Romana Extra Band 68

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DOPPELTES SPIEL AUF CAPRI von BELL, CATHY
Die Hochzeit des Jahres auf Capri! Lynn begleitet den attraktiven Unternehmer Nathan Shannon zu diesem Großereignis. Sie soll seine Verlobte mimen. Doch bei dem falschen Spiel entwickelt Lynn plötzlich echte Gefühle, als Nathan sie zärtlich küsst. Kann sie ihm trauen?

IN DEN ARMEN DES RIVALEN von ROBERTS, ALISON
Es ist Liebe auf den ersten Blick für Zanna, als Dominic Brabant den Esoterikladen ihrer Tante betritt. Bis sie von seinem ungeheuerlichen Plan erfährt: Ihr Traummann ist Bauunternehmer und will das alte, gemütliche Haus mit dem Laden abreißen lassen …

EINE ZUKUNFT VOLLER LIEBE von STEPHENS, SUSAN
Bei einem Einsatz in Peru begegnen die engagierte Medizinerin Sophie und der attraktive Arzt Xavier sich wieder. Und trotz der Fehde, die seit Jahren zwischen ihren Familien herrscht, entbrennt eine heiße Liebe …

HERZ AUS EIS, KÜSSE AUS FEUER von DARKINS, ELLIE
Leckeres Essen ist gut für die Seele: Deshalb ist Maya Köchin aus Leidenschaft! Sie kann es nicht fassen, als Will Thomas bei einer Verkostung völlig ungerührt bleibt. Maya ist entschlossen, seine Sinne mit Köstlichkeiten zu verwöhnen, bis sein kaltes Herz schmilzt …


  • Erscheinungstag 15.05.2018
  • Bandnummer 68
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744373
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cathy Bell, Alison Roberts, Susan Stephens, Ellie Darkins

ROMANA EXTRA BAND 68

CATHY BELL

Doppeltes Spiel auf Capri

Nathan will nicht allein auf der Promi-Hochzeit auf Capri erscheinen: Er bittet die schöne Lynn, gegen Geld seine Verlobte zu spielen. Doch der romantische Inselzauber ändert alles zwischen ihnen …

ALISON ROBERTS

In den Armen des Rivalen

Als Dominic die zierliche Zanna im Esoterikladen ihrer Tante erblickt, ist er sofort von ihr fasziniert. Aber hat er eine Chance bei ihr, wenn sie erfährt, was er mit der Immobilie vorhat?

SUSAN STEPHENS

Eine Zukunft voller Liebe

Die Sterne über dem Hochland von Peru leuchten hell, als der attraktive Spanier Xavier die aparte Sophie heiß küsst. Beendet die Liebe endlich die erbitterte Fehde zwischen ihren Familien?

ELLIE DARKINS

Herz aus Eis, Küsse aus Feuer

Bis jetzt hat Unternehmer Will Thomas seine Gefühle erfolgreich ignoriert. Bis er einen Kochkurs bei der leidenschaftlichen Maya besucht. Ihre Köstlichkeiten sind brandgefährlich für sein Herz aus Eis …

1. KAPITEL

„Muss ich mir einen neuen Job suchen?“ Michelle sah Lynn aus großen Augen fragend an.

Lynn Brown kannte ihre Mitarbeiterin mittlerweile gut genug, um die Sorge hinter der vorgetäuschten Gelassenheit herauszuhören. „Nein“, sagte sie mit möglichst fester Stimme. „Ich lasse mir etwas einfallen, wie ich das Geld auftreiben kann.“ Dass sie nur noch einen Monat Zeit dafür hatte, ließ sie lieber ungesagt.

Michelle spürte natürlich, dass Lynn ihr etwas verschwieg, und warf ihr einen zweifelnden Blick zu, ehe sie sich einer Kundin zuwandte, die gerade den Laden betrat.

Lynn brauchte einen kurzen Moment, um sich von dem Gespräch zu erholen. Dass Michelle längst bemerkt hatte, wie schlecht es um ihren Laden bestellt war, erschütterte sie. Hatte Michelle etwa ein Gespräch belauscht? Oder merkte man es Lynn so deutlich an, wie sehr sie die Situation belastete?

Sie brauchte drei Atemzüge, bis sie sich wieder auf die Arbeit konzentrieren konnte. Gerade dekorierte sie die Sommerkollektion in den Vitrinen. Eine Aufgabe, die ihr normalerweise Spaß machte, ihr heute aber viel abverlangte. Mit jeder Kette, jedem Ring wurde sie jedoch entschlossener. Ja, sie liebte ihren Job – und sie würde dafür kämpfen. Ihren Mut und Kampfgeist hatte sie schon bewiesen, als sie aus England geflohen war und ihrer Familie den Rücken gekehrt hatte.

