Romana Extra Band 57

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EROBERT AUF DER GRIECHISCHEN TRAUMINSEL von BELL, CATHY
Ich werde mich niemals verlieben, glaubt die junge Schneiderin Claire - bis sie auf der griechischen Insel Santorin für Marco Fortini einen Anzug umarbeiten soll. Denn dieser Traummann scheint entschlossen, sie von der Liebe zu überzeugen und die Mauer um ihr Herz einzureißen …

IM ZAUBERBANN DER KARIBIK von NEIL, JOANNA
Auf der herrlichen Karibikinsel fühlt Rebecca sich wie im Paradies. Besonders, als sie und der smarte Cade Byfield ein Paar werden. Ist es die große Liebe für immer? Aber Cade hat einen Herzenswunsch, den Rebecca ihm nicht erfüllen kann: eine große Familie …

EIN UNMORALISCHES ANGEBOT? von GREEN, ABBY
Geliebte auf Zeit? Audrey ist empört. Wie kann der Mann, der vor Jahren ihr Leben zerstörte, ihr so ein unmoralisches Angebot machen? Doch als Romain sie beim Fotoshooting unter Palmen verführerisch küsst, kann das Supermodel nicht länger widerstehen …

DU BIST DAS LICHT IN MEINEM HERZEN von WALLACE, BARBARA
Hals über Kopf verliebt Piper sich in ihren Boss, den Milliardär Frederic Lafontaine. Obwohl sie genau weiß, dass er keine Beziehung will! Aber schließlich sind sie zusammen in der Stadt der Liebe, und Frederics heißer Kuss spricht eine andere Sprache als seine strengen Worte …


  • Erscheinungstag 11.07.2017
  • Bandnummer 0057
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743994
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cathy Bell, Joanna Neil, Abby Green, Barbara Wallace

ROMANA EXTRA BAND 57

CATHY BELL

Erobert auf der griechischen Trauminsel

Erstaunt hört Marco, was die hübsche Claire ihm scheu erzählt: Sie war noch nie verliebt! Er fasst einen Plan, in dem der Sonnenuntergang von Santorin und sein zärtlicher Kuss die Hauptrolle spielen …

JOANNA NEIL

Im Zauberbann der Karibik

Das Leben auf der Karibikinsel ist für Cade Byfield ein wahr gewordener Traum! Trotzdem fehlt etwas zum großen Glück. Was das sein könnte, ahnt er, als er der schönen Rebecca begegnet …

ABBY GREEN

Ein unmoralisches Angebot?

Seit Romain de Valois das bildschöne Supermodel Audrey getroffen hat, ist er verrückt nach ihr – gegen seinen Willen! Wird eine einzige heiße Liebesnacht sein verzehrendes Verlangen für immer stillen?

BARBARA WALLACE

Du bist das Licht in meinem Herzen

Ihr Lachen ist wie ein helles Licht in seinem Leben. Doch Frederic weiß, dass er die zauberhafte Piper nicht an sich binden darf. Jetzt, wo seine Welt unaufhaltsam im Dunkel versinkt …

1. KAPITEL

Claire war nervös und sah sich immer wieder um, doch niemand war hinter ihr. Natürlich nicht. Um diese Zeit war Venedig wie ausgestorben. Reiß dich zusammen, dachte Claire und schüttelte verärgert den Kopf. Das ungute Gefühl wurde sie trotzdem nicht los. Zu solch einer merkwürdigen Stunde an einen Ort gerufen zu werden, den sie nur von der Landkarte her kannte, war unheimlich. Da half auch alles rationale Denken nicht. Normalerweise litt sie nicht unter Verfolgungsängsten, aber diese ganze Situation verursachte in ihr ein starkes Unwohlsein.

Ihre liebste Stammkundin Sofia Fortini hatte sie für fünf Uhr dreißig zur Ponte dellʼAccademia bestellt. Warum, hatte sie ihr nicht verraten. Die betagte Italienerin hatte lediglich gesagt, es sei wichtig, und dabei sehr seltsam geklungen. Geheimnisvoll, verschwörerisch. Der Ort, an dem sie sich treffen wollten, verstärkte Claires merkwürdiges Gefühl noch, von der Uhrzeit ganz zu schweigen.

Die Ponte dellʼAccademia hatte sie bislang noch nie gesehen – und das, obwohl sie bereits vier Monate in Venedig lebte. Vom Stadtleben hatte sie in dieser Zeit so gut wie noch nichts genießen können. Wie denn auch, mit Ricardo und all seinen Dramen?

Seit Claire in Venedig angekommen war, hatte sie eigentlich nur die alte Änderungsschneiderei gesehen, die sie gemeinsam mit ihrem Mann übernommen hatte. Innerlich zuckte sie zusammen, als ihre Gedanken zu Ricardo wanderten. Es war eine Schnapsidee gewesen, hierherzuziehen, aber wie immer hatte sie Ricardo den Wunsch nicht abschlagen können. Ihm war England zu dunkel, zu regnerisch, und er hatte sich nach seiner alten Heimat gesehnt. Also waren sie nach Venedig gezogen, Hals über Kopf. Ein Freund von einem Verwandten eines Bekannten hatte ihnen die alte Schneiderei in einer kleinen Seitengasse verkauft, so wie es in Italien nun einmal üblich war. Hier kannte jeder irgendwen mit irgendwelchen Beziehungen. Nur dass der Laden überhaupt keinen Kundenstamm vorweisen konnte und es aus dem Gully vor der Tür stank wie die Hölle, das hatte man vergessen zu erwähnen.

Wieso hatte sie nur nicht Nein zu diesem Umzug gesagt? Wieso hatte sie sich so gedankenlos darauf eingelassen? Sie hasste es, dass sie immer wieder nachgab, doch irgendwie konnte sie auch nicht aus ihrer Haut. Ihre Mutter hatte sie so erzogen: brav sein, keine Widerworte geben, darauf hören, was die Männer sagten. Das waren die Leitlinien ihres Elternhauses gewesen. Und was hatte es ihr gebracht, immer alles brav mitzumachen? Nichts. Bei dem Gedanken an ihre Mutter stellten sich automatisch die Härchen auf ihrem Arm auf. Ihre Mutter … Wenn sie herausfand, dass die Ehe ihrer Tochter gescheitert war und diese auf ganzer Linie versagt hatte … Nein, darüber wollte Claire nicht weiter nachdenken. Vor allem, weil sie auch schon so genug Probleme hatte.

Sie war eine einsame Engländerin in einer fremden Stadt. Verlassen und betrogen vom eigenen Ehemann. Sie war zum Gesprächsthema Nummer eins ihrer Nachbarschaft geworden. Nur Sofia hatte zu ihr gehalten, obwohl sie sich kaum gekannt hatten.

Treulose Ehemänner könne sie nicht leiden, hatte sie erklärt – und ihr seitdem eine Kundin nach der nächsten angeschleppt.

Daher wusste Claire, was sie an der älteren Dame hatte. Sie als Freundin zu bezeichnen, wagte sie jedoch noch nicht. Dazu war sie ihr zu fremd, und sie verstand viele Dinge nicht, die sie ihr in schnellem Italienisch erzählte. Ihr eine Bitte auszuschlagen, wäre Claire jedoch niemals in den Sinn gekommen. Außerdem konnte sie es sich nicht leisten, ihre einzige wirkliche Stammkundin zu verprellen. Selbst mit Ricardos Unterstützung im Laden hatten sie sich gerade so über Wasser halten können. Ohne ihn musste sie an ihr Erspartes gehen. Und das würde bald aufgebraucht sein. Noch in diesem Monat. Deshalb war sie jetzt frühmorgens hier, in den Straßen von Venedig, mit einem Stadtplan in der Hand und wenig Orientierung.

Sie fragte einen Gondoliere, der gerade mit seinem Kahn anlegte, um Rat. Er beschrieb ihr den Weg und lächelte freundlich, als er die Erleichterung in ihrem Gesicht sah. Nicht mehr weit. Nur noch diese Gasse entlang, dann nach links, schon war sie da.

Die Straßen waren fast unheimlich leer. Die Touristen schliefen friedlich in ihren Betten und träumten von steinernen Brücken, die sich über die Flüsse bogen, von Bootsfahrten und den vielen Billigmasken, die es in jedem zweiten Laden zu kaufen gab. Sie würden bald aufwachen, doch bis dahin war noch etwas Zeit. Claire hatte Venedig deshalb fast für sich allein. Fast.

Sie entdeckte Sofia, die auf einer hölzernen Brücke stand und auf das Wasser hinunterblickte. In einiger Entfernung dahinter sah Claire die beeindruckende Kuppel der barocken Kirche Santa Maria della Salute an der Einfahrt zum Canal Grande. Sie wusste von ihrem Stadtplan, dass diese Brücke die Stadtteile San Marco mit Dorsoduro verband und geradewegs zum bekanntesten Museum in Venedig führte. Nicht, dass sie schon einmal da gewesen war. Die Stadt war ihr fremd, genauso wie ihr neues Leben.

Die alte Dame hatte sie wohl bemerkt, denn sie wandte sich ihr zu. An der Brüstung lehnte ihr dunkelbrauner Gehstock, der deutlichste Hinweis auf ihr Alter. Trotzdem. In dieser Sekunde sah sie so mädchenhaft verträumt aus, dass man sie niemals auf 79 Jahre geschätzt hätte. Vor allem, als sie lächelte.

Buongiorno, Signora Daventi“, begrüßte die Italienerin sie herzlich und gab ihr rechts und links zwei angedeutete Küsschen auf die Wange. Claire hatte sich an diese Art der körperlichen Begrüßung zunächst gewöhnen müssen, aber mittlerweile mochte sie dieses südländische Ritual sogar ganz gerne. „Wie schön, dass Sie gekommen sind.“ Die Seniorin hatte einen seltsamen Glanz in den Augen, als sie sich wieder dem Kanal und damit dem atemberaubenden Anblick der noch schlafenden Stadt zuwandte.

„So früh am Morgen liebe ich Venedig am meisten. Mein Mann und ich kamen immer hierher, denn diese Brücke ist etwas ganz Besonderes für uns. Hier haben wir uns kennengelernt. Ich hatte im Gedränge meinen Schuh verloren, er hob ihn auf und gab ihn mir zurück. Seitdem ist das unsere Brücke.“ Den letzten Rest hatte sie fast geseufzt, und Claire vernahm die Trauer in ihrer Stimme. Sofias Mann war vor zwei Jahren verstorben. Es musste schwer für sie sein.

Die Engländerin war unsicher, wie sie auf Sofias so offensichtlichen Schmerz reagieren sollte. Sie schwieg deshalb und sah mit ihr zusammen auf den Kanal. „In drei Wochen werde ich achtzig“, sagte die Italienerin leise und legte Claire die Hand auf den Arm. „Es wäre schön gewesen, wenn mein Francesco diesen Tag noch mit mir gefeiert hätte, aber manchmal hat das Leben andere Pläne.“

Ja, das stimmte. Manchmal lief das Leben ganz anders als geplant. Claire schauderte innerlich, als sie an das Chaos in ihrem Leben dachte. Natürlich hätte sie einfach nach England zurückkehren können, doch auch da erwartete sie niemand. Ricardo hatte sie von ihren Freunden isoliert und das so geschickt gemacht, dass sie nicht einmal registriert hatte, wie ihr das Leben entglitten war.

Wie hatte sie nur so naiv sein können? Wieso hatte sie immer das getan, was er wollte? Manchmal war sie kurz davor gewesen, zu protestieren, doch dann hatte sie die Stimme ihrer Mutter gehört. Sei brav. Sei kein störrischer Esel. Jetzt stell dich nicht so an. Obwohl diese Worte nur in Claires Kopf zu hören waren, konnte sie gar nicht anders, als zu gehorchen. Jetzt hatte sie den Preis erkannt. Jetzt, wo es zu spät war.

Sie verdrängte die unliebsamen Gedanken und konzentrierte sich auf das Gespräch.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie Sofia und hoffte, dass das nicht zu direkt war. Sie war einfach neugierig.

„Ich möchte, dass Sie für meinen Enkel den alten Hochzeitsanzug von meinem Francesco umnähen. Marco ist so viel kräftiger als mein Mann. Der Anzug passt ihm garantiert nicht. Ich möchte jedoch, dass er ihn auf der Feier zu meinem achtzigsten Geburtstag trägt. Ich weiß, es ist ein alberner Gedanke, aber ich habe Francesco so gerne in diesem Anzug gesehen, und jetzt, wo er nicht mehr da ist …“ Die alte Dame verstummte, lehnte die Arme auf das Geländer und blickte mit müden Augen auf das Wasser hinunter.

„Diese Aufgabe übernehme ich sehr gerne“, sagte Claire sanft. „Wann hätte ihr Enkel denn Zeit, sich mit mir zu treffen?“

„Das ist das Problem. Marco hat sich nach dem Tod seines Großvaters erst in die Arbeit gestürzt und dann zunehmend zurückgezogen. Wenn er durchatmen möchte, flüchtet er sich nach Santorin. Dort hat er eine große Villa und Ruhe vor der Hektik von Venedig.“

„Santorin? Die griechische Insel Santorin meinen Sie?“, fragte Claire verblüfft.

