1. KAPITEL
„Hi, Mom, ich bin wieder da!“ In hohem Bogen warf Sina Winter ihre Umhängetasche auf die Couch und streckte den Kopf zur Küchentür hinein. „Mmmh, das duftet ja lecker!“
„Gutes Timing“, erwiderte ihre Mutter. „Wir können gleich essen, wenn du magst, dann brauchst du es dir später nicht aufzuwärmen.“
Sina betrat die Küche, ging zum Herd und hob den Deckel des großen Topfes an. „Chili con Carne.“ Sie seufzte genüsslich. „Endlich mal was Würziges nach dem ganzen Süßkram …“
Seit sie in der Eisdiele jobbte, aß sie weniger Süßigkeiten. Aber Sina wollte während dieses Sommers Geld verdienen, um ihre Mutter etwas zu entlasten. Denn ihre Mom hatte schon zwei Jobs, damit sie einigermaßen über die Runden kamen. Und Sina würde bald studieren. Zum Glück hatte sie ein Stipendium bekommen, sonst hätte sie die Gebühren gar nicht aufbringen können.
„Ich zieh mich nur schnell um, dann decke ich den Tisch“, versprach Sina ihrer Mutter.
Im Flur blickte Sina an sich herab. Sogar die Arbeitskleidung, die sie von der Eisdiele gestellt bekommen hatte, war bonbonfarben.
Nachdem sie ihre Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, schlüpfte Sina in bequeme Jeans und ein altes T-Shirt, löste den festen Knoten, in dem sie ihr rotbraunes Haar bei der Arbeit bändigte, und schüttelte ihre Locken aus. Schon viel besser.
Kurz darauf war sie wieder in der Küche, und ein paar Minuten später saß sie ihrer Mom gegenüber an dem kleinen wackeligen Küchentisch. Eigentlich hatten sie schon längst mal einen neuen kaufen wollen, aber dieser Tisch gehörte zu ihnen, seit Sina denken konnte. Er war mal weiß lackiert gewesen, hatte mittlerweile jedoch viele Macken, Brandlöcher von Kerzen und sogar noch ein paar Farbspuren von Sinas frühen Kunstwerken, die sich einfach nicht mehr entfernen ließen. Gedankenverloren zeichnete Sina die grünen Linien nach, die, wenn man genau hinschaute, ein Strichmännchen ergaben. Das war früher eine Angewohnheit von ihr gewesen – wenn sie Bilder von ihrer Familie gemalt hatte, hatte sie ihre Mom und sich auf das Blatt gezeichnet und dann ihren Dad direkt daneben auf die jeweilige Unterlage.
„Sinas Vater befindet sich zurzeit nicht im Bild“, hatte sie ihre Mom einmal am Telefon sagen hören und daraus mit ihren damals vier Jahren geschlossen, dass er dann natürlich außerhalb des Bildes sein musste – eben zum Beispiel auf der Tischplatte. Jedenfalls so nah, dass er jederzeit wieder ins Bild kommen konnte …
Heute wusste Sina natürlich, was damals geschehen war. Ihr Vater hatte ihre Mutter einfach sitzen lassen – an Sinas viertem Geburtstag. Seitdem existierten sie für ihn offenbar nicht mehr. Er hatte sich nie gemeldet, nie Geld geschickt, sich nie darum geschert, wie seine Frau und Tochter zurechtkamen. Kein Mensch wusste, wo er steckte oder ob er überhaupt noch lebte.
Zur Hölle mit ihm.
„Hast du heute Abend schon was vor?“, fragte ihre Mutter plötzlich und riss Sina aus den Gedanken.
Sina zuckte die Schultern. „Weiß nicht. Vielleicht ruft Lugo noch an.“
Das flüchtige Stirnrunzeln ihrer Mutter entging ihr nicht, und sie hoffte, dass jetzt nicht wieder eins der sinnlosen Streitgespräche folgte. Zum Glück nicht.