Auf Capri hatte sie eigentlich nur durchatmen wollen, doch als sie den kleinen Schmuckladen direkt an der Piazzetta gesehen hatte, wusste sie es sofort: Dieser Laden war ihre Rettung. An der Scheibe hatte ein kleiner Zettel gehangen. „Zu vermieten“. Also hatte sie den Laden kurzerhand übernommen und ihn zu dem gemacht, was er heute war. Ihr eigenes Reich. Ein gut laufendes Geschäft. Und ihr Leben.

Sie würde nicht einfach aufgeben, bloß weil ihre Vermieterin die Ladenmiete erhöht hatte. Wenn es nur ein wenig mehr gewesen wäre, hätte Lynn kein Problem gehabt. Doch die Erhöhung war so riesig, dass sie ihr das Genick zu brechen drohte.

Wenn ihr nicht bald etwas einfiel, war Schluss mit dem schönen Geschäft. Nächsten Monat konnte sie das Geld noch aufbringen, aber dann … dann sah es schlimm aus.

Natürlich hatte sie mit ihrer Vermieterin diskutiert. Viele, viele Male schon. Doch der Vertrag lief diesen Monat aus, und die Mieterhöhung war rechtlich in Ordnung. Lynn hatte sicherheitshalber einen Anwalt eingeschaltet, aber der hatte ihr kaum Hoffnung gemacht.

Der Druck, der schon die ganze Zeit auf ihrem Magen lastete, wurde immer unangenehmer. Auf keinen Fall wollte sie ihrer Mitarbeiterin kündigen. Außerdem wollte sie sich nicht von ihrem Laden trennen oder gar die Insel verlassen. Sie wollte hierbleiben. Und schon gar nicht konnte sie sich vorstellen, als gescheiterte Existenz nach England zurückzukehren.

Beim Gedanken daran begannen ihre Hände zu zittern. Hastig legte sie das letzte Schmuckstück an seinen Platz und schloss die Vitrine. In ihrer derzeitigen Verfassung konnte sie einfach nicht konzentriert arbeiten.

Zu viele Sorgen. Zu viele unlösbare Probleme. Die Mieterhöhung war leider nicht das Einzige, was sie in finanzielle Schwierigkeiten brachte. Ihre Mutter hatte auch schon wieder angerufen und nach Geld gefragt.

Schluss jetzt mit den finsteren Gedanken, dachte sie streng und richtete sich auf. Das Glöckchen an der Ladentür klingelte leise und kündigte Kundschaft an. Ein Mann kam herein, was eher ungewöhnlich war. Lynn hatte das Schmuckgeschäft sehr feminin eingerichtet. Alles war in cremefarbenen, weißen und zartrosa Tönen gehalten, was Männer normalerweise vom Betreten des Ladens abhielt.

Dieser schien auch nicht ganz genau zu wissen, was er überhaupt hier wollte. Er war direkt hinter der Eingangstür stehen geblieben und ließ den Blick suchend über die Vitrinen und filigranen Regale gleiten. Er trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug über einem grauen Hemd. Eine Krawatte fehlte, was ihn lässig, aber gleichzeitig schick aussehen ließ. Durch seine Größe und aufrechte Haltung schien er ihr kleines Geschäft sofort zu dominieren. Lynn schätzte ihn auf über einen Meter neunzig.

Ihre Blicke begegneten sich. Lynn fühlte augenblicklich ein seltsames Kribbeln in ihrem Inneren. Normalerweise war sie niemand, der beim Anblick eines attraktiven Mannes weiche Knie bekam. Doch dieser Mann brachte sie aus dem Konzept.

Er hatte einen intensiven Blick und das sichere Auftreten eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Weil er zusätzlich noch ziemlich gut aussah, schlug ihr Herz schneller. Sein schwarzes Haar trug er vorne etwas länger. Er hatte es sich mit etwas Gel aus dem Gesicht gestrichen, was ihm wirklich gut stand. Mit einem angedeuteten Lächeln nickte er in ihre Richtung und ging auf sie zu.

Seltsamerweise verblasste sein Lächeln immer mehr, je näher er kam, bis es schließlich ganz verschwunden war. Lynn beschloss, das zu ignorieren. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie freundlich.