„Ja, Marco liebt Griechenland, genau wie sein Großvater es tat. Ich glaube, er hat manchmal genug von den Italienern und zieht sich dorthin zurück. Er trägt hier viel Verantwortung, wissen Sie? In Italien kennt jeder seine Familie, jeder weiß, was er macht. Auf Santorin kann niemand etwas mit dem Namen Fortini anfangen.“

Um ehrlich zu sein, wusste Claire auch nicht viel über die Fortinis. Sofia sah definitiv aus, als hätte sie mehr als genug Geld, dementsprechend kleidete sie sich auch. Aber in welchen Kreisen genau sie sich bewegte, war der Schneiderin bislang egal gewesen.

„Wann kommt er denn wieder zurück?“, hakte Claire nach. „Von einem Tag auf den anderen kann ich den Anzug nicht umnähen.“

„Das ist das zweite Problem. Sie müssen zu ihm. Er hat wenig Verständnis für meine romantischen Ideen, aber wenn er nicht zur Schneiderin kommt … muss die Schneiderin eben zu ihm kommen.“ Die alte Dame zwinkerte ihrem Gegenüber zu und grinste verschwörerisch. „Sind sie schon mal mit einem Privatjet auf eine griechische Insel geflogen? Nein? Dann haben sie jetzt die einmalige Gelegenheit dazu.“

Claire wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Im ersten Moment wollte sie protestieren, doch wie immer konnte sie Herzenswünsche einfach nicht abwehren. „Wann soll es denn losgehen?“, fragte sie vorsichtig.

Sofia musterte sie aus grauen Augen. „Der Privatjet fliegt um fünfzehn Uhr los.“ Sie lächelte entschuldigend. „Bitte verzeihen Sie den Überfall, aber Sie sollten mal raus hier, wieder zur Ruhe kommen. Santorin wird Ihnen vielleicht helfen, etwas Abstand zu finden.“

„Und warum wollten Sie sich hier auf der Brücke mit mir treffen?“ Claire verstand das Verhalten ihrer Stammkundin noch immer nicht.

„Ich wollte, dass Sie den Zauber von Venedig spüren, bevor Sie nach Santorin aufbrechen. Nicht, dass Sie am Ende dort bleiben wollen. Ich brauche Sie nämlich hier an meiner Seite. Ich wollte aber auch, dass Sie verstehen, wie wichtig mir der Anzug ist. Sie sind die einzige Schneiderin, der ich in dieser Sache vertraue.“

Claire seufzte innerlich. Italiener waren wirklich hoffnungslose Romantiker. Wie gerne würde sie sich auch einfach fallen lassen, sich in eine Liebe stürzen, die ihr ganzes Leben bestimmen würde – nur wegen eines Schuhs und einer Brücke. Ricardo und sie hatten niemals solch einen wunderschönen Rückzugsort gehabt. Um ehrlich zu sein, hatte sie Ricardo … Nein, dieses Geheimnis wollte sie nicht einmal vor sich selbst zugeben, also verdrängte sie den aufkommenden Gedanken mit aller Kraft.

„Also? Lassen Sie sich auf das Abenteuer ein?“, riss Sofia sie aus den Gedanken.

„Ja“, antwortete Claire schlicht. Ihr war längst klar, dass sie ohnehin keine andere Wahl hatte. Sie brauchte jeden Auftrag, den sie bekommen konnte. Claire wandte sich bereits zum Gehen, da hielt die alte Italienerin sie zurück.

„Ich würde das nicht von Ihnen verlangen, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass es eine gute Sache ist – für alle Beteiligten. Marco wird mehr und mehr zum Einsiedler, der Frauen regelrecht verachtet. Sie sind so ein herzensguter Mensch – ich bin sicher, Sie werden seine raue Schale ganz schnell geknackt haben.“

Sofias Lächeln war herzlich, während sich Claire zwingen musste, um es zu erwidern. Ein Frauenverachter auf einer einsamen Insel – und bei dem sollte sie ein Vorhaben seiner Großmutter durchsetzen? Das konnte ja heiter werden.

Marco Fortini ärgerte sich schon über die Schneiderin seiner Großmutter, da kannte er sie nicht einmal. Was war das nur für eine hirnrissige Idee, den Anzug seines Großvaters umnähen zu lassen, damit er ihn auf ihrem Achtzigsten tragen konnte? Das würde seine Nonna nur traurig machen. Er hatte tausend Anzüge, die weit bessere Qualität hatten als dieses alte Modell.

Da er seiner Nonna jedoch keinen Wunsch abschlagen konnte – außer selbst nach Venedig zurückzukehren, und das wäre dann doch etwas zu viel verlangt gewesen –, hatte er sich breitschlagen lassen. Das hieß aber nicht, dass er die Schneiderin mit offenen Armen empfing. Frauen hatten in seiner persönlichen Rückzugsstätte auf Santorin noch viel weniger zu suchen als in seinem Leben in Italien.

Er hielt nicht viel vom weiblichen Geschlecht – und dafür hatte er gute Gründe. Gründe, die ihn wie immer innerlich zittern ließen. Vor Wut, vor Frust, ja, vielleicht auch ein wenig vor Trauer. Seine Gefühle fuhren stets Achterbahn, sobald seine Gedanken in diese Richtung wanderten.

Zu seinem Vater. Zu dem Verrat. Zu dem Moment, als er ihn verlassen hatte.

Bevor er den Gedanken beenden konnte, schüttelte er vehement den Kopf. Nein. Die Sache mit seinem Vater und den Frauen war Vergangenheit. Er hatte damit abgeschlossen – und zwar mit beiden. Marco hatte einen Schlussstrich gezogen, um sich selbst zu schützen.

Seitdem hielt er sich an seinen Schwur. Keine Frauen. Punkt.

Leider hatte er die Rechnung ohne seine Nonna gemacht – und so stand er nun vor dem Flughafen im absoluten Parkverbot und grummelte vor sich hin. Eigentlich hatte er fest vorgehabt, die Schneiderin nicht vom Gate abzuholen, doch jetzt, wo er hier wartete, regte sich das schlechte Gewissen. Wenn das rauskam, würde es Ärger mit seiner Nonna geben. Sie legte großen Wert auf gutes Benehmen.

Seufzend stieg er aus dem modernen Jeep, knallte die Tür zu und ging zum Haupteingang. Er fragte sich gerade, wie er die Schneiderin überhaupt erkennen sollte, da kam eine junge Frau aus dem Flughafengebäude. Sie hatte sich eine winzige zerknautsche braune Ledertasche über die Schultern geworfen und trug schwer an einem eckigen schwarzen Koffer und einem in schwarze Schutzfolie eingepackten Anzug. Das war dann wohl die Schneiderin. Verwechslung ausgeschlossen.

„Signora Daventi?“

Die junge Frau blieb augenblicklich stehen und musterte ihn. Wahrscheinlich sah sie in erster Linie nur die riesige schwarze Sonnenbrille und den alten Borsalino-Hut, den er sich tief in die Stirn gezogen hatte. Das Teil entsprach zwar nicht mehr der Mode, hatte aber seinem Großvater gehört.

„Marco Fortini?“, entgegnete sie vorsichtig und mit falscher italienischer Aussprache. Seine Großmutter hatte ihm erzählt, ihre Schneiderin sei Engländerin, die einen Italiener geheiratet hatte. Ein weiteres Indiz. Da stand definitiv Claire Daventi vor ihm. Irgendwie hatte er sie sich ganz anders vorgestellt. Älter. Definitiv älter.

Theoretisch hätte er ihr nun die Hand geben oder sich leicht verbeugen sollen, doch dazu hatte er gerade keinen Nerv. Die Frau ging ihm jetzt schon auf den Geist. Die Stimme war zu niedlich, der Augenaufschlag bezaubernd und dann erst diese sinnliche, kurvige Figur. Claire Daventi gefiel Marco auf Anhieb, was ihm gar nicht passte. Er hasste solche Situationen, brachten sie doch nichts als Ärger.

„Kommen Sie“, sagte er unfreundlicher als beabsichtig und lief voraus. Sie folgte ihm etwas langsamer, balancierte umständlich den riesigen Nähmaschinenkoffer und die kleine Tasche. Die Sonne brannte gnadenlos vom wolkenfreien Himmel. Marco hatte derweil seinen Jeep erreicht, öffnete die Kofferraumtür und wartete auf die Schneiderin. Er half ihr schließlich doch mit ihrem Gepäck und warf es in den Wagen. Ihre Reisetasche war verwirrend leicht.

„Haben Sie Ihr Gepäck vergessen?“, knurrte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Fahrertür und stieg ein. Die Schneiderin zögerte draußen und machte dann die hintere Tür auf.

„Bin ich Ihr Taxifahrer? Kommen Sie nach vorne“, forderte er sie auf. Mit der linken Hand zog er sich den Hut vom Kopf, während er mit der rechten den Zündschlüssel umdrehte.

Die Schneiderin warf die hintere Tür hastig wieder zu und kam nach vorne. Erst jetzt nahm er ihren Duft wahr. Blumig, aber nicht aufdringlich. Er hatte zwar keine Ahnung, nach welcher Blume sie duftete – und es war ihm eigentlich auch herzlich egal –, aber er musste dennoch zugeben, dass sie wirklich gut roch. Sehr gut.

Verärgert über sich selbst gab er Gas, noch bevor sie sich überhaupt angeschnallt hatte. Sie schrie leise auf, ein seltsamer Laut, und krallte sich am Sitz fest. Wenn er sich nicht irrte, war sie eine Nuance blasser geworden. Ihre Haut war allerdings ohnehin ziemlich weiß. Das typische Erbe einer Engländerin. Was ihr ausgesprochen gut stand.

Er hätte schwören können, dass sie ihn wegen seines abrupten Anfahrens zurechtweisen würde, doch das blieb aus. Sie atmete lediglich tief durch, glättete ihr zerknautschtes Kleid und blickte betont desinteressiert aus dem Fenster. Er warf ihr einen schnellen, möglichst unauffälligen Blick zu. Das Kleid war blau mit weißen Blümchen und reichte ihr bis zu den Knien. Der Ausschnitt war tief, aber nicht so tief, dass es ihn gestört hätte. Er betonte ihre wohlgerundeten Brüste, die perfekt zu ihrer weiblichen Figur passten.

Er hätte es niemals laut ausgesprochen, aber das gefiel ihm ziemlich gut.

„Sollten Sie nicht lieber auf die Straße gucken, anstatt mich zu mustern?“, fragte sie und wandte sich ihm zu. Dabei fiel ihm ihr langer Hals auf, der sie ausgesprochen graziös wirken lies.

Hastig sah er nach vorne auf die Straße. „Ich wollte nur wissen, wen ich mir da ins Haus hole“, erwiderte er kurz angebunden.

„Ich bin Claire Daventi, eine englische Schneiderin mit einem Laden in Venedig. Das wüssten Sie, wenn Sie mir die Chance gegeben hätten, mich vorzustellen. Ist Händeschütteln aus der Mode gekommen oder macht man das als Inselschrat am Strand einfach nicht?“ Sie riss erschrocken die Augen auf, als ihr bewusst wurde, was sie da gesagt hatte. In diesem Augenblick sah sie wahnsinnig süß aus, und er konnte ein leicht amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken. Hoffentlich hatte sie es nicht gesehen. Auf ihren verbalen Angriff ging er gar nicht erst ein, denn dazu hatte er weder die Lust noch die Geduld. Offenbar war das auch gar nicht nötig, denn sie ruderte ganz von selbst zurück.

„Entschuldigung, Signor Fortini. Ich bin wohl gerade etwas überfordert mit der Situation. Heute Morgen habe ich noch auf der Ponte dellʼAccademia mit Ihrer Großmutter gesprochen, jetzt sitze ich in dem teuersten Wagen, in dem ich je gefahren bin, und das auch noch auf Santorin, und lasse mich von Ihnen zu einer Privatvilla fahren. Das geht gerade über meine Vorstellungskraft.“

Um ein Haar hätte Marco abermals geschmunzelt. Claire schien angenehm bodenständig zu sein. Unter anderen Umständen hätte ihm das sicherlich gefallen, doch er ermahnte sich. Sein Schwur. Er musste sich daran halten. Es fiel ihm allerdings ausgesprochen schwer, den Blick von der hübschen Schneiderin abzuwenden. Sie hatte wirklich schöne Haare. Sanfte Wellen. Braun mit ein paar goldigen Strähnen darin. Gefärbt? Vermutlich. Am Hals hatte sie ein kleines Muttermal, das ab und zu von ihren einfachen blauen Hängeohringen gestreift wurde.

Reiß dich zusammen, dachte er schlecht gelaunt. Es gibt keinen Grund, gleich ins Schwärmen zu kommen.

Den Rest des Weges schwiegen sie, was wohl auch daran lag, dass Claire staunend die Umgebung betrachtete. Ja, Santorin war wunderschön, atemberaubend. Viel Grün gab es nicht, dafür aber eine überaus dramatische Landschaft mit vielen Klippen und faszinierenden Stränden. Das Meer wirkte hier so blau wie nirgendwo sonst auf der Erde, an manchen Stellen war es rötlich gefärbt wie die Vulkanerde, aus der die Insel bestand.

Claire lehnte sich etwas nach vorne, als die Hauptstadt Thira in Sicht kam. Die weißen Gebäude schmiegten sich ganz natürlich an die Felsen, ein wenig sah es so aus, als würde die Stadt über dem Meer schweben. Marco liebte diesen Anblick und lächelte leicht, als er den verträumten Ausdruck im Gesicht der Schneiderin bemerkte. Auch sie schien dem Zauber der Insel augenblicklich zu verfallen.