„Ich habe heute von Mr. Snyder eine Karte für die Varietéshow im Stadttheater geschenkt bekommen. Wegen so etwas kann ich mir so kurzfristig natürlich nicht freinehmen, aber ich dachte, du hast vielleicht Lust!? Es soll ganz toll sein, Louisa war gestern da und hat mir die ganze Zeit vorgeschwärmt. Heute ist die letzte Vorstellung.“
Varieté? Etwa Pudel in Strickmäntelchen, die Kunststücke vorführten, und drahtige Chinesen, die auf Stühlen balancierten?, überlegte Sina.
Ihre Mutter deutete ihren nicht sehr enthusiastischen Gesichtsausdruck richtig. „Nicht so, wie du denkst“, sagte sie. „Louisa hat gesagt, dass es hauptsächlich um Illusion und Magie geht. So etwas magst du doch.“
Das stimmte. Wenn ein Magier im Fernsehen auftrat, konnte sie nie umschalten, obwohl sie natürlich wusste, dass die unglaublichsten Tricks eben genau das waren: Illusionen, clever gemachte Kunststücke.
Aber live hatte Sina so etwas noch nie gesehen – wenn man Kartentricks und Taschenspielerei nicht mitzählte. „Klingt nicht schlecht“, sagte sie. „Warum nicht? Ist mal was anderes. Meinst du, Lugo bekommt an der Abendkasse auch noch eine Karte?“
Als ihre Mutter einen Seufzer schlecht unterdrückte, verzog Sina den Mund und sie schaute zur Uhr. Musste ihre Mom nicht bald los?
Aber nein, dafür hatte sie anscheinend immer Zeit.
„Magst du nicht ausnahmsweise mal allein gehen?“, fragte sie. „Du bist doch mit Lugo nicht an der Hüfte zusammengewachsen. Außerdem interessiert er sich wohl eher nicht für solche Sachen. Mach dir doch lieber mal einen schönen Abend ohne ihn. Oder nimm stattdessen eine Freundin mit!“
Mussten sie das wirklich alles immer wieder durchkauen? „Mom, ich weiß, dass du ihn nicht magst. Aber du kannst wirklich nicht verlangen, dass ich deshalb weniger Zeit mit ihm verbringe …“, setzte Sina an.
„Es geht doch gar nicht darum, dass ich ihn nicht mag“, widersprach ihre Mutter. „Ich mag nicht, wie er dich behandelt. Du hast doch gar keinen Freiraum mehr. Er ist eifersüchtig auf deine Freundinnen, ganz zu schweigen von dem Theater, das er veranstaltet, wenn dich mal ein anderer Junge anlächelt. Und du stellst deine Interessen immer wieder zurück, wenn er nur mit dem kleinen Finger winkt. Das ist einfach nicht gut für dich. Für so etwas bist du noch viel zu jung. Auch mit neunzehn.“
„Aber ich fühl mich nun mal wohl mit ihm. Wenn er eifersüchtig ist, zeigt mir das doch nur, wie wichtig ich ihm bin“, entgegnete Sina. „Und es stimmt nicht, dass ich meine Interessen zurückstelle. Was ist denn schlimm daran, wenn man was unternimmt, was beiden Spaß macht?“
„Okay, wie wär’s damit“, schlug ihre Mutter vor. „Du kannst Lugo ja fragen, ob er heute Abend mitkommt. Aber wenn er nicht will, dann gehst du allein. Es wäre wirklich schade, wenn die Karte verfällt. Versprochen?“
Lustlos zuckte Sina die Schultern, dann nickte sie stumm. Wenn es ihrer Mutter so wichtig war …
„Prima. Ich wünsch dir ganz viel Spaß, mein Schatz! Und jetzt muss ich los.“
Ihre Mutter stand auf, stellte ihren Teller in die Spüle und drückte kurz Sinas Schulter. „Du kannst mein Seidenkleid anziehen, wenn du magst. Dann denken alle, du wärst auch ein Star der Show.“
Trotz allem musste Sina lächeln. Wenn ihre Mutter anbot, ihr das Seidenkleid zu leihen, musste es ihr wirklich wichtig sein. Allmählich begann Sina, sich auf die Varietévorstellung zu freuen …
„Na, Baby, heute Abend schon was vor?“
Unwillkürlich umfasste Sina den Telefonhörer fester. Das war eine rhetorische Frage. Normalerweise schmiedete sie keine eigenen Pläne, sondern ließ Lugo entscheiden, wie sie den Abend verbrachten. Und er hatte ja auch immer ganz gute Ideen …
Sie räusperte sich. „Ehrlich gesagt, ja. Meine Mom hat mir eine Karte für das Varieté im Stadttheater geschenkt.“ Als Lugo daraufhin nur schwieg, fügte sie hastig hinzu: „Sie hat leider nur eine von ihrem Chef bekommen, aber es gibt bestimmt noch welche an der Abendkasse.“
„Wie kommst du darauf, dass ich da hinwill?“, fragte Lugo.