Der Mann antwortete nicht sofort, sondern starrte sie nur an, blinzelte nicht einmal. Langsam ließ er seinen Blick über ihr Haar, ihr Gesicht und bis zu ihrer Taille gleiten – und wieder zurück. Als er ihr erneut in die Augen blickte, zog Lynn eine Augenbraue hoch. „Alles in Ordnung?“, fragte sie übertrieben freundlich. Die intensive Musterung war ihr höchst unangenehm.

Erst jetzt schien ihm aufzufallen, wie unhöflich er sich gerade verhielt. Er straffte sich, und eine leichte Röte überzog seine gebräunte Haut. Mit einem charmanten Lächeln versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen. „Bitte entschuldigen Sie mein Benehmen. Aber Sie sehen jemandem, den ich kenne, so ähnlich, dass es fast schon unheimlich ist.“

„Wirklich? Wem denn?“

„Meiner Ex-Verlobten.“ Er sagte das in einem so düsteren Tonfall, dass Lynn gar nicht nachfragen musste. Die Beziehung war eindeutig nicht im Guten zu Ende gegangen.

„Oh“, brachte Lynn überrascht hervor. „Das … tut mir leid.“ Kaum hatte sie das gesagt, hätte sie sich selbst ohrfeigen können. Tut mir leid? Was für eine dumme Bemerkung! Bevor sie noch mehr ins Plappern kam, sollte sie lieber zum Geschäftlichen zurückkehren. „Wonach suchen Sie denn?“

„Ich möchte meiner Schwester eine Kette schenken. Zur Hochzeit. Mit einem Anhänger, am besten mit einem kleinen Herzen. Sie wurden mir als Goldschmiedin empfohlen.“ Sein Blick machte jedoch deutlich, dass er sich den Laden anders vorgestellt hatte.

Lynn war diese Reaktion gewohnt. Die meisten Leute erwarteten von einem Schmuckgeschäft in der Nähe der berühmten Piazzetta di Capri ein sehr edles und modernes Design. Sie hatte das Geschäft jedoch ganz nach ihrem persönlichen Geschmack eingerichtet, der eher romantisch verspielt war. Dazu gehörten blau-weiße Terrakottafliesen, eine cremefarbene Couch und rosafarbene Tulpen auf einem kleinen Tischchen in der Mitte. Sie bot klassischen Schmuck für Touristen an, die kleine Erinnerungsstücke aus dem Urlaub mit nach Hause nehmen wollten, hatte aber auch extravagante Stücke für eine elegante Klientel im Angebot.

„Wenn Sie mir bitte folgen würden“, sagte Lynn mit einem Lächeln und führte den Mann in einen Nebenraum. Hier bewahrte sie die edleren Schmuckstücke auf. Er beobachtete sie dabei, wie sie drei kleine Schachteln aus einer Schublade nahm und die Kostbarkeiten auf dem Glastisch ausbreitete.

Das erste Herz war aus Kristall und auf eine sehr verspielte Art verschlungen. Das zweite war winzig klein und in einem dunklen Goldton gehalten. Lynn war sich jedoch sicher, dass er das dritte Herz nehmen würde. Sie hielt es ihm hin.

Es war ein etwa daumengroßes Medaillon in Herzform, das in sich wiederum weitere Herzen trug und mit kleinen Diamanten besetzt war. Es wirkte filigran und war doch voller kleiner Details. Die Steine glitzerten geheimnisvoll.

„Es ist eines meiner Lieblingsstücke“, sagte sie leise und lächelte, als sie das Funkeln in seinen Augen bemerkte. Dieser Ausdruck bedeutete meistens, dass der Kunde genau das gefunden hatte, wonach er suchte.

„Ich nehme es“, erklärte er schon Sekunden später. Dass er nicht nach dem Preis gefragt hatte, sprach für sich. „Es ist perfekt. Haben Sie das gemacht?“

Lynn nickte und spürte, dass sie leicht rot wurde.

„Sie sind wirklich eine Künstlerin“, sagte er jetzt mit einer Stimme, die ihr Herz höherschlagen ließ. Schweigend sah er ihr dabei zu, wie sie das Herz kunstvoll als Geschenk einpackte, und folgte ihr dann zur Kasse. Als sie den Preis nannte, zuckte er nicht mal mit der Wimper. Er reichte ihr lediglich seine Kreditkarte. Dabei ruhte sein Blick noch immer nachdenklich auf ihrem Gesicht.

