Zu früh Ja gesagt

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Seit Jahren ist Samantha unglücklich in ihren Chef verliebt. Leider steht Guy auf kleine, zarte Blondinen, sie ist groß und brünett. Erst, als sie von Guys Kinderwunsch erfährt - heiraten will er nicht - sieht sie ihre Chance gekommen und schmiedet einen unfassbaren Plan!


  • Erscheinungstag 14.06.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733778057
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nervös beobachtete Samantha den Mann hinter dem großen schwarzen Schreibtisch, der mit gesenktem Kopf den Brief las, den sie ihm gerade gegeben hatte. Sie war gespannt, wie er auf ihre Kündigung reagieren würde. Fünf Jahre hatte sie nun für Guy Haywood gearbeitet, da war es unwahrscheinlich, dass er sie einfach so – ohne Begründung – gehen lassen würde.

Langsam hob Guy den Kopf. Mit seinen strahlend blauen Augen blickte er Samantha durchdringend an. „Soll das ein Aprilscherz sein, Sam?“ Seine volle, tiefe Stimme hatte ein Timbre, das ebenso männlich war wie seine ganze Erscheinung. „Wenn Sie mich in den April schicken wollen, dann sind Sie etwas spät dran. Der erste April war letzte Woche.“

„Das ist kein Scherz, Guy“, entgegnete Samantha.

Wieder musterte er sie mit diesem prüfenden, nachdenklichen Blick. „Sie wollen wirklich gehen?“, fragte er ungläubig.

Oh Gott, dachte Samantha verzweifelt, natürlich will ich nicht gehen. Ich liebe dich doch. Merkst du das denn nicht? Ist es dir wirklich nie aufgefallen?

Sie unterdrückte ein Seufzen. Nein, es war ihm nicht aufgefallen. Warum auch? Sie hatte es ja selbst erst bemerkt, nachdem sie bereits ein Jahr für Guy gearbeitet hatte – zu spät, um sich noch der Illusion hinzugeben, Guy könnte sich für sie interessieren. Zu diesem Zeitpunkt wusste Samantha schon, dass sich Guy, der attraktive, lebenslustige Junggeselle, grundsätzlich nur in Blondinen verliebte, in zierliche, gertenschlanke Geschöpfe von möglichst beschränkter Intelligenz. Nur eine Anforderung stellte Guy an die Auffassungsgabe seiner Gespielinnen: Sie mussten begreifen, dass ihre Beziehung zu ihm vorübergehender Natur und rein sexuell war. Eine Ehefrau oder gar Kinder waren in Guy Haywoods Leben nicht vorgesehen.

Samantha entsprach in keiner Hinsicht Guys Geschmack. Sie war groß, brünett, nicht ausgesprochen schlank und ganz und gar nicht dumm. Außerdem wollte sie heiraten und Kinder bekommen.

Eigentlich hätte Samantha schon damals kündigen müssen. Aber wie es so ist mit der Liebe, sie konnte sich von Guy nicht trennen. Sie war geblieben, hatte auf ihrem Posten ausgeharrt und sich der Hoffnung hingegeben, dass Guy trotz all seiner Affären erkennen würde, was er an ihr hatte.

Darüber waren vier Jahre vergangen, vier Jahre, in denen sich nichts geändert hatte.

Guy bevorzugte noch immer Blondinen.

„Ja“, log sie, „ich möchte wirklich gehen.“

Guy lehnte sich in seinen schwarzen Ledersessel zurück und betrachtete Samantha aufmerksam. Seine blauen Augen, die so klar waren wie ein wolkenloser Frühlingshimmel, besaßen eine unglaubliche Ausdruckskraft, konnten im einen Moment eiskalt blitzen, um im nächsten ein warmes Leuchten auszustrahlen. Jetzt wirkten sie eher kalt.

„Warum?“, fragte er in jenem nüchternen Ton, den er immer dann anschlug, wenn er seinen Ärger zu unterdrücken versuchte. Guy war ein Mensch, dem Disziplin und Beherrschung über alles gingen. Das war einer der Gründe, weshalb er Samantha damals eingestellt hatte. Ihre praktische Art, ihre nüchterne Sachlichkeit hatten ihm gefallen. Hysterische Frauen konnte er in seinem Büro nicht gebrauchen.

