Wildfire Island - Ärzte im Paradies - 6-teilige Serie

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VERLIEBT IN DEN INSELARZT
Zurück nach Wildfire Island! Die paradiesische Insel ist ihr Zuhause und der Ort, an dem Caroline die Liebe kennenlernte. Mit Keanu, bis er verschwand … Doch die Rückkehr hält für die junge Krankenschwester eine Überraschung bereit: Auch Keanu, inzwischen Arzt, ist wieder da!

NOTFALL IM PARADIES
Luke gestehen, dass er eine Tochter hat? Niemals! Das steht für Ana fest, seit der attraktive Tropenarzt sie verlassen hat. Doch als er plötzlich wieder vor ihr steht, gerät Anas Vorsatz ins Wanken. Denn um das Leben ihrer Tochter zu retten, braucht sie seine Hilfe …

IN DEN SANFTEN HÄNDEN DES RETTERS
"Minenunglück. Zwei Einstürze. Arbeiter und Ärztin verschüttet." Alarmiert hört Notarzt Josh Campbell den Funkspruch von Wildfire Island. Denn die einzige Ärztin auf der Insel ist Maddie, seine Exfrau. Und sie ist hochschwanger! Für Josh beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …

DOKTOR, SCHEICH - UND HERZENSBRECHER
Er weiß, dass er sie kennt - doch Sarah bestreitet, jemals mit ihm gesprochen zu haben. Dabei erinnert sich Scheich Rahman al-Taraq genau an ihre erste Begegnung. Und daran, wie faszinierend er die Ärztin damals fand! Der Chirurg muss herausfinden, was Sarah verbirgt …

SOS - ICH LIEBE DICH!
Wie ein Blitz trifft sie die Liebe! Die junge Sanitäterin Lia würde brennend gern mehr mit Inselarzt Sam Taylor tun, als nur mit ihm Hand in Hand zu arbeiten. Doch selbst nach gefährlichen Rettungseinsätzen auf Wildfire Island bleibt Sam zurückhaltend …

LEBENSRETTER DR. LOCKHART!
Verzweifelt taucht Hettie in die tosende Brandung. Sie muss den kleinen Joni vorm Ertrinken retten! Doch es ist Max Lockhart, der neue Arzt auf Wildfire Island, der den Jungen findet, ihr in den Arm legt - und der Hetties größten Traum wahrmachen könnte …


  • Erscheinungstag 15.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733735562
  • Seitenanzahl 864
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Meredith Webber, Alison Roberts, Marion Lennox

Wildfire Island - Ärzte im Paradies - 6-teilige Serie

IMPRESSUM

Verliebt in den Inselarzt erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2016 by Meredith Webber
Originaltitel: „The Man She Could Never Forget“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 92 - 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Michaela Rabe

Umschlagsmotive: Stockbyte / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733735609

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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WILDFIRE ISLAND

DAS TEAM:

Dr. Keanu Russell

Inselarzt

Caroline Lockhart

Krankenschwester

Henrietta (Hettie) de Lacey

Pflegedienstleiterin

Dr. Sam Taylor

Inselarzt, Bakteriologe

Dr. Maddie Haddon

Flying Doctor

Vailea Kopu

Köchin, Putz- und Bettenfrau

Anahera (Ana) Kopu

Krankenschwester

Mina

Pflegehelferin

Jack Richards

Hubschrauberpilot

Matt Rogers

Hubschrauberpilot

Manu

Krankenpflegehelfer

Nori

Krankenschwester auf Atangi

PATIENTEN:

Alkiri

Raoul

Kalifa Lui

UND:

Dr. Max Lockhart

Carolines Vater

Ian Lockhart

ihr Onkel

Charlotte Lockhart

ihre Mutter

Steve

Carolines Exverlobter

Jill

Pilotin

Christopher

Carolines Zwillingsbruder

Helen

Keanus Mutter

Bessie, Harold

Haushälterehepaar

Brenko

ihr Enkel

Hana

Anaheras Tochter

Peter Blake

Minen-Manager

Reuben Alaki

Schichtleiter

Aaron Anapou

Minenarbeiter

Bill

Bauleiter

Dr. Luke Wilson

Tropenarzt

1. KAPITEL

Als die kleine Propellermaschine auf die Insel zuflog, wurde die Last, die Caroline Lockhart seit Monaten bedrückte, leichter. Freude, endlich wieder zu Hause zu sein, erfüllte sie.

Aus der Luft sah die Insel im türkisblauen Meer wie ein kostbarer Edelstein aus. Die schneeweißen Sandstrände im Norden schimmerten wie Satinbänder, die ein liebevoll verpacktes Päckchen schmückten, und der dichte grüne Regenwald war das Geschenkpapier.

Aus Westen kommend überquerten sie jetzt die roten Felsklippen, die bei Sonnenuntergang magisch aufleuchteten und denen die Insel ihren Namen verdankte. Von dem feurigen Glühen fasziniert, hatten Seeleute sie in früher Zeit Wildfire getauft.

Je tiefer es runterging, umso besser waren nun auch die Gebäude zu erkennen. Am augenfälligsten war die palastartige Lockhart-Villa, die Carolines Urgroßvater auf einer Anhöhe an der Südspitze der Insel bauen ließ, nachdem er das riesige Gelände den einheimischen M’Langi abgekauft hatte.

Lockhart House war viele Jahre Carolines Zuhause gewesen, das einzige echte Heim, das sie als Kind gekannt hatte.

Es erhob sich am höchsten Punkt des Plateaus mit atemberaubendem Ausblick auf den Pazifik. Von hier oben sah man, wie die Wellen sich weißschäumend am Korallenriff brachen, und dahinter verteilt die Inseln, kleine und große Juwelen im unendlichen Ozean, die zusammen mit Wildfire die M’Langi-Inselgruppe bildeten.

Etwas tiefer als die Villa lag die Lagune, fast versteckt vom üppigen Regenwald, der sie umgab. Ihre Farbe wechselte mit der Tönung des Himmels, und heute leuchtete das Wasser in einem tiefdunklen Blau.

Grandmas Lagune.

In Wirklichkeit war es ein Kratersee aus der Zeit, als Vulkane in dieser Gegend sehr aktiv waren, aber Grandma hatte ihre Lagune geliebt, und der Name war bis heute geblieben.

Unterhalb des Anwesens stand das Krankenhaus, von Carolines Vater Max Lockhart zum Gedenken an seine verstorbene Frau – Carolines Mutter – errichtet. Kleinere Häuser, die Unterkünfte der Mitarbeiter, umgaben das Hauptgebäude wie eine Schar Küken die Mutterglucke.

Ganz in der Nähe erstreckte sich die Start- und Landebahn.

Weiter nördlich, wo die Anhöhe zum Meer hin flacher wurde, befand sich die Forschungsstation mit dem großen Laborgebäude, Küchen- und Aufenthaltsbaracke und Hütten, in denen Gastforscher aus aller Welt untergebracht waren.

Hier befassten sich Wissenschaftler mit speziellen Tropenkrankheiten, die vor allem auf diesen abgelegenen tropischen Inseln vorkamen. So war zum Beispiel die Wirkung eines Tees erforscht worden, den die M’Langi aus der Rinde eines besonderen Baums herstellten. Man hatte beobachtet, dass die Insulaner, die den Tee regelmäßig tranken, seltener von Moskitos gestochen wurden und deshalb weniger anfällig für die von Mücken übertragene Enzephalitis waren.

Die Station wirkte verändert, wie Caroline verwundert bemerkte. Sie fragte sich, ob überhaupt noch jemand dort arbeitete. Keanus Vater war der Erste gewesen, der sich für die Wirkung des speziellen Tees interessiert hatte.

Keanu …

Sie schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerungen an ihn loszuwerden, und überlegte, wer jetzt dort unten wohl forschte. Ihr Vater hatte einen gewissen Luke erwähnt, der dort für kurze Zeit gearbeitet hatte, doch das war auch schon vier, fünf Jahre her.

Die kleine Maschine hielt wieder Kurs auf den Süden der Insel und überflog das Dorf, das dort entstanden war, als die Insel Opuru nach einem Tsunami hatte evakuiert werden müssen. Jetzt sah Caroline auch den Eingang zur Goldmine, die tief unter dem Plateau lag.

Die Mine hatte ihrer Familie und den Insulanern Wohlstand gebracht. Jetzt stand dort nur ein riesiger gelber Bulldozer, alles andere war halb versteckt unter Norfolktannen und dichtem Gestrüpp.

Seltsam.

Das Flugzeug ging tiefer, und die Korallenriffe im Meer wurden sichtbar wie ein Wellenmuster auf einem feinen Seidenschal. Vor Carolines geistigem Auge stiegen Bilder von Keanu und ihr auf. Wie oft hatten sie im kristallklaren Wasser geschnorchelt, die geheimnisvolle Unterwasserfauna mit ihren farbenprächtigen Fischen bewundert.

Eine plötzliche Sehnsucht nach ihrer unbeschwerten Kindheit und der Geborgenheit ihres Zuhauses erfasste sie. Warum war sie seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen? Weil Keanu nicht mehr da war? Oder weil sie fürchtete, ihm hier zu begegnen?

„Geht’s dir gut?“, fragte Jill.

Caroline wandte sich ihrer Freundin zu. Ihrer besten Freundin, die auch auf eine Entfernung von siebenhundert Meilen ihrer Stimme angehört hatte, wie unglücklich sie war. Jill war diejenige gewesen, die ihr geraten hatte, nach Hause zu fliegen.

Sie hatte sogar darauf bestanden. Allerdings vermutete Caroline, dass Jill ihr auch stolz ihr neues Flugzeug vorführen wollte.

„Ja. Es tut mir nur leid, dass ich so lange weg war.“

„In letzter Zeit war das absolut verständlich. Du musstest dir schon Sorgen machen, dass Steve, diese Ratte, sich jemand anderes angelt, wenn du auch nur eine Woche weg bist.“

Das riss sie aus ihrer sentimentalen Stimmung. „Meinst du das ernst? Glaubst du wirklich, dass ich ihm so egal war?“

Jills Schweigen sprach Bände.

Caroline seufzte. „Du hast recht. Er hat es bewiesen, als er mich wie eine heiße Kartoffel fallen ließ, nachdem in den Zeitungen stand, dass die Wildfire-Goldmine mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat.“

Sie ärgerte sich immer noch darüber, und wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass es auch wehtat. Wie konnte es sein, dass sich hinter dem Mann, der sie mit Blumen, Geschenken und innigen Liebesbeteuerungen umworben hatte, ein solcher Mistkerl verbarg?

War sie so naiv gewesen?

„Vielleicht hat er tatsächlich eine andere kennengelernt“, meinte Caroline. „Kann doch sein, dass er die Wahrheit gesagt hat.“

„Der würde die Wahrheit nicht mal erkennen, wenn sie ihm ins Auge fliegt!“, gab Jill zurück, doch danach schwieg sie zum Glück.

Um sich auf den Landeanflug zu konzentrieren oder ihre Freundin nicht zu verletzen, da war sich Caroline nicht ganz sicher. Tatsache blieb, dass ihr erst später – zu spät – aufgefallen war, wie sehr sich Steve für die Mine ihrer Familie interessierte.

Die Maschine setzte auf dem Asphalt auf, rollte aus, während Jill gleichmäßig bremste.

„Die Bahn ist in guter Verfassung“, meinte sie, als sie ihren Flieger neben der Scheune zum Stehen brachte, wo Wildfire Island seine Besucher willkommen hieß.

Das Gebäude müsste dringend gestrichen werden, dachte Caroline. Ihre anfängliche Euphorie, wieder zu Hause zu sein, verflog, als sie sah, wie heruntergekommen alles wirkte.

Die Landebahn war allerdings erneuert worden.

Ging es mit der Mine wieder aufwärts?

Nein, ihr Vater hatte bestätigt, dass es Probleme gab, als sie ihn auf den Zeitungsartikel ansprach. Der Zustand der Mine schien ihm große Sorgen zu bereiten, auch wenn er die meiste Zeit in Sydney verbrachte. Er arbeitete dort als Internist, um in Christophers Nähe sein zu können. Carolines Zwillingsbruder hatte bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen und war deshalb geistig und körperlich behindert.

Sie erinnerte sich, dass ihr Vater grau vor Müdigkeit gewesen war. Feine Linien hatten sich in sein schmales Gesicht gegraben, ein deutliches Zeichen von dauerhaftem Stress und Überarbeitung. Aber wie alle Lockharts verfügte er über einen ausgeprägten Eigensinn.

„Flieg zur Insel, du gehörst dorthin“, hatte er sanft gesagt. „Und denk daran, mit Schmerz wird man am besten fertig, wenn man hart arbeitet. Das Krankenhaus kann eine zweite Krankenschwester gebrauchen, vor allem seit die Gesundheitsversorgung auf den Nachbarinseln ausgebaut wurde und wir die Zahl unserer Mitarbeiter reduziert haben.“

Harte Arbeit, damit hatte ihr Vater überlebt, seit Carolines Mutter in seinen Armen gestorben war und ihn mit zwei Frühchen, einem gesunden kleinen Mädchen und einem winzigen behinderten Jungen zurückgelassen hatte.

„Vielleicht hat der Besitzer des schicken Helis da drüben ein genauso schickes Flugzeug und hat dafür die Landebahn generalüberholen lassen.“ Jills Stimme holte Caroline aus ihren traurigen Gedanken.

„Schicker Helikopter? Wir hatten immer ganz normale Rettungshubschrauber, und Dad meinte, es ist nur noch einer übrig.“ Als sie Jills ausgestrecktem Finger mit dem Blick folgte, musste sie ihrer Freundin allerdings recht geben. Am Ende der Landebahn stand ein ultraleichter wendiger Hubschrauber, der mit seiner dunkelblauen Lackierung und den im Sonnenlicht glänzenden Goldstreifen wie eine überdimensionale schillernde Libelle wirkte. „Der gehört uns nicht.“

„Aber vielleicht einem mysteriösen Millionär, den dein zwielichtiger Onkel Ian dazu überredet hat, in die Insel zu investieren.“

„Nach allem, was ich gehört habe, wäre eher ein Milliardär nötig“, meinte Caroline düster. Inzwischen hatte sie die Gurte gelöst und öffnete nun die Tür. „Komm doch auf einen Tee mit rauf“, bot sie Jill an.

Die Freundin schüttelte den Kopf. „Ich habe eine Thermosflasche mit Kaffee und ein paar Sandwichs dabei, gut ausgerüstet, wie es sich für eine echte Pfadfinderin gehört. Noch schnell auftanken, dann bin ich weg. Der Flug dauert nur vier Stunden. Da mache ich mich lieber auf den Weg nach Hause zu meiner Familie.“

Caroline nahm ihr Gepäck – ein kleiner Koffer mit den wenigen leichten Sommerkleidern, die sie besaß. In Sydney hatte sie fast ausschließlich Designermode getragen. Steve bestand darauf, dass sie immer modisch und teuer gekleidet war.

Und das habe ich mitgemacht?

Ihr stieg die Schamröte in die Wangen, als sie daran dachte, wie sehr sie sich von ihm hatte dominieren lassen. Das ging so weit, dass sie oft Doppelschichten übernahm, um für ein Wochenende mit ihm wegfahren zu können. Lass uns was Tolles unternehmen, damit fing es immer an und endete doch wieder nur bei einer Cocktailparty mit Leuten, die sie nicht kannte … und auf deren Bekanntschaft sie auch keinen gesteigerten Wert legte.

Aber sie machte mit, weil sie ihn liebte. Oder nur geliebt hatte, dass er sie liebte …

Jill hatte ihren Flieger aufgetankt, wischte sich die Hände an einem alten Lappen ab und wandte sich zu ihr um. „Du passt auf dich auf, ja? Und melde dich. Ich will Anrufe und Mails, keine Infos über Social Media, wo jeder lesen kann, was du treibst. Mich interessiert vor allem das, was Unter Ausschluss der Öffentlichkeit fällt.“ Ihre Freundin umarmte sie herzlich. „Du packst das schon.“

Das klang sehr bestimmt, und dennoch meinte Caroline, einen leisen Zweifel herauszuhören.

Liebe gute Jilly. Sie war ihre erste Freundin geworden, als sie vor so vielen Jahren aufs Internat gekommen war. Heute lebte Jill in Queensland, im Reich der Rinderherden, wo sie aufgewachsen war. Sie hatte einen Rinderzüchter geheiratet, mit dem sie erstklassige Tiere heranzüchtete, und Kinder bekommen.

Caroline erwiderte die Umarmung und sah Jill nach, wie sie in ihre Maschine kletterte, startete und die Asphaltbahn entlangsauste. Sie winkte ihr nach, als das Flugzeug in der Luft war, und blickte sich dann um.

Ja, das Gebäude wirkte heruntergekommen und der Garten vernachlässigt, aber das Gefühl von Frieden und Geborgenheit, das ihr Herz erfüllte, sagte ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Sie war zu Hause.

Als sie sich bückte, um den Koffer anzuheben, fiel ihr auf, dass etwas sehr Vertrautes fehlte. Wo war Harold, der jeden begrüßte, der auf dieser Piste landete? Harold, der Keanu und ihr die alten Legenden der Inseln erzählt und ihnen bunte süßsaure Lollis schenkte, deren Geschmack sie heute noch auf der Zunge hatte.

Keanu …

Sie straffte die Schultern und atmete tief die duftende tropische Luft ein. Das war einmal, und jetzt ist jetzt, dachte sie. Es wurde Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, ihr Leben in die Hand zu nehmen und nach vorn zu blicken, wie es ihr Freunde und Freundinnen geraten hatten.

Anscheinend gehörte auch dazu, ihren Koffer selbst den Pfad zur Villa hinaufzutragen. Nicht dass es ihr etwas ausgemacht hätte, doch sie fand es schon seltsam, dass niemand nachsah, wer wohl mit dem Flugzeug gekommen war. Wenn auch nur aus reiner Neugier.

Ausgeschlossen, dass keiner die Maschine gesehen oder gehört hatte.

Oder interessierte es niemanden?

Oder war Harold nicht mehr da?

Wie alt mochte er sein?

Ihr zog sich der Magen zusammen bei der Vorstellung, dass ein Mensch, der in ihrer Kindheit so wichtig für sie war, inzwischen nicht mehr lebte.

Unmöglich. Auch wenn für Kinder alle Erwachsenen alt waren, so konnte Harold nicht älter als vierzig gewesen sein, als Caroline von hier fortging.

Dröhnendes Hupen schickte alle Gedanken an die Vergangenheit in weite Ferne. Caroline drehte sich um. Eine Motor-Rikscha – auf der Insel ein weit verbreitetes Transportmittel – raste aus Richtung der Forschungsstation direkt auf sie zu.

„Sind Sie Ärztin?“, brüllte der Fahrer ihr entgegen.

„Nein, aber Krankenschwester. Kann ich helfen?“

Das Gefährt hielt neben ihr. „Wir haben im Krankenhaus angerufen. Man sagte uns, dass der Doktor uns entgegenkommt. Meinem Kumpel hier ging’s anfangs noch gut, aber jetzt ist er ohnmächtig geworden. Sehen Sie selbst …“ Er deutete auf den Mann, der hinter ihm auf der Rückbank des kleinen blauen Fahrzeugs zusammengesunken war.

Auf den ersten Blick wirkte er unverletzt, doch dann sah Caroline seinen Fuß. Unterhalb des kleinen Zehs hatte ein Nagel ihn durchbohrt und heftete Fuß, Flipflop und das darunterliegende Stück Holz zusammen.

Caroline glitt neben ihn, fühlte ihm den Puls. Der schlug schneller als normal, was bei den Schmerzen, die der Mann ertragen musste, nicht ungewöhnlich war.

„Wir sollten ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen“, riet sie.

Auf dem Weg dorthin tauchte eine Gestalt auf.

Eine Gestalt, die sie kannte, obwohl die vergangenen Jahre aus dem Teenager einen Mann gemacht hatten. Und auch wenn ihr Herz wie verrückt schlug, der Mann war ihr nicht vertraut.

Sie verließ die Rikscha und nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während Keanu sich zu dem Patienten setzte, ihm eine Sauerstoffmaske aufsetzte und das tragbare Sauerstoffgerät einstellte. Ein verwunderter Blick zu Caroline hinüber, ein leichtes Stirnrunzeln – das war die einzige Reaktion darauf, sie nach so langer Zeit unverhofft wiederzusehen.

„Warten wir noch einen Moment, ich gebe ihm ein Schmerzmittel.“

Die Worte waren nichts Besonderes, aber die Stimme, tief und voll, erzeugte ein Prickeln auf Carolines Haut wie eine Liebkosung. Es war die Stimme eines Mannes, nicht eines Jungen … Keanu ist hier?

Sie wusste nicht, ob sie ihn umarmen oder schlagen sollte, doch vor Zeugen konnte sie weder das eine noch das andere tun. Der Wunsch, sich umzudrehen und Keanu noch einmal anzusehen, war allerdings kaum zu bezwingen.

Auch wenn sein Bild klar und deutlich vor ihrem inneren Auge stand.

Keanu war erwachsen geworden, ein Mann mit mandelbrauner Haut, grauen Augen – ein Erbe seiner Mutter –, dunklen Brauen und schwarzem Haar. Dazu eine gerade Nase, ein verlockend voller, fester Mund, breite Schultern, ein flacher Bauch, dessen Muskeln sich unter dem eng anliegenden Poloshirt abzeichneten.

Er sah umwerfend aus.

Mehr noch, er strahlte eine männliche Sinnlichkeit aus, die jeder Frau weiche Knie bescherte, wenn sie ihn nur anblickte.

„Brauchst du Abwechslung vom Großstadtleben?“

Die kühle Frage erledigte das mit den weichen Knien schlagartig, und der sarkastische Unterton machte Caroline ärgerlich.

Mit erhobenem Kopf drehte sie sich zu ihm um, ließ sich nicht anmerken, dass seine Worte sie verletzt hatten.