„Na ja, ich dachte, du hättest vielleicht Lust mitzukommen.“
„Mitzukommen? Bis jetzt hast du mich ja noch nicht mal gefragt, ob ich dich da hingehen lasse.“
Es war einer seiner typischen Scherze. Lugo spielte gern den Beschützer, der erst herausfinden musste, ob eine Party oder ein Ort „sicher“ war, bevor er Sina beruhigt dorthin gehen lassen konnte. Mit „sicher“ meinte er dabei, ob nicht zu viele andere Jungs da waren, die sich an seine Freundin heranmachen konnten. Natürlich lachte er immer dabei, und er hatte sie noch nie nicht gehen lassen. Allerdings verzichtete sie oft freiwillig, wenn sie merkte, dass es ihm nicht recht war. Warum sollte ich ihm auch einen unangenehmen Abend bescheren, nur um selbst Spaß zu haben, dachte Sina. Davon habe ich ja auch nichts.
„Mom fände es schade, wenn die Karte verfällt“, sagte sie und biss sich sofort auf die Zunge. Sie war neunzehn, sie musste ja wohl nicht mehr tun, was ihre Mutter wollte!
„Sie hat sie doch wohl nicht selbst gekauft, damit du dich ohne mich amüsierst?“ Wieder klang sein Ton scherzhaft, doch Sina wusste, wie sehr es Lugo störte, dass ihre Mom ihn nicht mochte.
„Quatsch“, widersprach sie schnell. „Wie gesagt, ihr Chef hat sie ihr …“
„Ach komm, Baby, wollen wir ihr den Gefallen tun. Mach dich schön, ich hole dich um sieben ab. Ich fahre jetzt schon mal los, um mir eine Karte zu kaufen.“
„Oh … Super, ich freu mich!“, erwiderte sie nach kurzem Zögern. „Dann bis gleich!“
Während sie sich umzog und zurechtmachte, dachte Sina darüber nach, warum sie am Telefon gezögert hatte. Im ersten Moment war sie fast ein bisschen enttäuscht gewesen, weil Lugo mitkommen wollte. Seltsam. Aber wahrscheinlich lag es nur daran, dass ihre Mom ihr die Vorstellung suggeriert hatte, in dem umwerfenden Seidenkleid allein durch das Theaterfoyer zu schweben, während ihr alle Männer nachschauten. In Wirklichkeit war es doch schrecklich langweilig, allein zu so einer Veranstaltung zu gehen, sich in der Pause an einem Glas Mineralwasser festzuhalten und seine Eindrücke mit niemandem teilen zu können. Außerdem begleitete Lugo sie. Das bewies doch nur, dass es eben nicht immer nur nach ihm ging.