Sie fuhren weiter bis nach Oia, ganz am nördlichsten Zipfel von Santorin. Weiße Häuser drängen sich dort aneinander, wie verschmolzen mit den Klippen. Marcos Privatvilla lag deutlich abseits vom Trubel, etwas versteckt hinter steilen Felsvorsprüngen in der Nähe des kleinen Hafens Ammoudi. Er hatte Wert darauf gelegt, einen Zugang zum Meer zu haben und gleichzeitig ein Teil der phänomenalen Felslandschaft zu sein. Als er die Villa entdeckt hatte, war ihm sofort klar gewesen, dass sie perfekt für ihn war.

Er hielt vor dem riesigen Tor und drückte auf den elektrischen Toröffner. Lautlos schwang es auf und gab einen fantastischen Blick auf die Villa frei.

„Ich möchte, dass Sie mich gleich vermessen oder was immer Sie mit mir anstellen müssen“, erklärte er, während er seinen Wagen gekonnt den Schotterweg entlangfuhr. „Morgen reisen Sie wieder ab.“

„Was? Das geht nicht. Ich habe versprochen, den Anzug komplett fertigzustellen, damit Sie ihn anprobieren und sicher sein können, dass er perfekt passt. Das schaffe ich nicht von einem Tag auf den anderen.“

Er warf ihr einen scharfen Blick zu, den sie dank der Sonnenbrille nicht sehen konnte. „Sie haben heute und morgen. Abends bringe ich Sie wieder zum Flughafen. Wie Sie das schaffen, ist Ihre Sache. Fangen wir sofort an. Wir haben schließlich nicht viel Zeit“, sagte er barsch.

Sie funkelte ihn wütend aus seltsam hellbraunen, fast sandfarbenen Augen an. Solch eine Augenfarbe war selten. Er hatte Mühe, sich von diesem Anblick loszureißen, und stieg aus dem Wagen. Wie sie das mit dem Gepäck regelte, war ihm ziemlich egal, und auch, dass sie Schwierigkeiten haben würde, ihm zu folgen, ließ ihn kalt. Wobei … ein wenig schlechtes Gewissen hatte er doch. Seine Nonna wäre sehr wütend, wenn sie sein unmögliches Benehmen sehen würde, aber sie war ja selbst dran schuld. Was schickte sie auch eine Frau zu seinem persönlichen Rückzugsort?

Nein, er würde Claire nicht mit offenen Armen empfangen. Sie war nicht nur ein Eindringling, sondern noch dazu ein äußerst unerwünschter. Frauen wollten doch immer als gleichberechtigte Partner behandelt werden, oder? Dann sollte sie auch zusehen, wie sie das Gepäck handeln und den Weg finden konnte.

In dieser Sekunde wurde ihm absolut klar, dass Claire Daventi Ärger in sein Haus brachte.

2. KAPITEL

Claire stand vor Wut zitternd neben dem protzigen Jeep und ballte vor Empörung die Hände zu Fäusten. Normalerweise war sie die Ruhe selbst und viel zu schüchtern, um Widerworte zu geben, doch dieses Ekel ließ sie ihre Selbstbeherrschung vergessen. Was bildete er sich eigentlich ein? Freiwillig machte sie das hier schließlich nicht.

Sie warf die Beifahrertür absichtlich mit aller Kraft hinter sich zu, sodass der Wagen wackelte und sich Marco zu ihr umdrehte. Er runzelte missbilligend die Stirn, doch das war ihr egal. Mit großen Schritten stapfte sie zum Kofferraum und holte den Nähmaschinenkasten, ihre Reisetasche und den Anzug heraus. Alle drei Sachen zu balancieren war fast unmöglich, doch sie biss die Zähne zusammen und eilte Marco Fortini hinterher. Den Kofferraum ließ sie einfach offen stehen.

Marco verschwand gerade durch eine riesige Eingangstür. Diese war himmelblau angestrichen und passte perfekt zu der fast blendend weißen Fassade. Rechts und links kletterte eine gigantische Ranke mit beerenfarbenen Blüten die Wände hoch, und etwas abseits stand eine kleine Palme, die sich mit dem leicht wehenden Wind hin und her wiegte.

Auch innen war es extrem hell: weiße Wände, heller Fußboden aus einem Stein, den sie nicht genau zuordnen konnte, dazu dunkle Möbel – eine schwarze Designercouch, ein schwerer, riesiger Holztisch und ein gemauerter Kamin am anderen Ende des luftigen Raumes. Alles sah teuer und neu aus und wirkte männlich. Keine Deko auf dem Sideboard, keine Blumen auf dem Tisch.

Marco Fortini stand mitten im Zimmer und sah die Schneiderin seiner Großmutter an, reglos, abwartend. Er trug noch immer diesen seltsamen Hut und die überdimensionale Sonnenbrille, wodurch er mehr denn je wie ein waschechter Italiener aussah. Er winkte sie zu sich. „Jetzt kommen Sie endlich“, brummte er. Offenbar war er nicht in der Lage, normal mit ihr zu sprechen.

Sie mühte sich ab, nichts fallen zu lassen. Er führte sie steinerne weiße Stufen hinauf, oben kamen sie in einen hellen Flur mit riesigen Fenstern. Der Blick nach draußen war unglaublich. Der blaue Himmel schien zum Greifen nah und ging nahtlos in das Türkis des Meeres über. Die Wellen schäumten, sobald sie gegen die Klippen am Fuße des Berges prallten. Direkt unter Claire. Tief, tief unter ihr. Sie schauderte und genoss gleichzeitig dieses unfassbare Gefühl der Freiheit. Es war, als schwebe sie über den Dingen.

Marco rief sie abermals. Er war aus ihrem Sichtfeld verschwunden, da die Treppe in sanften Windungen weiter nach oben führte. Mühsam löste sie sich vom Meerblick und kletterte weiter, blieb wie angewurzelt stehen, als sie oben angekommen war. Ihr Zimmer sah aus wie aus einem Reiseprospekt. Hier waren die Fliesen in einem ruhigen Braunton gehalten, sonst wäre der Raum auch zu weiß gewesen. Die abgerundeten cremefarbenen Decken gingen nahtlos in die Türöffnungen über. Badebereich und Schlafzimmer waren nur durch einen breiten Bogengang voneinander abgetrennt, wodurch ihr Blick als Erstes auf die riesige Badewanne und als Nächstes auf das große Bett fiel. „Wow“, brachte sie hervor.

Marco verzog nicht eine Miene, sondern nahm ihr schweigend den Anzug aus der Hand. „Legen Sie Ihre Reisetasche ab, danach zeige ich Ihnen, wo Sie mich vermessen können. Ich nehme an, den Nähmaschinenkoffer benötigen Sie dafür?“

Claire nickte wie in Trance, trat fast ehrfürchtig in den Raum und warf ihre Reisetasche aufs Bett. Sie war so leicht, dass sie einmal abfederte und dann wie ein Fremdkörper auf dem schneeweißen Laken liegen blieb. Ihr Blick glitt zum Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte. Diesmal sah sie nicht das Meer, sondern in der Ferne, wie schwebend, die entfernten Häuser von Oia. Ab und zu glitzerte das Wasser der vielen Pools in hellem Blau.

„Darf ich mich zunächst etwas frisch machen, oder bringt Sie diese Zeitverzögerung augenblicklich um den Verstand?“, fragte sie, den Blick weiter auf das Fenster gerichtet.

„Ich habe noch Termine“, erwiderte er harsch. „Wenn Sie mich vermessen haben, können Sie sich meinetwegen um sich selbst kümmern.“

Claire löste sich mit einem leisen Seufzen und schnappte sich den Nähmaschinenkoffer. Erst jetzt bemerkte sie, dass Marco endlich die riesige Sonnenbrille abgenommen hatte, sodass sie zum ersten Mal seine Augen sehen konnte. Dunkelbraun, fast schwarz. Gefährlich, aber dennoch faszinierend. Ein intensiver, stechender Blick, der sie zu durchleuchten schien. Seine Haut war von der Sonne gebräunt, allerdings hatte die Brille einen leichten Abdruck um die Augen herum hinterlassen. Wenn sie genau hinsah, konnte sie bereits den Hauch eines Bartes erkennen. Wie es schien, hatte er sich nicht für sie rasiert. Natürlich nicht. Er hatte ein kantiges Gesicht, das seine ruppige Art unterstrich, gleichzeitig aber auch männlich und anziehend wirkte. Seine Nase war ein wenig schief, vielleicht hatte er sie sich mal gebrochen, doch gerade dieser Makel ließ ihn verwegen und dadurch noch reizvoller erscheinen.

Reizvoll? Sie musste verrückt sein.

„Sind Sie fertig mit ihrer Musterung?“, fragte er sie direkt, und Claire spürte, wie die Röte ihren Hals hinaufkroch.

„Jetzt sind wir wenigstens quitt“, erwiderte sie und reckte kampflustig das Kinn nach vorne, verschränkte die Arme. Marco verdrehte genervt die Augen und ging voraus. Sie folgte etwas langsamer. Natürlich hatte er den Nähmaschinenkasten nicht mitgenommen, sodass sie ihn wieder die Treppe hinunterschleppen musste. Steinreich war er eindeutig, ein Gentleman dagegen nicht.

Er führte sie durch den Flur oder das Wohnzimmer – so richtig konnte Claire nicht erkennen, was es denn nun sein sollte – in einen schmaleren Gang. Der endete geradewegs auf einem herrlichen Balkon. Die Hitze begrüßte sie augenblicklich, genau wie die Sonne und der Geruch nach Meer. Wie es schien, verlief die Terrasse einmal um das Haus herum. Das Herzstück waren die schlichten Rattansessel und natürlich der Pool, der im Licht funkelte und den Himmel widerspiegelte.

Leider blieb Marco nicht stehen, sondern ging geradewegs auf eine Tür zu, die in ein luftiges Atelier führte. Hier roch es nach Farbe, Modelliermasse und Arbeit.

„Sind Sie etwa Künstler?“, fragte Claire fassungslos. Der Raum war vollständig verglast, sodass sie rundum den Ausblick genießen konnte. Trotz der Sonneneinstrahlung war es angenehm kühl. Offenbar war das Glas speziell verarbeitet oder die Klimaanlage extrem gut.

Marco schnaubte verächtlich und warf Hut und Sonnenbrille achtlos auf einen abgewetzten Werktisch. Er war ordentlich aufgeräumt, aber eindeutig häufig in Gebrauch. „Ich bin Bauunternehmer, Ingenieur und Architekt in einem. Wenn ich die Idee für den Umbau eines Gebäudes habe, modelliere ich es gerne erst einmal für mich selbst.“ Er lehnte sich lässig gegen den Werktisch und sah sie abwartend an. „Und jetzt?“, fragte er. „Ich habe meiner Großmutter eigentlich meine Maße durchgegeben. Es ist schließlich nicht der erste Anzug, der für mich maßgeschneidert wird, doch sie beharrte darauf, dass Sie hierherkommen müssen. Ich finde es unpassend, von einer Frau ausgemessen zu werden.“

Claire ging auf die Provokation gar nicht erst ein, sondern stellte ihren Nähkoffer auf einer leeren Werkbank am anderen Ende des Raumes ab, holte ihr Maßband hervor und sah ihn herausfordernd an. „Haben Sie unter dem Hemd noch ein Shirt an? Dann ziehen Sie das Hemd aus. Die Hose muss zu meinem größten Bedauern auch weg, es sei denn, Sie tragen nichts drunter.“

Marco zuckte nicht mit einem Muskel im Gesicht, doch Claire meinte eine ganz leichte Röte zu sehen. Schweigend begann er damit, sein Hemd aufzuknöpfen. Er machte das absichtlich lasziv, da war sich Claire sicher. Wahrscheinlich wollte er sie auf diese Weise erneut provozieren. Sie beschäftigte sich schnell damit, ihren Notizblock hervorzuholen, denn seine sinnlichen Bewegungen verfehlten die beabsichtige Wirkung keineswegs.

„Was qualifiziert Sie eigentlich als Herrenschneider?“, fragte er.

„Ich habe das gelernt“, erwiderte sie knapp. Dass sie seit ihrer Ausbildung keinen einzigen Herrenanzug mehr genäht hatte, musste er ja nicht wissen. Sie hatte sich eigentlich auf Damenkleider spezialisiert.

Als er sich die Schuhe abstreifte und die Hose öffnete, hatte sie Mühe, nicht hinzusehen. „Normalerweise entkleidet man sich nicht vor der Schneiderin“, murmelte sie schlecht gelaunt.

Er schnaubte amüsiert. „Je schneller wir das hinter uns bringen, desto besser“, sagte er und zog sich mit einem Ruck die Hose runter. Boxershorts. Er trug einfache schwarze Boxershorts. Gott sei Dank.

Er legte seine cremefarbene Stoffhose ordentlich über einen Stuhl und lief barfuß in die Mitte des Raumes. Claire folgte ihm und versuchte, nicht allzu genau auf seinen wohlgeformten Hintern und den breiten Rücken zu schauen. Unter dem Hemd spielten die Muskeln. Dieser Mann hatte etwas an sich, das Claire faszinierte. Schon allein die Art, wie er sich bewegte, war verführerisch, gefährlich – und unglaublich anziehend.

Reiß dich zusammen, dachte Claire. Du bist schließlich Profi. Um seinem stechenden Blick zu entgehen, begann sie damit, die Schulterpartie zu vermessen. Er war groß, sicherlich ein Meter neunzig, und extrem durchtrainiert. Die Schultern waren ungewöhnlich breit, genau wie die Oberarme. „Sind Sie Schwimmer?“, fragte Claire unwillkürlich. Das würde zu den muskulösen Schultern, der schlanken Taille und den kräftigen Waden passen.