„Ich bin Krankenschwester und hergekommen, um zu arbeiten. Mich überrascht nur, dich hier zu sehen, nachdem du vor so vielen Jahren alle Verbindungen zur Insel gekappt hast.“

Zum Glück hielten sie vorm Krankenhaus. Caroline war gerade erst klar geworden, dass der Fahrer ihrem Dialog aufmerksam gelauscht hatte.

Der Patient war wach. Sauerstoff und Schmerzmittel hatten geholfen. Keanu bat den Fahrer, mit anzufassen, und zu zweit hievten sie den Mann aus der Rikscha.

„Legen Sie die Arme um unsere Schultern“, forderte Keanu ihn auf.

Caroline hatte das Gefühl, dass er sich auf seinen Patienten konzentrierte, um sie nicht ansehen zu müssen. Fest entschlossen, es sich nicht gefallen zu lassen, dass er – oder ein anderer Mann – ihr wehtat, machte sie die Tür zur Vergangenheit fest zu. Was damals passiert ist, ist lange her, dachte sie. Ich bin ein anderer Mensch geworden, habe mein Leben gelebt und werde genau das auch jetzt tun.

Doch als sie Keanu folgte, konnte sie nicht vermeiden, ihn zu betrachten. Dieser Mann, den sie als Jungen so gut gekannt hatte, war auch von hinten eine Augenweide. Breite Schultern, schma le Hüften, ein knackiger Po und Wadenmuskeln, die nicht nur vom Work-Out im Fitnessstudio stammen konnten. Schon damals hatte Keanu sich viel im Freien bewegt, liebte kilometerlange Joggingstrecken. Beim Laufen fühlt man sich frei, hatte er oft gesagt …

Sie ertappte sich dabei, wie sie immer noch auf seinen Po starrte. Am besten verschwand sie schleunigst von hier!

Kaum hatten sie den Eingang erreicht, drehte sich Keanu jedoch zu ihr um. „Wenn du Krankenschwester bist, solltest du mit reinkommen und dich nützlich machen. Hettie und Sam halten Sprechstunde auf den anderen Inseln. Außer mir ist hier heute nur ein Pflegehelfer.“

Da stand er, groß, fast drohend, und der geringschätzige Tonfall spiegelte sich in seinen Gesichtszügen wider.

In Caroline zerbrach etwas. War dies wirklich Keanu, der geliebte Freund und Gefährte in Kindheitstagen? Keanu, der immer sanft und freundlich gewesen war, sich um sie gekümmert hatte, wenn sie einsam und allein war? Pass gut auf Caroline auf, sagte seine Mutter damals oft, und Keanu, zwei Jahre älter als seine Freundin, nahm das sehr ernst.

Vielleicht hatte es deshalb so wehgetan, als er auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Leben verschwand. Eine Zeit lang hatte sie sogar bezweifelt, dass sie jemals darüber hinwegkommen würde.

Mit gesenktem Kopf, um ihre Gefühle nicht zu verraten, eilte sie die Treppenstufen hinauf und begleitete die drei Männer in den kleinen, jedoch mit allem Nötigen ausgestatteten Raum, der als Notaufnahme und Ambulanz zugleich diente. Der Fahrer half ihnen, seinen Kollegen auf die Untersuchungsliege zu legen, murmelte etwas davon, dass er zurück zur Arbeit müsse, und verschwand.

Caroline war mit Keanu allein bei dem Patienten.

Keanu, der sie mehr oder weniger ignorierte, während sich in ihr ein emotionaler Tumult abspielte.

„Nagelpistole?“, fragte er, als er den Fuß untersuchte.

Der Mann nickte.

„Haben Sie noch nie von Stahlkappen-Arbeitsschuhen gehört? Ich dachte, auf der Baustelle ist kein anderes Schuhwerk erlaubt.“

„Da draußen?“ Der Mann schnaubte. „Wer soll das kontrollieren?“

„Heb das Bein an, umfass die Wade.“ Zweifellos eine Anweisung an die Krankenschwester, ohne dass Keanu sich die Mühe machte, sie dabei anzuschauen.

„Was ist dem Wörtchen Bitte passiert?“, entgegnete Caroline zuckersüß und hob das Bein, damit er sehen konnte, wie weit der Nagel ins Holz gedrungen war.

Anscheinend hatte sie einen Nerv getroffen, denn Keanu blickte auf, mit ausdrucksloser Miene. Nur seine Augen verrieten ihn.

Also war sie nicht die Einzige, die verwirrt war.

„Okay, leg es wieder ab.“ Noch ein Befehl. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, und Keanu war nicht verwirrt. „Bitte“, fügte er da hinzu, und plötzlich war er wieder der Keanu, wie sie ihn kannte: neckend, mit dem Hauch eines Lächelns in den Mundwinkeln.

Vollends durcheinander wünschte sie sich, dass Jill geblieben wäre. Caroline war auf die Insel gekommen, um Ruhe und Frieden zu finden, sich zu erholen nach der Demütigung, auf einen Mann hereingefallen zu sein, der nur hinter dem Geld ihrer Familie her war.

„Hier ist ein Schlüssel.“

Keanus Finger berührten ihre, und es war wie ein Stromschlag, der durch ihren ganzen Körper ging. „In Schrank B auf dem zweiten Regal findest du Ampullen mit einem Lokalanästhetikum. Bring zwei mit, nein, besser drei, er ist ein großer Kerl. Und Spritzen. Antiseptikum, Verbandsmaterial und Tupfer sind im Schrank daneben. Er ist nicht abgeschlossen. Wenn du meinst, dass wir noch etwas brauchen, hol auch das. Ich sehe mich mal nach einer Säge um.“

Der Patient keuchte erschrocken auf, aber Keanu war schon aus dem Zimmer.

Caroline lächelte beruhigend, als sie den Schrank aufschloss. „Er wird Ihnen nicht den Fuß abnehmen“, sagte sie und legte alles, was sie brauchte, auf einen Instrumentenwagen, den sie dann zur Liege rollte. „In jedem Krankenhaus gibt es alle möglichen Arten von Sägen. Die mit der Diamantschneide benutzen wir, um Gipsverbände abzunehmen, oder elektrische Sägen und Bohrer bei Knie- und Hüftoperationen. Die wir hier natürlich nicht durchführen. Ich schätze, dass der Doktor Ihr Bein von der Wade abwärts betäuben und dann den Nagel zwischen Ihrem Flipflop und dem Holzstück abtrennen wird. Der Nagel lässt sich aus Ihrem Fuß und der Gummisohle leichter herausziehen als aus dem Holz.“

Das schien ihn nicht besonders zu beruhigen. Caroline holte sich einen Patientenbogen, um Name, Alter und Adresse in Erfahrung zu bringen und ob der Mann irgendwelche Medikamente einnahm. Damit hoffte sie, ihn ein wenig abzulenken. Zum Schluss konnte sie nicht widerstehen und fragte, was ihn auf die Insel geführt hatte.

„Wir reparieren die kleinen Häuser“, antwortete er in dem Moment, als Keanu mit einer kleinen batteriebetriebenen Säge und einem tragbaren Röntgengerät zurückkehrte.

„Bei der Forschungsstation“, fügte der Bauarbeiter hinzu, bevor Caroline genauer nachfragen konnte.

„Die Station wird auf Vordermann gebracht, obwohl nicht genug Geld da ist, um das Krankenhaus vernünftig zu führen?“

Ihre Verblüffung schien sich auch in ihrem Gesicht abzuzeichnen. Keanu warf ihr nur ein knappes „Später!“ zu und wandte sich wieder seinem Patienten zu.

Nachdem er das untere Bein narkotisiert hatte, erklärte er, was er vorhatte.

„Die Schwester hat’s mir schon gesagt. Bringen wir’s hinter uns.“

Keanu bat Caroline, das Holz in Position zu halten, und beugte sich tiefer über den malträtierten Fuß, um die Säge richtig anzusetzen. Sein Kopf versperrte Caroline die Sicht, und ihr Blick fiel auf die feine Narbe am Haaransatz, ein Andenken an ihren Versuch, ihm mit dem Rasiermesser ihres Großvaters die Haare zu scheren.

Ehe sie sich in weiteren Erinnerungen verlieren konnte, hatte er den Nagel vom Holz getrennt und richtete sich wieder auf. Caroline warf das Holzstück in den Abfalleimer. Als sie sich umdrehte, war Keanu bereits dabei, das Röntgengerät vorzubereiten.

„Wir müssen wissen, ob der Nagel durch einen Knochen gegangen ist“, erklärte er und half ihr damit, sich wieder auf ihre Rolle als Krankenschwester zu besinnen. „Oder ob Sehnen beschädigt sind.“

„Und wozu?“ Der Patient hatte, zumindest vorübergehend, keine Schmerzen mehr und wurde ungeduldig.

„Um zu entscheiden, ob wir ihn herausziehen oder herausschneiden müssen.“

„Nichts da, ziehen Sie das verdammte Ding einfach raus!“

Keanu ignorierte ihn und lenkte den Röntgenkopf auf den verletzten Fuß.

„Ich dachte, im Krankenhaus gibt es einen speziellen Röntgenraum“, sagte Caroline.

Keanu blickte auf. „Das ist richtig, aber ich möchte stark bezweifeln, dass wir beide ihn auf die Liege heben können. Und da sein Bein betäubt ist, kann er uns kaum helfen, sondern würde eher auf die Nase fallen.“

Darauf hätte ich auch selbst kommen können, dachte sie und fühlte sich auf ihren Platz verwiesen.

„Zurück!“

Sie entfernte sich die vorgeschriebenen zwei Meter vom Röntgengerät. Keanu, durch eine Bleischürze geschützt, machte aus verschiedenen Blickwinkeln Aufnahmen. Danach schob er den Apparat in eine Ecke des Zimmers, hängte die Schürze weg und betrachtete die Bilder auf dem Computermonitor.

„Sieh dir das an. Was meinst du?“

Caroline stellte sich neben ihn, konnte es immer noch nicht recht glauben, dass es wirklich Keanu war. Keanu, der in den ersten zwölf Jahren der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war. Weil er anders als ihr Vater oder auch Christopher immer für sie da war, ihr bester Freund, der mit ihr durch dick und dünn ging.

Bis er eines Tages verschwand.

Aber dieser Keanu … Es war seltsam. Fast unheimlich. Und es tat ein bisschen weh …

„Also?“, drang seine tiefe, leicht ungeduldige Stimme in ihre Gedanken.

Sie konzentrierte sich. „Wie durch ein Wunder ist er genau zwischen zwei Mittelfußknochen eingedrungen. Zwar muss er eine Sehne oder eins der Bänder getroffen haben, aber da die Knochen heil geblieben sind, ist keine Beeinträchtigung der Beweglichkeit zu erwarten. Und sieh mich nicht so an“, murmelte sie, als er ihr einen fragenden Blick zuwarf. „Ich bin voll ausgebildete Krankenschwester und war Pflegedienstleiterin der Notaufnahme am Canterbury Hospital.“

„Wundert mich nur, dass du dafür Zeit hattest“, meinte er lakonisch, bevor er zu seinem Patienten zurückging.

Sie war drauf und dran, von ihm zu verlangen, dass er seine Bemerkung genauer erklärte. Allerdings war jetzt bestimmt nicht der richtige Moment, mit ihm zu diskutieren.

„Okay, du desinfizierst die Haut rund um den Nagel und hältst dann den Fuß fest, während ich versuche, den Nagel herauszuziehen. Ich möchte vermeiden, das Ding herausschneiden zu müssen.“

Caroline zog frische Handschuhe an, desinfizierte alle betroffenen Stellen, wechselte erneut die Handschuhe und umfasste den Fuß, entschlossen, sich mit aller Körperkraft einzusetzen, sollte der Nagel widerspenstig sein.

Zum Glück glitt er mühelos aus der Wunde, die nun zu bluten anfing. Was das Infektionsrisiko weiter minderte.

„Antibiotika- und Tetanus-Injektionen sind im verschlossenen Schrank“, meinte Keanu, als er die Wunde inspizierte. „Und bring Kochsalzlösung und eine Packung oraler Antibiotika mit. Es ist alles genau beschriftet, weil wir hier oft Agenturschwestern haben. Mit der Kochsalzlösung spüle ich die Wunde aus, bevor ich sie verbinde.“

Er arbeitete schnell und präzise und war sich nicht zu schade, den Verband selbst anzulegen. Normalerweise war das die Arbeit der Krankenschwester.

„Jetzt müssen wir Sie nur noch in Ihre Unterkunft bringen“, sagte er schließlich. „Schonen Sie den Fuß für ein paar Tage und ziehen Sie Arbeitsstiefel an, bevor Sie wieder arbeiten gehen. Falls Sie keine haben, rufen Sie auf dem Festland an, die schicken dann welche mit dem nächsten Flugzeug.“

„Ich habe welche“, antwortete der Mann mürrisch. „Sie brauchen mich nicht zu fahren, ich sage meinem Kumpel Bescheid, dass er mich abholen soll. Der Vorarbeiter hat nicht gern Fremde auf der Baustelle.“

„Welche Baustelle? Was wird da bei der Forschungsstation gemacht, Keanu?“

Er berührte sie leicht am Arm. „Lass es gut sein“, sagte er ruhig, aber es war eher das Gefühl seiner warmen Hand auf ihrer Haut, das sie zum Schweigen brachte.

Seit wann konnte eine flüchtige Geste sie so verwirren? Weil du wieder auf der Insel bist, ihn nach so langer Zeit wiedersiehst … Die Erinnerung daran, wie sehr sie ihn damals vermisst hatte, war immer noch lebendig. Genau wie der Groll, dass er ohne ein Wort verschwunden war. Selbst ihre Briefe waren alle ungeöffnet zurückgekommen.

Caroline schloss kurz die Augen, versuchte, die verwirrenden Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. Sie war hier, um sich zu erholen und wieder zu sich selbst zu finden. Und um zu arbeiten.

Sie räumte auf, warf Tupfer und gebrauchte Kanülen in die entsprechend gekennzeichneten Abfallbehälter. Ihr Patient unterhielt sich derweil mit Keanu übers Fischen. Kein Thema, das sie zurzeit beschäftigte, und da sie Abstand brauchte, verließ sie das Zimmer, um ihren Koffer zu holen.

Caroline spürte die Feuchtigkeit in der Luft, als sie durch dichten Regenwald den Pfad zum Lockhart House hinaufging.

Zu Hause. Sie war endlich daheim, alles andere zählte nicht. Und sie wollte sich hier nützlich machen. Eine zusätzliche Krankenschwester wurde immer gebraucht. Sie würde sogar ohne Bezahlung arbeiten. Eine Unterkunft hatte sie und auch ein bisschen Geld, von dem Steve nichts gewusst hatte.

Außerdem war es nicht genau das, was Keanu und sie immer vorgehabt hatten? Er würde Arzt werden, sie Krankenschwester, um dann wollten sie beide nach Wildfire zurückkommen und das Krankenhaus auf der Insel führen. Ein Traum aus frühen Kindertagen, ausgelöst durch ein Kinderbuch, das von einem Arzt und einer Krankenschwester handelte. Vielleicht, weil sie beide ein Elternteil verloren hatten, das möglicherweise hätte gerettet werden können, wenn die medizinische Versorgung besser gewesen wäre?

Halbwaisen – so nannten sie sich damals.

Auch das schmerzte: Keanu hatte sich seinen Teil des Traums erfüllt. Ohne sie.

Ihn unerwartet wiederzusehen, stellte alles auf den Kopf. Könnte sie überhaupt mit ihm zusammenarbeiten, nach allem, was passiert war?

Seine Mutter Helen starb, kurz nachdem sie Wildfire den Rücken gekehrt hatte. Das wusste Caroline von ihrem Vater, ohne dass er ihr Näheres erklärt hätte. Und obwohl Caroline tieftraurig gewesen war, verspürte sie gleichzeitig unbeschreiblichen Zorn auf Keanu. Wie konnte er einfach weggehen? Ohne ihr vorher Bescheid zu sagen? Und warum hatte er ihr nicht persönlich vom Tod seiner Mutter erzählt?

„Ich nehme ihn.“

Tief und rau erklang Keanus Stimme hinter ihr und sandte ein Prickeln über ihren Rücken. Seine schlanken Finger berührten ihre, und sie ließ den Koffer sofort los.

Warum war er nach Wildfire zurückgekommen?

Und warum jetzt?

Doch dann richtete er dieselbe Frage an sie. „Warum bist du zurückgekommen?“

Ärger schwang unterschwellig mit, und Caroline fuhr die Krallen aus. „Es ist mein Zuhause“, entgegnete sie scharf.

„Eins deiner Zuhause“, betonte er. „Du hast noch ein sehr komfortables in Sydney, zusammen mit deinem Vater und deinem Bruder. Wie geht es Christopher?“

„Interessiert dich das wirklich? Das kann ich dir nämlich nicht glauben! Wenn einem jemand wichtig ist, bricht man den Kontakt nicht einfach ab. Man schickt seine Briefe nicht ungeöffnet zurück. Ich war zwölf, Keanu, und plötzlich verschwand jemand, den ich für meinen besten Freund gehalten hatte. Spurlos!“

Keanu senkte den Kopf, weil er den verletzten Ausdruck in ihren Augen nicht ertrug. Oh ja, seine erste Reaktion, als sie unverhofft hier auftauchte, war Ärger gewesen. Aus dem Schock heraus, sie zu sehen. Schließlich war er nach Wildfire zurückgekehrt, weil er Caroline in Sydney vermutete, wo sie das Großstadtleben mit Partys, Empfängen und anderen gesellschaftlichen Events in vollen Zügen genoss.

Ärger, Bitterkeit und auch Bedauern rumorten in ihm, als er sie an der Landepiste entdeckte. Ärger, den er eigentlich gegen ein anderes Mitglied der Familie Lockhart richten sollte, und Gewissensbisse, dass er ihre Freundschaft verraten hatte.

Und jetzt hatte er ihr wieder wehgetan.

Keanu kannte sie lange genug, um sofort zu erkennen, wann sie verletzt war. Zum ersten Mal hatte er es bei der dreijährigen Caroline gesehen, die sehnsüchtig auf den Vater wartete. Nur um enttäuscht zu hören, dass er nicht kommen konnte.

Meistens musste sie wegen Christopher zurückstecken. Ihr Bruder war oft krank. Davon hingen auch ihre Besuche in Sydney ab, die immer wieder abgesagt wurden, weil Christopher Windpocken oder etwas anderes hatte. Nachdem ihre geliebte Großmutter gestorben war, holte der Vater Caroline nach Sydney. Ihre anfängliche Freude zerfiel rasch, als sie feststellte, dass er sie auf ein Internat schickte. Dr. Lockhart arbeitete viel, und die Pflegekraft, die Christopher betreute, konnte oder wollte sich nicht auch noch um seine Schwester kümmern. Damals war Caroline zehn Jahre alt gewesen.

„Es tut mir leid“, sagte er und meinte alles, was ihr je Kummer gemacht hatte. Dabei wusste er genau, dass vier kurze Worte nie genügen würden.

„Ich will keine Entschuldigung von dir, Keanu.“ Sie klang immer noch aufgewühlt. „Ich bin hier, du bist hier, wir werden zusammenarbeiten, also müssen wir das Beste daraus machen.“

„Willst du wirklich hier im Krankenhaus arbeiten?“

Hatte er so ungläubig geklungen? Oder warum warf sie ihm diesen wütenden Blick zu, drehte sich abrupt um und stapfte zum Haus hinauf?

Er folgte ihr, betrachtete ihre schlanke Gestalt, nahm das Bild der Frau, die sie geworden war, in sich auf. Sie hatte lange, sonnengebräunte Beine, verlockend weibliche Hüften, die in eine schmale Taille übergingen, und schimmerndes goldblondes Haar. Es war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jedem Schritt trotzig hin- und herschwang – falls man Haare als trotzig bezeichnen konnte.

Ihm wurde erst allmählich bewusst, dass er sie attraktiv fand. Klar, es hatte ihn heiß durchzuckt, als sie sich zufällig berührten, und sein Herz hatte wie wild geklopft, vorhin, als er sie an der Landebahn stehen sah. Jetzt ahnte er, dass nicht nur Erinnerungen an eine tiefe Freundschaft diese starke Anziehungskraft heraufbeschworen.

Allerdings würde er sich hüten, sich irgendetwas anmerken zu lassen. Abgesehen davon, dass er auf Carolines Liste ihrer Lieblingspersonen wahrscheinlich ganz weit unten stand, war er, soweit er wusste, noch verheiratet.

Sie waren beide aufs Internat gegangen – sie in Sydney und er in North Queensland. Das hielt sie nicht davon ab, auch über die Entfernung hinweg in enger Verbindung zu bleiben. Er wusste genau, wie es Caroline ging und umgekehrt auch.

Das enge Band wurde durchtrennt, als man seine Mutter und ihn zwang, die Insel zu verlassen. Und Keanu brachte es nicht übers Herz, seiner Mutter noch mehr Kummer zuzufügen, indem er weiterhin zu Caroline Kontakt hielt. Zu einer Lockhart!

Keanu holte sie ein. „Du kannst von mir denken, was du willst, aber du solltest ein paar Dinge wissen.“

Sie blieb stehen, sah ihn fragend, fast herausfordernd an.

„Über deinen Onkel Ian, zum Beispiel.“

Wieder ein Blick, schweigend.

„Du weißt bestimmt, dass er hergekommen ist? Dass dein Vater ihm die Leitung der Mine überlassen hat, nachdem das Krankenhaus fertig war? Weil dein Vater mit Forschungsarbeiten beschäftigt war und nicht mehr so oft nach Wildfire fliegen konnte?“

Keanu sah ihr ins Gesicht, nahm die blaugrünen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern wahr, die dunklen Brauen, die sanft geschwungenen rosigen Lippen, die zierliche Nase. Er merkte, dass er unwillkürlich den Atem angehalten hatte, und atmete langsam aus, während er sich ein Gegenmittel gegen Carolines Anziehungskraft wünschte.

Der Ausdruck in ihren schönen Augen war noch um ein paar Grad kühler geworden.

