Nervosität zusammen. Sie war Wissenschaftlerin. Ihre Mutter war ein Genie mit einer überlebensgroßen Persönlichkeit gewesen, die aus einer kleinen Firma für Badeprodukte ein Multi-Milliarden-Dollar-Unternehmen erschaffen hatte. Chloe fühlte sich wesentlich wohler im Labor, wo sie schöne Dinge erschaffen konnte, als dabei, Präsentationen vor ihren steifen Vorstandskollegen zu halten, wie ihre Mutter es getan hatte. Aber das gehörte jetzt zu ihren Aufgaben und war ein notwendiges Übel.

Alle Nervosität bezüglich ihrer Präsentation verschwand jedoch in dem Moment, als sie Nico erblickte. Sein schmal geschnittener dunkelgrauer Tom Ford Anzug, das weiße Hemd und die silberfarbene Krawatte betonten seine olivfarbene Haut und ließen ihn unglaublich elegant aussehen. Doch erst als sie seinen Blick auffing, erkannte sie, wie groß die Probleme wirklich waren, in denen sie steckte.

Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst, der Kiefer angespannt, die rauchgrauen Augen voller düsterer Wolken. Er war eindeutig wütend. Eisfinger krabbelten über ihren Rücken, als er etwas zu dem Vorstandsmitglied neben sich sagte und seinen großen, beeindruckenden Körper dann in Bewegung setzte und direkt auf sie zukam.

Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, als er vor ihr stehen blieb. Sie legte den Kopf in den Nacken, um Nico anzusehen, und weigerte sich zuzugeben, wie sehr er sie einschüchterte. Mit seiner dunklen Löwenmähne, den kalten, schieferfarbenen Augen und den wie gemeißelten Wangenknochen war er nicht im herkömmlichen Sinne attraktiv. Dazu war er viel zu hart.

Sein breiter, voller Mund machte diesen Mangel an Weichheit jedoch wett – er wirkte prall und beinahe schmollend, wenn Nico aus einer bestimmten Person etwas herausholen wollte. Im Moment jedoch nicht.

Die Erkenntnis, dass sie in den sieben Jahren in Europa immer noch keine Immunität gegen ihn aufgebaut hatte, ließ ihr Herz noch schneller schlagen. Sie mochte ihn hassen – okay, sie hasste ihn tatsächlich für die grausame Lektion, die er ihr erteilt hatte –, aber er war trotzdem immer noch der umwerfendste Mann, den sie je getroffen hatte.

„Es tut mir leid.“ Sie zwang die Worte aus ihrer zusammengeschnürten Kehle. „Ich hatte vergessen, dass es an einem Regentag unmöglich ist, in Manhattan ein Taxi zu bekommen.“

Seine Augen verdunkelten sich. „Das besprechen wir später“, sagte er so leise, dass ihr Puls davonjagte. „Nimm dir zehn Minuten, um alle zu begrüßen, dann fangen wir an.“

Sie nickte und machte die Runde. Dankbar hielt sie sich an ihren Onkel Giorgio, den extravaganten Marketingdirektor der Firma, als Nico den Beginn der Sitzung verkündete.

Er war ein mitreißender Sprecher und malte ein lebendiges Bild von der ersten Weihnachtssaison, die Evolution ohne ihre Gründer erleben würde. Er verschwieg auch nicht, dass die Aktien gesunken waren, weil die Geschäftswelt fürchtete, der Verlust von Juliette Russo, der kreativen Kraft der Firma, würde Evolution den Todesstoß versetzen.

Chloe war nicht mit ihm einer Meinung, dass Evolution ein sinkender Stern war. Ihre Eltern hatten eine Firma aufgebaut, in der es vor Talenten nur so wimmelte. Und Vivre, die Duftlinie, die Chloe über die letzten drei Jahre mit einem der besten französischen Parfümeure entwickelt hatte, würde der Verkaufsschlager zu Weihnachten werden, den die Firma brauchte. Aber das wusste bisher noch keiner.

Nico rief sie als Letzte in der Parade der Vorstandsmitglieder auf, die ihre Highlights für die Weihnachtssaison präsentierten.