„Ja.“

Einsilbiger ging es nicht. Claire überlegte, das Gespräch versiegen zu lassen, doch irgendwie schaffte sie es nicht, den Mund zu halten. Die Worte mussten raus, was ungewöhnlich für sie war. „Ihr Großvater war etwas kleiner als sie und deutlich schmaler gebaut – dem Anzug nach zu schließen. Es wird schwierig, den Anzug umzunähen, ohne seine Form zu sehr zu verändern.“

„Das ist dann wohl Ihr Problem und nicht meins.“

Dieses arrogante … Na, warte! Normalerweise warnte sie ihre Kundinnen vor, wenn sie die Taille-Schritt-Taille-Maße nahm, doch in diesem Fall pfiff sie auf den Anstand. Mit Schwung zog sie das Maßband zwischen seinen Beinen durch und arbeitete sich dadurch von hinten nach vorne vor. Er versteifte sich etwas. Als Claire hochsah, trafen sich ihre Blicke, und sie meinte, ein ärgerliches oder amüsiertes Funkeln darin zu sehen. Seine Miene blieb jedoch weiter unergründlich.

„Eine kleine Vorwarnung wäre nett gewesen“, merkte er an.

„Die hatten Sie nicht verdient.“ Dummerweise stieg Claire das Blut in die Wangen. Ihr Herzschlag dröhnte in den Schläfen und die Hände zitterten leicht. Aus irgendeinem Grund versetzte Marco Fortini ihren gesamten Körper in Alarmbereitschaft. Ihr Magen fühlte sich seltsam flau an, und es kribbelte darin, ein Gefühl, das sie noch niemals verspürt hatte. Weil ihr Mund plötzlich trocken war, schluckte sie schwer und konzentrierte sich auf seine Brust. Unter seinem einfachen weißen Hemd zeichneten sich deutlich die Muskeln ab. Ein faszinierender Anblick.

Sie spürte Marcos Atem auf dem Hals, seine Wärme. Er roch nach Sonne und Meer. Kein Parfüm, nur seine eigene männliche Note. Ein Handy klingelte. Offenbar steckte es in seiner Hosentasche. Er warf sich regelrecht herum, überwand die paar Schritte und zog das Telefon hervor. Gleich darauf wirbelten so schnelle italienische Wörter durch den Raum, dass Claire kein bisschen verstand.

Das Gespräch war kurz und wirkte eher unfreundlich. Als Marco auflegte, war seine Miene finster. „Wir müssen abbrechen. Ich habe zu tun. Wenn Sie also mein Atelier verlassen würden …?“

Claire blinzelte irritiert. „Ich bin noch nicht fertig. Geben Sie mir noch fünf Minuten, dann sind wir durch, und ich kann mit der Arbeit beginnen.“

„Ich habe mich deutlich ausgedrückt. Ich habe zu tun, und das ist definitiv wichtiger als ein verstaubter Anzug, der in diesem Jahrhundert nicht mehr modern werden wird.“

„Ich dachte, Sie sind im Urlaub!“

„Das heißt nicht, dass ich hier auf der faulen Haut liege. Mein Urlaub besteht aus weniger Arbeit als normalerweise.“ Er wedelte mit einer Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen, und griff ernsthaft nach seiner Hose, wollte sie wieder anziehen. Claire war mit einem Satz bei ihm und maß entschlossen weiter.

„Signora Daventi, ich muss doch sehr bitten“, protestierte Marco genervt. Claire ignorierte ihn. Sie konnte die Maße natürlich auch abschätzen, aber wie es schien, musste sie hier eine Meisterleistung vollbringen. Sie würde diesem Marco zeigen, was für eine gute Schneiderin sie war. Hierbei ging es nicht nur um die Existenz ihres Ladens, denn sie brauchte diesen Auftrag dringend, sondern auch um ihren Stolz.

Marco zögerte einen kleinen Moment, zog sich dann aber entschlossen die Hose über. Claire ließ ihn, da sie an den Beinen ohnehin fertig war. Als er nach dem Hemd griff, nahm sie blitzschnell Maße für die Arme. Danach trat sie einen Schritt zurück und wartete, bis er sich angezogen hatte.

„Was?“, fragte Marco genervt und sah sie fragend an. Zum ersten Mal hatte sie den Eindruck, ihn zu verunsichern.

„Setzen Sie sich“, sagte sie und deutete auf den Stuhl. „Ein letztes Maß, dann sind wir fertig.“

„Sie sind ja sturer als meine Großmutter.“

„Das nehme ich mal als Kompliment … Und glauben Sie mir: Ich bleibe hier so lange, bis ich diese verflixte letzte Zahl auf meinem Block notiert habe. Also geben Sie auf, oder sollen wir testen, wer hier den längeren Atem hat?“

Marco zögerte, wog seine Chancen ab. Schließlich gab er nach, was sicherlich äußerst selten vorkam, und setzte sich. „Sie sind eine Plage“, murrte er.

„Keine Plage, nur ein Vollprofi. So, damit haben Sie es geschafft. Hat doch gar nicht weh getan, nicht wahr? Dann überlasse ich Ihnen jetzt mal ihrer superwichtigen Arbeit und wende mich meiner zu.“ Hocherhobenen Hauptes schritt sie zu ihrem Nähmaschinenkoffer, wuchtete ihn hoch und verließ das Atelier.

Marcos Blicke brannten ihr im Nacken, daher versuchte Claire, sich möglichst grazil zu bewegen. Als sie endlich seiner Aura entkommen war, ließ sie die Schultern sinken und atmete tief durch. Tränen brannten in ihren Augen, was sie sich selbst nicht erklären konnte. Was war nur mit ihr los? Seit wann stritt sie sich mit fremden Männern? Seit wann gab sie Widerworte? Ihre Mutter hätte sich für sie geschämt. Hatte Ricardos Verschwinden aus ihrem Leben sie so verändert, dass sie nicht mehr sie selbst war? Oder lag es an Marco, der sie irgendwie aus dem Konzept brachte, sie zutiefst aufwühlte?

Sie war sich nicht sicher, ob sie ihr anderes Ich gut oder schlecht fand. Eines wusste sie aber ganz genau: Sie fühlte sich entwurzelt, innerlich zerrissen und allein – und sie musste diesen Anzug perfekt umnähen, ein Meisterwerk schaffen. Sofia war ihre beste Kundin. Sie zu verärgern, konnte sie sich schlicht nicht leisten. Jeder Auftrag zählte, vor allem, wenn sie an ihr Konto dachte. Sie hatte sich mit viel Schweiß den Ruf erarbeitet, absolut zuverlässig zu sein. Diesen Ruf würde sie gewiss nicht für einen sturen Kunden aufs Spiel setzen. Sie würde Marco davon überzeugen, dass sie ihr Geld wert war.

Die Angst nagte jedoch in ihrem Innersten. Was, wenn sie versagte?

3. KAPITEL

Claire hatte die ganze Nacht über dem Anzug gesessen und genäht. Irgendwann waren ihr vor Müdigkeit die Augen zugefallen, und sie war ins Bett gekrochen. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie tief und fest geschlafen, bis die ersten Sonnenstrahlen sie weckten.

Gähnend richtete sie sich auf und sah auf ihr Handy. Ihre Mutter hatte angerufen. Dreimal. Sie konnte sich vorstellen, was für Sprachnachrichten auf sie warteten. Mit einem unguten Gefühl drückte sie auf die Taste, um sich die erste anzuhören.

„Claire“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. „Ruf mich sofort zurück. Ich erwarte, dass du das mit Ricardo wieder geradebiegst. Was denkst du …“

Hastig unterbrach Claire die Aufzeichnung und löschte alle drei Nachrichten, die auf ihrem Handy waren. Nur mit Mühe unterdrückte sie ihre Tränen, und ihre Finger zitterten. Die Worte ihrer Mutter hatten sie bis ins Mark getroffen, zeigten sie doch, wie ihre Familie jetzt über sie dachte.

Sie war Claire, die Versagerin.

Da sie diesen Gedanken nicht ertrug, versuchte sie sich abzulenken, indem sie ihre extravagante Umgebung genauer betrachtete. Tatsächlich war das riesige Bett so gemütlich gewesen, wie es aussah: nicht zu weich, nicht zu hart, einfach perfekt. Theoretisch wäre dieser ganze Ort einfach fantastisch, wenn Marco Fortini nicht wäre.

Marco Fortini. Allein bei seinem Namen zog sich Claires Magen zusammen. Ein seltsames Gefühl, das nicht nur reine Abscheu war. Nein. Marco faszinierte sie, was ihr eigentlich gar nicht gefiel. Der Mann war unmöglich, aber irgendwie …

Verärgert über sich selbst warf Claire die blütenweiße Bettdecke zur Seite und tappte barfuß zum Fenster. Es musste, dem Sonnenstand nach zu urteilen, noch sehr früh sein. Ein paar Vögel sangen schläfrig vor sich hin und in weiter Entfernung röhrte ein Moped über die Straßen. Sonst rührte sich nichts.

Claire stellte sich etwas auf die Zehenspitzen und versuchte, das Meer zu erkennen, doch von ihrem Schlafzimmerfenster aus ging das nicht. Schade. Sie hätte gerne eine Weile den Wellen zugesehen. Das hatte etwas Beruhigendes und gleichzeitig Spektakuläres an sich.

Bevor sie über das Für und Wider nachgedacht hatte, schnappte sie sich ihren Kuschelpullover, zog sich rasch ihre mitgebrachte Jeans und die alten Sandalen an und huschte die steinernen Stufen hinunter. Dabei lauschte sie mit angehaltenem Atem. Bitte, lass mich nicht Marco in die Arme laufen, dachte sie. Eine Diskussion mit ihm konnte sie am frühen Morgen nicht verkraften. Doch sie hatte Glück. Kein Marco, keine Angestellten des Hauses … Das Wohnzimmer mit den dunklen Möbeln lag noch genauso verlassen da wie am Vortag. Im ersten Moment wollte Claire auf die Terrasse hinaus, überlegte es sich dann aber anders. Die Gefahr, Marco dort zu begegnen, erschien ihr zu groß. Am Tag zuvor hatte sie festgestellt, dass von der Autoauffahrt ein kleiner Weg hinunter zum Meer führte. Den wollte sie jetzt nehmen.

Die Haustür lehnte sie lediglich an und hoffte, dass Marco niemals herausfand, dass sie sein teuer möbliertes Haus einfach schutzlos zurückgelassen hatte. Lange wollte sie ja auch gar nicht fortbleiben. Die Luft roch herrlich nach Meer und den kühleren Temperaturen der Nacht. Da sie sich jedoch bereits erwärmte, musste Claire nicht frieren.

Entschlossen hielt sie auf den kleinen Trampelpfad zu, der versteckt zwischen zwei Palmen auf sie wartete. Die Steinchen knirschten unter ihren Sohlen. Wie es schien, hatte Marco den Weg möglichst natürlich gestaltet. Anstatt Holztreppen gab es nur größere und kleinere Steine, die den Fußgänger die steile Klippe nach unten lotsten. Claire machte die kurze Kletterpartie nichts aus. Sie mochte die Natur und das damit verbundene Gefühl von Freiheit. Allerdings musste sie sich sehr auf den Abstieg konzentrieren und konnte daher den Anblick des Meeres nicht genießen.

Wie lange Claire gebraucht hatte, um den Fuß der Klippe zu erreichen, hätte sie hinterher nicht mehr sagen können. Sie war leicht verschwitzt, aber glücklich, als sie sich aufrichtete und direkt auf die schäumenden Wellen blickte. Zum Haus gehörte kein richtiger Sandstrand, vielmehr ein etwa zwei Quadratmeter kleiner Fleck aus Steinen, der geradewegs ins Wasser mündete. Die Gischt spritzte Claire gegen die Füße, was sie aber nicht störte. Sie atmete tief ein und hielt ihr Gesicht der Morgensonne entgegen.

Zum ersten Mal seit Monaten war sie glücklich. Die Probleme mit Ricardo, die Geldsorgen und das seltsame Zusammentreffen mit Marco schienen ihr mit einem Mal sehr weit weg zu sein. Selbst die mahnende Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf war für diesen Moment verstummt.

Da sah sie eine Bewegung auf den Wellen. Stirnrunzelnd sah sie genauer hin, versuchte zu erkennen, was sich dort im Wasser befand. Eine Ente? Eine Boje? Nein. Ein Kopf! Jetzt erkannte sie es ganz eindeutig. Ein Schwimmer pflügte mit geübten Bewegungen durch die Wellen. Seine nassen braunen Haare klebten ihm am Kopf. Zwischendurch verlor Claire ihn immer wieder aus den Augen, verschluckt von den Wellen, untergetaucht ins Wasser.

Wer war denn so verrückt und schwamm so früh am Morgen im Meer? So warm war es auch noch nicht. Claire schauderte allein bei dem Gedanken, hielt aber gleichzeitig erschrocken den Atem an, als ihr Blick auf ein dunkelbraunes Handtuch fiel, das auf einem Stein direkt am Rand der kleinen Plattform lag. Daneben standen ordentlich zwei Sandalen. Männergröße, eindeutig.

Da dieser Weg zum Meer zu Marcos Privathaus gehörte, gab es eigentlich nur einen einzigen Mann, der hier schwimmen gehen konnte. Langsam hob Claire den Blick und suchte das Meer nach dem Schwimmer ab. Sie brauchte eine Weile, bis sie ihn entdeckte. Er war recht weit rausgeschwommen, kam jetzt aber wieder zurück, hielt direkt auf die Plattform zu. Hoffentlich hatte er sie nicht entdeckt!