Wie hätte er ahnen sollen, dass seine kühle, beherrschte Assistentin sich den Gipfel an Unvernunft und Emotionalität leisten und sich in ihn verlieben würde. War das nicht absolut lachhaft?

„Ich habe beschlossen, nach Hause zurückzugehen“, erklärte Samantha ruhig, doch sie ahnte, dass Guy ihr das nicht glauben würde.

„Sie wollen nach Paddy Plains zurückziehen?“, fragte er. „In ein Nest mit hundertdreizehn Einwohnern, aus dem Sie damals nicht schnell genug herauskommen konnten?“

In diesem Moment bereute Samantha all die Kaffeepausen, die vertrauten Gespräche, in denen sie Guy so viel von sich erzählt hatte. Paddy Plains war zwar nicht ganz so winzig, wie er eben behauptet hatte, aber auch nicht viel größer. Als Teenager musste sie jeden Tag zwanzig Meilen zur nächsten Stadt fahren, um die Oberschule zu besuchen. Kein Wunder, dass Guy mit Skepsis reagierte, als sie jetzt plötzlich erklärte, sie wollte in die enge kleine Welt zurück, aus der sie kam, in ein Dorf, in dem sie keine Arbeit finden würde, außer im Kramladen ihrer Eltern. Aber eine andere Ausrede fiel ihr nicht ein.

Sie holte tief Luft. „Ja“, sagte sie. „Ich bin das hektische Stadtleben leid. Ich habe genug von Sydney.“

„Dann nehmen Sie sich eine Woche frei.“

Er wollte sie nicht gehen lassen! Samantha registrierte es mit einer Mischung aus Panik und Freude. Ich darf jetzt nicht schwach werden, ermahnte sie sich im Stillen, ich würde es ewig bereuen. Ich brauche ja nur an die bezaubernde Debra zu denken, die gestern in Guys Büro war. Debra mit dem langen blonden Haar, der gertenschlanken Figur und den Rehaugen. Guy wird heute Abend mit ihr essen gehen, und anschließend werden sie eine Show besuchen. Hier, direkt vor meiner Nase, haben sie sich gestern verabredet.

Wie wird mir zumute sein, wenn er morgen wieder das Rauchen aufgibt, wie er es jedes Mal tut, wenn er eine neue Affäre anfängt? Ich habe es viel zu lange mit ansehen müssen. Jahrelang habe ich darunter gelitten. Wenn ich nicht gehe, zerbreche ich daran.

Samantha schluckte. „Eine Woche würde nicht reichen“, erwiderte sie. „Außerdem …“

„Wollen Sie mehr Geld?“, unterbrach er sie. Seine Stimme klang kalt. „Sie können gern eine Gehaltserhöhung haben.“

„Es geht mir nicht ums Geld“, erklärte Samantha, deren Wangen sich vor Nervosität gerötet hatten. Warum bringt er mich in diese Situation? dachte sie verzweifelt. Warum kann er mich nicht mit Anstand gehen lassen?

Guy beugte sich vor. Gereizt strich er sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus der hohen Stirn. „Verflixt, Sam, wir wissen beide, dass dieser Job Ihnen viel bedeutet. Sie wollen doch nicht im Ernst in dieses Kuhdorf zurückgehen? Jetzt, nachdem Sie sich so gut eingearbeitet haben? Sie würden verrückt werden dort draußen im Busch. Zu Tode langweilen würden Sie sich!“

Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und blieb vor Samantha stehen, um ihr die Hände auf die Schultern zu legen und sie eindringlich anzusehen. Wie immer, wenn er sie berührte, zuckte sie zusammen, und ihr ganzer Körper verkrampfte sich.

„Sam“, sagte er so unerwartet weich, dass es Samantha die Kehle zuschnürte, „nehmen Sie sich eine Weile frei, wenn Sie ausspannen müssen, aber bitte“, dabei lächelte er so hinreißend, „bitte verlassen Sie mich nicht. Sie sind meine rechte Hand. Ich brauche Sie.“

Fast hätte er sie herumgekriegt. Einer Frau zu sagen, dass man sie brauchte, kam fast einer Liebeserklärung gleich.