Ihre Beine zitterten, als sie sich erhob. Sie strich sich den Rock ihres immer noch regenfeuchten Kostüms glatt und trat nach vorne. Mit klammen Händen drückte sie auf die Fernbedienung, um ihre Präsentation zu beginnen. Anfangs war sie etwas zu schnell und holprig, doch je mehr sie sich auf ihre Leidenschaft für ihre Arbeit konzentrierte, desto mehr entspannte sie sich, und schließlich konnte sie ihre Vision für Vivre mitsamt der begleitenden Kampagne flüssig vorstellen.

Doch anstatt sich die Lippen zu lecken über ihren aufregenden Launchplan, in dem Prominente die inspirierenden Botschaften einer neuen Sicht auf die Schönheit verbreiteten, bombardierten die anderen Vorstände sie mit Fragen.

„Ist der Parfümmarkt nicht schon gesättigt?“

„Deine Mutter hätte das verkaufen können, aber kannst du das auch?“

„Was ist mit den ganzen Arbeitsplätzen, in denen Düfte inzwischen nicht mehr erlaubt sind?“

„Wäre es nicht besser, sich auf die naturbelassenen Produkte zu konzentrieren, die den Markt dominieren?“

Sie atmete tief durch und beantwortete die Fragen, so gut sie konnte. Erzählte, dass sie, seit sie ein kleines Kind war, mit ihrer Mutter im Labor gearbeitet hatte. Sie wusste, wo die Magie war. Sie hatte bereits einige unverkennbare Parfüms kreiert, die ihr Können bestätigten. Und die Unterstützung der Prominenten für die Vivre-Kampagne würde ihnen helfen, für den Rummel zu sorgen, den sie benötigten.

Als ihr die Antworten ausgingen und sie Hilfe benötigte, um das größere Bild zu zeichnen, schaute sie zu Nico, doch anstatt ihr zu Hilfe zu kommen, lehnte er sich mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl zurück und richtete seinen funkelnden grauen Blick auf sie.

Ihr Magen zog sich zusammen. Dieser Mistkerl bestrafte sie! Ein Schweißtropfen rann ihr über den Rücken.

Schließlich schaltete sich ihr Onkel mit einem leidenschaftlichen Statement ein und erinnerte den Vorstand an die Wurzeln des Unternehmens – luxuriöse Parfüms wie Vivre, die die Welt im Sturm erobert hatten. Aber zu diesem Zeitpunkt lag ihre Glaubwürdigkeit schon in Scherben.

Sie beantwortete die letzte Frage und setzte sich mit hochrotem Gesicht auf ihren Platz.

Nico riss sich mit letzter Kraft zusammen, als das letzte Vorstandsmitglied in Richtung Fahrstuhl verschwand.

„In mein Büro“, flüsterte er Chloe ins Ohr. „Sofort!“

Hoch erhobenen Hauptes marschierte sie vor ihm aus dem Raum und den Flur hinunter in Richtung seines Büros. Es wird schwer für sie sein, es zu finden, dachte er, während er ihre kurvige Rückansicht bewunderte, da sie keine Ahnung hat, wo es sich befindet.

Vor der exklusiven neuen Lounge auf der Etage blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die Bilder der Mitbegründer der Firma wandern, die dort an der Wand hingen.

„Was ist mit dem Büro meines Vaters passiert?“ Sie wirbelte herum und funkelte ihn anklagend an. „Konntest du nicht mal das in Ruhe lassen?“

„Ich fand es nicht angemessen, es zu beziehen“, sagte er und führte sie in Richtung seines eigenen Büros. Etwas in ihm war nicht in der Lage gewesen, seinen Mentor einfach auszulöschen, indem er das Büro neu einrichtete, das immer Martinos gewesen war. Aber in diesem Moment hatte er keinerlei Bedürfnis, ihr sein Handeln zu erklären. Er hatte größte Mühe, sie wegen ihrer ständigen Widerspenstigkeit nicht zu erwürgen, mit der sie es dieses Mal einen Schritt zu weit getrieben hatte.

Energisch schloss er die Tür zu seinem Büro. Dann trat er ans Fenster und zählte bis zehn, denn Chloe schaffte es, Knöpfe zu drücken, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie hatte. Sie rief Gefühle in ihm hervor, die zum Schweigen zu bringen er seine gesamte Willenskraft aufbringen musste. Denn Chloe war der Riss in seiner Rüstung. Die einzige Schwäche, derer er nicht Herr wurde. Und sie zu wollen war schon immer der direkte Weg in die Hölle gewesen.