Automatisch erstarrte Claire und wagte nicht einmal zu atmen. Natürlich war das völlig bescheuert, das wusste sie selbst, aber so früh am Morgen Marco zu stören, war eigentlich das Letzte, was sie beabsichtig hatte. Der Frauenhasser würde garantiert durchdrehen.

Sie wollte sich gerade hastig zum Gehen wenden, da alarmierte sie eine einzige Bewegung. Marcos Kopf war einmal deutlicher zu sehen gewesen – und Sekunden später verschwunden. Verwirrt runzelte Claire die Stirn, suchte das Meer nach ihm ab. Nichts. Nichts. Nichts.

Ihr ungutes Gefühl verstärkte sich. Waren die Wellen nicht höher geworden? Waren die Strudel da vorne bereits von Anfang an da gewesen oder hatten sie sich jetzt erst gebildet? Es war doch Wahnsinn, ganz allein im Meer schwimmen zu gehen, direkt bei den Klippen. Wahnsinn und unverantwortlich!

„Komm schon“, flüsterte Claire nervös. Ihr Herzschlag verdreifachte sich, während sich ihre Muskeln anspannten. Noch immer war Marcos Kopf nicht zu sehen. Nur die Wellen und der tanzende Schaum auf dem Wasser. Irrte sie oder klang das Donnern der Wellen gegen die Klippen mit einem Mal nicht mehr romantisch, sondern bedrohlich?

In ihrem Kopf hörte sie bereits wieder die eisige Stimme ihrer Mutter. Sei nicht albern, würde sie jetzt in dieser Situation verächtlich erklären. Geh nach oben und warte ab, bis Marco wieder ins Haus kommt. Du hättest niemals hierherkommen dürfen.

Nein, das hätte sie wohl nicht. Aber was sollte sie tun, wenn Marco in Schwierigkeiten steckte? Er war schon viel zu lange unter Wasser. Claire hatte keine Ahnung, wie lange ein Schwimmer die Luft anhalten konnte, aber ihr schien es, dass Marco schon sehr, sehr lange abgetaucht war.

Sie reagierte, ohne weiter nachzudenken. Mit den Hacken streifte sie die Sandalen ab, riss sich den Pullover über den Kopf und schlüpfte aus der engen Jeans. Sekunden später war sie halb im Wasser. Wellen tanzten um ihre Oberschenkel, die Kälte jagte eine Gänsehaut über ihren ganzen Körper. Entschlossen biss sie die Zähne zusammen und ging weiter, hielt auf den Punkt zu, an dem sie Marco das letzte Mal gesehen hatte.

„Marco“, schrie sie verzweifelt, doch der Wind trug ihre Stimme ungehört zurück zur Küste. Trotzdem versuchte sie es noch einmal. „Marco!“

Jetzt war sie bis zum Bauch im Wasser. Das weiße Trägerhemdchen, das sie zum Schlafen angehabt hatte, klebte unangenehm auf der Haut, trotzdem ging sie weiter, allerdings erwachte ein warnendes Stimmchen in ihrem Kopf. Sie war keine besonders geübte Schwimmerin. Als Kind hatte sie Schwimmunterricht gehabt, mehr aber auch nicht. Seitdem war sie höchstens mal im Freibad geschwommen. Aufgeben kam aber trotzdem nicht infrage. Ein letzter Versuch. „Marco“, rief sie so laut sie konnte.

Sekunden später warf sie sich mit dem ganzen Körper ins Wasser, tauchte unter und kam keuchend wieder hoch. Die Wellen spielten heftiger mit ihr als erwartet. Das Meer war an dieser Stelle aufgewühlt und unberechenbar. Für einen winzigen Moment überlegte sie, wieder umzukehren, doch die Entschlossenheit trieb sie voran. Sie konnte Marco doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Also schwamm sie los, fort von der Küste, den Blick auf die tanzenden Wellen gerichtet. Die Angst ließ sie die Kälte vergessen, während ihr Körper in höchster Alarmbereitschaft war. Mit den Augen suchte sie weiter die Umgebung ab und übersah dadurch eine besonders hohe Welle, die sie mit unvermittelter Wucht überrollte und tief unter die Wasseroberfläche drückte.

Marco tauchte wieder auf und schnappte nach Luft. Sein Herz schlug schnell, aber gleichmäßig, während er sich Wasser tretend einen Moment gönnte, um neue Kraft zu schöpfen. Sein Tauchgang war gut gewesen. So langsam kam er an seine alten Zeiten ran. Früher hatte er ohne Probleme drei Minuten die Luft anhalten und sich dabei bewegen können. Heute war er mit Ach und Krach auf etwa zweieinhalb Minuten gekommen, was er bei diesem Wellengang schon ganz gut fand.

Mit der rechten Hand wischte er sich Wassertropfen aus dem Gesicht und wandte sich Richtung Küste. Zeit, das Schwimmtraining zu beenden. Bevor er jedoch die erste Kraulbewegung machen konnte, sah er einen Kopf aus dem Wasser ragen. Sekunden später war er wieder verschwunden, verschluckt von den Fluten.

Überrascht verharrte er in der Bewegung, kniff die Augen zusammen. Er schwamm hier immer alleine, denn zu der Bucht gelangte man nur über den Privatweg. Die Klippen zu umschwimmen war nahezu unmöglich. Hatte er sich den Schwimmer nur eingebildet? Eine Weile musterte er die Umgebung. Als er nichts sah, schwamm er weiter, allerdings jetzt deutlich aufmerksamer. Da! Tatsächlich! Ein Kopf tauchte kurz aus den Fluten auf, jemand rief seinen Namen. „Marco!“ Eine weibliche Stimme, in der eindeutig Panik zu hören war.

Einige wertvolle Sekunden reagierte Marco erst einmal nicht, viel zu erstaunt, eine Frau in diesem Bereich zu sehen. Noch dazu eine, die seinen Namen rief. Dann endlich verstand er. Es gab nur eine einzige Frau, die hier sein konnte. Die, die derzeit hier in diesem Haus wohnte. Claire!

Fluchend machte er kraftvolle Armbewegungen, schwamm so schnell er konnte zu der Stelle, an der er Claire das letzte Mal gesehen hatte. Das Wasser konnte hier tückisch sein, die Unterströmungen waren selbst für ihn als geübten Schwimmer nicht zu unterschätzen.

„Claire“, rief er, sah sich immer hektischer um, doch von Claire keine Spur. Kurzerhand tauchte er unter. Das Meerwasser stach in seine Augen, aber das ignorierte er, suchte nach einem Körper, nach rudernden Armen, nach treibenden Haaren. Da!

Er sah einen Schatten, der von ihm fortschwamm. Warum denn Richtung Meer? War sie verrückt geworden? Wollte sie sich etwa umbringen? Er tauchte wieder auf und sah jetzt endlich ihren Kopf, der über den Wellen auftauchte. Sie spuckte gerade eine Menge Wasser aus und rang keuchend nach Luft. Gleich darauf war sie wieder verschwunden.

Wenigstens wusste Marco jetzt, wo er sie finden würde. Mit ein, zwei kräftigen Kraulbewegungen war er bei ihr, tauchte und erwischte einen strampelnden Fuß, packte zu. Die Reaktion, die darauf folgte, hatte er allerdings nicht erwartet. Die junge Frau trat mit dem anderen Bein nach ihm, erwischte ihn am Kinn. Schmerz schoss durch seinen gesamten Kopf. Er ließ sie dennoch nicht los, sondern zog sie mit einem Ruck heran, umschlang ihren Körper und schwamm mit ihr in den Armen an die Wasseroberfläche. Diesmal wehrte sie sich nicht. Er hielt sie fest, während sie heftig hustete und würgte. Ihre Arme hatte Claire instinktiv um seinen Hals geschlungen, während ihre Wasser tretenden Beine immer wieder gegen Marcos Beine traten.

Trotzdem ließ er nicht los, hielt sie eisern über der Wasseroberfläche. Eine Weile waren sie beide damit beschäftigt, nach Atem zu ringen und sich zu beruhigen. Marco spürte Claires heftig schlagendes Herz an der Brust, was ihm nur deutlich machte, wie nah sie sich gerade waren. Sie hingegen starrte ihn an, als sei er eine Erscheinung. Blass wie die Wand, allerdings mit blitzenden Augen. War das Wut?

„Was, zur Hölle, haben Sie sich dabei gedacht?“, herrschte sie ihn an. Tatsache. Die Frau war wütend auf ihn.

„Dasselbe wollte ich Sie gerade fragen“, erwiderte er, doch weiter kam er nicht. Eine weitere Welle drückte die beiden unter Wasser, und wie es schien, war Claire keine besonders gute Schwimmerin. Während Marco sich sofort stabilisieren konnte, kämpfte die junge Frau darum, irgendwie an die Wasseroberfläche zurückzukehren. Marco half ihr schließlich, zog sie abermals eng an sich ran und schob ihren Körper so hoch, dass sie atmen konnte.

Diesmal sah er nackte Angst in ihrem Blick. Wenn er sich nicht irrte, zitterte sie sogar. „Wir sollten erst einmal raus aus dem Wasser“, sagte er hastig, bevor sie ihn wieder anfahren konnte – wofür auch immer. Jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um irgendetwas auszudiskutieren. Die Wellen wurden heftiger. Zeit, hier zu verschwinden.

Claire nickte ergeben. Marco ließ sie los und bewegte sich etwas von ihr fort, damit sie Platz zum Schwimmen hatte. Sekunden später war sie wieder untergegangen. Hastig stabilisierte er sie abermals. So langsam machte er sich Sorgen um ihre Verfassung. „Legen Sie sich einfach mit dem Rücken aufs Wasser“, befahl er ihr und drehte sie so, wie er sie haben wollte. Einen Arm legte er ihr diagonal über die Brust und schwamm mit langen Bewegungen rückwärts Richtung Küste. Claire schluckte auf diese Weise zwar immer mal wieder etwas Wasser, ging aber wenigstens nicht mehr unter.

Marco hatte den Rettungsgriff schon lange nicht mehr angewandt und war sich nicht ganz sicher, ob er ihn richtig machte, aber letztlich zählte nur das Ergebnis. Die Küste kam immer näher, schließlich berührten seine Beine das erste Mal wieder den Boden. Ein letzter Beinschlag, dann hatte er endlich wieder festen Grund unter den Füßen. Müde zog er Claire zu sich, die jetzt selbstständig auf allen vieren aus dem Meer krabbelte. Dabei spuckte sie eine ganze Menge Wasser aus und keuchte, als sei sie halb ertrunken.

Auch Marco war erschöpft. Er hatte heute Morgen ziemlich lange trainiert, um den Kopf frei zu bekommen. Claires Ankunft hatte ihn mehr aufgewühlt, als er erwartet hatte. Eine Frau um sich zu haben, hatte alte Sehnsüchte geweckt. Das Bedürfnis nach Nähe, nach gemeinsamen Momenten. Nach warmer Haut, die sich an seine schmiegte. Nach dem berauschenden Duft einer Frau und dem Moment, morgens gemeinsam aufzuwachen und zu wissen, dass der Tag gemeinsam gestaltet wird.

Er gab es nicht gerne zu, aber er vermisste diese Dinge. Zwar redete er sich immer wieder ein, dass es den Preis nicht wert sein würde, aber mit jedem Monat wurde es schwieriger. Deswegen rief er sich auch immer wieder den Grund für seinen Schwur ins Gedächtnis. Er wollte nicht so werden wie sein Vater und damit seine Familie ins Unglück reißen. Der Schwur wog schwerer als die Sehnsucht. Schwerer als das Verlangen. Das hieß aber nicht, dass Marco sich nicht ab und zu wünschte, sich fallen zu lassen, sich auf eine Frau einzulassen, sich einfach zu verlieben.

Stopp, ermahnte er sich. Dass er so dachte, war nur Claires Schuld. Sie hatte Dinge in ihm zum Vorschein gebracht, die er gut verborgen in seinem Innern besser aufgehoben wusste. Wenn er auch nur ein kleines bisschen wie sein Vater war, dann konnte ihn jede Frau um den Verstand bringen – und das war etwas, das Marco nicht bereit war, zu riskieren.

Wie es schien, war sein Gefühlsleben allerdings nicht das Einzige, das durch eine Frau in Gefahr geriet. Ein harmloses Schwimmtraining war auf einmal zu einem Kampf auf Leben und Tod geworden. Nie im Leben hätte er sich träumen lassen, heute Morgen eine Ertrinkende aus dem Wasser zu retten.

Noch halb im Wasser sitzend, ließ er sich rücklings auf die Steine sinken. Seinen Herzschlag spürte er deutlich bis in die Schläfen, ein klares Zeichen, dass er sich überanstrengt hatte. Zwei Atemzüge gönnte er sich, um einfach nur in den hellblauen Himmel hinaufzublicken, dann rollte er sich auf den Bauch und näherte sich Claire, die einfach der Länge nach auf dem Rücken lag und zitterte.

Er setzte sich neben sie und stellte fest, dass er keine Ahnung hatte, was er jetzt tun sollte. Kurzerhand angelte er sich sein Handtuch vom Stein und legte es über ihren klatschnassen Körper. Ihr weißes Shirt klebte an ihrer Haut und war vollkommen durchsichtig geworden. Außer einer einfachen schwarzen Unterhose trug sie auch sonst nichts. Er sah hastig weg, versuchte die nackten Beine zu ignorieren, doch das war schwierig. Viel wichtiger war jedoch die Frage: Warum war sie ohne Schwimmsachen ins Wasser gegangen?

