1. KAPITEL
Claybourne House, London
Mai 1817
Berichtige mich, wenn ich falsch liege, liebe Genevieve“, bat die schwarzhaarige Sophia Rowlands, verwitwete Duchess of Claybourne, und blickte ihre zwei Begleiterinnen an. Sie standen am Rand der vollen Tanzfläche im Ballsaal von Sophias Stadthaus am Grosvenor Square. „Aber du scheinst ernsthaft vorschlagen zu wollen, dass wir uns, nachdem das Jahr der Trauer für unsere Ehemänner nun vorbei ist, alle einen – oder am besten gleich mehrere – Liebhaber zulegen sollen, noch bevor die Saison zu Ende ist?“
„Genau das schlage ich vor, ja.“ Die rothaarige Genevieve Forster, Duchess of Woollerton, mit ihren spitzbübischen blauen Augen, lachte leise. „Natürlich ganz diskret.“
„Oh, natürlich …“, wiederholte Sophia zaghaft.
Genevieve kicherte. „Stellt euch das doch einmal vor, meine Lieben – ganz im Geheimen werden wir zu den Berühmtheiten der Saison!“
„Oder wir beschwören einen Skandal herauf“, sagte Sophia trocken.
„Ich glaube, ich habe mich dieses Jahr schon genug mit Skandalen beschäftigt, sodass ich … Moment, sagtest du, mehrere Liebhaber?“, fragte die blonde Pandora Maybury, Duchess of Wyndwood, zweifelnd nach.
„Nun ja, natürlich nicht alle gleichzeitig, liebe Pandora!“ Genevieve beruhigte sie mit einem herzlichen Lachen. „Obwohl …“ Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. „Vermutlich würdest du dich nicht beschweren, wenn diese zwei Gentlemen dort zu den erwähnten Liebhabern gehören würden, ob nun nacheinander oder gleichzeitig.“
„Genny!“ Pandora Maybury klang nur noch bestürzter.
Sophia war mit ihren zweiunddreißig Jahren um einiges älter als ihre zwei Freundinnen und sollte sich deshalb wohl nicht so leicht aus der Ruhe bringen lassen. Doch sie war von Genevieves Vorschlag genauso schockiert und konnte sich kaum vorstellen, welch einen Skandal sie verursachen würden. Sie blickte zur Tür. Gerade traten zwei auffallend attraktive Männer ein und begannen ganz ungeniert den von Kerzen erleuchteten Ballsaal und die Gäste der Feier zu mustern. Sophia fielen sofort die Augen der beiden auf, die zwar von unterschiedlicher Farbe waren, aber gleichermaßen zynisch wirkten.
Die zwei Gentlemen, die der ton Devil und Lucifer nannte.
Der Mann auf der linken Seite – Devil – hatte das harte und maskuline, aber attraktive Gesicht eines gefallenen Engels, und sein nach der Mode geschnittenes Haar war von einem so intensiven Blond, dass es beinahe golden schien. Der Mann an seiner rechten Seite – Lucifer – mit schwarzem Haar und dämonischen Augen, in denen sich der Teufel selbst zu verstecken schien, ließ gelangweilt seinen Blick über die sich eifrig unterhaltenden Menschen im Raum schweifen.
„Der Skandal wäre uns in jedem Fall sicher, wenn wir einen – oder beide – dieser Gentlemen als Liebhaber nehmen würden“, protestierte Sophia.
„Sherbourne scheint seine zwei Freunde heute Abend aber nicht zu begleiten“, murmelte Genevieve enttäuscht, als ob sie Sophias Warnung nicht gehört hätte – oder ignorieren würde.
„Warum wohl nicht?“, fragte Pandora mit der gleichen merklichen Enttäuschung.
„Er ist heute Abend nicht hier, weil ich ihn nicht eingeladen habe.“ Der Hochmut in Sophias Bemerkung konnte ihre Selbstzufriedenheit nicht überdecken.
„Das haben Sie tatsächlich nicht“, sagte eine spöttische Stimme hinter ihr. Eine Stimme, die so nah war, dass Sophia die warme Atemluft an ihrem bloßen Hals spürte. „Ein reines Versehen Ihrerseits, nehme ich an. Deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, es zu korrigieren.“
Sophia war bereits beim ersten Klang dieser fürchterlich affektierten Stimme erstarrt. Ihre Freude über den Erfolg des Abends war schlagartig verschwunden, als sie verstand, dass der Mann, der kurzzeitig ein Freund des Neffen und Ziehsohns ihres Ehemanns gewesen war, offensichtlich mit seiner üblichen Arroganz zum Ball erschienen war, ohne vorher um ihre Erlaubnis zu bitten oder gar eine Einladung vorweisen zu können.
Und so nah, wie er sich hinter ihr befand, fragte Sophia sich, wie lange er dort wohl schon gestanden haben mochte und ob er etwas aus ihrer wirklich unangemessenen Unterhaltung mit den beiden Duchesses mitbekommen hatte.
„Da du ja nun anderweitig Unterhaltung hast, werde ich wohl einmal deine zwei neuen Gäste begrüßen, Sophia.“ Genevieve Forster entschuldigte sich hastig, mit einem Blick auf die gerunzelte Stirn ihrer hübschen Gastgeberin, die nur der Vorbote für die verbale Maßregelung war, die sie zweifellos ihrem unerwarteten Gast zuteilwerden lassen würde.
„Ich begleite dich.“ Pandora Maybury entschuldigte sich mit der gleichen Eile. Die zwei Frauen hakten sich unter, bevor sie den Ballsaal durchquerten, um die zwei Gentlemen zu begrüßen, die durch ihre späte Ankunft besonderes Interesse auf sich gezogen hatten.
Sophia hörte hinter sich ein tiefes kehliges Lachen. „Wollen Sie nun auch wie ein verängstigtes Mäuschen davonrennen, Sophia?“
Sophia war noch nie wie ein verängstigtes Mäuschen vor irgendetwas oder irgendjemandem davongelaufen! Und das würde sich auch nicht ändern, nur weil der Earl of Sherbourne sie so aufregte, dass sie kein Wort mehr herausbekam.
Sie atmete tief ein und setzte einen blasierten Gesichtsausdruck auf, bevor sie sich zu dem Mann umdrehte, der es offensichtlich so sehr genoss, sie auszulachen. „Sherbourne.“ Sie nickte kühl zur Begrüßung und entschied sich, ihren Blick auf seinem kantigen Kinn ruhen zu lassen, statt auf dem arroganten spöttischen Gesicht. Hatte sie doch sofort bemerkt, wie gut er in seinem maßgeschneiderten schwarzen Abendanzug und dem schneeweißen Hemd darunter aussah, dazu seine breiten Schultern, die schmalen Hüften, muskulöse Oberschenkel und die langen Beine eines hervorragenden Schwertkämpfers – für sein sportliches Können war er in ganz England bekannt.
„Sophia“, grüßte er zurück.
Sophia hob ihre langen schwarzen Wimpern gerade genug, um ihn für diese Vertraulichkeit mit einem Blick zu tadeln, und wünschte sogleich, es nicht getan zu haben, denn sofort fühlte sie sich von der Männlichkeit und dem unangestrengten guten Aussehen ihres Gegenübers überwältigt. Seit er im Alter von achtzehn Jahren zum ersten Mal in der Gesellschaft aufgetaucht war, hatte Sherbourne so mancher Frau den Kopf verdreht und so manche Sehnsucht geweckt, die letztendlich unbefriedigt bleiben musste. Denn er schaffte es immer wieder problemlos, sowohl den postwendend die Hochzeit planenden Müttern als auch ...
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