„Du hast mich bestraft, nicht wahr?“

Er drehte sich um und musterte die Wut auf ihrem schönen Gesicht, ihre vor den festen Brüsten verschränkten Arme, die aufsässige Haltung.

Das Feuer, das in ihm aufstieg, war verrückt. Ebenso das Verlangen, diese vollen Lippen mit seinen in die Unterwerfung zu zwingen, um sie aus ihrem Selbstschutz zu holen, in den sie sich nach dem Tod ihrer Eltern zurückgezogen hatte. Und der Wunsch, irgendein Anzeichen der leidenschaftlichen Chloe hervorzulocken, von der er wusste, dass sie noch existierte.

Aber sie zu besitzen war für ihn nie eine Option gewesen. Das hatte er sich schon vor langer Zeit abgewöhnt. Genau wie er jedes andere unerwünschte Bedürfnis in seinem Leben ausgelöscht hatte.

Er zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Setz dich.“

„Ich ziehe es vor, zu stehen.“

„Bene.“ Er setzte sich auf den Rand seines Schreibtischs und sah sie an. „Ich habe dich da draußen im Regen stehen lassen, weil du eine Lektion lernen musstest.“

„Die Lektion, dass du jetzt der Herrscher bist“, forderte sie ihn mit blitzenden Augen heraus.

„Ja“, sagte er ruhig. „Das bin ich. Und je eher du das erkennst, desto einfacher wird es für uns beide werden. Es war der Wunsch deines Vaters, Chloe, dass ich diese Firma leite. Und auch wenn ich nicht vorhabe, dir deinen Platz streitig zu machen – ehrlich gesagt habe ich das genaue Gegenteil vor –, musst du diese Tatsache akzeptieren.“

Sie verzog den Mund. „Giorgio sollte der Kopf der Firma sein, nicht du.“

„Und deshalb hat dein Vater mich vor einem Jahr zu seinem Stellvertreter gemacht?“, erwiderte er kühl. „Denk doch bitte rational.“

Sie winkte ab, und ihre dunklen Augen funkelten vor Hitze. „Das kam nur, weil du ihn einer Gehirnwäsche unterzogen hast. Wie sonst kann es sein, dass sein Testament und letzter Wille bei seinem Tod so perfekt waren? Weil es dein Masterplan war, deshalb.“

Hitze stieg in ihm auf. „Pass gut auf“, sagte er leise. „Du fängst an, wie dein verbitterter, verblendeter Onkel zu klingen. Martino hat mir die Kontrolle gegeben für den Fall, dass ihm und Juliette etwas passiert, denn er wusste, dass Giorgio die Firma mit seinen Ausgaben gegen die Wand fahren würde. Dein Onkel verfügt weder über den Geschäftssinn noch über den gesunden Menschenverstand, um Evolution zu leiten.“

„Das ist gelogen“, keuchte sie. „Er ist als einer der besten Marketingexperten der Welt bekannt. Und vergiss nicht“, fügte sie an, und ihre Augen verdunkelten sich mit altem Schmerz. „Ich weiß aus erster Hand, wie ehrgeizig du bist, Nico. Erfolg ist das Einzige, was für dich zählt.“

„Und das ist das Problem zwischen uns, Chloe. Ich trauere auch. Wir alle trauern. Und doch konzentrierst du dich auf uralte Geschichten, für die hier kein Platz ist. Du musst endlich erwachsen werden.“

Sie riss die Augen auf. „Ich bringe nichts Persönliches in diese Geschichte.“

„Ach nein?“ Er ließ seinen Blick über ihre feuerroten Wangen wandern. „Deshalb hast du dich auch in den letzten sechs Monaten in Paris versteckt, anstatt deinen Platz hier in der Firma einzunehmen? Damit ich dich schlussendlich zurückbeordern musste? Weil es nichts Persönliches ist?“

Ein Muskel an ihrem Mundwinkel zuckte. „Du hast so ein aufgeblasenes Ego! Vivre war noch nicht so weit.“

„Das hast du bereits gesagt“, erwiderte er ruhig. „Meine Kontakte im Labor hingegen sagen, dass es schon vor sechs Monaten fertig war. Dass du es hinausgezögert und Makel ausgeräumt hast, die es gar nicht gab.“ Er fing ihren Blick auf und hielt ihn fest. „Das Verstecken vor der Welt und vor mir hört jetzt auf, Chloe.“

Sie funkelte ihn an. „Ich hasse dich.“

„Ich weiß.“ Er hatte schon vor langer Zeit beschlossen, dass das für sie beide von Vorteil war.