„Und?“

Unbehaglich suchte er nach den richtigen Worten. Der Lockhart-Clan hatte immer fest zusammengehalten. Obwohl Ian eindeutig das schwarze Schaf der Familie war, so hatte Carolines Vater ihm dennoch einen verantwortungsvollen Posten übertragen.

„Ian hatte wohl Spielschulden, bevor er herkam. Leider kann man auch von einer abgelegenen Südseeinsel aus Glücksspiel betreiben. Nach allem, was ich gehört habe, verlor er Unsummen. Schließlich warf er Peter Blake, den Geschäftsführer der Mine, raus und nahm sich, was er brauchte. Der Betrieb geriet in Schwierigkeiten, und dein Vater musste viele Rechnungen aus eigener Tasche zahlen, um das Krankenhaus überhaupt am Laufen zu erhalten. Ian bezahlt schon lange keine Minenarbeiter mehr und hat die Maschinen stillgelegt.“

Keanu schwieg einen Moment. „Und dann ist er verschwunden. Niemand weiß genau, wann, aber es ist noch nicht lange her. An einem Tag lag seine Jacht noch in der Bucht vor Anker, am nächsten war sie weg.“

Betroffen sah sie ihn an. „Grandma wusste, dass er kein guter Mensch ist. ‚Auch wenn er mein Sohn ist‘, pflegte sie zu sagen, ‚aber er ist schlechte Saat‘. Als Kind hat mich das stark beschäftigt, dieser Ausdruck, meine ich.“

„Das Problem ist, dass wegen Ian der Name Lockhart hier zum roten Tuch geworden ist. Ich weiß nicht, wie die Leute auf deine Rückkehr reagieren werden.“

„Wie meinst du das?“

Caroline wirkte so verwirrt, dass er sie beinahe in seine Arme gezogen hätte.

Keine gute Idee …

Also streckte er die Hand aus und berührte beschwichtigend ihren Arm. Doch auch das war ein Fehler. Nicht nur, weil ihm heiß wurde, sondern weil sie so heftig zurückfuhr, dass sie gefallen wäre, hätte er sie nicht instinktiv festgehalten.

Keanu ließ sie sofort los, als sie wieder auf sicheren Beinen stand. „Die Lockharts gehören zur Geschichte der M’Langi, seit deine Familie sich hier zum ersten Mal niederließ“, begann er sanft. „Dein Großvater und dein Vater haben auf den Inseln für Wohlstand und medizinische Behandlungsmöglichkeiten gesorgt. Man hat sie für all das immer sehr bewundert. Aber Ians Verhalten hat den Namen Lockhart in den Dreck gezogen.“

In ihren Augen blitzte erneut Ärger auf, und im ersten Moment sah sie aus, als wollte sie ihn ohrfeigen. Doch dann wandte sie sich ab, ging zwei Schritte, drehte sich wieder um und sagte: „Ich trage mein Gepäck selbst, vielen Dank.“

Das klang kühl und beherrscht – nach außen hin.

Doch Keanu kannte sie gut genug, um zu wissen, dass seine Worte sie getroffen hatten. Sie war nie ein Snob gewesen, hielt sich nie für etwas Besseres als die anderen Inselkinder, mit denen sie die kleine Grundschule auf Atangi besucht hatte. Allerdings war sie stolz auf alles, was ihre Familie erreicht hatte.

Aber er sprach seine Gedanken nicht aus, sondern sagte nur knapp: „Kommt nicht infrage, Caroline. Wollen wir uns zusammensetzen und reden? Versuchen, wieder Freunde zu werden?“

Ihre einzige Antwort bestand darin, dass sie sich den Koffer schnappte und davonmarschierte, als könnte sie nicht schnell genug von Keanu wegkommen.

2. KAPITEL

Keanu Russell ging mit langen Schritten den Pfad zurück. Das Krankenhaus arbeitete nur mit einer Notbesetzung, er blieb besser in der Nähe. Als er, alarmiert vom Ältestenrat auf Atangi, der größten Insel der Gruppe, nach Wildfire zurückgekehrt war, fand er beunruhigende Zustände vor.

Er berührte das Tattoo auf seinem Oberarm – ein Zeichen seiner Zugehörigkeit zum Stamm der M’Langi. Komm nach Hause, wir brauchen dich. So ungefähr hatte die Botschaft der Ältesten gelautet. Und da die Insulaner, mit Unterstützung von Max Lockhart, seine Highschool-Bildung und das Medizinstudium bezahlt hatten, schuldete er es ihnen, ihrer Bitte nachzukommen.

Bevor er Australien verließ, versuchte er, Max Lockhart zu erreichen. Aber anscheinend war dessen Sohn Christopher an einer schweren Lungenentzündung erkrankt, und Max hielt sich bei ihm auf der Intensivstation auf.

Deshalb rief er hier im Krankenhaus an. Vailea, die Reinigungskraft, nahm den Anruf entgegen und erzählte ihm im Verlauf des Gesprächs, dass die Inseln und besonders das Krankenhaus eine schwere Krise durchmachten.

„Ian Lockhart wird uns alle ins Unglück stürzen“, sagte sie bedrückt. „Max bezahlt die Rechnungen des Krankenhauses aus eigener Tasche, weil die Mine völlig heruntergewirtschaftet ist. Und das Wenige, das sie noch abwirft, reißt sich dieser Ian unter den Nagel.“ Als er schwieg, weil er das erst verarbeiten musste, fügte sie hinzu: „Wir brauchen dich hier, Keanu.“

„Warum hast du mich nicht schon früher angerufen? Warum überlässt du es dem Ältestenrat?“

Vailea antwortete erst nicht. „Du warst lange weg, Keanu“, sagte sie schließlich. „Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Ich dachte, du kommst vielleicht nicht, wenn ich dich darum bitte. Aber die Ältesten …“ Sie legte auf, ohne zu Ende zu sprechen.

Keanu hatte die Tränen in ihrer Stimme gehört und saß wie erstarrt da, das Telefon in der Hand, von Schuldgefühlen geplagt.

M’Langi war sein Zuhause, die Insulaner waren sein Volk, und trotzdem war er weggeblieben. Aus Zorn und um seiner Mutter beizustehen, die nicht mehr sie selbst war – seit ein Lockhart ihr übel mitgespielt hatte.

Später kam noch ein Grund hinzu. Keanu wollte nicht an die glücklichen Tage seiner Kindheit erinnert werden, weil das unweigerlich die bittere Wahrheit heraufbeschwor, dass er eine Freundschaft verraten hatte, die ihm unendlich viel bedeutete.

Und nun war er doch wieder hier, und es gab so viel zu tun, dass Erinnerungen seine geringste Sorge waren. Nur manchmal, wenn er spätabends durch das kleine Krankenhaus ging, dachte er an den Jungen und das kleine Mädchen, die Hand in Hand über das damals noch unbebaute Gelände liefen. Dachte daran, wie sie davon träumten, als Arzt und Krankenschwester zurückzukehren und in dem neuen Krankenhaus zu arbeiten, das ihr Vater damals an dieser Stelle plante.

Der Geist von Caroline hatte ihn also nie in Ruhe gelassen – auch nicht, als er eine andere Frau heiratete –, aber da er vor Arbeit nicht wusste, wo ihm der Kopf stand, suchte dieses Gespenst der Vergangenheit ihn nicht allzu oft heim.

Bis Caroline persönlich auf der Insel aufgetaucht war und zu allem Überfluss hier arbeiten wollte.

Nicht dass sie nicht dringend gebraucht würde …

Die Krankenschwester, die morgen mit dem nächsten Flugzeug kommen wollte, hatte angerufen und ihre Ankunft auf unbestimmte Zeit verschoben. Ihre Mutter war krank geworden. Dann kam ein Anruf von Maddie Haddon, dass sie es mit der Maschine auch nicht schaffen würde – wegen irgendwelcher Terminprobleme bei ihrer Schwangerschaftsvorsorge. Maddie gehörte zu den Fly-In-Fly-Out-, kurz FIFO-Ärzten, Medizinern, die regelmäßig zu Kurzbesuchen in entlegene Gebiete flogen.

Sam Taylor, der einzige ortsansässige Arzt, war unterwegs zu einer Sprechstunden-Tour auf die anderen Inseln. Hettie, die Pflegedienstleiterin des Wildfire-Krankenhauses, begleitete ihn. Beide hatten keine Ahnung, was hier los war, aber Keanu, der selbst als FIFO-Arzt angefangen und beschlossen hatte, dauerhaft hierzubleiben, konnte für Maddie einspringen.

Und Caroline für die FIFO-Schwester.

Caroline.

Caro.

Natürlich war ihm klar gewesen, wie sehr er ihr wehtun würde, wenn er sie ohne jede Erklärung aus seinem Leben ausschloss. Doch seine Wut war stärker gewesen als die Sorge um Caro. Seine Wut und der Entschluss, seine Mutter zu schützen.

Caroline fand bald heraus, warum Harold nicht zur Landebahn gekommen war.

Er stand im Vorgarten der Villa und stritt mit seiner Frau Bessie. Carolines Urgroßvater, der ein ziemlicher Despot gewesen sein musste, hatte darauf bestanden, dass alle Angestellten in Haus und Hof englische Namen trugen.

„Du kannst mit reinkommen und mir beim Putzen helfen“, sagte Bessie.

„Nein, ich muss den Vorgarten machen. Ian wird einen Mordsaufstand machen, wenn der nicht ordentlich aussieht. Allerdings glaube ich nicht, dass er zurückkommt.“

Caroline war ein bisschen erschrocken, wie alt die beiden geworden waren. Andererseits schien das Alter ihre legendären, sehr temperamentvoll geführten Auseinandersetzungen nicht zu beeinträchtigen.

„Ich auch nicht, aber es ist jemand gekommen. Wir haben das Flugzeug gesehen, an einem Tag, an dem keins erwartet wird. Und außerdem war es kleiner als unsere Maschinen.“

„Vielleicht ist es jemand für die Forschungsstation. Da geht es zu wie im Taubenschlag.“

„Dann brauchst du den Vorgarten nicht zu machen.“ Bessie musste das letzte Wort haben.

Caroline wollte nicht länger hinter dem Goldtrompeten-Strauch stehen und lauschen. „Bessie, Harold, ich bin’s, Caroline!“

Sie trat hinter dem Busch hervor, erwartete, dass sie wie der verlorene Sohn – oder in ihrem Fall die Tochter – begrüßt wurde und sah entsetzt, dass die beiden in Tränen ausbrachen.

Doch da lief das Ehepaar auch schon mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. „Oh, Caroline, du bist wieder da! Jetzt haben wir dich und Keanu zusammen hier. Es wird alles gut!“

Von beiden innig umarmt, fehlten Caroline zuerst die Worte. Wenn die Insulaner sie als Retterin sahen, sie, die immer die nette, aber nutzlose Prinzessin gewesen war, dann musste es wirklich schlimm stehen.

Sie entzog sich ihren Armen und richtete sich auf. Selbstverständlich würde sie helfen. Zwar wusste sie noch nicht genau, wie, aber sie wollte alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, damit es den Inselbewohnern gut ging und sie medizinisch versorgt waren.

M’Langi war ihr Zuhause. Sie gehörte hierher.

„Warum arbeitest du im Haus, Bessie? Wo ist die junge Frau, die Dad eingestellt hat, nachdem Helen weggegangen ist?“

„Du meinst Kari? Als Ian herkam, dachten wir, es wäre besser, wenn sie Abstand hält. Ich sage es nicht gern, weil er zu deiner Familie gehört, aber Ian ist ein schlechter Mensch. Also habe ich angeboten, den Haushalt zu führen. Ich passe auch auf Anaheras kleine Tochter auf. Sie ist ein liebes Mädchen und spielt stundenlang mit deinen Puppen.“

Lächelnd erinnerte sich Caroline daran, mit welcher Begeisterung sie ihren Puppen hübsche Kleider angezogen, ihnen die Haare gekämmt und mit bunten Spangen geschmückt hatte. Bis Keanu ihr sagte, dass sei Mädchenkram, und von da an lernte sie, mit Pfeil und Bogen umzugehen und Fische zu fangen.

„Anahera?“, fragte sie nach. Der Name kam ihr vage bekannt vor.

„Ihre Mutter Vailea war Köchin in der Forschungsstation, während wir uns um das Haus gekümmert haben. Aber in der Station hat sich einiges geändert, und nun putzt Vailea im Krankenhaus und macht die Betten. Anahera ist ein bisschen älter als du und arbeitet hier als Krankenschwester. Deshalb betreue ich ihre Kleine.“

So viele Neuigkeiten! Caroline ließ sich von dem älteren Ehepaar zur Veranda führen, wo ein kleines Kind mit dunklen Augen, olivbrauner Haut und goldblonden Locken mit Puppen spielte. Sie hatte ihre Lieblinge alle ordentlich nebeneinander aufgereiht – auf dem Korbsofa, das schon immer hier gestanden hatte. So kam es Caroline jedenfalls vor.

Das Korbsofa, Kübelpflanzen, ein paar Korbsessel um einen runden Tisch, auf dem auch eine Pflanze stand, dort drüben die Schaukel, auf der Caroline so oft mit Keanu gesessen hatte … ja, es fühlte sich wirklich an wie nach Hause kommen.

„Das ist Hana.“ Bessie nahm das Mädchen an die Hand. „Hana, das ist Miss Caroline. Sie wohnt hier.“

Caroline ging vor der Kleinen in die Hocke. „Sag Caroline zu mir oder Caro, wenn du magst.“

Caro.

So hatte Keanu sie immer genannt, als Einziger. Aber jetzt war nicht der Moment, um sentimental zu werden. Vor allem nicht wegen Keanu, der aussah wie ein griechischer Gott und bei dem ihre Haut prickelte, wenn sie ihm zu nahekam.

Weshalb bist du hier? fragte sie sich, um sich zu konzentrieren.

Weil du unglücklich warst, weil du dorthin zurückwolltest, wo du glücklich warst wie sonst nie in deinem Leben.

Und nun?

Zunächst musste sie herausfinden, was genau auf der Insel los war.

„Wirst du für deine Arbeit bezahlt, Bessie?“

Bessie starrte auf ihre Zehen und schüttelte den Kopf, sodass die schwarzen Locken wippten. „Anahera gibt mir etwas, weil ich auf Hana aufpasse, aber Harold hat schon eine Weile keinen Lohn mehr bekommen.“

Das gefiel Caroline gar nicht. In ihrer Dankbarkeit – nach allem, was Carolines Vater für die Inselbevölkerung getan hatte – würden sie auch umsonst arbeiten, und sie wusste, dass sie nicht hungern mussten. Wie die meisten Insulaner bauten sie Gemüse an und hielten Hühner und ein paar Schweine. Trotzdem stand ihnen Geld für die geleistete Arbeit zu.

„Okay, solange ich hier bin, bleiben die meisten Zimmer geschlossen, und ich werde nur mein Schlafzimmer, das Bad und die Küche benutzen. Wenn du dort putzt, bezahle ich dich dafür. Und in den anderen Räumen gehe ich alle vierzehn Tage mit dem Staubsauger durch.“

Bessie begann zu protestieren, murmelte etwas von Staub, doch Caroline winkte ab.

„Die Lockharts atmen Staub, seit die Mine in Betrieb genommen wurde. Da schadet ein bisschen auf den Fußböden der verschlossenen Zimmer nicht. Und jetzt gehe ich hinunter zum Krankenhaus und frage nach einem Job. Selbst wenn man mir kein Geld zahlen kann, zu tun gibt es sicher etwas.“

Sie brachte den Koffer in ihr Zimmer und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war.

In Gedanken versunken, fiel ihr erst auf halber Strecke ein, was Keanu gesagt hatte. Außer ihm und einer Pflegekraft war niemand im Krankenhaus. Hettie und Sam waren auf den Inseln unterwegs.

Caroline kehrte um und fragte sich, wie das alles passieren konnte. Nicht nur die Zustände auf der Insel, sondern auch der Bruch zwischen Keanu und ihr. Was steckte dahinter? Hatte sie ihn zu Unrecht so hart verurteilt? Weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass er einen guten Grund gehabt hatte, jegliche Verbindung zwischen ihnen zu kappen? Sie waren sich so nahe gewesen, da hätte er es ihr doch erklären können, oder?

Bedrückt betrat sie die Villa und ging in ihr Zimmer, um den Koffer auszupacken. Als das geschafft war, stürmten so viele nostalgische Erinnerungen auf sie ein, dass sie es dort nicht mehr aushielt. Caroline beschloss, einen Rundgang durchs Haus zu unternehmen.

Typisch für die Kolonialarchitektur der damaligen Zeit besaß Lockhart House eine breite Veranda mit überhängenden Traufen, die sich um das Gebäude herumzog. Dort stand Caroline nun und blickte auf das Krankenhaus hinunter, die dahinterliegende Flugpiste und das flache Gelände, auf der die Forschungsstation stand. Unter riesigen tropischen Feigenbäumen und hohen Kokospalmen verborgen, war sie von hier oben nicht zu sehen.

An der östlichen Küste lag das Dorf, an die auslaufenden Hänge des Plateaus geschmiegt. Ihr Vater hatte den Insulanern damals das Siedlungsland geschenkt, nachdem Bewohner einer benachbarten Insel durch einen Tsunami Haus und Heimat verloren hatten.

Auch der Strand war vor ihren Blicken versteckt. Erst, als sie um die Ecke bog, sah sie einen Streifen Sand und die von Korallenriffen gesäumte Lagune.

An klaren Tagen konnte man von hier und der rückwärtigen Veranda aus die meisten Inseln der M’Langi-Gruppe erkennen. Heute lag ein dunstiger Schleier über dem Meer.

Die westliche Veranda verband das Haupthaus mit dem Anbau, wo Helen und Keanu gewohnt hatten. Auf keinen Fall wollte Caroline hinübergehen, auch wenn Keanu und sie in beiden Häusern gleichermaßen zu Hause gewesen waren.

Durch den Hintereingang betrat sie die Küche mit ihren vielen Kammern und dem großen massiven Holztisch, an dem sie mit Keanu gefrühstückt und Mittag gegessen hatte. In den Abstellräumen ließ sich wunderbar Verstecken spielen, aber Grandmas Köchin scheuchte sie gnadenlos hinaus, wenn sie sie dabei erwischte. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass das dort aufbewahrte kostbare Porzellan und Kristall zu Bruch gehen könnte.

Caroline öffnete eine Tür und entdeckte nur leere Regale, wo früher im Licht funkelnde Gläser gestanden hatten. Sie lief ins Esszimmer und blickte zur Decke, erleichtert, dass der Kronleuchter noch an seinem alten Platz über dem polierten Tisch hing. Ihre Großmutter hatte diesen Tisch und den prächtigen Leuchter geliebt. Jeden Abend bestand sie darauf, dass Caroline, Keanu und Helen ihr beim Essen Gesellschaft leisteten. Die Kristalltropfen warfen dabei ihr magisches Muster auf das glänzende Edelholz.

Während des Essens berichtete Helen, was in Haus und Garten getan werden musste, und sprach mit Grandma über die nächsten Mahlzeiten und was auf dem Festland bestellt werden sollte, damit es mit dem nächsten Flugzeug nach Wildfire gebracht werden konnte.

Grandma fragte Keanu und Caroline, wie es in der Schule gewesen war, wollte wissen, was sie gelernt und ob sie ihre Hausaufgaben für den morgigen Tag erledigt hatten. Erst dann durften sie aufstehen und wieder spielen gehen.

Ian mochte das kostbare Kristall seiner Mutter zu Geld gemacht haben, um seine Spielschulden zu bezahlen, aber wenigstens hatte er den Kronleuchter nicht angerührt. Wann war das gewesen? Bevor oder nachdem er sich bei der Goldmine bediente und die Arbeiter um ihren Lebensunterhalt brachte?

Caroline stieg das Blut ins Gesicht, so sehr schämte sie sich, dass sie mit diesem Mann verwandt war. Der Schaden war nicht wiedergutzumachen. Oder doch? Konnte sie etwas tun, um zu helfen?

Sie setzte ihren Rundgang fort. Neben dem Esszimmer befand sich Grandmas Salon. Hier schien nichts verändert. Die antiken Möbel und auch die wunderschönen alten Perserteppiche waren noch da. Vielleicht hatte Ian nicht gewusst, wie wertvoll sie waren.

Doch in den eleganten Schränken mit den geschliffenen Glasfronten herrschte gähnende Leere. Grandmas Geschirrsammlung fehlte … all die alten Stücke, die von ihrer Großmutter über ihre Mutter an sie weitervererbt worden waren.

Da traten Caroline Tränen in die Augen. Ian hatte nicht nur Dinge gestohlen, sondern sie auch ihrer Erinnerungen beraubt. Sie sah sich auf dem Fußboden vor einem Schrank sitzen, während Grandma ihr eine Terrine, einen Teller oder eine Schale reichte und zu jedem eine Geschichte erzählte. Und sie versprach ihr, dass diese Sachen eines Tages ihr gehören würden.

Der Verlust schmerzte längst nicht so wie der Verrat, den Ian begangen hatte. An diesen Erbstücken hatte seine Mutter sehr gehangen.

Caroline holte tief Luft und ging weiter, hinüber ins Wohnzimmer ihrer Großmutter. Der kleine Sekretär, an dem sie Briefe geschrieben hatte, stand noch da, und ihr war, als spürte sie den Geist dieser weisen, warmherzigen Frau, die sie zusammen mit Helen an Mutters Stelle aufgezogen hatte. Bei ihrem Tod war Caroline zehn Jahre alt gewesen.

Auf der anderen Seite des Hauses lagen große, lichtdurchflutete Schlafräume mit breiten Verandatüren. Zarte Spitzenvorhänge hingen an den Fenstern, leicht vergilbt, als wären sie lange nicht bewegt worden.

Im Schlafzimmer ihrer Großmutter stand das mächtige Himmelbett, und Caroline bildete sich ein, den feinen Duft ihrer Grandma wahrzunehmen. Die Blumen fehlten, genau wie auf dem Esszimmertisch und der Anrichte im Salon. Grandma hatte immer frische Blumen um sich gehabt.