Aber nur fast.

„Nein, Guy.“ Samantha schüttelte energisch den Kopf. „Da ich erst in zwei Monaten gehe, bleibt Ihnen genug Zeit, meine Nachfolgerin einzuarbeiten. Wenn Sie möchten, frage ich Mrs Walton, ob sie Interesse an der Stelle hat. Ich weiß, sie möchte gern ganztags arbeiten. Und sie kennt sich in unserem Büro bereits aus.“

Guy ließ Samantha los. Finster zog er die Brauen zusammen. „Diese Frau ist doch schon überfordert, wenn sie das Telefon beantworten soll. Sie hat nichts im Kopf!“

„Das stimmt nicht“, widersprach Samantha. „Sie ist nicht dumm. Seien Sie nicht unfair, Guy. Mrs Walton war jahrelang nicht mehr berufstätig gewesen, als sie nach einer viel zu kurzen Umschulung von einer Agentur als Aushilfskraft vermittelt wurde. Es war ihr Pech, dass sie gleich in ihrem ersten Job an einen so anspruchsvollen Chef wie Sie geraten musste. Die arme Frau tat mir leid. Sie hatte richtig Angst vor Ihnen. Hätte es sich nicht um die Hochzeit meines Bruders gehandelt, wäre ich in jener Woche gewiss nicht weggefahren.“

„Diese Woche war ein Desaster“, bemerkte Guy missmutig. „Es ging drunter und drüber hier während Ihrer Abwesenheit. Mrs Walton wird niemals in der Lage sein, Sie zu ersetzen. Sie sind mehr als eine Sekretärin, Sam. Sie sind meine persönliche Assistentin, meine rechte Hand, meine … Zum Teufel, Sam, ich komme einfach ohne Sie nicht aus!“

„Niemand ist unersetzbar“, wehrte Samantha sein Lob ab.

Er warf ihr einen grimmigen Blick zu und wandte sich dann ab, um zu seinem Sessel zurückzugehen. Obwohl sie ihn selten so erregt gesehen hatte, machte Samantha sich nichts vor. Guy war nur vorübergehend verärgert, mehr nicht. Es irritierte ihn, dass seinem straff geführten Unternehmen ein paar unruhige Wochen bevorstanden. Aber er würde es überleben und sich vermutlich schon nach kurzer Zeit kaum mehr an sie erinnern.

Bei dem Gedanken durchzuckte sie ein stechender Schmerz. Wie weh es tat, jemanden zu lieben, ohne auf Erwiderung hoffen zu können.

„Sie haben sich einen schönen Zeitpunkt ausgesucht, um mich im Stich zu lassen“, bemerkte Guy. Vorwurfsvoll blickte er sie an. „Wo ich gerade die ‚Dambusters‘ für eine Australientournee gebucht habe. Sie wissen genau, wie viel Organisation es erfordert, die Tournee einer Rockgruppe auf die Beine zu stellen.“

„Ich bin doch noch zwei Monate hier“, erinnerte Samantha ihn. „Da kann ich diese Tournee locker organisieren. Und um eine neue Sekretärin kann ich mich auch kümmern. Mrs Walton scheint ja wohl nicht infrage zu kommen.“

„Ich will keine neue Sekretärin“, erwiderte Guy in einem Ton, der Samantha an einen trotzigen Jungen erinnerte. Fast hätte sie gelacht, als er schmollend die Unterlippe vorschob – diese volle Unterlippe, die Samantha so unglaublich sexy fand.

Manchmal konnte sie kaum glauben, dass Guy bereits sechsunddreißig war. Bis auf die feinen Fältchen um die Augen und den Mund sah er unwahrscheinlich jung aus. Aber ein Mann blieb so lange ein kleiner Junge, bis er Vater wurde – das jedenfalls pflegte ihre Mutter immer zu sagen. Dann wird Guy nie erwachsen werden, dachte Samantha mit einem Anflug von Ironie. Guy wird eine Vaterschaft mit Sicherheit zu verhindern wissen.