Lynn versuchte sein merkwürdiges Verhalten zu ignorieren, aber so ganz funktionierte es nicht. Ihr Herz schlug zu schnell, und ihr Atem beschleunigte sich automatisch. Als sie ihm die Rechnung mitsamt dem Geschenk über den Tresen reichte, schien er ihr noch etwas sagen zu wollen.

Er öffnete kurz den Mund, schloss ihn dann aber wieder. „Ich danke Ihnen“, sagte er lediglich und wandte sich ab.

Lynn atmete tief durch und schalt sich selbst eine Närrin. Seit wann gingen ihr beim Anblick eines attraktiven Mannes die Nerven durch? Sie war schließlich keine sechzehn mehr. Doch gleich darauf machte ihr Herz einen erneuten Hüpfer. Der Kunde hatte sich kurz vor der Tür wieder umgedreht und kam zu ihr zurück. Diesmal wirkte er irgendwie entschlossen, fast finster.

„Ich würde Ihnen gerne ein Angebot machen. Ich hoffe, Sie verstehen es nicht falsch.“ Er sah sie aus seinen blauen Augen fragend an, schien auf eine Antwort zu warten.

„Okay“, sagte sie zögernd.

Er deutete auf den separaten Raum. „Können wir uns in Ruhe unterhalten? Allein?“

Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie das wollte. Eigentlich wirkte der Mann vertrauenerweckend, aber sein Verhalten war doch etwas seltsam. Was sollte das für ein Angebot sein? „Geschäftlich oder privat?“, fragte sie misstrauisch.

„Geschäftlich.“

Sie nickte und bedeutete ihm, an ihr vorbeizugehen. Dabei warf sie Michelle einen intensiven Blick zu. Pass auf den Laden auf, bedeutete sie ihr mit einem Nicken in ihre Richtung. Und pass auf mich auf, setzte sie noch mit einer etwas gequälten Grimasse hinzu.

Nathan war kurz davor, einen Rückzieher zu machen. Was tat er hier? Die Idee war ihm spontan eingefallen. Was ihm jedoch im ersten Moment genial vorgekommen war, erschien ihm auf einmal lächerlich.

Der Gedanke verflog, als die Goldschmiedin zu ihm in den Raum kam. Sofort zog sich sein Magen zusammen. Ihr Anblick rief alte Erinnerungen wach. Schöne und schlechte gleichermaßen. Ihr Lächeln verursachte ein Kribbeln an seinem ganzen Körper und ließ ihn gleichzeitig seine Einsamkeit noch heftiger spüren. Die Goldschmiedin wirkte herzlicher, als er es von Maggie in Erinnerung hatte. Und doch war das Lächeln täuschend ähnlich.

„Setzen wir uns“, sagte die Frau freundlich und deutete auf einen kleinen Tisch in der Ecke. Er mochte ihre Art zu sprechen. Melodisch, fast schon ein Singsang. Auch Maggie hatte auf diese Weise geredet. Zumindest am Anfang. Zuletzt war sie immer verschlossener geworden, bis sie kaum noch mit ihm geredet hatte.

„Ich bin Nathan Shannon“, sagte er und streckte ihr die Hand hin. Er beobachtete, wie sie etwa zwei Sekunden brauchte, um seinen Namen zuzuordnen. Zögernd nahm sie seine Hand.

„Shannon? Von Shannon-Waters?“, fragte sie mit großen Augen. Die Familie war auf der gesamten Insel berühmt, immerhin war sie der größte Arbeitgeber der Umgebung. Es war ungewöhnlich, dass sich ein Biotech-Konzern auf einer kleinen Insel niederließ, aber aus irgendwelchen Gründen war Capri schon seit langer Zeit der Firmensitz.

„Mein Vater ist der Firmengründer, ich bin der leitende Geschäftsführer“, erklärte Nathan knapp. Er mochte es nicht, wenn die Menschen vor Ehrfurcht erstarrten, sobald er sich vorstellte. Die Frau erholte sich zum Glück recht schnell und deutete wieder auf den Stuhl.

„Dann bin ich jetzt umso gespannter, was ein Biotechkonzern-Chef von einer einfachen Goldschmiedin will“, sagte sie mit einem charmanten Lächeln. Anders als bei vielen anderen Menschen sah er keinerlei Gier in ihren Augen. Viele Menschen witterten sofort das große Geschäft, sobald er seinen Namen erwähnte. Sie schien da anders zu sein und wirkte lediglich neugierig.