Als sie ein Hupen vorm Haus hörte, betrachtete Sina sich ein letztes Mal in dem großen Flurspiegel und warf sich eine Kusshand zu. Das Seidenkleid war wirklich wunderschön. Türkisgrün schillernd und perfekt geschnitten, betonte es ihre Vorzüge – die schmale Taille und die wohlgeformten Schultern – und kaschierte perfekt ihre etwas stämmigen Oberschenkel und die unansehnlichen Knie. Die Farbe passte ausgezeichnet zu Sinas dunklem Haar. Sie hatte sich die Mühe gemacht und ihre Naturlocken noch einmal hochgesteckt, aber diesmal locker, sodass sich viele kleine Strähnchen ringelten und ihr herzförmiges Gesicht betonten. Das etwas melodramatische Make-up mit dem schwarzen Lidstrich und den überlang getuschten Wimpern gab dem Ganzen eine moderne Note. Perfekt.
Als Lugo zum zweiten Mal hupte, drehte Sina sich schnell um und eilte zur Tür.
Er stand lässig neben der Beifahrertür und wartete. Unwillkürlich hielt Sina den Atem an. Während Lugo für gewöhnlich genau wie sie am liebsten Jeans und T-Shirt trug, hatte er Spaß daran, sich für besondere Gelegenheiten richtig aufzustylen. Heute trug er ein hellgraues Sakko, darunter ein stahlblaues Hemd. Es hatte dieselbe Farbe wie seine Augen, die in seinem gebräunten Gesicht leuchteten. Der militärisch kurze Schnitt seines sandfarbenen Haars betonte die kantigen Gesichtszüge. Kein Wunder, dass sich kaum ein anderer in ihre Nähe traute, wenn Lugo bei ihr war! Aber das wollte Sina ja auch gar nicht.
Wie erhofft riss er die Augen auf, als er sie sah, und pfiff anerkennend durch die Zähne. „So wirst du ja der Star des Abends“, sagte er. „Da bin ich ja wirklich froh, dass ich dabei bin, sonst hätte dich mir noch jemand weggeschnappt.“
Glücklich über sein Kompliment, raffte Sina vorsichtig den Rock des Kleides und stieg ein. Sie wusste wirklich nicht, was ihre Mutter immer wollte. Mit Lugo hatte sie doch das ganz große Los gezogen.
„… erleben Sie jetzt, was Sie noch nie erlebt haben … Schauen Sie ganz genau hin, meine Damen und Herren, lassen Sie sich nichts entgehen – ich garantiere Ihnen, dass Sie keinen einzigen Hinweis auf Tricks und Illusionen entdecken werden. Denn LeNormand, meinen Damen und Herren, ist kein Zauberkünstler, er ist ein Magier. Und wenn ich von Magie spreche, dann meine ich echte Magie. Magie ohne Tricks und doppelten Boden. Aber sehen Sie selbst … Ich bin stolz, Ihnen heute hier präsentieren zu dürfen: LeNormand, den letzten echten Magier der Welt!“
Interessiert beugte sich Sina vor. Im ersten Teil der Show waren eher mittelmäßige Künstler aufgetreten. Natürlich hatten sie ihre Sache gut gemacht, aber es hatte wenig echte Überraschungen gegeben. Am besten hatte Sina bisher noch ein junger Mann gefallen, der große bunte Glaskugeln über seinen ganzen Körper balancieren konnte, als wären sie schwerelos.
In der Pause hatte Lugo ihr einen alkoholfreien Punsch ausgegeben und mehrmals verstohlen gegähnt.
„Könnte noch ein bisschen mehr Action geben“, meinte er auf ihre Nachfrage hin, und da musste sie ihm zustimmen.
Aber offenbar hatte sich der Programmdirektor die Highlights ja auch für den zweiten Teil aufgespart.
Im Moment war die Bühne völlig schwarz, dann schwebte von links ein weißer Ball herein. Nein, das war kein Ball, das war ein Gesicht … Sina kniff die Augen zusammen. Sie saßen nicht hinten, aber auch nicht auf den besten Plätzen. Dass sie überhaupt nebeneinandersitzen konnten, verdankte sie Lugos Großzügigkeit. Er hatte eine der teureren Karten in den ersten drei Reihen gekauft und dann Sinas Sitznachbarin in Reihe 15 – einer älteren Dame – angeboten, mit ihr zu tauschen. Das wollte Sina später auf jeden Fall ihrer Mom erzählen. Auch so etwas zeigte schließlich, wie wichtig sie Lugo war und was er alles für sie tat.