Sie atmete so tief ein, dass er ihren schmalen Körper zittern sah. „Hast du dir meinen Launchplan angesehen, da Vivre ja so was von fertig ist?“

„Ja“, murmelte er und nahm ihn von seinem Tisch. „Und das ist meine Meinung dazu.“

Ihre Augen wurden groß wie Untertassen, als er den Stapel Zettel einfach in den Papierkorb warf. „Was machst du denn da?“

„Ich befördere ihn dahin, wo er hingehört.“ Er schüttelte den Kopf und stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab. „Dieser Plan hat kein vernünftiges Rückgrat. Du hast lediglich wachsweiche, aufgeblasene Marktforschungsergebnisse, die darauf bauen, dass dein kreatives Erbe den Duft schon verkaufen wird. Es ist ein fünfzig Millionen Dollar schwerer Launch, dessen Dreh- und Angelpunkt eine Promikampagne ist, die dir nie im Leben gelingen wird.“

Sie reckte das Kinn. „Das ist ein brillanter Plan, Nico. Ich habe einen Masterabschluss, falls du das vergessen haben solltest. Vielleicht hätte ich etwas detaillierter auf die Zahlen eingehen sollen, aber die Marktforschungsergebnisse für Vivre sind durch die Decke gegangen. Einer der besten französischen Parfümeure findet das Parfüm so brillant wie alles, was meine Mutter erschaffen hat. Dies ist das Produkt, das beweisen wird, dass Evolution zurück ist. Und nicht irgendeine generische, naturbelassene Hautpflegeserie, die von ihren Mitbewerbern nicht zu unterscheiden ist.“

Er musterte ihr erhitztes, entschlossenes Gesicht. Die Leidenschaft, die er seit Monaten vermisste. „Ich werde Emilios Hauptpflegelinie für den Weihnachtsverkauf unterstützen. Da bin ich mit dem Rest des Vorstands ganz einer Meinung.“

„Das ist verrückt! Diese Firma ist auf unseren Parfüms als Markenzeichen aufgebaut. Die Leute schauen in Erwartung einer inspirierenden Kampagne auf uns. Denn genau das tun wir – wir inspirieren.“

„Und du“, sagte er, „hast das Produkt zu spät geliefert. Selbst wenn ich die Kampagne gutheißen würde, haben wir schon Anfang Oktober. Du würdest niemals mehr rechtzeitig auf den Markt kommen.“

Zum ersten Mal knickte sie ein. Denn er hatte recht, und das wusste sie. Er wusste aber auch, dass sie ein Genie war. Sie hatte das Talent ihrer Mutter. Der Erfolg von Evolution lastete auf ihren Schultern, genau wie ihre Mutter es gewusst hatte. Aber fünfzig Millionen Dollar in einer unmöglich durchzuführenden Kampagne zu versenken, wäre Wahnsinn. Vor allem, weil die Firma dringend einen Verkaufsschlager zur Weihnachtszeit benötigte.

„Arbeite mit Vertrieb und Marketing zusammen“, sagte er. „Zeig mir die Zahlen. Stell einen Zeitplan auf, der mich überzeugt, dass es funktionieren kann. Aber“, ergänzte er, „und das ist ein großes Aber, ich kann für so einen Plan wie diesen nur grünes Licht geben, wenn du die Prominenten heranschaffst, die du angekündigt hast. Was angesichts des Schlags, den unsere Firma abbekommen hat, sehr unwahrscheinlich ist. Also überleg dir auch einen Plan B.“

„Es gibt keinen Plan B“, erwiderte sie ausdruckslos. „Ich habe diese Promis aufgrund ihrer persönlichen Geschichte ausgewählt. Weil sie den Geist des Parfüms verkörpern. Ich habe die Düfte mit ihnen im Hinterkopf kreiert. Wenn ich mit ihnen sprechen kann, wenn sie den Duft erleben, werden sie die Botschaft verstehen, die ich übermitteln will. Ich weiß, dass ich sie dann dazu bringen werde mitzumachen.“

Er nahm die Energie auf, die sie ausstrahlte. Den unerschütterlichen Glauben an das, was sie erschaffen hatte. Und fragte sich, ob sie eigentlich erkannte, dass es in dieser Kampagne um sie ging. Um den Krieg, den sie immer mit sich geführt hatte, um im Schatten ihrer charismatischen Mutter und der umwerfenden Schwester zu glänzen.