In der Sekunde entschied er sich und setzte alles auf eine Karte. „Sie sehen meiner Ex-Verlobten ähnlich. Sehr ähnlich. Dadurch sind Sie möglicherweise in der Lage, mich aus einer unangenehmen Situation zu retten. Meine Schwester heiratet in zwei Wochen hier auf Capri. Die gesamte Familie kommt zusammen, es wird das Event des Jahrhunderts. Auch meine Verlobte wird erwartet, nur ist sie seit gut einem halben Jahr nicht mehr mit mir liiert. Das habe ich allerdings meiner Familie gegenüber bislang nicht erwähnt.“

Er unterbrach sich, als er die ungläubige Miene der Goldschmiedin sah. Sie hatte eine Augenbraue hochgezogen und wirkte alles andere als begeistert. Eher entsetzt. „Ich möchte, dass Sie meine Verlobte spielen“, brachte er dennoch heraus. „Ich werde Sie dafür natürlich bezahlen. Sehr gut sogar. Sie müssen mir nur zwei Wochen lang Ihre Zeit zur Verfügung stellen.“

Er wartete. Hielt den Atem an. Ihr Gesicht wirkte im ersten Moment seltsam starr, sodass er nicht erkennen konnte, was sie dachte. Dann jedoch verdunkelte sich ihre Miene.

Langsam stand sie auf und deutete zur Tür. „Raus“, sagte sie mit blitzenden Augen.

Nathan gab ihr noch drei Sekunden, um es sich anders zu überlegen. An ihrer Körperhaltung erkannte er jedoch, dass er sie mit seinem Angebot tödlich beleidigt hatte. Sie würde sich nicht darauf einlassen. Niemals.

Ein wenig war er erleichtert. Die Idee war Wahnsinn und hätte vermutlich nur zu noch mehr Chaos geführt. Jetzt hatte er es wenigstens versucht. Bevor er ging, zog er eine Visitenkarte aus seiner Hemdtasche und schrieb bedächtig eine Zahl mit sehr vielen Nullen auf die Rückseite.

„Das ist mein Angebot. Überlegen Sie es sich und rufen Sie mich an. Jederzeit.“ Er schob ihr die Karte zu und sah sie eindringlich an. „Damit wir uns richtig verstehen: Es geht lediglich darum, vor meiner Verwandtschaft meine Verlobte zu spielen. Alles völlig jugendfrei.“

„Raus!“ Diesmal schrie sie ihn an.

Er wusste, wann er sich geschlagen geben musste. Also nickte er ihr zu und ging. Wie es schien, blieb ihm jetzt keine andere Wahl, als seine Familie zu enttäuschen. Schon wieder.

Lynn blieb wie erstarrt zurück und starrte auf die Visitenkarte, die vor ihr auf dem Tisch lag. Vor Wut ballte sie die Hände fest zusammen, rang aber gleichzeitig mit ihrer Neugierde. Sie sollte die Karte direkt wegschmeißen, ohne einen Blick darauf zu verschwenden. Egal wie viel er ihr bot: Sie würde sein unverschämtes Angebot ohnehin nicht annehmen.

Es war entwürdigend! Und dennoch … sie brauchte dringend Geld. Wenn sie nicht bald eine Lösung fand, kämen noch viel entwürdigendere Momente auf sie zu. Sie müsste Michelle kündigen. Den Laden aufgeben. Nach England zurückkehren.

Bevor sie sich bremsen konnte, schnappte sie sich die Karte. Nein! Sieh nicht darauf, sondern wirf sie sofort weg! Sieh nicht drauf!

Doch es war zu spät. Ein Blick, schon stand ihre Welt kopf. Mit dieser Summe könnte sie den Laden für sehr, sehr lange Zeit pachten – trotz der erhöhten Miete. Sie könnte auch ihrer Mutter helfen und sich dann von ihr lösen.

Zwei Wochen … Was waren schon zwei Wochen, wenn dadurch die eigene Existenz gerettet werden konnte? Andererseits würde sie sich und ihre Prinzipien verkaufen, wenn sie sich darauf einließe. Allerdings hatte Nathan Shannon durchaus vertrauenswürdig gewirkt. Wie ein Mann, der sein Wort hielt.

Spontan traf sie eine Entscheidung. Sie lief los, quer durch den Laden zur Eingangstür. „Du musst mal für zwei Stunden übernehmen“, rief sie Michelle zu. Die Antwort hörte sie nicht mehr, denn sie war bereits zur Tür hinaus.