Guy bemerkte ihre Belustigung, und sofort verschwand der jungenhafte Ausdruck aus seinem Gesicht. Seine Züge wurden hart. Wenn man ihn jetzt ansah, konnte man sich sehr gut vorstellen, dass Guy Haywood einer der erfolgreichsten Agenten im Showbusiness war.

Er nahm Samanthas Kündigungsschreiben, zerriss es und warf die Schnipsel in den Papierkorb neben seinem Schreibtisch. „Lassen Sie uns diesen Unsinn vergessen, Sam“, schlug er vor. „Okay, Sie haben Ihren Standpunkt zum Ausdruck gebracht. Ich habe Ihnen zu viel Arbeit aufgebürdet. Ab Montag machen Sie Urlaub. Außerdem werde ich fünftausend Dollar auf Ihr Jahresgehalt drauflegen.“

Im ersten Moment verschlug es Samantha die Sprache. In einer so anmaßenden Art und Weise sprach Guy normalerweise nicht. Wenn er seine Gesprächspartner nicht mit Logik überzeugen konnte, setzte er seinen Charme ein. Aggressiv war er nie. Aggressives Verhalten, so behauptete er immer, zog nur weitere Aggressivität nach sich.

So auch in diesem Fall.

Samantha blitzte ihn wütend an. „Mir scheint nicht, dass ich meinen Standpunkt klar genug zum Ausdruck gebracht habe. Zumindest haben Sie ihn nicht verstanden! Ich bleibe noch genau zwei Monate, Guy. Doch wenn Sie noch einmal einen Brief von mir zerreißen, gehe ich auf der Stelle. Dann können Sie zusehen, wer Ihnen Ihre Rocktournee organisiert.“

Befriedigt registrierte sie seinen verblüfften Gesichtsausdruck. Einen solchen Auftritt hatte sie ihm noch nie geliefert. Er konnte es vermutlich nicht fassen, dass die korrekte Miss Samantha Peters, seine kühle, ruhige, ausgeglichene Sekretärin, die Beherrschung verlor. Hätte sie ihr Haar offen getragen, hätte sie mit einer theatralischen Gebärde ihre Mähne zurückwerfen und damit ihren Abgang noch dramatischer gestalten können. Doch weil sie wie immer ihre langen braunen Locken hochgesteckt hatte, musste sie sich auf eine abrupte Kehrtwendung beschränken. Hocherhobenen Hauptes ging sie aus dem Büro. Mit lautem Knall schlug sie die Tür hinter sich zu.

Guy unternahm keinen Versuch, Samantha zurückzuhalten. Es entsprach nicht seinem Stil, hinter Sekretärinnen herzulaufen, die ihn mit Wutanfällen traktierten.

Samantha zitterte am ganzen Körper, als sie schließlich wieder hinter ihrem Schreibtisch saß. Ich habe das Richtige getan, sagte sie sich immer wieder, das einzig Richtige. Es konnte so nicht weitergehen. Ich hätte meine Gefühle für Guy nicht ewig verbergen, nicht ewig nur um des zweifelhaften Vergnügens seiner Gesellschaft willen seine Gleichgültigkeit ertragen können. Der Zustand war unerträglich geworden, destruktiv und erniedrigend und vor allen Dingen sinnlos.

Sie seufzte tief auf. Ja, dachte sie, ich habe richtig gehandelt. Sekunden später zog sie sich in den Waschraum zurück und weinte hemmungslos.

Der Verkehr war verheerend am nächsten Morgen. Eine lange Autoschlange quälte sich über die Brücke. Samantha warf einen Blick auf ihre Uhr. Wenn es so weiterging, kam sie zu spät ins Büro. Seufzend blickte sie wieder aus dem Fenster des Busses. Es regnete in Strömen. Außerdem war es kalt. Viel zu kalt für April.

Sie wischte sich ein Guckloch in die beschlagene Fensterscheibe. Wie bedrückend die Stadt bei diesem Wetter aussah. Dieser graue Regentag trug gewiss nicht dazu bei, ihre trübe Stimmung zu heben. Zum Glück war heute Freitag. Nur noch einen Tag mit Guy musste sie hinter sich bringen, dann war Wochenende. Sie brauchte dringend zwei Tage für sich allein.