Caroline unterbrach ihre Inspektion und eilte hinaus in den Garten, brach vorsichtig einige dornige Bougainvillea-Zweige ab, nahm betörend duftende Frangipaniblüten dazu, ein paar Goldglocken, glänzendes Grün und weißen Hibiskus.

Zurück im Haus fand sie alte Vasen, die Ian stehen gelassen hatte, füllte sie mit Wasser und verteilte sie auf die drei Räume. Danach setzte sie ihre Erkundung fort. Als Nächstes betrat sie das Zimmer ihres Vaters. Hier war nichts verändert worden. Das kleine Bett neben dem Doppelbett erinnerte sie an die seltenen Male, wenn Christopher auf die Insel gekommen war. Seine Besuche dauerten nie lange, aber Keanu und sie nahmen ihn möglichst überallhin mit. Sie setzten ihn in seinen Rollstuhl, zeigten ihm ihre Lieblingsplätze und hatten wahrscheinlich sein Leben riskiert, als sie ihn auf dem steilen Pfad zum Sunset Beach hinuntergetragen hatten.

Der Raum daneben müsste Ians sein, dann folgten drei kleinere, ihrer war der in der Mitte. Allerdings schien ihr Onkel hier nicht gewohnt zu haben, wie sie nach einem Blick ins Zimmer feststellte. Die Möbel waren unter weißen Stoffhüllen verborgen, die seit einer Ewigkeit nicht mehr abgezogen worden waren.

„Er hat im Gästehaus gewohnt.“ Bessie war neben Caroline aufgetaucht.

Es lag dem von Helen und Keanu gegenüber, war aber durch Bäume und dichte grüne Sträucher von ihnen getrennt.

„Überall auf der Insel durften wir spielen, nur dort nicht“, antwortete sie. „Ich habe keine Erinnerungen daran.“

Als sie wieder auf der vorderen Veranda war, hörte sie die Rotoren eines Hubschraubers. Jetzt würde jemand in der Klinik sein, den sie nach einem Job fragen konnte.

Ich sollte zur Villa gehen und mit Caro Frieden schließen, dachte er. Statt mich hier im Krankenhaus herumzudrücken.

Warum war sie nach Wildfire gekommen? Wie passte das zu dem Leben, das sie in Sydney führte? Keanu hatte in Cairns gelegentlich eine Zeitung von Sydney gekauft, natürlich nur wegen des Wirtschaftsteils, wie er sich einredete. Warum blätterte er dann immer zu den Gesellschaftsseiten? In der Hoffnung, ein Bild von Caro zu entdecken? Manchmal hatte er Glück und entdeckte sie – inzwischen erwachsen und wunderschön – am Arm eines gestylten, aalglatten Kerls namens Steve, mit dem sie anscheinend so gut wie verlobt war.

Was zum Teufel bedeutet so gut wie? fragte er sich dann und ärgerte sich zum wiederholten Mal, dass er sich das antat. War er etwa eifersüchtig? Dazu bestand ja wohl kein Grund, zumal er nicht nur so gut wie, sondern definitiv mit einer anderen verheiratet war. Einer Frau, die er zu lieben geglaubt hatte, nachdem sie ihn aus dem Elend herausgeholt hatte, in dem er nach dem Tod seiner Mutter einsam und heimwehkrank nach der Insel versunken war.

Also hatte er Caro nicht nur ein, sondern zwei Mal betrogen. Erstens, indem er sie ohne Abschied verließ, und zweitens, weil er eine andere geheiratet hatte. Oder zählten tiefe Freundschaft und Treueschwüre zwischen einer Zwölf- und einem Vierzehnjährigen nicht?

Keanu begriff, dass all diese verwirrenden Gefühle ihn ärgerlich machten und er seinen Ärger auf Caroline gerichtet hatte. Was ihr gegenüber sicher nicht fair war. Vor allem, da sie unglücklich zu sein schien. War er daran schuld? Das unerwartete Wiedersehen mit ihm?

Dann wäre es besser, ihr aus dem Weg zu gehen.

Doch er hatte es noch nie ertragen, wenn sie unglücklich war. Müsste er nicht wenigstens versuchen, etwas dagegen zu unternehmen? Vielleicht die alte Freundschaft wiederbeleben?

Freundschaft? Wem wollte er etwas vormachen? Er brauchte Caro nur anzublicken, und sein Körper geriet in Aufruhr, weckte Gefühle, die alles andere als „freundschaftlich“ waren. Nicht richtig bei einem Mann, der wahrscheinlich noch verheiratet war!

Hinzu kam, dass er zwischen zwei Geboten seiner Mutter hin- und hergerissen war. Wenn Caro und er damals das Haus verließen, ermahnte sie ihn jedes Mal: Pass auf Caroline auf. Er hörte ihre Stimme, als sei es gestern gewesen. Aber er erinnerte sich genauso gut an ihre Worte, bevor sie starb, sechs Wochen nach der Diagnose Bauchspeicheldrüsen-Krebs, während er als Arzt ohnmächtig zusehen musste. Sie hatte die Lockharts bitter verflucht … und besonders Ian Lockhart.

War er so abergläubisch, dass er an die Wirkung eines Fluchs glaubte? Keanu schüttelte den Kopf, schob die Gedanken weit weg und sah noch einmal nach seinen wenigen Patienten.

Als er kurz darauf den Hubschrauber hörte, war er froh über die Ablenkung und ging zum Landeplatz. Wenn Sam und Hettie einen Patienten brachten, konnten sie Hilfe gebrauchen.

Der Kollege und Jack Richards, der Pilot, luden gerade eine Trage aus. Betroffen sah Keanu, dass der alte Alkiri von der Insel Atangi darauf lag. Auch Alkiri war aus Keanus Kindheit nicht wegzudenken, Caroline und er hatten ihn geliebt.

Er trat an die Liege, berührte respektvoll die Schulter des Ältesten und begrüßte ihn in seiner Sprache. Selbst durch die Sauerstoffmaske sah er, dass die Lippen bläulich verfärbt waren, und fragte sich, wie alt Alkiri wohl sein mochte.

„Er ist gestürzt, vermutlich Durchblutungsstörungen im Gehirn, scheint in letzter Zeit öfter passiert zu sein.“

Solche Durchblutungsstörungen kündeten nicht selten einen schweren Schlaganfall an. Hatte Alkiri die Stürze auf sein Alter geschoben? Er war ein stolzer Mann, der Hilfe erst dann suchte, wenn er sie wirklich brauchte. Früher lebte er hier auf Wildfire und arbeitete als Bootsführer für Carolines Großvater. Er nahm sie und Keanu unter seine Fittiche, brachte sie zusammen mit den anderen Kindern zur Schule nach Atangi und lehrte sie vieles über das Leben im Allgemeinen und die Inseln im Besonderen. Wissen, das für Keanu mindestens genauso wichtig war wie der Lernstoff in der Schule.

Ich sollte Caro Bescheid sagen, dass Alkiri …

Keanu stoppte den Gedanken, noch bevor er ihn zu Ende denken konnte. Er war nicht länger der Junge, der zu ihr ins Haus rannte und nach ihr rief, um eine Neuigkeit zu verkünden.

Und sie war nicht mehr das Mädchen, nach dem er sich gesehnt hatte, um zu erzählen, was passiert war.

Sie schnallten die Trage auf den eigens für diesen Zweck umgebauten Jeep, und Jack und Hettie fuhren ins Krankenhaus. Keanu ging mit Sam zu Fuß und ließ sich von den Sprechstunden auf den anderen Inseln berichten. Der schwere Duft der Frangipaniblüten hing in der Luft, doch heute weckte er in Keanu nicht das tröstliche heimatliche Gefühl wie an anderen Tagen.

Keanu erzählte Sam, dass weder Maddie noch die erwartete Krankenschwester morgen eintreffen würden, versicherte ihm aber, dass er selbst voll arbeiten konnte. Dann zögerte er, was Sam nicht entging.

„Gibt’s noch ein Problem?“

„Wir haben eine Krankenschwester hier.“

„Und? Ist sie Alkoholikerin? Kettenraucherin, die regelmäßige Raucherpausen braucht? Axtmörderin?“

„Sie ist eine Lockhart.“

Sam lächelte. „Das macht sie nicht zu einer schlechten Krankenschwester, Keanu. Ich vermute mal, es ist Max’ Tochter, die Kleine, mit der du aufgewachsen bist. Sieh mich nicht so an – auf dieser Insel kann man nichts geheim halten. Jedenfalls nicht lange.“ Er stutzte, blieb stehen und sah ihn ernst an. „Oder willst du mir sagen, dass du nicht mit ihr zusammenarbeiten kannst?“

„Blödsinn“, erwiderte er schnell, vielleicht zu schnell. „Aber der Name Lockhart ist zurzeit hier nicht gerade beliebt.“

„Natürlich.“ Der Arzt lächelte wieder. „Wenn man allerdings bedenkt, wie viel Gutes Max Lockhart, seine Eltern und Großeltern für die Inseln getan haben, sollte der eine faule Apfel nicht die gesamte Ernte verderben. Ich bin froh, dass sie hier ist, wir können eine weitere Krankenschwester gebrauchen. Apropos Ian … Hettie und ich haben herausgefunden, dass er nach seinem Aufbruch noch auf Raiki gewesen ist. Er hat nicht nur die Medikamente mitgehen lassen, sondern auch die Krankenschwester.“

„Warum, zum Teufel …? Medikamente, das verstehe ich ja noch. Er ist mit seiner Jacht unterwegs, da braucht er eine gute Hausapotheke, und den Rest wird er wahrscheinlich verkaufen. Aber die Krankenschwester? Vielleicht ist die freiwillig mitgegangen.“

„Schon möglich. Die Medikamente können wir ersetzen, doch jetzt ist Raiki ohne Krankenschwester. Übrigens, wann lerne ich unsere neue kennen?“

„Bestimmt kommt sie bald runter. Sie musste gleich bei ihrer Ankunft mit anpacken. Einer der Bauarbeiter von der Forschungsstation hatte sich einen Nagel durch den Fuß geschossen.“

„Dann können wir froh sein, dass wir sie haben. Und ich hoffe, sie beeilt sich. Hier gibt’s genug zu tun.“

3. KAPITEL

Eine wunderschöne junge Frau in grünem Kittel und dreiviertellanger Hose, mit glänzenden dunklen Haaren, die unter der Schwesternhaube aufgesteckt waren, begrüßte Caroline lächelnd. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich wollte zu Sam.“

„Er sitzt in dem winzigen Zimmer, das er als Büro bezeichnet, und legt wahrscheinlich gerade Feuer an den Papierkram. Gehen Sie den Flur hinunter, die letzte Tür links.“

Caroline bedankte sich und wandte sich ab.

„Ich bin Anahera“, rief ihr die Krankenschwester nach. „Aber alle sagen Ana zu mir.“

Caroline drehte sich wieder um. „Ach, ich habe Ihre kleine Tochter kennengelernt. So ein süßer Schatz. Ich bin Caroline Lockhart.“

Anahera zögerte kaum merklich, bevor sie Carolines ausgestreckte Hand schüttelte. „Oh!“, sagte sie nur leise und ging in die kleine Station hinter dem Empfang.

Caroline machte sich auf den Weg zu dem beschriebenen Zimmer und klopfte an.

„Herein!“, ertönte eine Männerstimme.

Als sie eintrat, blickte der gut aussehende Mann hinter dem Schreibtisch von seinen Unterlagen auf. „Caroline Lockhart, nehme ich an?“ Resigniert schob er die Papiere zu einem unordentlichen Stapel zusammen. „Ich werde nie ein Verwaltungsmensch“, murmelte er.

„Haben Sie etwas gegen Schreibkram?“, fragte sie lächelnd. Der Arzt war ihr auf Anhieb sympathisch.

„Wer hat das nicht? Mein Problem ist, dass wir hier sowieso schon unterbesetzt sind. Und dann muss ich meine Zeit noch mit Bürokratie verschwenden.“

„Können Sie die Papiere nicht Ihrem Hund schmackhaft machen? Der Hund hat sie gefressen ist doch die klassische Ausrede, wenn man seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.“ Caroline deutete auf den treuherzigen dreinblickenden Labrador, der zu Sams Füßen unter dem Tisch lag.

Sam grinste breit. „Habe ich schon versucht, aber er spuckt sie immer wieder aus. Krankenhaushunde werden einfach zu gut gefüttert. Darf ich vorstellen? Dieses träge, wohlgenährte Viech ist Bugsy und gehört Maddie Haddon. Maddie arbeitet bei den Flying Doctors und besucht regelmäßig die Inseln. Statt Bugsy hin- und herzufliegen, lässt sie ihn lieber hier. Leider konnte sie heute nicht kommen, und da nimmt er nun mit mir vorlieb.“ Er schwieg und betrachtete Caroline. „Außerdem fehlt mir zurzeit eine Krankenschwester, und Keanu hat mir von Ihnen erzählt. Wollen Sie den Job?“

„Solange ich nicht Ordnung in Ihre Papierstapel bringen muss. Ich kann mich anderweitig nützlich machen.“

Ein humorvoller Ausdruck blitzte in seinen Augen auf. „Wollen Sie mir den Rücken massieren? Meine Füße verwöhnen?“

„Träumen Sie weiter!“ Caroline musste lachen. „Aber ich bin ausgebildete Krankenschwester und springe gern ein.“

„Keanu meinte, Sie sind eine Societyprinzessin.“

Und das von dem Mann, der ihr schon einmal so wehgetan hatte. Es versetzte ihr einen Stich.

„Vielleicht haben Sie es noch nicht gemerkt, aber von Gesellschaftsleben kann hier kaum die Rede sein. Da ist eine Societyprinzessin überflüssig. Als Krankenschwester kann ich jedoch aushelfen. Falls Sie bereit sind, mir eine Chance zu geben.“

„Tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht auf die Füße treten.“ Sam musterte sie von oben bis unten. „Haben Sie entsprechende Unterlagen dabei … Zeugnisse, Referenzen?“

„Bitte.“ Sie reichte ihm ihre Mappe.

„Sie waren lange weg.“ Sam blätterte in den Papieren. „Warum sind Sie zurückgekommen?“

„Ich glaube nicht, dass das relevant ist, doch ich habe gehört, dass es auf der Insel Schwierigkeiten gibt.“

„Und da dachten Sie, als Krankenschwester könnten Sie die Probleme ausräumen?“

„Junge, Junge, sind Sie misstrauisch.“ Caroline schüttelte den Kopf. „Ich wusste nicht einmal, dass eine Stelle frei ist, hatte allerdings vor zu arbeiten, wenn es nötig ist. Diese Insel war – und ist – mein Zuhause. Da kann ich doch nicht tatenlos zusehen, wie alles den Bach hinuntergeht! Ich wollte mir zumindest ein Bild machen und herausfinden, was los ist. Mein Dad wäre auch mitgekommen, aber er kann nicht … aus familiären Gründen.“

Sam blickte auf. „Ihr Vater ist ein großartiger Mensch. Er tut, was er kann, versucht, öffentliche Gelder und private Spenden einzuwerben. Seit die Mine nicht mehr den vereinbarten Anteil an den Kosten für die Klinik decken kann, bezahlt er unsere Rechnungen. Wahrscheinlich geht fast sein gesamtes Einkommen dafür drauf.“

„Bekomme ich nun den Job oder nicht?“

„Die Schwester, die wir erwartet haben, wäre für zwei Wochen hergeflogen, hätte danach eine Woche frei gehabt und so weiter. Wir würden es bei dem Rhythmus belassen, und Sie könnten für Ihre freie Woche den Flug zum Festland nutzen, wenn Sie möchten.“

„Aber dann haben Sie in der Zeit nur eine Krankenschwester … Anahera?“

„Nein, es gibt eine zweite Schwester, die zeitversetzt bei uns Dienst tut. Außerdem haben wir noch eine Krankenschwester, die auf der Insel lebt. Sie haben sie noch nicht kennengelernt … Hettie, mit vollem Namen Henrietta de Lacey. Hüten Sie sich jedoch, sie Henrietta zu nennen, wenn Sie es sich mit ihr nicht verscherzen wollen.“

Er lächelte amüsiert. „Sie ist unsere Pflegedienstleiterin, und eigentlich hätten Sie wegen des Jobs mit ihr sprechen müssen. Doch sie ist schon wieder unterwegs zu den Inseln. Normalerweise fliegen wir nicht zwei Mal in der Woche, aber auf Raiki sind die Medikamente knapp geworden, und es fehlt die Krankenschwester. Hettie bringt Medikamente hin und will sich dann auf den anderen Inseln umsehen, ob jemand nicht auf Raiki einspringen kann. Wie kommen Sie mit Hubschraubern zurecht?“

„Meinen Sie, ob ich einen fliegen kann, oder ob mir beim Fliegen schlecht wird?“

„Letzteres. Piloten haben wir.“

„Fliegen ist kein Problem. Halten die Krankenschwestern die Sprechstunden allein ab, oder kommt ein Arzt mit?“

„Ja, es ist immer einer dabei.“

Caroline vergaß, was sie gefragt hatte, weil sie jemanden hinter sich spürte und instinktiv wusste, dass es Keanu war.

„Tut mir leid, dass ich störe.“ Seine tiefe Stimme füllte den Raum. „Alkiri, der alte Mann von Atangi, hat zunehmend Atemprobleme, und ich glaube, dass es mit ihm zu Ende geht. Ist es okay, wenn ich bei ihm bleibe?“

Sam nickte, wandte sich dann an Caroline. „Wenn Sie gleich anfangen wollen, setzen Sie sich mit Keanu zu ihm. Sorgen Sie dafür, dass er bequem aufrecht gelagert wird, und befeuchten Sie ihm ab und zu die Lippen. Drehen Sie seinen Kopf ein wenig, sodass …“

„Speichel abfließen kann“, unterbrach sie ihn. „Ich mache das nicht zum ersten Mal.“

Der Arzt nickte wieder und fügte leiser hinzu, obwohl sie längst wieder allein waren: „Stehen Sie Keanu bei. Er kennt den alten Mann sein Leben lang, und Alkiri war derjenige, der ihn bat, nach Hause zu kommen. Dies wird für Keanu nicht leicht werden.“

„Alkiri hat bestimmt geahnt, dass er sterben wird“, meinte sie nachdenklich. Sie hatte schon oft erlebt, dass die Insulaner ein Gespür dafür hatten. „Vielleicht wollte er Keanu bei sich haben.“

Am Bett des Alten nahm sie dessen Hand, fühlte unter der papierdünnen Haut die schmalen Knochen.

„Ich bin es, Caroline“, sagte sie. „Weißt du noch, wie du mir beigebracht hast, Fischreusen zu flechten?“

Ob man mit Sterbenden reden sollte oder nicht, darüber schieden sich die Geister. Aber Caroline wollte ihm zeigen, dass sie sich an damals erinnerte. Und vielleicht taten ihm die Erinnerungen an die glücklichen Zeiten mit zwei abenteuerlustigen Kindern gut.

„Danach bist du mit uns in deinem alten Boot hinausgefahren, um sie am Riff auszulegen“, fügte Keanu hinzu.

Caroline tupfte dem alten Mann den Speichel ab, und Keanu fing an zu erzählen, wie frustriert Alkiri gewesen war, weil er ihr nicht beibringen konnte, eine Kokosnuss richtig zu öffnen.

„Das kann ich heute noch nicht“, gab sie zu. „Dabei gibt es sie in der Großstadt überall zu kaufen. Die Leute sind ganz verrückt nach dem Kokoswasser.“

„Darüber habe ich mit den Ältesten schon gesprochen“, sagte Keanu. „Vielleicht können wir den Hype nutzen, um den Insulanern zu einem zusätzlichen Einkommen zu verhelfen. Nicht nur das Wasser ist begehrt, sondern auch das Kokosfleisch und die Schalen. Ich kenne jemanden, der sich mit Geschäftsgründungen auskennt. Er will das mal durchrechnen.“

Als er von den Kokosnüssen sprach, waren ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung gegangen. Caroline blickte flüchtig zu ihm hinüber. Früher hatten sie oft die Gedanken des anderen lesen können. War das immer noch so? Bloß nicht! Schließlich dachte sie, seit sie Keanu wiedergesehen hatte, fast nur noch daran, wie atemberaubend er aussah.

Keanu war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Sie brauchte ihn nur anzublicken, und eine sinnliche Wärme durchströmte ihren Körper.

Caroline konzentrierte sich wieder auf ihren Patienten, erzählte noch mehr von früher, abwechselnd mit Keanu, und zwischen den dreien entstanden farbenprächtige Bilder gemeinsam gelebten Lebens.

Die Stille zwischen Alkiris rasselnden Atemzügen wurde immer länger, schließlich so lang, dass Caroline schon glaubte, ihr alter Freund sei tot. Da öffnete er plötzlich die Augen und blickte lächelnd von einem zum anderen.

„Ihr beide seid hier, jetzt kann ich in Frieden gehen. Bitte begrabt mich auf Wildfire. Diese Insel war immer mein wahres Zuhause“, flüsterte er und tat zitternd einen Atemzug.

Es war sein letzter.

Caroline brachte es nicht über sich, das Laken über das Gesicht des alten Mannes zu ziehen. Liebevoll schloss sie ihm die Augen.

„Können wir ihn hier begraben, oder wird seine Familie darauf bestehen, dass er auf Atangi beigesetzt wird?“, fragte sie und sah erst jetzt Keanu über das Bett hinweg an.

Der zuckte nur mit den Achseln. Sie spürte seine Trauer fast körperlich und konnte nicht anders: Sie ging zu ihm und legte ihm den Arm um die breiten Schultern.

„Komm, wir trinken einen Tee und überlegen, was zu tun ist.“

Schweigend ging er mit, wirkte jedoch gedankenverloren, wie abwesend. Dass er sie nicht wahrnahm, schützte Caroline nicht vor den intensiven Gefühlen, die in ihr loderten, nur weil sie ihn berührt hatte. Sie atmete ein paar Mal tief durch, hoffte, dass Keanu nichts merkte.