„Beweise mir, dass ich mich irre“, forderte er sie heraus. „Gib mir, worum ich bitte. Aber bedenke, dass dein Diplom in der realen Welt nichts wert ist, bis du bewiesen hast, dass du weißt, wie du es einsetzen musst. Dabei kann ich dir helfen. Dein Vater hat mich gebeten, dein Mentor zu sein. Aber ich habe Besseres zu tun, als deinen Babysitter zu spielen, wenn du nicht gewillt bist, zu lernen.“

„Babysitter?“ Das Wort troff nur so vor Verärgerung. „Es reicht dir nicht, meine Finanzen zu kontrollieren, jetzt musst du mich auch noch beruflich bevormunden?“

Er presste die Lippen zusammen. „Das ist genau die Einstellung, die ich meine. Jedes Mal, wenn ich versuche, eine Arbeitsbeziehung zwischen uns aufzubauen, blockst du ab. Du verlierst dich auf mysteriöse Weise im Labor. Du hast zu viel zu tun, um zu reden. Das alles endet hier und jetzt.“

„Das mache ich gar nicht“, widersprach sie. „Ich hatte wirklich viel zu tun.“

Er rieb sich mit der Hand übers Kinn. „Okay, von heute an wird es so laufen. Ich werde dir den Rest der Woche geben, um dich einzuleben und deinen Launchplan zu überarbeiten. Dann kommst du mit den Einzelheiten zu mir, und wir beschließen, wie wir weitermachen. Ab nächster Woche werden wir uns jeden Morgen treffen. Ich kann dir die geschäftliche Seite beibringen, und wir können uns abstimmen, soweit es nötig ist. So hat es dein Vater auch mit mir gemacht. Und“, fügte er hinzu und legte zur Betonung eine kleine Pause ein, „du wirst dich bemühen zuzuhören, anstatt mich ununterbrochen zu bekämpfen.“

Sie warf ihm einen versteinerten Blick zu.

„Und schlussendlich“, schloss er, „werden wir anfangen, dein Presseprofil aufzubauen. Die PR-Abteilung wird ein paar Übungseinheiten mit dir arrangieren.“

Sie neigte das Kinn. „Ich bin im Umgang mit der Presse fürchterlich. Entweder ich sage gar nichts oder Dinge, die ich nicht sagen soll. Lass das Giorgio übernehmen.“

„Giorgio ist nicht die Zukunft dieser Firma, sondern du. Du wirst es lernen.“

Der Widerstand war ihr an jeder Zelle ihres zierlichen Körpers anzusehen. Ihre dunklen Augen flammten auf. „Bist du jetzt fertig mit deinen ganzen Regeln? Denn ich bin erschöpft und würde gerne heimgehen. Der Zeitunterschied macht sich langsam bemerkbar.“

„Eines noch.“ Er sah sie sanft an. „Ich bin dein Chef, Chloe. Hass mich im Privaten, so viel du willst, aber in der Öffentlichkeit wirst du mir den Respekt zollen, der mir gebührt.“

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen schäumte Chloe immer noch über ihre Begegnung mit Nico. Die Sonne schien in ihr Schlafzimmer in ihrem Stadthaus an der Upper East Side. Es war beinahe, als hätte der Monsun vom Vorabend nie stattgefunden. Alles wirkte nagelneu an diesem perfekten Herbsttag in Manhattan.

Sie verzog den Mund. Wenn sie nur das Gleiche über ihren Showdown mit Nico sagen könnte.

Autor

Jennifer Hayward

Die preisgekrönte Autorin Jennifer Hayward ist ein Fan von Liebes- und Abenteuerromanen, seit sie heimlich die Heftromane ihrer Schwester gelesen hat.

Ihren ersten eigenen Liebesroman verfasste Jennifer mit neunzehn Jahren. Als das Manuskript von den Verlagen abgelehnt wurde und ihre Mutter ihr empfahl, zunächst mehr Lebenserfahrung zu sammeln, war sie...

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