Draußen sprang sie sofort die Hitze des Tages an. Zweiunddreißig Grad. Ein ganz normaler Augusttag auf Capri.

Hastig sah sie nach rechts und links, suchte nach Nathan Shannons großer Gestalt. Zum Glück war er noch nicht über alle Berge, sie entdeckte ihn keine drei Meter entfernt. Zu ihrer Verwunderung schien er sie bereits bemerkt zu haben, denn er hatte sich zu ihr umgedreht und sah sie fragend an.

„Wir sollten miteinander reden“, sagte sie zu ihm. „Wir müssen die Details klären, bevor ich zusage.“

Einen Moment lang wirkte er schockiert. Als hätte er niemals mit ihrer Zusage gerechnet. Oder als wäre ihm sein eigenes Angebot im Nachhinein furchtbar unangenehm. Doch der Moment der Verwirrung verflog. Lächelnd kam er zu ihr zurück und bot ihr seinen Arm an. „Kommen Sie. Ich lade Sie ein.“

Er führte sie geradewegs zu einer der exklusiven Bars an der Piazzetta di Capri. Zu dieser Tageszeit war der Platz von Touristen überlaufen, was Nathan jedoch nicht zu stören schien. Hier, im Schatten der Turmuhr, schlug das Herz der Insel. Die bunten Markisen überspannten den kleinen Platz, ließen ihn einladend wirken. Lynn mied den Platz sonst eher, da er meist überfüllt war. Sie gab jedoch zu, dass er durch die sandfarbenen Gebäude ringsum einen ganz besonderen Charme hatte. Es war ein behaglicher und geschützter Ort.

Nathan suchte ihnen einen Platz am Rande des Getümmels und bestellte auf Italienisch zwei Espressi. Lynn war noch immer so nervös, dass sie dankbar für seine Eigeninitiative war.

„Möchten Sie auch etwas essen?“, fragte er.

Lynn schüttelte den Kopf. Wenn sie ehrlich war, wollte sie am liebsten sofort wieder gehen und Nathan Shannon nie wiedersehen.

„Ihnen gefällt mein Angebot überhaupt nicht“, stellte er schließlich fest. Er musterte sie so intensiv, dass sie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte.

„Ich komme mir schäbig vor, wenn ich das Angebot annehme“, sagte sie schließlich leise. „Schäbig und käuflich. Aber – und das gebe ich wirklich nicht gern zu – ich brauche das Geld.“ Sie sah ihm an der Nasenspitze an, dass er gerne nachgefragt hätte. Doch er schien sich zu zügeln, wofür Lynn ihm dankbar war. Sie wusste nicht, was sie ihm hätte sagen sollen. Dass ihr Laden in Gefahr war, ging niemanden etwas an.

„Falls es Sie tröstet: Ich bin selbst entsetzt darüber, dass ich Sie überhaupt gefragt habe. Es war eine Schnapsidee“, sagte er ernst.

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Heißt das, Sie ziehen Ihr Angebot zurück?“

Einen Moment lang dachte er angestrengt nach, dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Das Angebot steht. Was sind Ihre Bedingungen?“

Der Kellner servierte ihnen den Kaffee. Das gab Lynn Zeit, kurz nachzudenken. Als er fort war, sah sie Nathan streng an. „Wenn ich mich darauf einlasse – und das ist noch nicht klar –, dann gibt es keine körperlichen Annäherungsversuche. Verstanden? Keinen Kuss, keine Komplimente, die ich falsch verstehen könnte, kein Gefühlschaos. Das alles muss rein geschäftlich sein. Professionell.“

Er nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. Wie er so dasaß, wirkte er ganz wie der Geschäftsmann, der gerade die Konditionen für einen großen Deal aushandelte. Er verströmte Macht und pure Dominanz. Lynn war irritiert, weil ihr das gefiel. Normalerweise war sie eher genervt von Männern mit einer derartigen Ausstrahlung. Bei ihm wirkte sie jedoch nicht machohaft, sondern sexy.

„Wir werden in einem Zimmer schlafen müssen. In einem Bett“, stellte er klar. „Sonst weiß meine Familie sofort Bescheid.“

Lynn blinzelte überrascht. Natürlich. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg und sich ihr Puls beschleunigte. Ihr Mund wurde trocken.