Im nächsten Moment vergaß Sina alles um sich herum. Wie hypnotisiert folgte sie dem sehr blassen Gesicht, das sich frei schwebend über die schwarze Bühne zu bewegen schien. Mal kam es näher, mal war es weiter weg, mal war es hoch oben am Rande der Vorhangbögen, manchmal ganz nah am Boden.
Ein schwarz gekleideter, gelenkiger Mensch, der vor schwarzem Hintergrund auf schwarzen Requisiten rumturnt, schoss es ihr durch den Kopf.
Trotzdem konnte sie den Blick nicht abwenden. Die Bewegungen wirkten völlig fließend, es gab keine Pausen oder ruckartigen Bewegungen. Und das Gesicht selbst … So ausgeprägte und trotzdem attraktive Züge hatte Sina noch nie bei jemandem gesehen.
Nur in deinen Träumen …
Der Magier – wenn er es denn war, und nicht nur eine Projektion – hatte eine große, aber sehr gerade Nase, hohe Wangenknochen, Augenbrauen wie Vogelschwingen und einen breiten Mund mit vollen, aber trotzdem männlichen Lippen. Und seine Augen … Die Farbe konnte Sina nicht erkennen, aber das lag daran, dass sie sich ständig zu verändern schien. Im einen Moment war sie sich sicher, dass sie braun sein mussten, weil sie wie zwei dunkle Knöpfe in dem weißen Gesicht leuchteten. Dann wieder wirkten sie ganz hell, sodass Sina glaubte, sie müssten blau oder grün sein.
Geschickte Beleuchtung, dachte sie.
Jetzt begann er zu sprechen. Das war ganz eindeutig, denn die Lippen bewegten sich passend zum Text. Aber von dem Gesagten bekam Sina nicht viel mit, denn sie war wie gebannt von der Stimme.
Irgendwoher kannte sie diese Stimme.
Sie war tief, klingend, mit einem warmen Unterton, der Sina einen wohligen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Sie hörte ein Locken darin, ein Versprechen, eine Offenbarung und wäre fast aufgestanden und wie in Trance zu der Quelle dieser unglaublichen Stimme gewandert. Nur wie durch einen Nebel nahm sie wahr, dass es auf einmal wärmer um sie herum wurde. Gehörte das auch zu dieser unglaublichen Erfahrung?
Lugo stieß sie an, und Sina schreckte aus ihrem seltsamen Zustand auf.
„Ich glaube, er meint dich“, murmelte er. „Der gibt keine Ruhe. Entweder musst du jetzt wirklich energisch den Kopf schütteln oder auf die Bühne.“
Was? Verständnislos sah Sina ihn an.
„Ja, hast du denn gar nicht zugehört?“, flüsterte Lugo. „Er will eine Assistentin aus dem Publikum, und er hat dich ausgewählt. Hab ich doch gesagt, du wirst der Star des Abends. Also, los, Baby, mach mich stolz!“
So langsam realisierte Sina, dass die Helligkeit und die Wärme von einem Scheinwerfer stammten, der auf sie gerichtet war. Und jetzt hörte sie auch zum ersten Mal die Worte, die LeNormand – oder wem immer diese faszinierende Stimme gehörte – sagte.
„Mylady, das Schicksal hat Sie heute Abend ausgewählt, an meiner Seite echte Magie zu erleben. Verschließen Sie sich nicht der höheren Macht! Kommen Sie auf die Bühne. Sie haben nichts zu befürchten, das versichere ich Ihnen. Aber ohne Sie kann ich heute Abend nicht auftreten.“
Jetzt runzelte Lugo die Stirn. „Was fällt dem denn ein? Der soll mal nicht so einen auf dicke Hose machen, sonst …“
„Schon gut, ich gehe“, flüsterte Sina.