Der vergangene Tag hatte sie furchtbar mitgenommen. Guy hatte sie nach einer Weile in sein Büro zurückgerufen, jedoch keinen weiteren Versuch unternommen, ihr die Kündigung auszureden. Stattdessen hatte er sich bei ihr entschuldigt und sie gebeten, sämtliche Akten mit ihm durchzugehen. Offenbar hatte er die Situation akzeptiert und wollte sichergehen, dass alles wie am Schnürchen lief, wenn seine „rechte Hand“, ihn verließ.

Es tat Samantha sehr weh, dass Guy sich so schnell mit ihrer Kündigung abgefunden hatte, und auch die gemeinsame Durchsicht der Akten war schmerzlich für sie gewesen. Jede Akte weckte Erinnerungen in ihr.

Ihr Leben war in den letzten fünf Jahren durch diesen Job interessant und aufregend gewesen. Da waren die Shows, die Guy managte, die Premieren, die Partys. Da waren die Stars, die sie kennenlernte, die Herausforderung, die der Job an sie stellte, und die Befriedigung, die er ihr einbrachte. Wenn sie Haywood Promotions verließ, würde sie nicht nur Guy verlieren. Dann verschwand auch das Schillernde, Exotische aus ihrem Leben.

Sie zweifelte nicht daran, dass sie schnell einen neuen Arbeitsplatz in Sydney finden würde. Aber konnte sie es ertragen, in derselben Stadt zu wohnen wie Guy und nicht mehr an seinem Leben teilzuhaben? Guy Haywood zählte zur Prominenz. Sie würde ihn im Fernsehen, in Zeitungen und Magazinen sehen, vermutlich stets mit irgendeiner attraktiven blonden Frau an seiner Seite.

Samantha verzog das Gesicht, als sie an Guys Verabredung mit Debra dachte. Debra war eine recht erfolgreiche Sängerin, die zu Guy gekommen war, weil sie einen neuen Manager suchte. Eine Stunde später, nachdem sie sein Büro betreten hatte, spielte sie sich bereits auf, als sei sie seine nächste Geliebte.

Hätte ich auch so reagiert, wenn ich die Chance dazu gehabt hätte? Wäre ich so schnell mit ihm ins Bett gegangen? fragte Samantha sich bitter. Die Antwort, die sie sich darauf gab, war schonungslos offen: Ja.

Ein schmerzhafter Stich durchzuckte sie.

„Entschuldigung, müssen Sie hier nicht aussteigen?“

Samantha schreckte aus ihrer Grübelei auf. Sie blickte die Frau, die neben ihr saß, überrascht an, bevor sie sie erkannte. Die Frau fuhr jeden Morgen mit ihr im selben Bus in die Stadt.

„Oh ja, vielen Dank.“ Samantha sprang auf. Sie schaffte es gerade noch auszusteigen, bevor der Bus wieder anfuhr. Vor lauter Hast landete sie im Rinnstein, durch den sich ein Sturzbach ergoss, sodass sie bis zu den Knöcheln im Wasser stand. Mit klatschnassen Füßen und bespritzten Strümpfen kämpfte sie sich zum Bürgersteig vor. Keiner beachtete sie. Keiner half ihr. Die Schultern hochgezogen, die Köpfe unter den Regenschirmen gesenkt, hasteten die Leute an ihr vorbei.

Frustriert reihte sich Samantha in den Strom der Fußgänger ein und erreichte nach einer Weile durchnässt und völlig entnervt das Gebäude, in dem sich Guys Agentur befand. Missmutig eilte sie durch die schwarz-weiß gekachelte Eingangshalle, drängte sich in einen der überfüllten Aufzüge und drückte mit der Spitze ihres Regenschirms auf den Knopf für das vierzehnte Stockwerk. Sydney bekam ihr nicht. Nach fünf Jahren in der Großstadt war von dem sonnigen, sanftmütigen Wesen, das sie als Kind gehabt hatte, wenig übrig geblieben.