„Sind Sie in Ordnung?“, fragte er leise und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen, woraufhin er die Hand schnell zurückzog, als habe er sich verbrannt.

Endlich öffnete sie die Augen und musterte ihn. Sie hatte wirklich den faszinierendsten Blick, den er je gesehen hatte. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, schien sich ihr Magen umzudrehen. Sie wandte sich zur Seite und spuckte mehr Wasser aus, als Marco je für möglich gehalten hätte. Eine Weile sah er ihr hilflos dabei zu, bis er schließlich ihre Haare zurückstrich und seine Hand beruhigend auf ihren Rücken legte, um sie zu stützen. „Sie müssen das Salzwasser loswerden“, erklärte er und half ihr, sich aufzurichten, damit sie besser atmen konnte.

Bestürzt stellte er fest, dass sie weinte. Leise und lautlos, aber sie weinte. Mit Frauen an sich war Marco ja schon überfordert, aber wenn sie auch noch Tränen vergossen, wusste er gar nicht mehr, was er sagen sollte. Nach außen hin spielte er zwar immer den harten Kerl, das hieß aber noch lange nicht, dass er nicht mitfühlend war.

Ihr schienen die Tränen peinlich zu sein, denn sie wandte das Gesicht von ihm ab, richtete sich etwas auf. Trotzdem fühlte Marco durch seine Hand hindurch, wie heftig sie zitterte und wie schnell ihr Herz schlug.

„Es wird alles gut, Claire“, sagte Marco. Es war das erste Mal, dass er sie mit Vornamen ansprach. In dieser Situation fühlte es sich aber erstaunlich richtig an, zumal Claire beim Klang ihres Namens aufzuhorchen schien.

„Sie hätten uns beide fast umgebracht“, erwiderte sie und schniefte reichlich undamenhaft. Marco hätte darüber vielleicht geschmunzelt, wenn sie nicht so seltsame Dinge von sich gegeben hätte.

„Ich hätte uns fast umgebracht?“, fragte er verblüfft. „Sie sind es doch gewesen, die hier um ein Haar ertrunken wäre.“

„Ich habe versucht, Sie zu retten“, widersprach sie. Ihre Stimme klang rau und noch immer tränenerstickt. Langsam tat sie ihm wirklich leid. So viel Wasser, wie sie geschluckt hatte, bewies, wie nahe sie dem Ertrinken tatsächlich gewesen war. Das erklärte wahrscheinlich auch ihre verwirrten Gedankengänge. Obwohl …

Marco runzelte die Stirn und musterte sein Gegenüber jetzt genauer. Sie wirkte keineswegs wie eine Irre. Da sie nach wie vor seinen forschenden Blicken auswich, packte er sie schließlich an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. „Sie sind mir ins Meer hinterhergesprungen, weil sie dachten, ich würde ertrinken?“, fragte er ungläubig.

Sie sah ihm noch immer nicht ins Gesicht, sondern fixierte einen Punkt irgendwo auf dem Wasser, nickte allerdings nach einer Weile ganz, ganz vorsichtig. „Sie sind auf einmal von einer Welle verschluckt worden und nicht wieder aufgetaucht. Ich habe Sie gerufen, aber auch darauf haben Sie nicht reagiert. Was hätte ich denn anderes machen sollen, als Ihnen hinterherzuspringen?“

Marco blinzelte verblüfft, zu sprachlos, um etwas zu antworten. Als sich das Schweigen allzu deutlich in die Länge zog, sah Claire ihn endlich an. Noch immer tropfte ab und zu eine Träne aus ihren Augenwinkeln, aber allmählich kehrte etwas Farbe in ihre bleichen Wangen zurück. „Sie waren nie in Gefahr, oder?“, fragte sie kläglich und verzog das Gesicht.

Marco schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Ich bin ein ziemlich guter Schwimmer und übe derzeit, möglichst lange unter Wasser zu bleiben.“

Sie stöhnte leise, befreite sich aus seinem Griff und legte die Stirn auf die angewinkelten Knie. „Gott ist das peinlich“, brummte sie mehr zu sich selbst als zu ihm, und so seltsam die Situation auch war: Jetzt musste Marco doch lachen.

„Das ist nicht peinlich“, beruhigte er sie. Für einen Moment zögerte er, doch schließlich legte er abermals seine rechte Hand auf ihren Rücken und strich ihr beruhigend darüber. Er musste sie jetzt fühlen, spüren, dass es ihr gut ging. Nicht auszudenken, wenn er sie nicht im letzten Moment gesehen hätte. „Das ist ziemlich heldenhaft von Ihnen gewesen, mir einfach in die Fluten zu folgen. Heldenhaft, allerdings auch … riskant. Sollten Sie sich das nächste Mal als Rettungsschwimmer versuchen, wäre es wohl besser, ein wenig zu trainieren. Sie haben sich in Lebensgefahr gebracht.“

Wieder stöhnte Claire, richtete sich aber wenigstens auf und sah ihn an. „Tut mir leid“, sagte sie.

„Bitte entschuldigen Sie sich nicht. Eigentlich müsste ich mich bei Ihnen entschuldigen. Sie … Sie haben wirklich Ihr Leben riskiert, um mich zu retten?“ Marco war ernsthaft fassungslos.

„Na, ja. Ihre Großmutter ist eine gute Freundin von mir. Ich konnte doch ihren Enkel nicht einfach ertrinken lassen.“ Zum ersten Mal sah er ein leichtes Lächeln um ihre Mundwinkel. Offenbar kehrte ihr Humor zurück.

Marco schüttelte erstaunt den Kopf und zog sie instinktiv etwas enger an sich. Sie saßen dicht nebeneinander. Claire hielt noch immer ihre Knie umschlungen, während Marco seinen Arm über ihren Rücken gelegt hatte, sie stützte. Theoretisch hätte er sie jetzt auch gut loslassen können, doch aus irgendeinem Grund brachte er das nicht über sich.

Ja, es war ein gutes Gefühl, ihre Körperwärme zu spüren, selbst wenn sie tropfnass und seltsam kühl war. Die Sehnsucht, die ihn seit Jahren innerlich zerfraß, kehrte mit so plötzlicher Wucht zurück, dass er kaum atmen konnte. Claire loszulassen, sie wieder von sich zu stoßen, erschien ihm mit einem Mal unmöglich. Also ließ er seinen Arm, wo er war, und hoffte, dass sie sich nicht daran störte.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und starrten auf das Meer hinaus. Claires hektischer Atem beruhigte sich allmählich, die Tränen versiegten. Dank der Sonne, die sie wärmte, hatte sie auch endlich aufgehört zu zittern, und wie es schien, gab ihr Magen jetzt ebenfalls Ruhe.

„Ich liebe das Meer“, sagte Marco leise, um die Stille zu füllen. Normalerweise störte ihn Schweigen nicht besonders, aber hier in dieser Situation fand er es seltsam, nichts zu sagen. Allein mit ihr, dem Meer und diesem Sehnen und Zerren in sich drin. Es war natürlich albern, weiterhin den Arm dort zu lassen, wo er lag, aber … auch er hatte seine schwachen Momente.

Claire sah wie er auf das schäumende Wasser. Über ihnen flogen die Möwen ihre Bahnen, und wenn sie genau lauschten, konnten sie auch den beginnenden Morgenverkehr hören. Die Stadt erwachte.

„Ja“, gab Claire ihm recht. „Das Meer ist wirklich wunderschön, solange man sich nicht in den Unterströmungen verfängt.“ Sie schauderte. „Um ehrlich zu sein, habe ich das letzte Mal im Meer gebadet, da war ich fünf Jahre alt. Ich schätze, als Rettungsschwimmerin bin ich die absolute Fehlbesetzung.“

„Dem kann ich leider nicht widersprechen. Ich hoffe, Sie schneidern besser, als Sie schwimmen.“

Sie versteifte sich augenblicklich und warf ihm einen empörten Blick zu. Erst als sie den Schalk in seinen Augen glitzern sah, entspannte sie sich wieder und knuffte ihn in die Seite. „Da ist es also wieder“, sagte sie resigniert. „Das Ekel von der einsamen Insel. Ich habe Sie für ein paar Sekunden sogar für einen normalen Menschen gehalten.“

Autsch. Das saß, wie er zugeben musste. Zum Glück lächelte sie ganz leicht und milderte dadurch ihre harten Worte ab. Das änderte allerdings nichts am Kern der Aussage. „Ich wundere mich ohnehin, dass Sie versucht haben, mich zu retten. Wenn ich Sie gewesen wäre, hätte ich mich absaufen lassen“, erklärte er mit einem leichten Lächeln.

Claire zog eine Augenbraue hoch. „Hätten Sie? Heißt das etwa, Sie bemerken durchaus, dass Sie sich unmöglich benehmen?“

Marco seufzte tief und nahm jetzt doch den Arm von ihrem Rücken. Irgendwie wurde ihm das Ganze gerade zu viel. Er überlegte für einen kurzen Moment, von ihr fortzurücken, doch letztlich blieb er einfach dicht neben ihr sitzen. Um sich abzulenken, spielte er mit den kleinen Steinchen auf der Plattform, wich ihrem fragenden Blick aus.

Sie hingegen entließ ihn nicht aus der Situation, sondern hakte noch einmal nach. „Sind Sie als Frauenverachter geboren worden, oder hat man Sie zu einem gemacht?“

„Claire …“, setzte er an, unterbrach sich aber, als er in ihre hellbraunen Augen blickte. Sie sah ihn so intensiv an, dass sich sein Magen zusammenzog. Wie gerne hätte er jetzt verächtlich geschnaubt und wäre einfach gegangen. Sicherlich hätte er das bei jeder anderen Frau auch getan, aber nicht bei Claire. Claire, die ihn unter Einsatz ihres Lebens versucht hatte zu retten. Das war beeindruckend und beängstigend zugleich. Sie hatte die Wahrheit verdient, wenn sie es schon unbedingt wissen wollte.

„Mein Vater war ein Frauenheld“, erklärte er unvermittelt und überraschte sich damit selbst. Über seinen Vater hatte er zuletzt gesprochen, da war er zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. Seitdem vermied er das Thema, so gut es ging, selbst wenn es immer wieder durch seine Gedanken spukte.

Da er nicht weitersprach, zog Claire wieder in dieser seltsamen Art und Weise die Augenbraue hoch. Es sah spöttisch und herausfordernd zugleich aus – und irgendwie unfassbar süß. „Und weiter?“, fragte sie und wedelte mit den Armen.

Marco zögerte. Im ersten Moment wollte er tatsächlich antworten, es sich von der Seele reden. Einfach mit jemandem über seine Vergangenheit sprechen, der nicht bereits alles über die Fortini-Familie wusste. Über die Angst vor der Einsamkeit, über Zurückweisungen und Demütigungen, doch letztlich brachte er es nicht über sich.

Mit einem Ruck stand Marco auf und straffte sich. „Mein Vater war ein Frauenheld“, wiederholte er, doch diesmal sagte er es hart und verächtlich. „Alles Weitere hat Sie nicht zu interessieren. Wir sollten jetzt zurückgehen, immerhin haben Sie einen Anzug für mich zu nähen.“

Claire rührte sich nicht, sondern blickte ihn von unten her ungläubig an. Für einen Moment wirkte sie verwirrt, doch dann sah er wieder dieses wütende Funkeln in ihren Augen, das sie so anziehend machte. „Marco Fortini“, sagte sie langsam. „Ich schwöre Ihnen, wenn Sie nicht sofort wieder normal mit mir reden, dann schubse ich Sie zurück ins Meer. Und glauben Sie mir: Diesmal springe ich nicht hinterher, um Sie zu retten. Und jetzt setzen Sie sich gefälligst wieder hin. Ich erwarte eine Erklärung – und zwar augenblicklich!“

4. KAPITEL

Claire wurde einfach nicht schlau aus diesem seltsamen Mann. Für einen winzigen Moment hatte sie geglaubt, er würde sich ihr gegenüber öffnen, sich wie ein normaler Mensch benehmen und ein erwachsenes Gespräch mit ihr führen. Sie hatte ja gar nicht erwartet, dass er ihr sein Herz ausschüttete, aber etwas mehr als die seltsame Erklärung mit seinem Vater wäre doch wohl angebracht gewesen.

Der Gedanke ließ Claire nicht mehr los, und die kalte Wut, die er in ihr verursachte, überraschte sie in ihrer Intensität. Normalerweise war sie eine eher zurückhaltende Frau, doch Marco ließ etwas in ihr überkochen. Das war die einzige Erklärung dafür, dass sie sich drohend vor dem großen Mann aufbaute und sogar mit einem Zeigefinger vor seiner Nase herumfuchtelte.