Offenbar hatte Nathan ihre heftige Reaktion auf seine Worte bemerkt, denn er schmunzelte amüsiert. „Ich bin ein Gentleman. Dass wir in einem Bett schlafen, muss Sie nicht beunruhigen. Es wird keine unangebrachten Bemerkungen geben, keine unangemessenen Berührungen, kein wildes Geknutsche. Ich müsste allerdings Ihre Erlaubnis haben, in der Öffentlichkeit Ihre Hand halten zu dürfen, Sie mal in den Arm zu nehmen, Sie …“ Er unterbrach sich mit einem tiefen Seufzer, senkte den Kopf und kniff sich mit den Fingern in die Nasenwurzel. „Ich sehe schon. Das wird nichts“, stellte er trocken fest.

Lynn musste über seine verzweifelte Miene lachen. „Nein. Ich glaube, wir lassen es doch lieber“, bestätigte sie. Die Idee war viel zu verrückt, als dass sie sich hätte umsetzen lassen. Natürlich brauchte sie das Geld. Aber nicht um jeden Preis.

In dieser Sekunde lief eine junge Frau freudestrahlend auf sie zu. Sie trug ein gelbes Sommerkleid mit Spaghettiträgern und einen sündhaft teuer aussehenden Hut. Ihre blauen Augen blitzten vor Freude, als sie sich geradewegs an Nathans Hals warf.

„Nathan! Du bist ja schon da“, rief sie aufgeregt. Sie umarmte ihn überschwänglich. Nathan wirkte zunächst völlig überrascht, erwiderte dann aber die herzliche Begrüßung.

Sekunden später hatte sich die junge Frau von ihm abgewandt und musterte Lynn neugierig. „Du musst Maggie sein. Ach, ich freue mich so, dass wir uns endlich kennenlernen. Nathan hat schon so viel von dir erzählt.“

Ehe Lynn sich wehren konnte, lag sie bereits in den Armen der Fremden. Sie roch nach Blumen und Meer – und nach Familie. Ein Stich ging durch Lynns Herz.

Die junge Frau schob Lynn etwas von sich, um sie eingehender zu mustern. Dass sie mit ihrer ausladenden Handtasche fast die Tassen vom Tisch fegte, schien sie nicht einmal zu bemerken. „Du bist wirklich so schön, wie Nathan immer erzählt. Er hat nur vergessen zu erwähnen, was du für tolle Augen hast. Ach, ich bin so glücklich, dass du es doch geschafft hast, zu meiner Hochzeit zu kommen!“ Sie drückte Lynn noch einmal fest an sich und sprang dann zurück, um sich einen Stuhl heranzuziehen.

Diese Frau glich einem Tornado.

„So, Brüderchen. Da bist du also klammheimlich auf die Insel gekommen, ohne uns die genaue Ankunftszeit zu sagen. Ich kann das verstehen. Mum ist völlig konfus, Dad brummt nur noch vor sich hin, und Stella keift jeden an, der ihr über den Weg läuft.“ Sie zwinkerte Nathan verschwörerisch zu, dann sah sie auf und winkte einer anderen Frau am Ende des Platzes zu. „Mum! Hier drüben! Nathan hat Maggie mitgebracht. Komm schnell!“

Nathan warf Lynn einen glühenden Blick zu. Sie sah reine Panik und vollkommene Ratlosigkeit darin. Ihr war klar, dass sie nur noch Sekunden hatte, um alles richtigzustellen. Sekunden, die alles entscheiden würden. Sollte sie Nathan bloßstellen? Oder half sie ihm aus der Klemme?

2. KAPITEL

Nathans Mutter trug wie immer ein himmelblaues Kostüm, das perfekt saß. Auch ihre blonden Locken sahen aus, als wäre sie gerade direkt vom Friseur gekommen. Doch obwohl sie sorgfältig geschminkt war, bemerkte Nathan die Schatten unter ihren Augen und ihre blasse Haut. Seine Mutter hatte sich noch immer nicht von der letzten schweren Herzattacke erholt. Seine Brust wurde enger, als sie herüberkam. Die letzten Monate waren schwer für sie alle gewesen, vor allem, weil er nicht auf Capri gewesen war und so wenig hatte helfen können.

Was würde sie sagen, wenn sie hörte, dass es mit Maggie schon wieder vorbei war? Die Frau, die er nach all den Jahren endlich in sein Leben gelassen hatte? Die Frau, die seine Familienmitglieder bereits ins Herz geschlossen hatten, obwohl sie ihr noch nie begegnet waren?

Seine Mutter erreichte den Tisch. Er stand sofort auf, um sie zu begrüßen, und sie umarmten einander fest. Seine Schwester organisierte währenddessen einen vierten Stuhl.