Auf einmal hatte sie das Gefühl, gar nicht schnell genug auf die Bühne kommen zu können. Seltsam, sonst hatte sie immer wahnsinniges Lampenfieber, wenn sie nur vor drei Leuten etwas sagen sollte. Aber jetzt wusste Sina nur, sie musste näher zu der Quelle dieser Stimme kommen.
Schneller, als sie es für möglich gehalten hätte, stand sie an der schmalen hölzernen Treppe, die zur Bühne hinaufführte. Bloß nicht stolpern …
Etwas nervös blinzelte sie in das Scheinwerferlicht. Die Bühne war jetzt hell erleuchtet – oder täuschte das? Mussten nicht überall die Leitern, Kisten oder Stühle herumstehen, auf denen der Magier vorher herumgeturnt war, als es so ausgesehen hatte, dass sein Gesicht durch den Raum schwebte? Oder war das alles wie von Zauberhand im Boden versunken?
Jetzt war die Bühne jedenfalls vollkommen leer. Bis auf den Magier selbst natürlich, der Sina, als sie die oberste Stufe erreicht hatte, beinahe überlebensgroß vorkam. Er war ganz in Schwarz gekleidet – oder doch nicht? Verwirrt blinzelte sie wieder. Der Mann schien wie eine Fata Morgana zu sein, den sie nur durch flimmernde Luft sah und doch nicht klar wahrnehmen konnte.
„Keine Angst, Lady, Ihnen wird nichts geschehen“, hörte sie seine Stimme plötzlich sagen, so nah, als stünde er direkt neben ihr.
Und das tat er auch. Sie hatte ihn nicht kommen sehen und konnte sich nicht erinnern, auf ihn zugegangen zu sein. Doch von einem auf den anderen Moment befand sie sich in der Mitte der Bühne an seiner Seite und schaute ins Publikum.
„Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um einen herzlichen Applaus für meine reizende Assistentin Sina, die mich heute Abend dabei unterstützen wird, wahre Magie zu weben.“
Woher kannte er ihren Namen? Hatte sie ihm den schon gesagt? Sina schluckte. Was ging hier vor? Hatte ihre Mutter das etwa alles eingefädelt? Oder Lugo? Beide hatten doch irgendetwas davon gesagt, dass sie der Star des Abends sein würde. Am Ende steckten sie womöglich unter einer Decke, um ihr ein besonderes Erlebnis zu schenken. Das wäre eine schöne Überraschung …
Sina atmete tief durch und konzentrierte sich. Sie zwang sich, nicht daran zu denken, dass sie hier auf einer Bühne stand und Hunderte von Leuten ihr zusahen, und nahm sich vor, auf den Magier zu achten und seinen Anweisungen zu folgen.
Aber sie hatte ja keine Ahnung, auf was das Ganze hinauslaufen sollte. War er ein Typ, der Jungfrauen schweben ließ oder sie zersägte? Nein, so sah er eigentlich nicht aus.
Er sah aus wie … Sina lächelte ins Publikum, bis der Beifall abebbte, und drehte sich dann ein wenig in seine Richtung. Erschrocken stellte sie fest, dass er keineswegs in den Zuschauerraum geschaut, sondern sie betrachtet hatte. Als sie seinen intensiven Blick auffing, schossen Sina auf einmal Vorstellungen durch den Kopf – seltsame Bilder, von seltsamen Orten. Und sie spürte Berührungen, spürte eine Hand auf ihrer Wange, jemand drückte ihre Hand …
Nein, das war keine Einbildung, der Magier hatte tatsächlich ihre Hand genommen. Er sprach auch wieder, allerdings nicht zu ihr, sondern zum Publikum. Sina hatte große Mühe, seinen Worten zu folgen. Denn dort, wo seine Finger sich um ihre schlossen, kribbelte ihre Haut. Von seiner Berührung ging eine angenehme Wärme aus, obwohl seine Hand eher kühl war.