„Ich habe mich jetzt genug von Ihnen anschnauzen lassen“, erklärte sie mit erstaunlich fester Stimme. „Und ich werde heute Abend auch nicht wieder abreisen, bloß weil sie es so bestimmen. Ihre Großmutter hat mir einen klaren Auftrag erteilt. Ich soll den Anzug vor Ort fertig nähen – und genau das werde ich auch tun, nur lasse ich mich dabei nicht hetzen. Gewöhnen Sie sich besser an meine Anwesenheit.“

Marco Fortini sah sie überrascht an und schien einen Moment sprachlos zu sein, dann begannen seine Augen seltsam zu glitzern. „Ich lasse mir nichts vorschreiben“, sagte er scharf. „Und wer in meinem Haus wie lange bleiben darf, bestimme immer noch ich.“

„Sie sind wirklich unglaublich. Ich rette Ihnen den Hintern – und Sie haben nichts Besseres zu tun, als mich zu beleidigen.“

„Soweit ich das mitbekommen habe, habe ich sie gerettet, was ja wohl …“ Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern fuhr sich mit der rechten Hand über das Gesicht, wirkte mit einem Mal seltsam müde und erschöpft. „Diese ganze Diskussion bringt uns nicht weiter, Claire.“

Claire rührte sich nicht, aber auch sie hatte keine Kraft mehr, weiter zu streiten. Die letzten Tage und Wochen waren anstrengend gewesen. Sehr anstrengend. Den Laden ganz allein zu schmeißen hatte sie körperlich fast überfordert, von der emotionalen Belastung durch Ricardos Verrat ganz zu schweigen. „Ihre Großmutter macht sich große Sorgen um Sie“, bemerkte sie jetzt leise.

Marco legte den Kopf schief und musterte sie überrascht. „Wie kommen Sie denn darauf?“

„Sie glaubt, dass Sie hier vereinsamen, sich vollkommen zurückziehen. Der Tod Ihres Großvaters habe sie hart getroffen.“ Er wich jetzt ihrem Blick aus, was sie als Bestätigung ansah. „Sie müssen sich mir gegenüber wirklich nicht erklären, aber vielleicht sollten Sie mal darüber nachdenken, warum Sie sich wie ein Ekel aufführen und niemanden an sich heranlassen – und was das auf Dauer für Sie bedeutet.“

Jetzt wandte er sich dem Meer zu, blickte hinaus auf die Wellen. Im Profil wirkte er sogar noch attraktiver, was Claire irgendwie ärgerte. Sie sollte nicht darüber nachdenken, was sie an Marco mochte. Sie sollte einfach gehen und ihn hier stehen lassen. Aber aus irgendeinem Grund brachte sie das nicht über sich. Stattdessen hielt sie die frostige Stille aus und sah mit ihm gemeinsam zum Meer. Ein Schnellboot hüpfte in weiter Ferne von Welle zu Welle, zog eine schäumende Spur hinter sich her.

„Darf ich Ihnen einen Rat geben?“, fragte Claire, ohne ihn anzusehen.

„Ich denke nicht, dass ich drum herum kommen werde“, brummte er und wandte ihr jetzt doch den Blick zu, musterte sie von Kopf bis Fuß.

Unwillkürlich zog sie das Handtuch über ihren Schultern fester zusammen. Ihr weißes Trägerhemd war definitiv nicht für einen Schwimmausflug gedacht. Es war so gut wie durchsichtig. Sie atmete tief durch und sprach sich Mut zu, die nächsten Worte auszusprechen. „Ich habe mich in den letzten Jahren vollkommen isolieren lassen und kenne das Gefühl, ganz allein zu sein, nur zu gut“, sagte sie leise. „Glauben Sie mir: Da wieder rauszukommen, wird ein langer Weg. Lassen Sie es gar nicht so weit kommen wie ich.“

Er hatte ja mit allem gerechnet, aber nicht mit so einer Aussage. Sie machte sich Sorgen, dass er vereinsamen könnte? Und was sollte der Blödsinn, dass sie sich vollkommen isoliert fühlte? Im ersten Moment wollte er verächtlich schnauben, stoppte sich aber, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Sie meinte es wirklich ernst.

Sie fühlte sich isoliert.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wie Sie sich isolieren lässt“, sagte er aus einem Impuls heraus.

„Jemand wie ich?“, wiederholte sie ungläubig. „Sie kennen mich doch überhaupt nicht!“

„Und Sie mich nicht. Was erlauben Sie sich also solch ein Urteil?“

Jetzt atmete sie tief ein und aus, schien sich zu sammeln. Er hätte schwören können, dass sie ihn jetzt wieder anbrüllen würde, doch das blieb aus. Stattdessen kniff sie herausfordernd die Augen zusammen. „Vereinsamen geht schneller, als man denkt. Wir machen das jetzt so: Ich beantworte Ihre Frage, Sie dafür meine. Allerdings erst, nachdem ich mir was übergezogen und gefrühstückt habe. Einverstanden?“

Nein, eigentlich nicht. Eigentlich wollte er lieber dieser seltsamen Situation entfliehen, aber seine Neugier war erwacht. Was mochte in Claires Vergangenheit geschehen sein, dass sie jetzt hier mit ihm saß und über Einsamkeit debattierte? Er zögerte noch, rang mit sich, doch letztlich war ihm ohnehin klar, dass er auf verlorenem Posten stand.

Er wollte Claires Geheimnis wissen und, ja, er wollte sie ein klein wenig besser kennenlernen. „In Ordnung“, sagte er widerstrebend. „Allerdings habe ich nichts im Haus, das frühstückstauglich wäre. Ich frühstücke eher selten.“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Sie sind wirklich ein herausragend schlechter Gastgeber“, brummte sie missbilligend. „Dann gehen wir eben frühstücken. Ich lade Sie ein, wenn es unbedingt sein muss – und jetzt gucken Sie nicht so ungläubig. Sie wollen wissen, warum ich isoliert bin, und ich will mehr über Sie erfahren, weil ich meinen Auftrag beenden will. Miteinander zu reden, wird uns also beiden helfen. Sie werden mich nicht los, also springen Sie über Ihren Schatten und kommen Sie mit.“

Er gab seine Abwehrhaltung auf. Was brachte es, sich selbst zu belügen und weiter auf unnahbar zu machen? Er war neugierig und Claire faszinierte ihn, das musste er vor sich selbst zugeben. Einmal mit ihr zu frühstücken, würde ihn schon nicht umbringen. Also nickte er langsam. „Wir reden, aber danach schneidern Sie, was das Zeug hält, und unsere Wege trennen sich wieder.“

Claire zog sich so schnell sie konnte um und fragte sich dabei die ganze Zeit, was sie da geritten hatte. Warum hatte sie Marco auf ein Frühstück eingeladen? Und warum hatte er auch noch Ja gesagt? Sie mochten sich doch überhaupt nicht, davon abgesehen hatte sie eigentlich viel zu viel zu tun, um ihre Zeit mit diesem Mann zu verbringen.

Auf der anderen Seite war er ja schließlich ihr Chef. Wenn er sich freinahm, konnte sie das auch. Während sie sich ein beerenfarbenes Top überzog, grübelte sie darüber nach, ob sie sich ein Frühstück mit ihm überhaupt leisten konnte. Er war eindeutig schwerreich. Was, wenn er sie zu einem Nobelrestaurant führte und schon ein einfaches Brötchen über ihr Budget hinaus ging? Egal. Einen Rückzieher konnte sie jetzt nicht mehr machen.

Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie bereits einen leichten Sonnenbrand hatte. Ihre englische Haut vertrug keine griechische Sonne, zumindest nicht in den Maßen. Mist. Sie cremte sich hastig mit Sonnenmilch ein und schlüpfte parallel dazu in die Sandalen. Zum Glück hatte sie noch daran gedacht, sich einen weißen Rock mitzunehmen, der sogar zu dem schlichten Top passte. Das musste reichen. Sie wollte Marco ja auch gar nicht beeindrucken, obwohl …

Nein. Schluss. Du gehst frühstücken und lernst ihn ein bisschen kennen, und das war es, rief sie sich in Gedanken zur Raison. Seltsamerweise beschleunigte sich ihr Herzschlag bei dem Gedanken. Ein Kribbeln tief in der Magengegend setzte ein, das sich unheimlich und gleichzeitig süß anfühlte. Sie versuchte das Gefühl zu unterdrücken, doch das war hoffnungslos. Wie es schien, stellte Santorin nicht nur ihr Leben auf den Kopf, sondern rief auch Empfindungen in ihr hervor, die sie sonst von sich nicht kannte. Normalerweise war sie rational und wenig an Männern interessiert. Doch Marco … Marco war eine Ausnahme. Vielleicht lag es auch daran, dass ihr die ganzen Dramen langsam über den Kopf wuchsen. Vielleicht wurde sie auch einfach verrückt.

Ein Blick auf ihr Handy verstärkte ihr ungutes Gefühl. Ihre Mutter hatte abermals angerufen und vermutlich eine böse Nachricht auf dem Handy hinterlassen. Sie löschte sie, ohne sie abgehört zu haben. Sich ihrer Familie zu stellen, überforderte gerade ihre Kräfte. Jetzt galt es erst einmal, das Frühstück mit Marco zu überstehen.

Sie schnappte sich ihre Handtasche aus hellem Leder und hastete die Steinstufen hinunter. Ausnahmsweise hatte sie keine Zeit für den atemberaubenden Anblick. Stattdessen waren all ihre Sinne auf den Mann gerichtet, der im Wohnzimmer auf sie wartete.

Claire blieb abrupt auf der Treppe stehen und starrte ihn sprachlos an, was ihn eindeutig verwirrte. Er sah an sich herunter. „Was?“, fragte er. „Ist was mit meiner Kleidung?“

Claire schluckte. Sie konnte ihm ja schlecht sagen, dass er in den kurzen blauen Shorts und dem einfachen weißen Shirt einfach wahnsinnig sexy aussah. Seine bronzene Haut kam jetzt erst richtig zur Geltung, und das Shirt spannte ganz leicht an der Brust und wirkte dadurch umso aufreizender. Nein. Das konnte sie ihm gewiss nicht sagen. Langsam überwand sie die letzten Stufen und kam zu ihm herüber, dachte fieberhaft nach. „Ich hatte nur kurz überlegt, ob ich was vergessen habe“, sagte sie kleinlaut und spürte, wie sie rot wurde. Sie hasste es, wenn ihr Körper deutlicher ausdrückte, was sie fühlte, als ihre Worte.

Zum Glück ließ Marco ihre fadenscheinige Ausrede gelten und ging voran. „Ich habe mir überlegt, dass wir in einer Bar direkt an den Klippen frühstücken sollten. Das ist zwar ziemlich touristisch und überlaufen, dafür bekommt man aber einen guten Eindruck vom Leben auf der Insel. Und bevor Sie gleich vor dem Kellner anfangen zu diskutieren: Das Frühstück geht auf mich. Meine Lebensretterin muss zu Kräften kommen, damit sie mich das nächste Mal auch wirklich retten kann.“ Er grinste frech.

Claire war kurz davor, ihm die Zunge rauszustrecken, hielt sich aber im letzten Moment zurück. Insgeheim war sie über sein Angebot, das Frühstück zu bezahlen, ziemlich erleichtert, vor allem angesichts ihrer katastrophalen finanziellen Lage. Wenigstens für den Moment konnte sie aufatmen, also sah sie sich um. Marcos Anwesen lag tatsächlich etwas zurückgesetzt, fern ab vom Trubel. Nach links ging es hinunter zum schäumenden Meer und zu der kleinen Schwimmplattform. Nach rechts führte ein schmaler Pfad hinauf zum Rand der Klippe, geradewegs in das Herz der Stadt.

„Da müssen wir hoch?“, fragte Claire entgeistert.

„Keine Sorge. Das ist leichter zu laufen, als man denkt.“ Marco war ein paar Schritte vorausgegangen und blieb nun stehen, um sie heranzuwinken. „Kommen Sie schon“, rief er ungeduldig.

Claire beeilte sich, ihn einzuholen. Gemeinsam kletterten sie los, dem Getöse der Stadt entgegen. Es war ein steiler und staubiger, wenn auch interessanter Aufstieg. Je höher sie kamen, desto besser konnte sie die Stadt sehen – die vielen Häuser, die Touristen, die Mühlen und Kirchen. Kurze Zeit später waren sie oben angekommen, mitten in einer anderen Welt. Von dem kleinen Pfad zweigten jetzt viele andere, gepflasterte Gässchen ab, die sich zwischen den runden, oft höhlenartigen Häusern durchwanden. Weiß, Sandfarben und Blau waren hier die vorherrschenden Farben. Selbst die Fußwege waren freundlich und hell.

Staunend sah sich Claire um. Vereinzelt entdeckte sie alte Mühlen zwischen den Häusern und Kirchen. Wie es schien, führte die Hauptgasse direkt oberhalb des Kraterrandes entlang. Und egal, wo sie gerade stand, das Meer schien stets zum Greifen nahe.

Marco stand dicht neben ihr und gab ihr Zeit, den Anblick in sich aufzunehmen. „Die besten Cafés gibt es unterhalb der Hauptgasse direkt am Kraterrand.“ Sein Arm zuckte kurz in Claires Richtung, als wolle er ihre Hand ergreifen. Im letzten Moment stoppte er sich und ging stattdessen voraus.

Claire folgte ihm, vorbei an farbenfroh dekorierten Boutiquen, Bars und Restaurants, durch schmale Gassen in ein etwas versteckt gelegenes Café. Sandfarbene Schirme schützten vor der Sonne, verdeckten aber keineswegs den Blick auf das Meer und die Nachbarinsel Thirasia.

Marco organisierte ihnen einen kleinen Tisch direkt am Rand der Klippe und zog ihr zuvorkommend den Stuhl zurück, damit sie sich setzen konnte. Für einen Moment schien er komplett vergessen zu haben, dass er ihr am Abend zuvor noch nicht einmal das Gepäck getragen hatte. Jetzt rückte er für sie Stühle zurecht. Claire hütete sich jedoch, ihn darauf aufmerksam zu machen. Gerade wirkte er nämlich zum ersten Mal entspannt. Auch die unterschwellige Aggression war verschwunden. Wie es schien, wollte er ihr tatsächlich eine Chance geben.