War sie wirklich so lieb und nett gewesen? Vielleicht nach außen hin. Doch im Stillen hatte sie rebelliert und sich nichts sehnlicher gewünscht, als auszubrechen aus ihrer engen Welt. Sie hatte es gehasst, wenn sich ihre Klassenkameradinnen über ihre damals recht üppige Figur lustig machten. Kein Wunder, dass sich der magere, picklige Norman zu ihr hingezogen fühlte. Norman und sie waren die Außenseiter in ihrer Klasse gewesen, die Hässlichen, mit denen niemand befreundet sein wollte.

Samantha lächelte traurig, als sie an den Abschlussball dachte, an jene Nacht, in der sie sich Norman hingegeben hatte. War es die Erleichterung gewesen, endlich der Schule entronnen zu sein, die sie zu dieser Unbesonnenheit veranlasste? Hatte ihr hübsches lila Ballkleid ihr zu neuem Selbstbewusstsein verholfen?

Sei ehrlich, sagte sie sich. Ich weiß genau, warum ich Norman gewähren ließ. Weil er mich schön fand. Weil er mir Komplimente machte. Weil er mir sagte, dass er mich liebt.

Kein anderer Junge hatte jemals so etwas zu ihr gesagt. Sie war sich immer wie ein hässliches Entlein vorgekommen. Kein Wunder also, dass sie bei Normans Liebeserklärungen schwach geworden war. Natürlich hatte sie ihren Leichtsinn später bereut und sich die größten Vorwürfe gemacht, dass sie ihre Jungfräulichkeit so sorglos verschenkt hatte. Dabei hatte ihr die Sache nicht einmal Spaß gemacht. Viel zu schnell war alles gegangen. Nie wieder hatte sie sich damals geschworen. Nie wieder!

Es war schwierig gewesen, Norman klarzumachen, dass sie ihn nicht liebte. Als sie am Ende des Sommers zu ihrer Tante Vonnie nach Newcastle zog, um an einem Sekretärinnenkursus teilzunehmen, war sie froh und erleichtert gewesen, Norman loszuwerden. Was hatte sie ihrer Tante nicht alles zu verdanken! Sie war unter ihrer Anleitung nicht nur ihren „Babyspeck“ losgeworden, Tante Vonnie hatte auch einen Benimmkursus für sie bezahlt und die Einwände ihrer Eltern zerstreut, als Samantha nach Sydney ziehen wollte, um dort zu arbeiten.

„Müssen Sie hier nicht aussteigen?“, sagte jemand schon zum zweiten Mal an diesem Tag zu ihr.

Samantha biss sich auf die Unterlippe. Verlegen bedankte sie sich bei dem Mann, der die Fahrstuhltür für sie aufhielt. Sie eilte über den mit grünem Teppichboden ausgelegten Korridor zu der Tür, an der in großen goldenen Buchstaben Haywood Promotions stand. Samantha zog einen Schlüssel aus der Handtasche und schloss die Tür auf, um als Erstes einen schnellen Blick auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand zu werfen. Es war erst fünf nach neun. Aufatmend machte sie die Tür hinter sich zu. Sie hatte noch etwas Zeit, bevor Guy irgendwann zwischen halb zehn und zehn eintrudeln würde.

Sie stellte ihre Handtasche ab und ging in den kleinen Raum, der gleichzeitig als Küche und Rumpelkammer diente. Nachdem sie den Schirm in eine Ecke gestellt und den Regenmantel aufgehängt hatte, nahm sie aus einem alten Aktenschrank eine Strumpfhose, streifte hastig die nassen Seidenstrümpfe ab, zog die neue Strumpfhose an und tauschte die nassen Schuhe gegen das Paar aus, das sie für Notfälle wie diesen ebenfalls in dem Aktenschrank bereithielt. Anschließend setzte sie Kaffeewasser auf und ging dann in den angrenzenden Waschraum, um ihr Make-up in Ordnung zu bringen.

Einen Moment lang betrachtete sie kritisch ihr Spiegelbild. Sie sah zwar nicht wie ein Model aus, aber als hässlich konnte man sie keineswegs bezeichnen. Sie hatte einen reinen Teint und ebenmäßige Züge, leuchtende braune Augen, eine gerade Nase, volle, schöne Lippen und einen schlanken Hals, dessen anmutige Linie durch das hochgesteckte Haar perfekt zur Geltung kam.