Vage nahm sie wahr, dass sie sich bewegte, auf etwas zuging, dass er sie führte. Jetzt nimm dich aber mal zusammen, ermahnte sie sich. Du willst doch nicht auf der Bühne rumtappen wie eine Idiotin! Trotzdem fiel es ihr unheimlich schwer, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Womöglich lag das auch daran, dass sie gleichzeitig seine Stimme in ihrem Kopf hörte – mit ganz anderen Worten.
„Endlich habe ich dich gefunden …“, schien er zu flüstern. „Das Versprechen kann wahr werden …“
Und dann erklärte er mit fester Stimme: „… ist, wie Sie sehen, ein ganz normaler, wenn auch sehr großer Spiegel. Sina, würden Sie dem hoch geschätzten Publikum bitte zeigen, dass dieser Spiegel keine Illusion ist?“
Der Druck seiner Hand verstärkte sich kurz, dann ließ er Sina los. Auf einmal konnte sie wieder halbwegs klar denken. Und sie stellte fest, dass sie mit dem Rücken zum Publikum vor einem fast zwei Meter hohen, rechteckigen Spiegel stand, der in einen goldenen, verschnörkelten Rahmen gefasst war. Im ersten Moment wirkte es, als schwebte der Spiegel senkrecht ein paar Zentimeter über dem Boden. Dann erkannte Sina, dass er auf einer runden schwarzen Platte montiert war, die sich nur wenig vom Bühnenboden abhob.
Was hatte LeNormand gesagt? Sie sollte dem Publikum zeigen, dass der Spiegel keine Illusion war? Nun ja, zumindest zeigte er wie erwartet ihr Spiegelbild. Im Bühnenlicht schillerte das Seidenkleid in allen erdenklichen Blau- und Grüntönen, und ihr rotes Haar schien in Flammen zu stehen. Aber ansonsten war alles ganz normal. Sina streckte die Hand aus und berührte die Spiegelfläche. Das versilberte Glas fühlte sich angenehm kühl an.
„Und jetzt drehen Sie den Spiegel bitte einmal …“
Sina musste nur ganz leicht drücken, schon geriet der Spiegel in Bewegung und drehte sich um die senkrechte Achse.
Langsam kam die Rückseite in Sicht, die mit dunkelrotem Samt bezogen war. Als der Spiegel wieder gerade stand – jetzt zeigte die Rückseite zum Publikum –, legte Sina noch einmal die Hand darauf und strich über den weichen Samt, dann drückte sie wieder leicht, und der Spiegel drehte sich zurück.
„Sie sehen, meine Damen und Herren, es handelt sich um einen ganz normalen Spiegel.“
Das hatte Sina jetzt auch festgestellt, deshalb wunderte sie sich, dass ein aufgeregtes Raunen durchs Publikum ging, als die Spiegelfläche wieder nach vorne zeigte. Sie hatte den Magier angeschaut, um herauszufinden, was sie als Nächstes tun sollte, und merkte es nicht gleich.
Erst als sie selbst wieder einen Blick in den Spiegel warf, zuckte sie zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
Der Spiegel zeigte immer noch sie – doch ihr Spiegelbild trug jetzt ein schwarzes, bodenlanges Kleid und das Haar offen.
Unwillkürlich streckte sie die Hand aus, um zu sehen, ob sie sich wirklich selbst sah – und das Spiegelbild tat dasselbe. Überwältigt schüttelte Sina den Kopf – die Person im Spiegel machte dieselbe Bewegung. Es war ein seltsames Gefühl, sich zu sehen und doch nicht zu sehen. Sina drehte sich einmal um die eigene Achse, als könnte sie das Spiegelbild damit wieder richtigstellen, doch als sie sich wieder im Spiegel ansah, hatte ihr Spiegelbild sich erneut umgezogen. Jetzt war ihr Kleid aus luftigem Chiffon in zarten Cremetönen und ihr Haar zu einem lockeren Zopf geflochten.
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