Claire fühlte sich plötzlich gehemmt. Der Laden wirkte so elegant und Marco so natürlich, während sie sich wie ein Fremdkörper vorkam. Die anderen Gäste trugen bereits so früh am Morgen schicke Kleider und Seidenhemden, was sie noch zusätzlich einschüchterte. Das Einzige, das sie beruhigte, war Marcos gelassene Ausstrahlung.

Marco reichte ihr die Karte und beobachtete sie, während sie sich dahinter zu verstecken versuchte. „Gerade eben haben Sie mir eine Standpauke gehalten und mit einem Mal haben Sie Hemmungen?“, fragte er amüsiert.

Mist. Wie immer hatte man ihr die Gedanken nur zu gut im Gesicht ablesen können. Langsam ließ sie die Karte sinken, sodass sie ihn ansehen konnte. „Es ist ungewohnt für mich, in schicken Restaurants zu frühstücken. Normalerweise esse ich ein Müsli, und zwar im Stehen in meinem kleinen Schneiderladen.“

Marco lachte leise und zwinkerte ihr zu. „Wehe, Sie bestellen sich Müsli.“

„Keine Sorge“, versicherte Claire. Sie entschied sich für Croissants mit Marmelade, Butter und Honig und genoss dann den Blick aufs Meer, während Marco bestellte. Schon bald bemerkte sie allerdings, dass er sie beobachtete, und wandte sich ihm wieder zu.

„Mein Mann war ein sehr dominanter Mensch, der mich kontrollierte und wenn möglich ganz für sich allein haben wollte. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er mich isoliert hat – bis ich völlig alleine dastand“, eröffnete sie das Gespräch, noch bevor er fragen konnte.

Marco richtete sich automatisch etwas auf. Mit dieser Offenheit hatte er eindeutig nicht gerechnet. „Und wo ist Ihr Mann jetzt?“, fragte er, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte.

„Vermutlich in irgendwelchen Betten seiner vielen italienischen Geliebten. Er hat nichts anbrennen lassen, kaum dass wir nach Venedig gekommen sind.“ Sie war erstaunt, wie leicht ihr das über die Lippen kam. Die Geschichte ihrer gescheiterten Ehe einem völlig Fremden zu erzählen, war seltsam, aber auch befreiend.

„Deswegen haben Sie ihn verlassen?“, hakte Marco nach.

„Nein. Ich weiß gar nicht, ob ich ihn hätte verlassen können, ob ich die Kraft dazu gehabt hätte. Er hat mich verlassen – und das war wahrscheinlich das einzig Nette, was er jemals für mich getan hat. Wenn er nicht gegangen wäre … Vielleicht wäre ich immer noch bei ihm.“

Marco wirkte entsetzt, kam aber zu keiner Antwort, da der Kellner eine Karaffe mit kühlem Wasser und Gläser brachte. Den dampfenden Kaffee stellte er direkt vor Claires Hand ab, doch sie rührte sich so lange nicht, bis er wieder verschwunden war. Erst dann atmete sie zischend ein und schüttelte den Kopf.

„Ich will gar nicht jammern. Ich wollte Ihnen nur erzählen, wie schnell ich mich selbst isoliert habe. Es fing erst ganz harmlos an. Wenn ich mich mit meinen Freunden verabredet hatte, kam er mit, wollte aber früher wieder los. Richtig warm ist er mit meiner Clique nie geworden, das haben die natürlich ebenfalls gespürt. Ricardo störte mit seiner negativen Aura. Anfangs haben meine Freunde mich trotzdem noch eingeladen – in der Hoffnung, dass Ricardo vielleicht nicht mitkommen würde. Dann wurden die Einladungen immer seltener. Sie vergaßen, mir Bescheid zu geben, weil sie keine Lust darauf hatten, sich den Abend ruinieren zu lassen.“

Es war das erste Mal, dass sie es laut aussprach. Seltsam, dass sie gerade Marco dies alles erzählte. Aber in dieser Sekunde fühlte es sich richtig an. Er kannte sie nicht, und sie würden sich nach diesem Auftrag vermutlich niemals wiedersehen. Wenn er sie verachtete, dann war das eben so, aber das konnte ihr schließlich egal sein.

Claire wollte mit ihrem alten Leben abschließen, das wurde ihr gerade unmissverständlich klar. Doch dazu musste sie all die Probleme erst einmal aussprechen. Also holte sie tief Luft. „Ich hatte schon bemerkt, wie ich mich veränderte. Ich habe mich viel zu oft überreden lassen, viel zu oft Verabredungen platzen lassen – und ehe ich mich versah, rief mich niemand mehr an, und ich hatte niemanden mehr, den ich anrufen konnte.“

„Dann haben Ihre Freunde Sie aber auch im Stich gelassen. Gute Freunde halten auch dann an Freundschaften fest, wenn es mal schwierig wird.“

„Es war über fünf lange Jahre ziemlich schwierig. Ricardo und ich haben früh geheiratet. Es war abzusehen, dass unsere Beziehung keine kurze Affäre war. Nach sieben quälenden Jahren hätte wohl jeder Freundeskreis irgendwann aufgegeben.“

„Sie erzählen das so ruhig, als würde es Ihnen gar nichts ausmachen.“

„Doch … doch, das macht mir etwas aus, ich verstecke es nur gut hinter scheinbarer Gleichgültigkeit. Ich würde mir wegen meiner Dummheit gerne in den Hintern treten, aber das hilft jetzt auch nicht mehr weiter.“

Marco schwieg eine Weile, musterte sie sehr intensiv. Er sah ernst, aber keineswegs unfreundlich aus. Eher interessiert. Zugewandt. Wenn ihr jemand gestern gesagt hätte, dass sie heute mit einem freundlichen Marco Fortini frühstücken würde, hätte sie ihn für verrückt erklärt. „Ich weiß gerade nicht, was ich dazu sagen soll“, sagte er schließlich. „Ich bin eine absolute Niete, was Ratschläge angeht, daher halte ich mich da gerne zurück. Von Beziehungsratschlägen ganz zu schweigen. Davon habe ich überhaupt keine Ahnung.“

„Glauben Sie mir: Ich habe Ihnen das auch gar nicht erzählt, um mir von Ihnen einen Ratschlag zu holen“, erwiderte sie leicht amüsiert und nahm endlich einen Schluck von ihrem Kaffee. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass Sie den Inselschrat rauslassen und mir vor Augen führen, wie unfassbar dumm ich mich verhalten habe – damit ich so etwas niemals wieder mache. Also legen Sie los und machen Sie sich lustig über mich.“

In seinen Augen blitzte es wütend und er presste die Kiefer fest zusammen, ballte die Fäuste. Sie hielt seinem Blick stand und wappnete sich, aber er schwieg eine ganze Weile, ehe er nickte. „Halten Sie mich wirklich für solch einen grässlichen Menschen?“

„Sie haben mir zumindest bislang keinen Grund geliefert, besser über Sie zu denken.“

Wieder nickte er. Diesmal wirkte es steif und irgendwie resigniert. „Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich muss wirklich manisch auf Sie gewirkt haben, doch lassen Sie mich eins klarstellen: Eigentlich bin ich kein schlechter Mensch. Sonst hätten Sie mir solch ein Geheimnis auch gar nicht erst anvertraut.“ Sein Blick wurde irgendwie weich, genau wie seine Gesichtszüge. Bevor er jedoch weitersprechen konnte, brachte der Kellner das Frühstück.

Claire war ganz froh über die Unterbrechung. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, Marco von ihrer verkorksten Ehe zu erzählen. Das war zu privat, zu schmerzlich. Doch gerade weil sie Marco kaum kannte, hatte sie es endlich aussprechen können. Sie würde sich scheiden lassen und sich für immer von Ricardo verabschieden. Sie verdrängte den Gedanken an ihre Mutter, die eine Scheidung um jeden Preis verhindern wollen würde.

„So. Jetzt habe ich Ihnen mein Geheimnis erzählt“, sagte Claire, um sich abzulenken. „Nun will ich Ihres hören. Was hat Ihr Vater damit zu tun, dass Sie sich auf einer Insel verkriechen und Frauen hassen?“

„Ich hasse Frauen nicht“, stellte Marco klar. „Ich will nur nichts mit Ihnen zu tun haben.“

„Was ich ganz schön albern finde.“

„Hey! Ich habe Sie auch nicht verurteilt, als Sie mir erzählt haben, dass Sie nur von Ihrem miesen Ehemann losgekommen sind, weil der schließlich Sie verlassen hat“, erwiderte Marco ruppig und wollte wohl noch mehr hinzufügen, als ihm klar wurde, was er da gerade sagte. Er seufzte tief. „Vielleicht haben Sie recht, Claire. Vielleicht bin ich tatsächlich zu einem unhöflichen Inselschrat mutiert. Tut mir leid.“

Claire winkte ab, obwohl sie seine Worte durchaus getroffen hatten. Aber sie hatte es ja provoziert. „Lassen Sie das ruhig so stehen. Es ist wahr, aber Sie lenken vom Thema ab. Also?“

Marco atmete tief ein und aus. „Es ist kompliziert“, wich er aus.

„Das ganze Leben ist kompliziert, glauben Sie mir. Ricardo ist gewiss nicht das Einzige, das mir große Sorgen bereitet, aber immer ein Problem nach dem nächsten. Jetzt lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen!“

„Ich bin eigentlich nicht der Typ, der sein Gefühlsleben vor Fremden ausbreitet.“

„Fein.“ Claire ließ augenblicklich ihr Croissant auf den Teller fallen und reichte ihm zwischen den Gläsern hindurch die Hand, sah ihn intensiv an. „Ich bin übrigens Claire. Du darfst gerne du zu mir sagen.“ Innerlich zog sich alles in ihr zusammen. War sie jetzt vollkommen verrückt geworden? So auf Angriff zu gehen? Doch Marco hatte sie gerade dermaßen gereizt, dass sie gar nicht anders handeln konnte.

Marco starrte die Hand an. Für einen Moment befürchtete sie, zu weit gegangen zu sein, aber dann legte er doch noch seine in ihre Hand. Sie war warm und groß, kräftig. Eine Männerhand. Nicht weich, aber auch nicht schwielig. Seine Finger umschlossen fast vollständig ihre Hand. Die Haut prickelte, ein elektrisierender Moment.

„Ich bin Marco“, sagte er und klang dabei, als müsse er sich ziemlich überwinden, höflich zu bleiben. „Ich bin gerade nicht sicher, was ich von dieser Situation halten soll, aber ich lasse mich mal darauf ein.“

Wenn sie sich nicht irrte, schluckte er. Ein eindeutiges Zeichen, dass ihn diese Situation nicht kalt ließ. Auch Claire war sich nicht sicher, was sie da gerade tat, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. „Also? Dein Vater war ein Frauenheld …“, gab sie ihm das Stichwort vor.

„Mein Vater war ein Frauenheld“, ließ Marco sich schließlich überzeugen. Er zog seine Hand zurück, was Claire sehr bedauerlich fand, und sah auf das Meer, vermutlich, um ihrem Blick auszuweichen. „Die Fortinis sind reich. Unsere Familie ist in ganz Italien bekannt, wir gehören zur sogenannten High Society. Was aber niemand weiß: Mein Vater hätte fast das Familienerbe ruiniert. Ich konnte das Ruder noch rumreißen, aber das war im allerletzten Moment.“

„Es geht also ums Geld?“, fragte Claire erstaunt und etwas enttäuscht. Irgendwie hatte sie eine tiefgründigere Geschichte erwartet. Der Blick, den Marco ihr zuwarf, war jedoch eindeutig. Es ging nicht nur ums Geld. In diesem Fall nicht.

„Ich war fünf Jahre alt, als mein Vater das erste Mal eine Geliebte mit nach Hause brachte. Meine Mutter war natürlich entsetzt. Sie verlangte, dass diese Frau augenblicklich ihr Haus verlassen müsse. Mein Vater entgegnete, das sei sein Haus und er könne machen, was er wolle. Statt seiner Geliebten ging also meine Mutter. Sie kehrte niemals wieder zurück.“

„Was?“ Jetzt war Claire sprachlos und wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie jetzt aber nicht auf Marcos Mutter schimpfen durfte. Dass eine Mutter ihren Sohn verließ, stand hier gerade nicht zur Debatte, das spürte sie. Marco wollte von seinem Vater erzählen. Also wartete sie, bis er von sich aus weiterredete.

„Diese Geliebte von meinem Vater war die erste in einer langen Reihe. Immer war es die große Liebe, immer war es das Gleiche. Mein Vater traf eine Frau, verliebte sich, verschwand für Wochen, wenn nicht sogar für Monate, und kehrte dann reumütig zurück. In den langen Phasen, in denen er verschwunden war, blieb ich bei meinen Großeltern und fragte mich, warum mein Vater die Frauen mehr liebte als mich.“

Wahrscheinlich bemerkte er es nicht einmal, aber er knüllte automatisch die weiße Serviette zwischen den Fingern zusammen. Sein Blick war in sich gekehrt, während er erzählte. Um ihn nicht zu stören, blieb sie still.

Autor

Barbara Wallace

Babara Wallace entdeckte ihre Liebe zum Schreiben, als eines Tages ihre beste Freundin Kim ihr einen Roman lieh, der von Katzen handelte. Einmal gelesen und sie war gefesselt. Sie ging nach Hause und schrieb ihre eigene Geschichte. Sinnlos zu erwähnen, dass es der Roman „Ginger the Cat“ (ihre eigene Katze)...

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