Samantha wusste, sie würde attraktiver aussehen, wenn sie ihr lockiges braunes Haar offen tragen, sich etwas auffälliger zurechtmachen und vor allen Dingen ihre braven Kostüme und hochgeschlossenen Blusen gegen flottere, figurbetonte Outfits eintauschen würde. Sie lächelte ironisch, als sie sich vorzustellen versuchte, wie Guy reagieren würde, wenn sie in einem hautengen Kleid im Büro erschiene. Vielleicht würde es ihm gar nicht auffallen. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich.

Sie zuckte zusammen, als sie im Büro eine Tür zuschlagen hörte. War Guy schon gekommen? Er erschien doch sonst nicht so früh.

Eilig verließ sie den Waschraum und blieb im nächsten Moment überrascht stehen, als sie Guy am Türrahmen zu der kleinen Küche lehnen sah. Ungläubig blickte sie ihn an. Das dunkle Haar fiel ihm unordentlich ins Gesicht. Er war unrasiert, und sein zerknautschter Anzug sah aus, als hätte er darin geschlafen.

„Mein Gott, Guy“, rief sie erschrocken, „was ist denn mit Ihnen passiert?“

2. KAPITEL

Guy erwiderte nichts auf Samanthas überraschten Ausruf. Schweigend zog er eine Schachtel Zigaretten aus der Jackentasche. Samantha registrierte es mit ungläubigem Erstaunen. Er würde doch nicht etwa rauchen – nicht, wenn seine gestrige Verabredung mit Debra ihren logischen Abschluss im Bett gefunden hatte.

Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie er die letzte Zigarette aus der goldenen Schachtel nahm, die leere Packung in den Papierkorb warf und die Zigarette in den Mund steckte. Als er sein Feuerzeug aus der Hosentasche zog und die Zigarette anzündete, bekam Samantha wildes Herzklopfen. Vor Erleichterung hätte sie fast geschluchzt.

„Mein Vater ist im Krankenhaus“, sagte Guy unvermittelt. „Er hatte einen Herzinfarkt. Er liegt auf der Intensivstation.“

Samantha erschrak. Und dann schämte sie sich, schämte sich fürchterlich, weil ihr nichts anderes eingefallen war, als Spekulationen über Guys Liebesleben anzustellen, während Guy die Nacht am Krankenbett seines Vaters verbracht hatte.

„Oh, wie furchtbar“, sagte sie. „Ich kann mir vorstellen, was Sie durchmachen.“

Sie wusste, wie eng die Beziehung zwischen Guy und seinem Vater war. Die beiden pflegten zusammen angeln zu gehen, und manchmal kam Martin Haywood im Büro vorbei, um mit seinem Sohn zu plaudern. Die Sorge um seinen Vater musste Guy schrecklich zusetzen. Am liebsten hätte Samantha den Arm um ihn gelegt und ihn getröstet. Aber das ging leider nicht. Sie konnte nur versuchen, ihm mit Worten Trost zu spenden.

„Ich hoffe, es geht ihm bald wieder besser“, sagte sie mitfühlend. „Wie schätzen die Ärzte seinen Zustand ein?“

Guy seufzte tief auf. „Sie äußern sich mit zurückhaltender Zuversicht. Patienten, die die ersten zwei Stunden nach einem Infarkt überleben, haben offenbar gute Aussichten auf eine völlige Genesung. Theoretisch jedenfalls“, fügte er hinzu. „So, wie Vater im Moment aussieht, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass er sich wieder erholt.“

„Sie sehen nicht viel besser aus.“ Samantha stellte den Elektrokessel mit dem kochenden Wasser ab. „Jetzt werde ich Ihnen erst einmal einen Kaffee machen.“