Aber ihr Herz raste, ein inneres Zittern erfasste sie, Hitze, ein leichtes Schwindelgefühl im Kopf wie nach einem hastig getrunkenen Glas Sekt. Das war keine Reaktion auf einen „alten Freund“, nein, das war pure Erregung, prickelnde Erwartung …

In der Küche war Vailea. Sie warf einen Blick auf Keanus Gesicht und zog für ihn einen Stuhl unter dem Tisch hervor. Für Caroline hatte sie eine wenig freundliche Begrüßung übrig.

„Ich habe gehört, dass du wieder da bist.“ Ihre Stimme klang kalt und löschte augenblicklich das Feuer, das Keanus Nähe in Caroline entfacht hatte. „Willst du uns noch mehr Ärger bringen?“

„Natürlich nicht. Ich bin hier, um zu arbeiten.“ Sie ließ sich nicht anmerken, wie sehr die Bemerkung sie getroffen hatte. Dass ihr Onkel die Familienerbstücke versilberte, betraf doch nur die Familie. Was war noch passiert? Da fiel ihr ein, dass Bessie etwas über die neue Haushälterin gesagt hatte, im Zusammenhang mit Ian …

„Ich wollte Keanu einen Tee kochen“, fügte sie hinzu, als Vailea sie weiterhin abfällig musterte.

„Das mache ich schon“, fauchte die ältere Frau.

Froh, der feindseligen Atmosphäre zu entrinnen, verließ Caroline die Küche. „Das kann ja heiter werden“, murmelte sie vor sich hin, während sie sich auf den Nachhauseweg machte.

Bevor Hettie nicht zurück war, mochte sie sich hier nicht blicken lassen. Und wenn die Pflegedienstleiterin ihr erst einen Dienstplan gegeben hatte, konnte Caroline sich überlegen, wie sie Vailea aus dem Weg ging.

Vailea und Keanu.

Um sechs marschierte Keanu zum Haus hinauf. Zwei Stunden lang hatte er mit den Ältesten von Atangi besprochen, welche Vorkehrungen für Alkiris Begräbnis getroffen werden mussten. Sie waren einverstanden gewesen, seinem letzten Wunsch zu entsprechen, und boten an, Lebensmittel und Köche zu schicken, die das Totenmahl mit vorbereiten würden. Sie legten fest, dass Alkiri in zwei Tagen um zehn Uhr morgens bestattet werden sollte. Da die Kapelle für alle Trauergäste zu klein war und das Langhaus wegen der Arbeiten an der Forschungsstation vielleicht nicht zur Verfügung stand, bot Keanu an, mit Caroline zu sprechen. Die Lockhart-Villa bot Platz genug.

Caroline saß auf der Veranda und beobachtete, wie die Sonne im Meer versank und die Klippen mit dem flammenden Rot überzog, das der Insel ihren Namen gab.

Keanu nahm drei Stufen auf einmal, ließ sich auf der letzten nieder und sah nicht Caro an, sondern die verblassenden Farben des Sonnenuntergangs.

„Warum bist du zurückgekommen?“, fragte er, selbst erstaunt, wie sanft er klang.

„Und du?“

„Ich wurde darum gebeten.“ Keanu versuchte, sich einzureden, dass dies nur ein Gespräch zwischen zwei früheren Freunden war. Doch es fiel ihm schwer. In ihrer Nähe war er seltsam unruhig, verwirrt … „Es gibt Schwierigkeiten, die Insulaner haben Probleme. Wildfire ist meine Heimat, natürlich musste ich zurückkommen.“

„Und da fragst du mich, warum ich hier bin? Glaubst du ernsthaft, dass mir die Insel weniger bedeutet als dir? Dass sie nicht auch meine Heimat ist?“

Sie wich seinem Blick aus, schaute wieder aufs Meer. Ganz kurz hatte ihre Stimme gezittert, und Keanu vermutete, dass Heimweh nicht der einzige Grund für ihre Rückkehr war. Plötzlich wünschte er sich mehr als alles andere, sie trösten zu können. Er wollte sie in die Arme nehmen, dicht an sich drücken, ihren vertrauten Duft einatmen und sie nie wieder loslassen.

Als würde sie das jemals zulassen!

Er hätte auch gern gewusst, wie es Christopher ging. Aber sie hatte auf seine Frage schon einmal nicht geantwortet, und solange sie einander so fremd waren, konnte er dieses schmerzliche persönliche Thema nicht ansprechen. Stattdessen hielt er sich an das, was sie beide zurzeit beschäftigte. „Und was willst du unternehmen?“

„Zuerst muss ich herausfinden, was hier schiefgelaufen ist. In den geologischen Gutachten stand, dass die Goldmine für viele Jahre Gewinn abwerfen wird. Ich bezweifle nicht, dass Ian Geld unterschlagen hat, aber das kann nicht der einzige Grund sein.“

Keanu unterdrückte ein Lächeln. Das klang sehr wie die junge Caroline – seine Caro –, die mit Feuereifer der Spur eines vermuteten Verbrechens nachging. Ein Mal hatte sie sich den Schutz von Hühnern auf die Fahnen geschrieben, und es war nicht ihre einzige Aktion gewesen.

Schon hatten ihn die Erinnerungen wieder. Zu gefährlich. Um sich abzulenken, beschloss er, über die wenigen Fakten zu sprechen, die ihm bekannt waren. „Wusstest du, dass Ian die Forschungsstation verpachtet hat?“

„Warum das denn?“

„Weil es ihm Geld bringt. Sie war schon seit einiger Zeit ziemlich heruntergekommen. Nur wenige Wissenschaftler nutzten sie noch. Irgendwie hat er dann diesen schwerreichen Typen aus den Golfstaaten aufgetan, der hier ein exklusives Ferienresort hochziehen will. Die Insulaner waren anfangs skeptisch, aber sie brauchen dringend neue Einkommensquellen.“

„Jetzt ist mir klar, was der Bauarbeiter mit dem Nagel im Fuß hier gemacht hat. Weiß mein Vater davon?“

„Das dachte ich, aber die Verhandlungen sind wohl alle über Ian gelaufen. Niemand scheint Genaues zu wissen.“

„Dad hätte Ian niemals so ein Projekt anvertraut. Außerdem würde er eine solche Entscheidung nicht treffen, ohne vorher die Ältesten zu befragen.“ Sie seufzte. „Auf dem Gelände der Forschungsstation wird also fleißig gewerkelt?“

„Ja, schon seit einer Weile.“

„Das sehe ich mir mal an.“

„Geht nicht. Das Gebiet ist eingezäunt und mit einem Tor verschlossen. Unser Patient wollte nicht einmal, dass wir ihn zurückbringen. Sein Kollege sollte ihn abholen, erinnerst du dich?“

„Aber es ist unsere Insel. Wir können gehen, wohin wir wollen!“

„Willst du mit den Wachleuten diskutieren? Ich glaube nicht, dass sie sich von dir etwas sagen lassen. Rechtlich betrachtet, gehört das Land dem Mann, der das Anwesen gepachtet hat. Und zwar so lange, bis der Pachtvertrag ausläuft.“

„Aber Dad hat keine Ahnung, was hier vor sich geht. Sonst hätte er mir davon erzählt. Komm schon, Keanu, du weißt doch noch mehr.“

„Ich weiß nur, dass ein reicher Mann auf der Insel ein Luxusresort bauen will. Vor ein paar Jahren hat hier ein Forscher namens Luke Wilson gearbeitet, und der kennt unseren Pächter. Ian kam anscheinend auf die Idee, den Mann zu kontaktieren, und hat die Angelegenheit schnell unter Dach und Fach gebracht.“

„Aber die Station ist ein Vermächtnis meines Urgroßvaters an M’Langi. Jeder, der die Inseln und ihre Bewohner erforschen wollte, um zum Beispiel Gesundheitsbedingungen zu verbessern, sollte hier wohnen und arbeiten können. Dein Vater war einer der ersten Wissenschaftler. Ich bin sicher, dass irgendwo schriftlich festgelegt wurde, dass mit dem Profit aus der Mine auch die Forschungsstation unterstützt werden soll.“

„Und wenn diese Quelle versiegt? Wäre es dann nicht besser, sie einem kapitalstarken Pächter zu überlassen, als sie komplett dichtmachen zu müssen?“

„Meinst du, dieser mysteriöse Millionär hält die Station am Laufen? Warum baut er dann eine Luxusunterkunft?“

„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Sam einige Untersuchungen von Luke fortsetzen will, um herauszufinden, warum die Insulaner, verglichen mit Einwohnern anderer Inselgruppen, nicht so häufig an Hirnhautentzündung erkranken. Dafür braucht er die Laboreinrichtungen, und anscheinend hat man ihm gesagt, dass er sie nutzen kann, sobald die Umbauten abgeschlossen sind.“

„Das klingt ja wirklich sehr geheimnisvoll.“ Entschlossen stand sie auf. „Komm, wir sehen uns das mal an. Ich hole schnell Wasser und eine Taschenlampe.“

„Das können wir nicht machen.“

„Und warum nicht?“

„Ich habe es dir schon gesagt – das Gelände ist eingezäunt. Wer hier Urlaub macht, muss sich nicht auf einer felsigen Holperpiste durchschütteln lassen, sondern wird per Hubschrauber eingeflogen.“

„Sie können nicht das gesamte Gebiet umzäunt haben. Jedenfalls nicht den Strand, das Korallenriff und den Felshang hinter dem Sunset Beach.“

„Und?“

„Das heißt, wir müssen entweder über den Zaun oder um ihn herum, damit wir uns selbst ein Bild machen können. Lass uns zum Strand gehen und zu den Felsen, und von da sehen wir weiter. Wir sind früher hingeschwommen, aber ich glaube, es herrscht Ebbe. Aber wir könnten wenigstens sehen, wie weit wir kommen!“

Es war, als wäre sie wieder zwölf, ein abenteuerlustiges Leuchten in den Augen und ein herausforderndes Grinsen im Gesicht.

„Na los, Keanu, das wird spannend, genau wie in alten Zeiten!“

Da stand sie vor ihm, lächelnd, bezaubernd schön. Die kindlichen Züge, die er in Erinnerung hatte, mochten sich verändert haben, waren weiblicher, reifer geworden. Doch das unerschrockene, entschlossene Wesen war der Frau genauso eigen wie damals dem Kind.

Keanu hörte wieder die Stimme seiner Mutter, die ihn ermahnte, auf Caroline aufzupassen. Die Worte waren ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er gar nicht anders konnte, als Caro auf dieser waghalsigen Expedition zu begleiten. Nur bei der Vorstellung, wie sie allein da unten herumkletterte, vielleicht auf zerklüfteten, glitschigen Felsen, lief es ihm eiskalt über den Rücken. Abgesehen davon wüsste er natürlich auch gern, was im Norden der Insel vor sich ging.

„Willst du so gehen?“ Er deutete auf das ärmellose, kurze Hängekleid.

„Klar. Das ist so ausgeblichen, dass es eine tolle Tarnung gibt. Aber ich habe es nicht deswegen ausgesucht, sondern einfach irgendetwas aus dem Schrank gezogen. Ich nehme noch ein Paar Tauchstiefel mit, falls wir schwimmen müssen.“

Keanu hoffte inständig, dass ihm das erspart blieb. Lebhafte Bilder, wie das Kleid nass und durchsichtig an ihrem Körper klebte, weckten schon jetzt unpassende Regungen in ihm. Früher hatten sie sich einfach ausgezogen und waren ins klare blaugrüne Wasser der Lagune gesprungen, ohne sich um ihre Nacktheit zu kümmern. Aber damals hatte sie noch keine Brüste gehabt …

Seine Gedanken gingen auf Wanderschaft, schlugen eine Richtung ein, die ein leises Unbehagen wachrief. Zwar hatte seine Mutter einen guten Grund gehabt, die Insel zu verlassen – dafür hatte Ian Lockhart gesorgt –, aber hatte sie nicht vielleicht längst überlegt, was aus seiner Freundschaft mit Caroline werden würde, wenn sie in die Pubertät kamen? Nach dem, was zwischen ihr und Ian vorgefallen war, hätte sie eine Beziehung zwischen ihrem Sohn und Ians Nichte bestimmt kaum ertragen.

Caroline kam zurück, an den Füßen weiche Neoprenschuhe, die eher Ballerinas glichen als Tauchstiefeln. Sie trug einen kleinen Rucksack auf dem Rücken und einen zweiten in der Hand, den sie ihm nun reichte.

„Eine Kamera mit Teleobjektiv“, sagte sie. „Ian hatte wohl keine Ahnung von Dads Hobby, sonst hätte er die teuren Fotoapparate gefunden und auch versilbert wie alles andere von Wert in diesem Haus.“

Keanu dachte an die kostbare Porzellansammlung ihrer Großmutter, Stücke, die Caro geliebt hatte, und er wusste, ohne nachzufragen, dass sie nicht mehr da waren.

Ihre Schätze hatte er leider nicht schützen können, aber er würde alles tun, um Caro zu beschützen bei ihrem verrückten selbst gewählten Auftrag, die Insel zu retten!

Er schlang sich den Rucksack über die Schulter und griff nach ihrem Arm. „Los geht’s.“ Als sie seiner ausgestreckten Hand auswich, fügte er trotzdem hinzu: „Es kommt mir wirklich vor wie in alten Zeiten.“

Obwohl das nicht ganz stimmte. Seine Sinne waren in Aufruhr, nahmen ihre Nähe, ihren Duft, ihre Wärme überdeutlich wahr. Keanu mochte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn sie mit dem dünnen Kleid tatsächlich schwimmen ging!

4. KAPITEL

Ihre Füße fanden den vertrauten Weg zur Klippe wie von allein. Im dichten Regenwald über ihnen raschelte es in den Blättern, wo die Vögel sich ein Plätzchen für die Nacht suchten.

Weiter ging es, den felsigen Pfad hinunter, von wo aus man einen grandiosen Ausblick auf das Korallenriff und den Ozean dahinter hatte. Der Weg war überwuchert, als wäre kaum jemand hier entlanggekommen, seit zwei unternehmungslustige Kinder hier tagtäglich herumgestreunt waren.

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte Caroline.

„Drei Wochen.“

„Hast du die Blakes gesehen?“

„Nein, sie sind schon lange weg. Dein Großvater hatte Peter kurz vor seinem Tod eingestellt, und dein Vater war froh, ihm die Leitung der Mine überlassen zu können, als er sich um Christopher kümmern musste.“

„Dad hat ihm vertraut, weil Peter Ingenieur war und praktische Erfahrungen als Minenarbeiter hatte. Außerdem war er grundehrlich und zuverlässig.“

„Für Ians Geschmack wohl zu ehrlich. Dein Onkel fand, dass er es besser machen könnte, und hat Peter gefeuert. Danach verkündete er, dass er persönlich künftig die Mine und alles andere hier auf der Insel organisieren würde.“

„Kein Wunder, dass sie völlig abgewirtschaftet ist“, sagte sie verächtlich. „Ian kann nicht mal sein eigenes Leben organisieren. Das Einzige, was ihn je interessiert hat, waren Geld, Frauen und das Spielkasino.“

Selbst im Dämmerlicht des frühen Abends sah sie den niedergeschlagenen, fast gequälten Ausdruck in seinen Augen. Caroline erinnerte sich an Bessies Bemerkung, dass Kari sich bewusst von Ian ferngehalten hatte, und zählte eins und eins zusammen.

„Oh, Keanu, doch nicht deine Mutter …?“ Sie umfasste seine Schultern und zog ihn an sich, schlang unbeholfen die Arme um ihn. „Seid ihr deswegen weggegangen? Warum hat sie meinem Vater nichts gesagt? Oder den Ältesten? Der Polizei? Damit ihn jemand stoppt?“

Keanu befreite sich aus ihrer Umarmung und sah auf sie hinunter. Seine Miene war ausdruckslos. „Er hat sie nicht vergewaltigt, wenn du das meinst. Was er getan hat, war schlimmer.“

Noch nie hatte sie ihn so verbittert und gleichzeitig zutiefst verletzt erlebt. Caroline spürte es körperlich, jedes Wort wie ein Messerstich.

Aber was konnte schlimmer sein als eine Vergewaltigung?

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

So gern sie mehr wissen wollte, für Keanu war das Thema erledigt. Er hatte sich bereits abgewandt und ging weiter. Fragen drängten sich ihr auf die Zunge. Warum hast du dich nie bei mir gemeldet? Warum hast du mich gemieden? Doch im Grunde kannte sie die Antwort: Ein Lockhart hatte seiner Mutter etwas angetan, und das war unverzeihlich.

Caroline und Keanu erreichten den Strand und schlichen im Schatten der Kokospalmen zu den zerklüfteten Felsen. Wellen spritzten gegen die Steine. Zwar herrschte beginnende Ebbe, aber das Wasser war immer noch zu tief.

„Wir schwimmen“, entschied Caroline. „Allerdings wird Dads Kamera das wohl nicht überleben. Ich schlage vor, ich schwimme zuerst, klettere auf die niedrigen Felsen auf der anderen Seite, du reichst sie mir rüber, und dann schwimmst du.“

„Herrisch wie immer“, murmelte er. „Du hast dich nicht im Mindesten verändert.“

Sie unterdrückte ein Lächeln. Wenn auch nur für den Moment – der vertraute Keanu von früher war bei ihr.

Es war noch schlimmer als befürchtet, als Caro auf der anderen Seite der Felsen auftauchte und die Hand nach dem Rucksack ausstreckte. Das nasse Kleid schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper, sodass sich darunter jede Rundung verführerisch abzeichnete.

Keanu hatte sein Hemd bereits ausgezogen, reichte ihr die Kamera und schwamm auf die andere Seite. Drüben angekommen, zupfte er an seiner Shorts und hoffte, dass Caro seine Erregung nicht bemerkte.

„Wir gehen besser im Schatten der Palmen weiter“, sagte er. „Und sei leise, du weißt nicht, wer hier in der Nähe ist.“

„Zähnefletschende Schäferhunde vielleicht, die uns in Stücke reißen werden? Ich frage mich gerade, ob ich immer noch eine Kokospalme hinaufklettern kann.“

Bei der Vorstellung musste Keanu lächeln. Den Weg im Schutz der Palmen hatte er allerdings aus einem anderen Grund ausgesucht: Die Dunkelheit schützte ihn vor dem Anblick ihrer vollen Brüste in dem feuchten Kleid, davor, wie der Stoff an ihrem flachen Bauch mit der Nabelkuhle haftete und auf der sanften Wölbung über ihrem Schritt, den schlanken Oberschenkeln.

Wenn er sich davon ablenken ließ, wurden sie bestimmt geschnappt!

Bei den ersten Hütten, in denen damals die Forscher untergebracht waren, hörten sie Stimmen.

„Hinter der Küche, wo die kleine Bar gewesen ist, müssen Leute sein“, raunte er ihr zu.

In einer der strohgedeckten Holzhütten brannte ein einsames Licht, doch selbst von außen konnte Keanu sehen, wie sehr sich hier alles verändert hatte. Steinmauern zogen sich dort entlang, wo früher nur unbefestigtes Gelände gewesen war, und eine marmorne Sonnenterrasse mit Whirlpool war von dichter Vegetation umgeben.

„Das ist nicht für Gastwissenschaftlicher gedacht“, flüsterte Caroline. „Es ist eine Luxusanlage für die Superreichen, die es sich leisten können, für völlige Abgeschiedenheit und Ruhe zu bezahlen. Siehst du, wie die Hütten voneinander durch ein Dickicht von Sträuchern getrennt sind? Wie die riesige Ingwerpflanze dort drüben?“

„Aber was ist mit den Labors, den Gemeinschaftsküchen und Essräumen? Wenn jemand so viel Geld bezahlt, will er doch bestimmt nicht mit allen anderen zusammen essen, oder?“

„Das sehen wir uns mal an.“

Keanu nahm ihre Hand, verbot sich, dem lustvollen Gefühl nachzuspüren, das diese harmlose Berührung auslöste, und führte Caro zu den Küchen. Immer unter den Palmen entlang, denn auf dem sauber geharkten Weg hätten sie verräterische Spuren hinterlassen.

Als sie näherkamen, entdeckten sie, dass auch das alte Langhaus renoviert worden war. Es war immer noch nach traditioneller Bauweise an den Seiten offen, jedoch größer und komfortabler ausgestattet.

„Weiter können wir nicht“, sagte Keanu bestimmt. „Man wird uns mit Sicherheit erwischen. Wir müssen abwarten, was Sam berichtet, wenn er wieder in den Labors arbeiten kann. Auf keinen Fall sollten wir Fotos machen, das Blitzlicht würde uns verraten.“

Er erwartete, dass sie widersprechen würde – Caro war von jeher risikofreudiger gewesen –, doch zu seinem Erstaunen kehrte sie um.

„Okay, wir gehen zurück, bevor uns jemand sieht“, sagte sie.

Caroline musste lächeln. Keanu war inzwischen an dieser Expedition genauso interessiert wie sie.

Allerdings verwirrte es sie sehr, seine Hand zu spüren, die schlanken, kräftigen Finger, die ihre festhielten. Und er zog sie mit sich, sodass sie ihm viel zu nahekam. Caroline begann zu zittern. Dabei war sie gar nicht nervös, und kalt war ihr auch nicht. Keanu blieb stehen, wo dunkler Schatten sie vor Blicken schützte.

„Du frierst“, flüsterte er und schlang die Arme um sie.

Seine nackte Haut war warm, sein männlicher Körper hart und muskulös. Verwirrende Gefühle erfüllten sie, und fast hätte sie etwas Dummes getan, ihn beinahe geküsst oder sich verraten, indem sie sich sehnsüchtig an ihn schmiegte. Zum Glück hatte er sie losgelassen, um ihre Arme zu reiben in dem Versuch, sie zu wärmen. Dabei hatte ihr Zittern nichts mit der kühlen Nachtluft zu tun.

Keanu dagegen kam ihr vor wie ein Felsbrocken, unempfindlich gegen alles, was sie seit dem unerwarteten Wiedersehen bewegte, und unempfänglich für sinnliche Reize.

Ein Rascheln im Gebüsch holte sie in die Gegenwart zurück. Wahrscheinlich war es nur ein Vogel, aber es machte Caroline bewusst, dass sie sich unerlaubt hier aufhielten und jederzeit erwischt werden konnten.

Doch während sie zum Strand zurückschlichen, leuchteten ganz andere Warnlampen in ihrem Kopf auf. Warum reagierte sie so intensiv auf Keanu? Litt sie immer noch darunter, dass Steve sie nur benutzt hatte, und suchte jetzt, da sie Keanu wiedergetroffen hatte, Trost bei dem vertrauten Kindheitsfreund?

Sie konnte sich nichts vormachen. Trost und Geborgenheit sahen anders aus. Hatte sie nicht eben noch vor Verlangen gebebt? Von ihrer Enttäuschung, dass er sie nicht geküsst hatte, ganz zu schweigen …

Vergiss es! ermahnte sie sich. Eine Beziehung zwischen ihnen war ausgeschlossen. Nicht nur, weil ihr Onkel Ian den Namen Lockhart bei allen Insulanern in den Schmutz gezogen hatte. Er hatte auch Keanus Mutter Gewalt angetan. Sogar Schlimmeres, wie Keanu gesagt hatte.

Caroline wunderte es kaum noch, dass er jeden Kontakt mit ihr abgebrochen hatte.

In ihre Gedanken versunken, achtete sie nicht auf den Weg, strauchelte und landete in einer Babypalme.

„Was ist los mit dir?“, knurrte Keanu, griff nach ihr und zog sie hoch. „Hast du keine Augen im Kopf?“

Sie konnte ihm kaum erzählen, woran sie gedacht hatte. Ohne ein Wort zu sagen, kehrte sie auf den Pfad zurück und ging stumm weiter.

„Morgen Abend könnten wir am Zaun entlanglaufen, sehen, ob wir etwas entdecken“, brach Keanu schließlich das Schweigen.

„Kann sein, dass ich Dienst habe. Mit Hettie habe ich noch nicht gesprochen, kenne also den Dienstplan nicht.“

„Jetzt wo du es sagst, könnte ich mir vorstellen, dass du wirklich arbeiten musst. Anahera übernimmt mehr Tagdienste, damit sie abends bei Hana sein kann. Außerdem werden wir hier vielleicht nicht viel sehen können. Die Sträucher sind zu dicht.“

„Habe ich die ganze Nacht Dienst?“

„Nein, von drei Uhr bis Mitternacht. Zwei Pflegehelferinnen teilen sich die Nachtschichten.“

„Und wer unterstützt sie?“

Keanu seufzte. „Es ist ein kleines Krankenhaus, Caro. Entweder Sam oder der Arzt oder die Ärztin, die zurzeit auf der Insel sind, haben ständig Rufbereitschaft. Und Hettie ebenfalls. Die Mitarbeiter-Unterkünfte sind auf dem Klinikgelände. Man braucht genau zwei Minuten von einem unserer Apartments zu den Stationen.“

Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass er sie Caro genannt hatte. Zusammen mit den Gefühlen, die seine wärmende Umarmung ausgelöst hatten, verstärkte der vertraute Name aus der Kindheit ihre innere Unruhe noch.

„Jetzt müssten wir eigentlich zu Fuß auf die andere Seite kommen“, sagte sie, um sich abzulenken, und stapfte durch den Sand Richtung Felsen.

Zu Keanus Erleichterung hatte sich das Meer so weit zurückgezogen, dass sie um die Felsen herumwaten konnten. Sie in den Armen zu halten, ohne sich etwas anmerken zu lassen, war schon schwer gewesen. Caro noch einmal in dem nassen Kleid zu sehen, hätte seine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe gestellt.

Ihm war nicht ganz klar, warum Caro nach Wildfire zurückgekommen war. Dass sie helfen wollte, rechnete er ihr hoch an, aber er vermutete, dass noch mehr dahintersteckte.

Was war aus dem flotten Typ namens Steve geworden, mit dem sie so oft in den Zeitungen auftauchte? Hatte er sie abserviert?

Keanu ärgerte sich, dass er sich überhaupt mit ihrem Privatleben befasste. Noch mehr störte ihn das Mitgefühl, das er für sie empfand. Schlimm genug, dass er sich zu diesem nächtlichen Ausflug überreden ließ … musste er sie noch in die Arme nehmen, sie an sich drücken, bis er ihren weichen weiblichen Körper überall spürte?

Hatte er in dem Moment Sterne gesehen? Oder sich wie ein Mondsüchtiger den Verstand vernebeln lassen?

Unwillkürlich hielt er in seiner Klettertour über die Felsen inne, um nach dem Mond Ausschau zu halten. Er war nirgends zu entdecken.

„Stöhnst du etwa?“, fragte Caro. „Ich weiß, dass es abschüssig ist, aber ich hätte dich für fitter gehalten.“

„Ich stöhne nicht!“

„Dann muss da irgendwo ein Wildschwein sein“, entgegnete sie munter.

Was sie nicht eine Sekunde glaubte – so wie ihre Stimme klang. Hätte Caro ihm geglaubt, dass er wegen seiner eigenen dummen Gedanken aufgestöhnt hatte?

„Siehst du die Lichter dort?“, sagte die Frau, die er nicht in die Arme hätte nehmen dürfen.

Keanu schob seinen Erinnerungen einen Riegel vor, um sich endlich auf die Gegenwart zu konzentrieren. „Der Hubschrauber muss von einer der Inseln einen Patienten geholt haben.“ Er beschleunigte seine Schritte und kam vor Caro auf dem Flugfeld an.

Hettie und Jack luden gerade die Trage mit dem Patienten aus, und Manu, einer der wenigen verbliebenen Krankenpflegehelfer, rannte auf die Landebahn zu. Sam folgte ihm dicht auf den Fersen.

„Tropengeschwür, schwieriger Verlauf“, sagte Hettie, als Manu ihr Ende der Trage übernahm und Sam und Keanu bei ihr ankamen. „Aber ich vermute, dass es noch ernster ist, als es aussieht.“

„Buruli-Ulkus?“, vermutete Sam.

„Das müssen wir testen“, erwiderte sie achselzuckend.

Sie klang ruhig, aber Keanu merkte, dass ihre Worte bei allen für eine leichte Anspannung sorgten. Tropengeschwüre waren in diesen Regionen nichts Besonderes und manchmal schwierig zu behandeln, doch ein Buruli-Ulkus konnte zu dauerhaften Knochen- und Gelenkschäden führen.

„Kommt es hier oft vor?“

Keanu hatte Caro fast vergessen, und als er sich jetzt umdrehte, um ihr zu antworten, stand sie so dicht bei ihm, dass sein Arm ihre Brust streifte. Sofort waren die Gedanken an ihren warmen, anschmiegsamen Körper wieder da!

„Nicht so häufig wie anderswo“, erklärte er und folgte Hettie, die den Patienten zum Krankenhaus hinaufbegleitete.

„Ich habe Unterstützung für dich“, sagte er, als er sie eingeholt hatte. „Sam hat dir wahrscheinlich erzählt, dass Maddie und die FIFO-Schwester heute nicht kommen können. Zufällig ist Caroline gestern sozusagen vom Himmel gefallen und hat erzählt, dass sie Krankenschwester ist.“

Woraufhin Caro ihm einen finsteren Blick zuwarf und auf Hettie zuging, um sich selbst vorzustellen.

„Caroline Lockhart“, sagte sie und streckte die Hand aus.

„Aus dem Lockhart House?“ Hattie ignorierte die Hand.

„Ja, und stolz darauf“, betonte Caroline freundlich, aber bestimmt. „Und ich möchte lieber nach meiner Arbeit beurteilt werden als nach dem Haus, in dem ich wohne.“

Hettie strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn und seufzte. „Da haben Sie recht“, antwortete sie sanft und schüttelte Caro zu Keanus Erleichterung die Hand. „Es war ein langer Tag. Ich musste Ersatz für die Krankenschwester auf Raiki finden.“

„Was ist mit ihr?“, fragte Caro, und Keanu wusste, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.

„Anscheinend hat sie mit Ihrem Onkel Ian das Weite gesucht – und sämtliche Medikamente gleich mitgenommen.“

„Sie hat was?“ Caroline fuhr herum, sah Keanu aufgebracht an. „Weiß mein Vater, was hier los ist? Weiß er, wie tief sein Bruder gesunken ist? Stiehlt den Insulanern ihre Medikamente und nimmt ihnen auch noch die Krankenschwester weg?“

„Wir haben erst gestern davon erfahren“, antwortete Hettie an seiner Stelle. „Und da Ian mit seiner Jacht auf und davon ist, hätte Ihr Vater oder sonst jemand nichts unternehmen können.“

Keanu sah Caro an, wie weh es ihr tat, dass der Ruf ihrer Familie darunter litt. Ian hatte nicht nur auf Wildfire großen Schaden angerichtet – was sich auf den anderen Inseln überall herumgesprochen haben dürfte.

Während er dem kleinen Tross den Hang hinauf folgte, tat sie ihm wirklich leid. Er blickte flüchtig zu ihr hinüber und sah, wie sie die Schultern straffte und das Kinn hob. In ihm zog sich etwas zusammen. Die Frau unterschied sich von dem Mädchen, das ihm einst vertraut gewesen war, nur äußerlich. In ihrem Herzen war sie genauso stolz und mutig wie seine Caro. Sie würde allen zeigen, dass man nicht alle Lockharts mit Ian über einen Kamm scheren konnte!

„Also Verdacht auf Buruli-Ulkus?“ Sie war zu ihm herübergekommen.

Selbst im spärlichen Licht, das den Pfad beleuchtete, las er mühsam unterdrückte Traurigkeit in ihren Augen. Am liebsten hätte er ihr den Arm um die Schultern gelegt und Caro an sich gedrückt. Sie getröstet wie damals, wenn sie einsam war, wenn ihr die Mutter fehlte – und oft auch der Vater.

So wie er auf sie reagierte, waren Umarmungen jedoch tabu. Wir sind Kollegen, mehr nicht, sagte er sich.

„Hier bei uns tritt es eher selten auf, kann sich aber zu einer ernsten Angelegenheit entwickeln, wenn man nicht frühzeitig behandelt. Meistens beginnt es mit einem Nodul unter der Haut, einer kleinen Schwellung, kaum größer als ein Mückenstich. Der Patient achtet nicht weiter darauf, während die Entzündung fortschreitet. Das Geschwür dehnt sich aus, zerstört Gewebe und Haut. Wartet man zu lange, greift es Knochen an, was häufig dazu führt, dass Gliedmaßen amputiert werden müssen.“

„Hört sich ähnlich an wie Lepra.“

„Richtig. Der Erreger ist mit dem von Lepra und Tuberkulose verwandt.“

„Könnt ihr die Tests hier durchführen, oder müsst ihr die Proben zum Festland schicken? Das dauert doch Tage, oder?“

„Wir haben Glück“, mischte sich Hettie in das Gespräch ein. „Sam ist leidenschaftlicher Bakteriologe. Die Forschungsstation ist zurzeit zwar geschlossen, aber er nutzt unser kleines Kliniklabor, wann immer er Zeit hat, und züchtet wer weiß was in seinen Petrischalen. Wenn jemand die Ursache für dieses Geschwür bestimmen kann, dann er.“

Caroline musste sich eingestehen, dass sie den lässigen gut aussehenden Arzt unterschätzt hatte. Anscheinend besaß er verborgene Qualitäten, denn selbst ein einfacher bakteriologischer Test erforderte gewissenhaftes, sorgfältiges Arbeiten.

Sie erreichten die Klinik und brachten den Patienten in ein Untersuchungszimmer. Er war jung, noch ein Teenager, und lebte auf French Island. Die Insel war nach den französischen Seeleuten benannt, dessen Segelschiff vor der Küste gesunken war. Während sie auf Rettung warteten, heirateten sie Insulanerinnen und gründeten Familien.

Der Junge hieß Raoul, auch dieser Name ein Erbe seiner französischen Vorfahren. Assistiert von einer Pflegehelferin entfernte Sam nun vorsichtig den leichten Verband, mit dem Hettie die Wunde abgedeckt hatte.

Erschrocken starrte Caroline auf die Stelle. Dies war kein kleines Nodul, sondern ein vollständig entwickeltes Beingeschwür, das sich durch die aufgerissene Haut bis ins rohe, stark entzündete Fleisch gefressen hatte.

„Ich nehme einen Abstrich“, erklärte Sam seinem Patienten. „Aber bevor ich ihn untersuche, gebe ich dir Antibiotika.“

„Solche Geschwüre sprechen normalerweise gut auf eine Kombination von Rifampicin und Streptomycin an“, fügte Keanu hinzu.

Caroline merkte erst an ihrer Erleichterung, wie angespannt sie gewesen war. Es wäre furchtbar, wenn der Junge das Bein verlieren würde.

„Okay, alle raus, bis auf Mina.“ Sam scheuchte sie mit eindeutiger Handbewegung Richtung Tür. „Wir kommen allein zurecht. Keanu, vielleicht machst du die neue Kollegin mit unserem Piloten bekannt. Und Hettie, falls du nicht zu müde bist … Ich habe dir Carolines Papiere auf den Schreibtisch gelegt. Vielleicht möchtest du dich noch mit ihr unterhalten.“

Na, großartig, dachte Caroline. Genau der richtige Abschluss für diesen Tag: ein Gespräch mit einer Frau, die meine gesamte Familie verabscheut.

Da nahm Keanu sie beim Ellbogen, und alle ihre Gedanken verflüchtigten sich. Es blieb das Gefühl seiner Nähe, seiner warmen Finger auf ihrer Haut.

„Komm, ich stelle dir Jack Richards vor. Wir gehen in den Personalraum, da können wir einen Kaffee trinken. Oder etwas Kaltes, wenn du möchtest.“

Caroline war ganz von Keanus Berührung gefangen, bis er sie aus ihrer Trance riss und ihr erzählte, dass Jack nach jedem Flug im Aufenthaltsraum Pause machte. Und da saß er, in einem Clubsessel, die langen Beine ausgestreckt, und trank gerade den letzten Rest aus seiner Coladose.

Der Pilot hatte ein kantiges Kinn und breite, muskulöse Schultern. Hier, im hell erleuchteten Raum, sah sie, dass er groß und kräftig, aber nicht bullig gebaut war. Sein dunkles Haar trug er raspelkurz geschnitten, so als würde er mit dem Bartschneider darübergehen, statt es sich vom Friseur schneiden zu lassen.

Markante Züge, glatte olivbraune Haut – Jack Richards war ein attraktiver Mann. Am faszinierendsten waren allerdings seine tiefgründigen dunkelblauen Augen. Augen, denen nicht viel entgeht, dachte Caroline.

Er stellte die leere Dose auf das Tischchen neben dem Sessel. „Das brauchte ich jetzt! Dieser Tag hatte es in sich. Zuerst auf Raiki, wo die Einheimischen schon den Aufstand probten, weil sie keine Krankenschwester und keine Medikamente mehr hatten. Wir haben versucht, die Gemüter zu beruhigen, und sind nach Atangi geflogen. Dort sind zwei Krankenschwestern, und Hettie hoffte, dass eine auf Raiki einspringt, bis wir jemanden gefunden haben.“

„Und, hat es geklappt?“, fragte Caroline.

„Hettie verhandelt noch, aber es sieht gut aus. Zwischendrin brachte uns eine Mutter, die die Sprechzeiten verwechselt hatte, ihr Kleinkind zum Impfen. Ein Kleinkind, das schon zu brüllen anfing, als es die Nadel nur sah. Armer Kleiner, er hat geschrien wie am Spieß, und wir mussten ihn festhalten, während Hettie ihm die Spritze gab. Dann kam noch der Vater rein und legte sich mit Hettie an. Es war wie in einer altmodischen Fernsehkomödie, nur nicht wirklich lustig, weil der Junge schreckliche Angst hatte.“

„Danach French Island und der Teenager mit dem Tropengeschwür“, meinte Keanu, der Kaffee gekocht hatte und jetzt Caroline einen Becher anbot. Kopfschüttend lehnte sie ab.

„Ja, die Inselschwester rief uns an, wir flogen rüber und luden ihn ein. Und als wäre das nicht schon genug, gerieten wir auf dem Rückflug in ekligen Seitenwind. Klar, um diese Jahreszeit ist das zu erwarten, die Zyklonsaison beginnt. Aber der Himmel möge uns beistehen, wenn wir heute Nacht zu einem Notfall ausrücken müssen!“

„Sind Sie der einzige Pilot?“ Caroline setzte sich auf das Sofa ihm gegenüber.

„Tschuldigung, ich habe euch noch nicht vorgestellt“, sagte Keanu. „Jack, das ist Caroline, die neue Krankenschwester. Caroline, das ist Jack Richards und ja, zurzeit ist er unser einziger Pilot. Allerdings kommt am Freitag Verstärkung, ein FIFO-Pilot, oder?“

„Ja, Matt Rogers.“

„Mögen Sie ihn nicht?“ Caroline war der besondere Unterton in Jacks Stimme nicht entgangen.

„Weil er jünger ist und besser aussieht als unser Jack“, flachste Keanu. „Und vor allem haben beide ein Auge auf die schöne Anahera geworfen.“

„Die uns beide nicht im Mindesten beachtet“, murrte Jack so frustriert, dass Caroline lächeln musste.

„Ich könnte es keinem Mann verdenken, dass er sie anziehend findet. Sie ist wirklich eine schöne Frau.“ Insgeheim fragte sie sich, ob die Krankenschwester die Piloten nicht beachtete, weil sie heimlich für jemand anders schwärmte.

Für Keanu vielleicht?

Wenn Vaileas Tochter ihr Herz an ihn verloren hatte und Vailea ihn für eine passende Partie hielt, könnte es eine Erklärung dafür sein, dass sich die ältere Frau Caroline gegenüber so abweisend verhalten hatte. Jeder hier auf der Insel wusste, dass Caroline und Keanu früher eng befreundet gewesen waren …

Sie musste geseufzt haben, denn Keanu sagte plötzlich: „Komm, du bist müde. Ich bringe dich hoch zum Haus.“

Jack richtete sich kerzengerade auf. „Zum Haus? Lockhart House? Seit wann werden unsere Krankenschwestern da oben untergebracht, während wichtige Typen wie ich in Fertighütten schlafen müssen?“

„Nur, wenn sie Lockhart heißen. Außerdem weißt du genau, dass alle Klinikgebäude vorgefertigt sind. So ist es einfacher, sie in Containern zu verschiffen und hier auszuladen, wo es nur wenige Männer braucht, um sie aufzubauen.“ Keanu wandte sich an Caroline. „Fertighäuser hin oder her, die Personalunterkünfte sind großartig. Hör einfach nicht auf ihn.“

Jack starrte immer noch Caroline an. „Sie sind eine Lockhart?“, stieß er ungläubig hervor.

„Ja.“ Sie lächelte. „Nun tun Sie nicht so, als hätten wir alle zwei Köpfe!“

Zwei Köpfe hätten bedeutet, dass sie auch zwei Gehirne hatte. Sie brauchte jedoch nur eins, ja, sogar nur einen Teil davon, um zu erkennen, dass sie auf keinen Fall von Keanu nach Hause gebracht werden wollte. Ihre Gefühle für ihn waren so aufwühlend und verwirrend, dass sie glaubte, nie daraus schlau zu werden. Vielleicht wären zwei Hirne doch nicht schlecht …

Jahrelang hatte sie ihm sein Verschwinden bitter übel genommen. Hatte er nicht gewusst, dass er ihr einziger Freund war? Selbst, nachdem sie beide aufs Internat gegangen waren, schrieben sie sich regelmäßig Briefe, und Caroline hatte ihm immer wieder ihr Herz ausgeschüttet. Wenn sie Heimweh hatte, wenn die innere Leere sie bedrückte, die sie sich damit erklärte, dass ihr die Mutter fehlte. Oder wenn sie wegen Christopher traurig war oder neidisch auf die anderen Mädchen, die Besuch von ihren Eltern bekamen. Ihrem Vater dagegen – das begriff sie damals schnell – waren Christopher und Wildfire Island immer wichtiger gewesen als sie.

Caroline hatte Keanu Dinge anvertraut, die sonst niemand wusste. Und auf einmal war er nicht mehr für sie da. Wie vom Erdboden verschluckt, ohne ein Lebenszeichen.

Und nun tauchte er unvermutet wieder in ihrem Leben auf und brachte sie durcheinander. Vor allem, wenn er sie in die Arme nahm, um sie zu wärmen!

„Du brauchst nicht mitzukommen“, sagte sie bestimmt, nachdem sie den Personalraum verlassen hatten.

„Auf dieser Insel gibt es gerade eine Menge Lockhart-Angestellter, oder sagen wir besser Ex-Angestellter, die sehr ungehalten sind, um es milde auszudrücken. Ich glaube zwar nicht, dass sie ihren Frust an dir auslassen würden, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher.“

Also begleitete er sie, um sie zu beschützen.

Ein Gefühl der Enttäuschung zog ihr das Herz zusammen. Sei nicht albern, ermahnte sie sich. Für ihn war diese Umarmung keine große Sache.

„Welche Mitarbeiter und Ex-Mitarbeiter sind verärgert?“, fragte sie. Es war einfacher, über Fakten zu reden, als sich mit etwas zu befassen, das sie im Moment überforderte.

„Nahezu alle, aber in erster Linie die Minenarbeiter. Wenige kommen von den anderen Inseln, die meisten leben hier. Man hat ihnen die Stunden gekürzt, und die, die entlassen wurden, haben weder den noch ausstehenden Lohn, geschweige denn die Alterszulage ausgezahlt bekommen.“

„Aber wenn Ian weg ist, wer entscheidet dann über die Löhne oder Kurzarbeit? Wer führt die Mine?“

„Keine Ahnung. Wie du weißt, hat sich Ian erst vor Kurzem davongemacht.“

„Aber in der Goldmine wird noch gearbeitet?“

Keanu nickte.