Er warf ihr einen dankbaren Blick zu. „Das ist lieb von Ihnen. Ich habe eine lange Nacht hinter mir. Der Anruf vom Krankenhaus kam kurz nach Mitternacht. Ich war gerade mit Debra nach Hause gekommen. Wir sind sofort ins Hospital gefahren. Ich war bis jetzt dort. Der Arzt bestand schließlich darauf, dass ich nach Hause gehe, aber ich wollte nicht in das leere Haus zurück.“

„Leer?“ Samantha blickte ihn fragend an. Guy hatte vor zwei Jahren eine Villa am Hafen gekauft und nach seinem Einzug ein älteres kinderloses Ehepaar eingestellt, das sich um Haus und Garten kümmerte und seinem großzügigen Arbeitgeber inzwischen treu ergeben war. „Wieso ist es leer? Wo sind Leon und Barbara?“

„Sie sind zur Hochzeit eines Neffen gefahren.“ Guy verzog das Gesicht. „Hochzeiten, was für eine Pest! Warum müssen die Leute nur immer wieder in ihr Verderben rennen?“

Samantha schüttelte den Kopf. Guys zynische Einstellung zur Ehe störte sie sehr. Zugegeben, sein Vater hatte drei Scheidungen hinter sich. Aber seine erste Ehe mit Guys Mutter war nicht durch eine Scheidung beendet worden. Guy hatte ihr einmal anvertraut, dass seine Mutter noch während seiner Kindheit an Nierenversagen gestorben war.

„Nicht alle Ehen werden geschieden“, entgegnete sie. „Und nicht bei allen Paaren ist Sex der Heiratsgrund.“

„Die meisten Männer heiraten deswegen“, widersprach Guy. „Und was passiert? Ein Jahr später ist es vorbei mit der Leidenschaft. Dann geht es auch mit der Ehe bergab. Wer danach noch zusammenbleibt, der tut es nur der Kinder wegen. Glauben Sie mir, ich weiß es.“

Flüchtig kam ihr der Gedanke, dass sein Vater und seine Mutter vielleicht keine glückliche Ehe geführt hatten. Doch selbst wenn ihre Vermutung zutraf, war das noch lange keine Entschuldigung für Guys Zynismus.

„Für manche Männer mag Sex ein Heiratsgrund sein“, sagte sie ruhig. „Aber es gibt auch Männer, die aus Liebe heiraten. Im Übrigen ist dies kaum der richtige Zeitpunkt für eine derartige Diskussion. Sie sind müde und erschöpft. Warum legen Sie sich nicht eine Weile auf die Couch in Ihrem Büro und holen den versäumten Schlaf nach? Ich habe ein Kissen und eine Decke im Aktenschrank, die ich Ihnen bringen kann.“

Er lachte kurz auf. „Gibt es etwas, das Sie nicht in diesem alten Ding versteckt haben?“

Samantha goss den Kaffee auf. „Dieser Schrank ist mein persönlicher Kramladen, auf den ich in Notfällen zurückgreifen kann.“

„Nun, dies ist mit Sicherheit ein Notfall.“ Er nahm den Kaffee, den sie ihm eingegossen hatte. „Können Sie zehn Minuten warten, bevor Sie mir die Decke bringen? Ich muss erst noch ein paar Anrufe erledigen.“

Er ging zu seinem Büro hinüber, wo er stehen blieb, um sich noch einmal nach ihr umzusehen. Samantha überlief es heiß, als sie seinen Blick sah, in dem fast so etwas wie Bewunderung lag.

Autor

Miranda Lee
Miranda Lee und ihre drei älteren Geschwister wuchsen in Port Macquarie auf, einem beliebten Badeort in New South Wales, Australien. Ihr Vater war Dorfschullehrer und ihre Mutter eine sehr talentierte Schneiderin. Als Miranda zehn war, zog die Familie nach Gosford, in die Nähe von Sydney.

Miranda ging auf eine Klosterschule. Später...
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Miranda Lee
Miranda Lee und ihre drei älteren Geschwister wuchsen in Port Macquarie auf, einem beliebten Badeort in New South Wales, Australien. Ihr Vater war Dorfschullehrer und ihre Mutter eine sehr talentierte Schneiderin. Als Miranda zehn war, zog die Familie nach Gosford, in die Nähe von Sydney.

Miranda ging auf eine Klosterschule. Später...
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