„Dann sehen wir uns da mal um.“

„Bei der Mine?“

Caroline lächelte. „Nicht jetzt, Angsthase, aber morgen oder wann immer wir zusammen freihaben. Das heißt, falls du mitkommen willst.“

„Da lasse ich dich auf keinen Fall allein hin. Mir ist allerdings schleierhaft, was du da willst.“

„Ich möchte wissen, was los ist. Ohne die Mine können wir das Krankenhaus nicht mehr lange betreiben. Und dann verlieren die Leute hier nicht nur ihre Jobs, sondern auch die medizinische Versorgung.“

Sie war so aufgeregt, dass ihre Augen im Mondlicht schimmerten. Keanu hätte Caroline fast in die Arme genommen – diesmal jedoch aus einem anderen Grund als vorhin. Doch schon das erste Mal war ein Fehler gewesen, den er nicht wiederholen durfte.

Und obwohl er seine Frau seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte, war er offiziell noch verheiratet. Vergiss die Umarmung.

„Wir können die Mine nicht betreiben“, sagte er schärfer als beabsichtigt.

Verwundert blickte sie ihn an. „Dann müssen wir uns eben etwas einfallen lassen.“

Im Stillen musste er ihr recht geben. Die Existenz der Klinik und die medizinische Versorgung auf der gesamten Inselgruppe hingen davon ab, welchen Gewinn die Mine abwarf.

„Kann sein, dass wir jemanden finden, wenn wir erst mehr wissen“, meinte er. „Einige der Einheimischen haben von Anfang an dort gearbeitet. Mit denen sollten wir reden. Gut wären auch die, die von Peter Blake ausgebildet wurden. Oder wir fragen Peter, ob er zurückkommt.“

„Und wovon sollen wir ihn bezahlen?“

Keanu hob beschwichtigend beide Hände. „Hey, du bist diejenige, die sich etwas ausdenken wollte. Ich werfe nur ein paar Vorschläge in den Ring. Denk darüber nach, oder lass es bleiben.“

Ihr Gesicht verdüsterte sich, und im selben Moment wusste Keanu, dass er etwas Falsches gesagt hatte.

„War das mit mir damals auch so? Denk an sie, oder lass es bleiben? Okay, Ian hat deiner Mutter wehgetan, aber was habe ich dir getan, dass du mich von heute auf morgen aus deinem Leben ausgeschlossen hast?“

Sie war wütend, doch Keanu beugte sich vor und berührte sanft ihre Wange. „Du hast immer zu meinem Leben gehört, Caro“, sagte er leise und ließ die Hand zu ihrer Schulter gleiten.

Einen Moment später wandte er sich ab und ging rasch den Weg zurück, damit sie ihm nicht ansah, wie schmerzlich ihre Worte ihn berührt hatten.

Ansonsten hatte sie recht. Er war hergekommen, um herauszufinden, was er tun konnte, um das Krankenhaus vor dem Aus zu retten. Und die Mine spielte dabei eine entscheidende Rolle. Tat er sich allerdings mit Caro zusammen, hieß das, noch mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Er würde ihren Körper neben seinem spüren, sich ständig bewusst sein, wie sehr er sie begehrte.

Eine Frau, unerreichbar für ihn, seit er ihr Vertrauen zutiefst enttäuscht hatte, als sie noch ein junges Mädchen war …

Caroline blickte Keanu nach, wie er geschmeidig hügelabwärts lief. Lange Beine, breite Schultern, kraftvolle und natürliche Bewegungen – ein atemberaubender Mann!

Lag es daran, dass sie sich so lange nicht gesehen hatten, oder warum herrschte diese merkwürdige Angespanntheit zwischen ihnen? Beschäftigte ihn noch heute das, was ihn dazu getrieben hatte, ihr nicht mehr zu schreiben? Was immer es auch sein mochte … Er hatte sich ja sogar geweigert, ihre Briefe zu lesen.

„Wie soll man das verstehen?“, murmelte sie und ging durchs Haus zu ihrem Schlafzimmer. Hier hingen noch die Poster ihrer Idole aus der Teenagerzeit.

Da außer ihr keiner hier war, hätte sie sich von den sechs Schlafzimmern ein anderes aussuchen können, aber sie fühlte sich in ihrem am wohlsten. Auch wenn ohne Helen und Keanu in diesem Zuhause etwas fehlte.

Tränen brannten plötzlich hinter ihren Lidern, als die Erinnerungen an die Kindheit, an ihre Freundschaft und Nähe zueinander sie zu überwältigen drohte.

Caroline unterdrückte das Bedürfnis, sich aufs Bett zu werfen und ins Kissen zu schluchzen. Stattdessen riss sie die Poster von den Wänden. Sobald sie Zeit fand, wollte sie ihr Zimmer neu streichen und anders einrichten. Vielleicht sogar das gesamte Haus, um die Spuren der Vergangenheit zu tilgen.

In deinem Kopf werden sie bleiben, flüsterte eine verräterische Stimme. Aber sie hatte genug von solchen Stimmen. War nicht während der ganzen Zeit ihrer Beziehung zu Steve ständig eine bei ihr gewesen?

Allerdings hätte sie auf sie hören sollen, wenn sie an Steves Liebesschwüren zweifelte oder an den lahmen Ausreden, mit denen er Verabredungen absagte. War sie so verrückt nach Liebe gewesen, nach jemandem, der bei ihr blieb, dass sie sämtliche Warnsignale übersehen hatte?

„Ach, komm, vergiss das endlich“, schalt sie sich. „Es ist vorbei!“

Schließlich hatte sie genug zu tun, womit sie die Stimmen der Vergangenheit zum Schweigen bringen konnte: die Arbeit im Krankenhaus und in der Freizeit all die Nachforschungen, um hier auf der Insel endlich Licht ins Dunkel zu bringen.

Caroline wollte genau wissen, was passiert war.

5. KAPITEL

Am Abend zuvor war Hettie schon gegangen, als Caroline aus dem Personalraum kam. Deshalb wusste sie nicht, ob sie arbeiten durfte oder nicht. Also machte sie sich am Morgen um halb acht auf den Weg zum Krankenhaus.

Es war heiß, die Luft tropisch feucht. Jacks Bemerkung über Wirbelstürme hatte sie daran erinnert, dass diese Jahreszeit nicht gerade die beste war, um nach Wildfire zurückzukehren. Andererseits hatte sie früher während der langen Sommerferien schon so manches Unwetter überstanden.

Hettie war mit Keanu bei dem Patienten, den sie gestern Abend mit dem Hubschrauber hergebracht hatte.

„Muss das betroffene Gewebe entfernt werden?“, fragte Caroline und stellte sich auf die andere Seite des Betts, um das Geschwür genauer zu betrachten.

Hettie blickte auf, sah sie mit ihren schönen grünen Augen prüfend an. So prüfend, dass Caroline sich wie ein vorlautes Schulmädchen vorkam.

„Ich wollte fragen, ob Sie Arbeit für mich haben“, erklärte sie. „Irgendetwas, wo ich mich nützlich machen kann.“

Die Pflegedienstleiterin betrachtete sie immer noch eingehend. Aber vielleicht war sie immer so ernst. Hettie trug Jeans und eine weiße Bluse und ihr langes dunkles Haar im Nacken zu einer perfekten Rolle eingeschlagen. Caroline fand die schlanke zierliche Frau attraktiv. Wenn sie lächelt, ist sie bestimmt sehr hübsch.

„Was wissen Sie über das Buruli-Ulkus?“

Caroline dankte stumm ihrer Eingebung, dass sie sich gestern noch im Internet schlaugemacht hatte, und zählte auf, was sie sich eingeprägt hatte. Da Internetquellen jedoch grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen waren, fügte sie hinzu: „Aber das weiß ich nur von Dr. Google. Ich selbst habe keine Erfahrungen damit.“

Zu ihrer Überraschung lächelte Hettie, und tatsächlich strahlte sie eine stille Schönheit aus, wie sie nicht viele Frauen besaßen.

„Das kommt noch“, sagte sie. „Willkommen an Bord. Hier ist es nicht einfach, nach Dienstplan zu arbeiten, aber Arbeit gibt es immer. Maddie, eine unserer FIFO-Ärztinnen, macht die Betriebsuntersuchungen bei den Minenarbeitern, aber sie konnte ja nicht kommen. Und die Check-ups sind längst fällig. Sie kennen doch die Mine, oder? Könnten Sie und Keanu das nicht heute übernehmen?“

Perfekt, dachte Caroline aufgeregt. Genau der Vorwand, den wir brauchen, um uns da unten umzusehen!

Keanu wandte ein, dass sie zu frisch in dem Job sei, um in die Mine zu gehen. Aber sie beachtete ihn nicht weiter, sondern fragte: „Was genau sind das für Untersuchungen?“

„Allgemeiner Gesundheitszustand. Die Minenarbeiter neigen dazu, Schnittwunden und Kratzer zu ignorieren, obwohl sie wissen, dass sie sich böse Infektionen oder Geschwüre holen können. Bei zweien – das werden Sie in den Unterlagen sehen – vermuten wir Lungenprobleme, was die Arbeit unter Tage verbietet. Aber Sie wissen ja, wie Männer sind … ein starrsinniger Haufen, der noch diskutiert, wenn er schon blau im Gesicht ist, anstatt die Atembeschwerden zuzugeben.“

„Ja, solche Kandidaten kenne ich.“ Insgeheim musste Caroline lächeln, weil sie sich fragte, ob die energische, tüchtige Hettie auch privat schon mit so manchem sturköpfigen Mann aneinandergeraten war. Sie schien eine festgefügte Meinung über Männer im Allgemeinen zu haben.

„Wir prüfen bei jedem regelmäßig die Lungenfunktion und protokollieren die Werte“, fuhr Hettie fort. „Um diese beiden steht es nicht so schlimm, dass man sie arbeitsunfähig schreiben müsste. Noch nicht. Unser Krankenhaus wird teilweise vom australischen Staat finanziert, und die Gesundheitschecks in der Mine sind von einem Programm zu Arbeitsgesundheit und – sicherheit abgedeckt.“

„Noch mehr Papierkram für Sam“, meinte Caroline.

Hettie lächelte wieder. „Ja, er hasst das.“ Sie wandte sich an Keanu. „Du hast gerade Luft und kannst Caroline zur Mine bringen. Zeig ihr, wo die Unterlagen und Formulare aufbewahrt werden, und auch den Medikamentenschrank.“

„Falls Ian den nicht auch ausgeräubert hat“, murmelte er.

Caroline hingegen war einfach froh, dass sie die Gelegenheit bekamen, sich bei der Mine umzusehen.

„Wer hat da jetzt wohl das Sagen, seit Ian nicht mehr da ist?“, fragte sie Keanu, als sie sich auf den Weg machten.

Er blieb stehen und griff nach ihrer Hand, um ihr über einen unebenen Teil des Pfads zu helfen, wo die Steinstufen, die zur Mine führten, stellenweise weggebrochen waren.

„Ian hat sich kaum um den Betrieb gekümmert, sondern den Schichtleitern die Verantwortung überlassen. Reuben Alaki ist einer der fähigsten Männer“, sagte er ruhig.

Anscheinend schien es ihn völlig kalt zu lassen, dass sich ihre Finger berührten. Sie selbst nahm seine Wärme überdeutlich wahr, ihre Haut prickelte, und ihr Herz schlug schneller.

„Ich erinnere mich an ihn“, brachte sie heraus und hoffte, dass ihre Stimme nicht hörbar zitterte. „Nachdem seine Frau gestorben war, musste er seinen Sohn zur Arbeit mitnehmen, und deine Mutter hat auf den Kleinen aufgepasst. Wir haben mit ihm gespielt, und er ist uns gefolgt wie ein Schoßhündchen.“

Zum Glück lagen die holperigen Stufen jetzt hinter ihnen, und Keanu ließ ihre Hand los.

„Genau, das ist er. Der Kleine ist groß geworden und lebt drüben in Australien, wo man ihm unanständig viel Geld dafür zahlt, dass er Football spielt.“

Keanu lächelte, was auf sie die gleiche Wirkung hatte wie seine Berührung kurz zuvor.

„Das freut mich für ihn“, antwortete sie betont munter. „Vielleicht hättest du auch Profisportler werden sollen statt Arzt.“ Dann wärst du nicht hier, würdest nicht meine Hand halten und mich anlächeln, bis ich kaum noch weiß, wie ich heiße!

„Wir hatten unsere Pläne“, sagte er nur, und Caroline wurde von einer plötzlichen Traurigkeit überschwemmt.

„Was ist mit uns passiert?“, flüsterte sie wehmütig in Erinnerung an jene unbeschwerte, glückliche Zeit.

„Ian ist uns passiert.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er weiter die Stufen hinunter.

Schuldgefühle trieben ihn vorwärts. Keanu ertrug den kummervollen Ausdruck in ihren schönen Augen nicht. Natürlich hätte er den Kontakt zu Caroline halten können. Doch als er sah, wie sehr seine Mutter litt, erschien ihm das unmöglich.

Sicher hatte Caroline nicht das Geringste damit zu tun, aber damals war er vor Wut blind und taub gewesen. Und nach dem Tod seiner Mutter hatte er alle Kraft gebraucht, um weiterzumachen. Sich bei Caroline zu melden, war ihm nicht in den Sinn gekommen.

„Die Patientenakten sind im Büro“, erklärte er, als sie den Fuß der Treppe erreichten, und zeigte auf die rostfleckige Baracke unter dem Überstand, wo es in die Mine ging. „Reuben müsste da sein.“

Caro war dicht hinter ihm, er spürte ihre Nähe, als würde sie mit sanften Fingern seinen Körper streicheln. Gleichzeitig hatte er den Kopf voll mit Gedanken an seine Arbeit. Darauf sollte er sich konzentrieren und sich nicht in der Vergangenheit verlieren …

Die Geräusche, die aus dem tiefen Tunnel heraufdrangen, verrieten Keanu, dass dort unten tatsächlich gearbeitet wurde. Aber wer bezahlte die Männer? Fördermaschine und Brecher-Anlage standen still, sodass sie ihren Lohn wohl kaum in Gold nach Hause tragen konnten.

„Von wem werden die Arbeiter bezahlt?“, fragte Caroline, als wäre sie auch seinen Gedanken gefolgt.

„Das wird Reuben uns sagen.“

Der Schichtleiter kam aus der Baracke und schüttelte Keanu die Hand. Dann wandte er sich Caroline zu. „Neue Krankenschwester?“

„Und eine alte Freundin, wie ich hoffe. Es ist Caroline Lockhart, Reuben.“

Ein Strahlen ging über das zerfurchte Gesicht des Mannes, und er streckte beide Arme aus. „Du bist erwachsen geworden“, sagte er anerkennend, nachdem er sie herzlich umarmt hatte. „Erwachsen und wunderschön.“

Caros Miene nach zu urteilen, war dies die erste freundliche Begrüßung seit ihrer Ankunft.

„Wie geht es deinem Vater?“, wollte Reuben wissen.

„Er hat viel zu tun, ich sehe ihn selten.“

„Viel Arbeit und die Betreuung deines armen Bruders. Wie immer“, fügte er hinzu. „Damals, als meine Frau starb, habe ich mich auch in Arbeit gestürzt und erst später begriffen, dass der Schmerz davon nicht weggeht. Ich habe wieder geheiratet und Familie. Mein Großer ist drüben in Australien reich und berühmt geworden – er schickt sogar Geld nach Hause, damit sein alter Herr es gut hat.“

„Das finde ich großartig, Reuben.“

Keanu wusste, dass sie es ernst meinte. Sie hatte sich immer genauso sehr wie er den Insulanern verbunden gefühlt, wofür sie hier geschätzt und geliebt wurde.

„Was ist hier los, Reuben?“, kam er zum Punkt.

„Nun ja …“ Der Alte kratzte sich am Kopf und bedeutete ihnen dann, ihm ins Büro zu folgen.

„Die Bulldozer-Fahrer und die Männer, die die Förderanlage und die Brecher bedienen, hatten mehr als einem Monat keinen Lohn mehr erhalten und sind deshalb vor ein paar Wochen gegangen.“ Er schwieg kurz, blickte zum Hafen, wo der rasant wachsende Regenwald bereits Maschinen und Hütten überwucherte. „Die Minenarbeiter stehen zwar auch nicht besser da, aber sie hoffen, dass sie bald bezahlt werden. Die Schichtleiter haben vor ein paar Wochen einen Brief an deinen Dad geschickt und warten seitdem auf Antwort. Sie machen weiter, bis sie von ihm hören, weil sie das Geld nicht für Lebensmittel oder schicke Kleidung brauchen. Wir bezahlen damit unseren Kindern die Schule und das Studium oder schenken unseren Frauen davon eine Urlaubsreise.“

Das klang, als liefe alles bestens, doch Keanu wurde das Gefühl nicht los, dass ein Aber dahinterstand.

„Aber?“, fragte Caroline da, und er musste lächeln. Selbst nach so langer Zeit dachten sie auf derselben Wellenlänge.

„Die Minenarbeiter bauen das Erzgestein ab. Für die Sicherheit hat das Brecher-Team gesorgt. Aber dein Onkel hat immer mehr Leute entlassen. Er meinte, die Bulldozer-Führer und die Männer an der Aufbereitungsanlage könnten sich um die Sicherheitsmaßnahmen kümmern, solange die Anlagen nicht genutzt würden. Doch die Jungs sind jetzt nicht mehr da.“

„Dann sollten die Minenarbeiter aufhören“, sagte Keanu. „Es ist zu gefährlich, du musst sie da rausholen.“

Reuben schüttelte den Kopf. „Sie haben sich etwas ausgedacht. Wenn sie genug gefördert haben, wollen sie alle für einen Monat an den Zerkleinerungsmaschinen arbeiten, um so den Betrieb der Mine aufrechtzuerhalten. Die Männer stammen von den Inseln hier, und sie wissen, dass die Mine das Krankenhaus bezahlt. Auf Urlaubsreisen können sie verzichten, aber die Klinik und die Sprechstunden auf den anderen Inseln sind unentbehrlich. Die meisten sind jung, haben kleine Kinder zu Hause. Und Kinder haben Unfälle, verletzen sich und brauchen eine Krankenschwester oder einen Arzt …“

Keanu seufzte. Ihm war klar, was Reuben meinte, doch wenn die Sicherheit der Arbeiter nicht gewährleistet war, musste man die Mine dichtmachen. Für den hoffentlich nie eintretenden Fall eines Grubenunglücks war das kleine Krankenhaus nicht ausgerüstet.

Caroline wurde ganz flau im Magen, als sie sich vorstellte, wie die Männer in ungenügend gesicherten Stollen arbeiteten oder knietief in Wasser standen, das abgepumpt werden müsste. Genaueres würden sie jedoch erst wissen, wenn sie mit ihnen gesprochen hatten.

„Wollen wir mit den Gesundheitschecks anfangen?“ Sie wandte sich an Keanu und las in seinen Augen die gleichen Sorgen, die sie sich auch machte. „Wie läuft das sonst ab?“

Reuben antwortete für ihn. „Ich rufe unten an, und sie schicken einen Mann nach dem anderen hoch – in alphabetischer Reihenfolge, weil ihr es dann mit den Unterlagen leichter habt. Kalifa Lui macht mir Sorgen, sein Husten scheint schlimmer geworden zu sein.“

„Sollten wir ihn dann nicht zuerst nehmen?“, fragte Caroline.

Keanu schüttelte den Kopf. „Er wird den Braten riechen und sich auf dem Weg nach oben fast die Lungen aus dem Leib husten, damit seine Brust frei ist, wenn er hier ankommt. Am besten halten wir uns an die Reihenfolge.“

Reuben hatte ein ordentlich beschriftetes Unfallprotokoll-Buch vor Caroline auf den Tisch gelegt und einen Karteikasten dorthin, wo Keanu saß.

Karteikarten? Caroline sah sich um. Kein Computer zu sehen. War auch das eine Folge von Ians Kosteneinsparungen?

Keanu sah bereits die Patientenkarten durch, während Reuben telefonisch den ersten Arbeiter herbestellte. Also schlug sie das Buch auf.

Aber statt die Einträge zu lesen, betrachtete sie Keanu. Er merkte es nicht, war völlig in seine Arbeit vertieft, machte sich Notizen, blätterte vor und zurück in den Karten. Caroline spürte die Kraft, die von ihm ausging, eine männliche Sinnlichkeit, der sich keine Frau entziehen konnte. Nicht nur, weil er blendend aussah und athletisch gebaut war, nein, er strahlte etwas aus, das erotische Freuden und ungestüme Leidenschaft versprach.

Und sie konnte sich dem nicht entziehen, war gefangen in Sehnsüchten und prickelnder Erwartung.

Dies war etwas anderes als ihre innige Verbundenheit während der Kindheit.

„Aaron Anapou, Ma’am.“

Von einer sonoren Bassstimme aus ihren Tagträumereien gerissen, blickte sie auf. Vor ihr stand ein staubbedeckter Hüne.

„Oh, hi! Die Untersuchungen macht Keanu. Ich bin Caroline, die Krankenschwester.“

Reuben hatte ihnen ein Stethoskop, Digitalthermometer und ein Lungenfunktionsgerät hingelegt. Und was mache ich? fragte sie sich. Die Männer begrüßen? Auf Anweisungen warten? Hinter ihrem Tisch befand sich der Medizinschrank, die Türen standen offen. Er war gut bestückt.

Vielleicht sollte sie die Wundversorgung übernehmen?

In der Zwischenzeit konnte sie ja das Unfallbuch durchsehen. Es wunderte sie nicht, dass kaum Zwischenfälle verzeichnet waren, jedenfalls nicht mehr, seit die Maschinen stillstanden. Im Hintergrund hörte sie, wie Keanu die Männer tadelte, weil sie statt der vorgeschriebenen Stahlkappenstiefel in Flipflops arbeiteten. Was die Arbeiter damit erklärten, dass das Wasser nicht abgepumpt wurde. Ihr zog sich das Herz zusammen, wenn sie an die Zeiten dachte, in denen die Goldmine ein reibungslos funktionierender Betrieb gewesen war.

„Wenn du fertig bist, könntest du mir helfen.“ Ob Keanu gemerkt hatte, dass sie vor sich hin träumte?

Auch der nächste Arbeiter trug Flipflops. Dort, wo der Zehenriemen saß, war die Haut wund und gerötet. Auch die Schramme an seinem linken Arm war deutlich entzündet. Keanu säuberte und behandelte die Wunden und gab Antibiotika aus, während Caroline Lungenfunktionstests durchführte und Temperatur maß.

„Es wundert mich, dass überhaupt noch Antibiotika da sind“, sagte sie während einer kurzen Pause zwischen zwei Untersuchungen.

„Die Schlüssel für den Schrank habe ich, und die gebe ich nicht aus der Hand“, antwortete Reuben bestimmt. „Wegschleppen konnte Mr. Lockhart ihn nicht, dafür ist er zu groß. Und den Riegel hat er nicht knacken können, obwohl ich vermute, dass er es versucht hat.“

Caroline seufzte leise. Sie schämte sich zutiefst für ihren Onkel, der in diesem idyllischen Inselparadies hässliche Spuren von Habgier, Betrug und Verrat hinterlassen hatte. Was konnte sie tun, um sie zu tilgen? Nicht viel, bevor sie nicht mehr wusste.

„Reuben?“, begann sie, als der letzte Arbeiter gegangen war. „Hast du etwas dagegen, wenn ich mir mal die Konto- und Lohnbücher ansehe?“

Der Schichtleiter sah sie an, als hätte er sich verhört.

„Ich will dich nicht kontrollieren“, fügte sie schnell hinzu. „Nur herausfinden, wie viel Lohn wir den Männern schulden. Dad wird sie bestimmt alle bezahlen wollen. Hast du die Lohnlisten auf Computer?“

„Nein, in Büchern, aber ich habe Kopien auf meinem Laptop abgespeichert.“ Reuben holte einen Laptop aus dem Schrank ganz hinten an der Wand und reichte ihn ihr widerstrebend.

„Du hast recht, wir müssen die Mine wirklich schließen“, griff sie Keanus Bemerkung von vorhin auf, während sie die steile Steintreppe wieder hinaufstiegen. Reubens Laptop hielt sie fest an die Brust gepresst wie einen kostbaren Schatz.

„Natürlich“, antwortete Keanu. „Aber glaubst du, dass die Männer aufhören, nur weil wir es ihnen sagen? Ich werde deinen Vater anrufen, damit er die Mine vorübergehend stilllegt. Falls er nicht herkommen kann, muss er jemanden vom Bergbau-Amt vorbeischicken, dessen Wort bei den Arbeitern Gewicht hat. Am besten schon mit dem Freitagflug.“

Keanu erhielt keine Antwort auf seinen, wie er fand, vernünftigen Vorschlag. Sie heckt etwas aus, dachte er. Er kannte Caroline gut. In dieser Stimmung scheute sie nicht vor überstürzten oder sogar gefährlichen Aktionen zurück.

Allerdings hatte er schon genug eigene Sorgen. Die Ältesten setzten große Erwartungen in ihn und vertrauten darauf, dass er die Existenzgrundlagen der Insulaner rettete und die medizinische Versorgung auf den Inseln sicherte.

„Müssen wir sofort wieder ins Krankenhaus zurück, oder können wir einen Kaffee trinken und überlegen, wie wir weiter vorgehen? Vielleicht rufe ich Dad gleich an.“ Caroline schlug bereits den Weg zur Villa ein.

Er folgte ihr, zögerte jedoch am Fuß der Treppe, die zum Herrenhaus hinaufführte. Herz und Verstand fochten einen lähmenden Kampf aus.

Was war schon dabei hineinzugehen? Es war nur ein Haus, eins, in dem er die meiste Zeit seiner Kindheit verbracht hatte.

Dennoch waren seine Füße plötzlich wie am Boden festgeklebt.

Caro drehte sich um. „Was ist? Meinst du, wir sollten zurückgehen? Bessie könnte uns einen Lunchsnack machen, und wir reden beim Essen.“ Doch dann, als wären sie nie getrennt gewesen, schien sie zu erahnen, was in ihm vorging. Sie kam zu ihm, nahm seine Hand und zog ihn mit sich auf die Stufe. Als sie saßen, legte sie den Arm um ihn. „Erzähl’s mir“, sagte sie sanft.

Und plötzlich wollten die Worte heraus, drängten sich ihm auf die Zunge, so als könnte er damit die Erinnerungen unschädlich machen. Keanu blickte auf die Insel unter ihnen und zum Meer, das sich in seiner türkisblauen Pracht an sie schmiegte. Was für ein friedvolles Bild …

„Ich kam mit einem früheren Flug nach Hause. Ein Mitschüler hatte kurz vor den Ferien Masern bekommen, und das Internat wurde eine Woche eher geschlossen. Mum hatte ich nichts davon erzählt, weil ich sie überraschen wollte.“

Und wie er sie überraschte! Die hässliche Szene verfolgte ihn noch heute in seinen Albträumen. Selbst jetzt sah er sie so deutlich vor sich, als sei es gestern gewesen. Keanu sah wieder auf den leuchtenden Ozean, um sie auszublenden.

„Vom Landeplatz kam ich direkt hierher. Ich wusste, dass Mum hier sein würde, beim Staubwischen oder Putzen … Sie liebte dieses Haus sehr.“

Hatte Caro das Beben in seiner Stimme wahrgenommen? Ihr Griff um seine Schultern verstärkte sich.

„Sie waren im Wohnzimmer, auf dem Fußboden, auf einem der Teppiche deiner Großmutter, wie die Tiere. Mein erster Gedanke war, dass er sie vergewaltigte. Ich zog ihn von ihr weg, brüllte ihn an, versuchte, ihn zu schlagen, und …“

„Und?“ Caro schien den Atem anzuhalten, so leise klang die Frage.

„Er fing an zu lachen!“, stieß er hervor. „Ian stand da, zog sich die Shorts hoch und knöpfte sich das Hemd zu, während er mich höhnisch auslachte. ‚Glaubst du, sie wollte es nicht?‘, sagte er. ‚Sie hat darum gebettelt! Los, Helen erzähl ihm, wie scharf du darauf warst, obwohl du genau wusstest, dass es nicht mehr als eine Gefälligkeit war.‘“

„Oh, Keanu, wie grausam von ihm!“

„Ich verlor die Nerven, Caro, bin mit den Fäusten auf ihn losgegangen, während Mum sich bedeckte, ihre Kleidung zusammensuchte und mich die ganze Zeit anflehte aufzuhören. Aber ich war so wütend! Gegen Ian hatte ich allerdings keine Chance. Mit fünfzehn war ich zwar kräftig, doch irgendwann stieß er mich zu Boden, hielt mich fest und schrie mich an, ich sollte verschwinden. Wir beiden sollten verschwinden. Er würde dem Piloten sagen, dass er noch warten sollte, damit wir unsere Sachen packen konnten.“

„Aber hier war dein Zuhause, Keanu. Das hatte Grandma dir versprochen, noch bevor ich geboren wurde.“ Caro zog ihn hoch und schloss ihn fest in die Arme. „Außerdem hatte Dad Helen nach meiner Geburt eingestellt und nicht Ian!“

Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schob Caroline so weit von sich, dass er ihr in die Augen sehen konnte. „Seine abfälligen Worte haben Mum tief getroffen. Sie weigerte sich, darüber zu sprechen. Sagte nur, dass sie geahnt hätte, dass er neben ihr noch andere hatte. Da wurde mir klar, dass zwischen ihnen schon länger etwas lief. Aber dass er sie so sehr demütigte und dazu vor ihrem Sohn, das hat sie nie verwunden. Als wir in Cairns waren, rief sie deinen Vater an, teilte ihm mit, dass sie während der Ferien nicht länger auf dich aufpassen könnte, und kündigte. Dabei blieb sie. Auch als er immer wieder anrief und schließlich persönlich bei uns auftauchte, um mit ihr zu sprechen, ließ sie sich nicht umstimmen. Sie hat deinen Vater sehr verehrt und wäre vor Scham lieber gestorben, als ihm davon zu erzählen. Mum verlor jede Freude am Leben, und ein paar Jahre später wollte auch ihr Körper nicht mehr.“

Caro umarmte ihn wieder. „Ach, Keanu, das ist so traurig“, flüsterte sie an seinem Hals, und er spürte ihren warmen Atem. „Aber wenigstens weiß ich jetzt, dass du mich nicht einfach im Stich gelassen hast. Ich verstehe, dass du mit unserer Familie nichts mehr zu tun haben wolltest, nachdem mein Onkel deine Mutter so mies behandelt hat.“

War es Erleichterung, dass er ihr endlich die ganze Geschichte erzählt hatte, oder warum legte er die Arme um sie? Keanu wusste es nicht. Doch es fühlte sich richtig an, sie zu halten, ihren Duft einzuatmen, die alte Vertrautheit zu spüren.

Und dann veränderte sich etwas zwischen ihnen. Wie ein Windhauch, ein zarter Seufzer, der sich in ihm regte und eine Spannung erzeugte … Verlangen?

Du bist verheiratet.

Vielleicht nicht mehr.

Das Gefühl blieb, und es hatte nichts mit Freundschaft zu tun.

Ob Caro es auch spürte? Läuteten bei ihr die Alarmglocken? Diesmal hatte er keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorging. Ganz bestimmt jedoch wollte er ihr unter keinen Umständen noch einmal wehtun. Also durfte er sich nicht mit ihr einlassen, bevor er nicht sicher wusste, dass er geschieden war.

Keanu ahnte, dass zwischen diesem Steve und ihr etwas passiert sein musste. War sie schon wieder von jemandem verlassen worden, den sie liebte?

Er wollte auf keinen Fall der Nächste sein – und das würde er, wenn seine Scheidung nicht durchging. Dann verschwinde von hier und regle das!

„Du isst hier Mittag“, sagte er ruhig, obwohl sein Körper in Aufruhr war. „Ich gehe zur Klinik und rede mit Sam. Er wird wissen, wie wir am besten vorgehen, um die Mine zu schließen.“

„Ja, das ist eine gute Idee.“

Vielleicht hatte sie nichts gespürt, als sie einander umarmt hatten. Sie klang so sachlich und vernünftig, als hätte sie die Vergangenheit mühelos abgehakt.

Allerdings war sie schon immer eine gute Schauspielerin gewesen, wenn es darum ging, ihre wahren Gefühle zu verbergen.

Nur bei ihm nicht …

6. KAPITEL

Wir hätten uns fast geküsst …

Oder bildete sie sich das nur ein? Auf jeden Fall war Caroline froh, dass Keanu sie losgelassen hatte. Ohne hoffentlich zu merken, wie atemlos sie auf einmal war!

Sie hätte wissen müssen, dass eine tröstliche Umarmung auf einmal ganz andere Gefühle in ihr wecken würde. Aber sie musste ihn doch umarmen nach allem, was er ihr erzählt hatte.

Nur war es noch nie so … erregend gewesen, Keanu zu umarmen. Caroline schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus und beschloss dann, später darüber nachzudenken. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Sie musste einen Weg finden, den Minenarbeitern ihren hart verdienten Lohn auszuzahlen.

Sie könnte ihren Vater anrufen und ihm alles berichten. Aber würde sie die ohnehin schon schwere Last auf seinen Schultern damit nicht noch drückender machen? Ein Bild ihres Zwillingsbruders tauchte vor ihrem inneren Auge auf: Christophers verkümmerter, verdrehter Körper, seine lieben blauen Augen, mit denen er sie unverwandt ansah, wenn sie mit ihm sprach, die schmale Brust, die um jeden Atemzug kämpfte …

Nein, ausgeschlossen, sie durfte Dad nicht von Christopher wegholen. Vor allem nicht, wenn ihr Bruder wieder im Krankenhaus war.

Also lag es an ihr, etwas zu unternehmen.

„Schwester Hettie hat angerufen, du wirst im Krankenhaus gebraucht.“ Bessie stand an der Haustür. „Ich habe ihr gesagt, dass du noch kein Mittag hattest, aber bald kommst.“

„Danke, Bessie, aber ich mache mich besser gleich auf den Weg.“

„Auf keinen Fall.“ Der resolute Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. „Du kommst mit in die Küche und isst etwas!“

„Aber Reuben hat Keanu und mir Obst und Saft angeboten. Ich brauche kein Mittag.“

„Oh doch, junge Dame!“

Eine Diskussion schien zwecklos, also folgte Caroline Bessie in die Küche, wo ein üppig belegtes, köstliches Sandwich auf sie wartete.

Sie hatte es halb aufgegessen, als Schritte auf der Veranda Bessie aufscheuchten. Während die Haushälterin nachsah, wer da war, wickelte Caroline den Rest ihres Sandwichs in Folie und legte ihn in den Kühlschrank.

Als sie Keanus tiefe Stimme hörte, eilte Caroline mit klopfendem Herzen nach draußen auf die Veranda. „Du hättest nicht extra heraufkommen müssen. Ich wollte mich nur waschen und ein sauberes T-Shirt anziehen. Unten an der Mine war es staubig.“

Er nickte nur. Kein Wort, kein Lächeln. Weil er ihr von der Demütigung damals erzählt hatte? Oder war es wegen der Umarmung?

Sie sollte es nicht erfahren. Keanu wandte sich bereits ab, sagte nur knapp: „Hettie ist in den letzten beiden Tagen zwei Mal zu den Inseln geflogen, sie braucht eine Pause. Bei dem Buruli-Patienten muss die Wunde gesäubert werden, und Anahera hat noch andere Patienten zu versorgen.“

Andere Patienten? Caroline bekam ein schlechtes Gewissen, dass sie sich nicht längst im Krankenhaus ein Bild gemacht hatte. In erster Linie war sie Krankenschwester und sollte an die Patienten denken, statt sich damit zu befassen, wie die Minenarbeiter an ihr Geld kamen.

Das Geschwür war stark entzündet. Sicher hatte der junge Mann starke Schmerzen, aber er zeigte es nicht.

Keanu wollte im sterilen OP unter örtlicher Betäubung die Wundränder säubern. Wie er Caroline unterwegs erklärt hatte, bildeten die Mykobakterien, die das Geschwür verursachten, ein Gift, das das Gewebe zerstörte. Da die Antibiotika nicht schnell genug wirkten, mussten die von diesem Mykolakton befallenen Hautregionen so gut es ging entfernt werden.

Er injizierte ein Lokalanästhetikum und überprüfte, ob Mina alles Notwendige bereitgelegt hatte. „Ich möchte so wenig wie möglich wegschneiden und will versuchen, die Stellen darunter zu reinigen. Wenn du bitte das Tupfen übernimmst und mit der Pinzette die befallenen Hautstückchen entfernst?“

Keanu blickte auf, und als sie ihm in die Augen über dem Mundschutz sah, fing ihr Herz wieder an zu zittern. Mach dich nicht lächerlich! schalt sie sich. Gerade hier im Krankenhaus sollte sie sich professionell genug verhalten können, um solche beunruhigenden Gefühle gar nicht erst hochkommen zu lassen.

Sie nickte und griff nach der Pinzette, entschlossen, sich nur auf ihren Patienten zu konzentrieren.

Schweigend machten sie sich an die Arbeit. Bald fiel ihr auf, dass Keanu einige Hautstückchen in eine zweite Nierenschale fallen ließ. Neugierig fragte sie nach: „Warum zwei Schalen?“

Lächelnd sah er auf, und ihre Vorsätze flogen zum Fenster hinaus. Okay, es war ein fensterloser Raum, aber sie verschwanden dennoch auf Nimmerwiedersehen. Sein Lächeln weckte all die prickelnden Gefühle, die sie in seinen Armen verspürt hatte. Lockten sie, verführten sie, bis all ihre Sinne allein auf ihn ausgerichtet waren.

„Ich hatte ja erwähnt, dass Sam leidenschaftlicher Bakteriologe ist“, sagte er, während sie versuchte, sich wieder zu fangen. „Er wird sich freuen, dieses Gewebe unter dem Mikroskop betrachten zu können. Je mehr Leute sich die Krankheit näher ansehen, umso größer ist die Chance, dass wir etwas finden, womit wir sie eindämmen können. Hier im Westpazifik ist sie nicht so stark verbreitet wie in Afrika und Asien, wo sie unbehandelt zu deformierten Gliedmaßen und schlimmstenfalls dazu führt, dass amputiert werden muss.“

„Ich will mein Bein nicht verlieren“, sagte Raoul.

Keanu versicherte ihm, dass das nicht passieren würde. „Wir haben dich rechtzeitig behandelt, und sobald die Wunde sauber ist, sollte es dir schnell besser gehen.“

Und dann machte er weiter, ruhig, professionell … so ganz anders, als sie sich fühlte.

Irgendwann blickte er auf und zwinkerte ihr zu. Caroline bekam weiche Knie. War er doch nicht so professionell? Doch dann sagte er: „So, das hätten wir.“ Das Augenzwinkern war auf die Arbeit bezogen!

Was ihr nur wieder bewies, dass sie in seiner Nähe unmöglich entspannt bleiben konnte, ob nun im Krankenhaus oder sonst wo.

„Ich sage Mina Bescheid, dass sie einen Verband anlegt. Wir beide haben uns einen Kaffee verdient.“

Sie blickte zur Uhr. Die Prozedur hatte über zwei Stunden gedauert. Eine Kaffeepause war verlockend.

Keanu lächelte sie an.

Nein, lieber doch nicht. „Ich möchte gern einen Rundgang durchs Krankenhaus machen, damit ich weiß, wo was ist, und welche Patienten wo liegen“, versuchte sie, standhaft zu bleiben. „Ich verbinde Raoul, und vielleicht mag Mina mir danach alles zeigen.“

Keanu konnte kaum widersprechen, aber den Plan wenigstens ein bisschen abändern. „Lassen wir Mina den Verband übernehmen, und ich zeige dir die Klinik.“

Caroline reagierte nicht gerade begeistert. Eher resigniert, fand er, fast geistesabwesend. War sie in Gedanken bei dem Zustand der Mine? Er hätte gern gewusst, was sie dachte, musste sich aber wohl noch etwas gedulden. So etwas konnten sie schlecht besprechen, während er ihr die Patienten vorstellte.

„Wir haben vier Stationen“, begann er. „Falls man kleine Zweibettzimmer überhaupt als solche bezeichnen kann. Drei auf dieser Seite, mit Schiebetüren, um sie voneinander abzutrennen. Meistens lassen wir sie jedoch offen wegen der frischen Luft.“

Er führte sie in den ersten Raum, wo zwei junge Männer von einer Nachbarinsel lagen. „Ihr Boot ist umgekippt und auf dem Korallenriff gelandet, nachdem sie die Brandung unterschätzt hatten“, erklärte Keanu. „Wie du siehst, hat sich einer den Arm gebrochen und der andere den Knöchel verletzt. Beide haben böse Schrammen davongetragen.“

„Die sich leicht entzünden, wenn sie nicht sofort behandelt werden.“ Wie jeder, der auf diesen Inseln aufgewachsen war, wusste auch Caroline, dass mit Wunden, die man sich an Korallen zuzog, nicht zu spaßen war.

Keanu nickte zustimmend. Allerdings fiel es ihm nicht leicht, bei der Sache zu bleiben. Ihre Stimme, ihre Nähe, ihre Wärme, die er spürte, wenn er neben ihr stand, all das lenkte ihn ab.

Wenn sie nicht hier wäre …

Nein, er war froh, dass sie da war. Sie gehörte genauso hierher wie er. Er musste sich nur anstrengen, die körperliche Anziehung im Zaum zu halten. Professionell zu bleiben.

„Den Patienten im dritten Bett, das falltechnisch gesehen einer anderen Station angehört, kennst du vielleicht. Es ist Brenko, der Enkel von Bessie und Harold. Der FIFO-Chirurg hat ihm letzte Woche die Milz entfernt, nachdem Brenko mit dem Quad verunglückt war. Mehr Muskeln als Verstand, was, Brenko?“

Der junge Mann grinste, aber die anderen, die noch geschwiegen hatten, als er mit Caroline das Zimmer betrat, redeten plötzlich alle auf einmal los.

„Ist das wirklich Caroline Lockhart?“

„Was hat sie hier zu suchen?“

„Was wird aus der Mine?“

Die Feindseligkeit, die ihr entgegenschlug, schien sie sehr mitzunehmen. Keanu hörte sie erleichtert seufzen, als er den Redeschwall stoppte.

„Caroline ist als Krankenschwester hier. Wenn ihr also nicht wollt, dass sie euch unnötig mit Spritzen malträtiert, behandelt ihr sie besser mit Respekt. Einige von euch waren noch nicht auf der Welt, da hat sie hier schon gelebt, und sie kann absolut nichts dafür, was ihr Onkel angerichtet hat.“ Keanu bemühte sich nicht, seinen Ärger zu verbergen, und die Männer verstummten.

Schließlich sagte Brenko: „Ich freue mich, dass du wieder da bist, Caroline. Die Ukulele, die du mir geschenkt hast, als ich noch klein war, die habe ich immer noch.“

Caroline lächelte zwar, aber Keanu ahnte, dass es ihr nach diesem Empfang schwerfiel. Er führte sie in den nächsten Raum und zog die Tür wieder hinter sich zu. Eine ältere Frau schlief tief und fest, obwohl die Stimmen der jungen Männer nebenan deutlich zu hören waren.

„Diabetes“, sagte er leise.

„Der Fluch der Pazifik-Völker“, antwortete sie.

Er nickte, spürte, dass sie immer noch getroffen war von dem, was im vorigen Zimmer passiert war. Spontan legte er den Arm um ihre Schultern und drückte Caroline sanft.

Sie zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt, schien dann zu merken, dass sie überreagiert hatte, und kam wieder näher.

Nicht nahe genug allerdings für mitfühlende Umarmungen oder Berührungen.

Autor

Marion Lennox
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