Lynn saß steif auf ihrem Platz und blickte ihn panisch an. Er sah die Frage in ihren grünen Augen. Was sollte sie tun? Gerne hätte er ihr darauf eine Antwort gegeben, doch auch er wusste nicht weiter. Trotzdem öffnete er den Mund, um alles richtigzustellen, da wandte sich seine Mutter so freudestrahlend an Lynn, dass ihm die Worte im Hals stecken blieben.

„Ich freue mich, endlich die Frau kennenzulernen, die meinen Sohn aus seiner Einsamkeit geholt hat. Das konnte ich wirklich nicht mehr mitansehen. Schrecklich. Nach Noras Tod hat er sich so eingeigelt, dass wir schon dachten, er lässt niemals wieder eine Frau in sein Herz. Ich bin so glücklich!“ Auch sie drückte Lynn an sich.

Die sah Nathan über den Rücken seiner Mutter hinweg hilflos an und formte lautlos die Worte „Tun Sie was!“ Er tat so, als hätte er sie nicht verstanden – und schwieg.

Seine Mutter setzte sich endlich und winkte vergnügt den Kellner heran. Vor Aufregung hatte sie sogar einen Hauch Farbe auf den Wangen. Sie bestellte für sich und ihre Tochter Cappuccino und wandte sich dann wieder Lynn zu.

„Wann bist du angekommen? Ich darf doch ‚du‘ sagen, oder? Nathan hat immer so viel von dir erzählt, da habe ich fast den Eindruck, dich persönlich zu kennen.“

Da war er. Der Moment. Die letzte Sekunde, um noch alles richtigzustellen. Nathans Herz klopfte schmerzhaft. Er wusste, dass es falsch war. Die ganze Situation entglitt seiner Kontrolle, verselbstständigte sich. Doch er sah in die glücklichen Gesichter seiner Familie, spürte ihre Aufregung und die Hoffnung, dass jetzt alles gut werden würde. Er brachte es einfach nicht übers Herz, sie nach all den schrecklichen Dingen, die in der Vergangenheit passiert waren, erneut zu enttäuschen.

Lynn nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie lächelte. Zwar zögerlich, aber es kam von Herzen. „Natürlich können wir uns duzen. Ich bin nur gerade etwas überfordert von eurer stürmischen Art.“

Seine Schwester lachte daraufhin glockenhell auf und knuffte Nathan in die Seite. „Das sagt Nathan auch immer. Entschuldige. Ich bin Emma, aber das hast du sicherlich längst erkannt. Und das ist Elizabeth, Nathans und meine Mutter.“

„Freut mich. Ich bin …“ Sie zögerte nur eine Sekunde, dann straffte sie sich und sah Nathan direkt an. „Ich bin Maggie. Und ich bin schon ganz gespannt, euch endlich alle kennenzulernen.“

Hinterher hätte Lynn nicht mehr sagen können, wie sie diese heikle Situation hinter sich gebracht hatte. Zum Glück übernahmen Emma und Elizabeth das Reden. Lynn brauchte eigentlich nur dabeizusitzen und zuzuhören. Emma erzählte begeistert von ihren Hochzeitsvorbereitungen, während Nathan dazu meistens nur nickte und nicht viel sagte.

Sein Blick ruhte fast die ganze Zeit auf Lynn. Fragend. Fast verzweifelt. Aus einer Schnapsidee war Realität geworden. Ein Zurück gab es nicht mehr.

Nach einer guten Stunde verabschiedeten sich die beiden Frauen. „Bis gleich dann in der Villa“, sagte Elizabeth zu Lynn. „Oh, ich freue mich so, dir alles zeigen zu können. Du wirst begeistert sein!“

Und dann, so schnell wie sie aufgetaucht waren, waren sie fort. Sie nahmen den Frohsinn und die Ausgelassenheit mit sich und hinterließen eine bedrückende Stille, die weder Nathan noch Lynn durchbrechen wollten.

Stattdessen sahen sie einander schweigend an, bis Nathan schließlich tief Luft holte. „Es tut mir sehr leid“, sagte er leise. „Das lief irgendwie anders als geplant.“

Im ersten Moment wollte Lynn ernsthaft darauf antworten, aber dann musste sie lachen. So herzlich, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Es war ein befreiendes Lachen, das tief aus ihrem Herzen kam. „Was war das denn?“, gluckste sie. „Ihre Familie ist ja einnehmender als jeder Sturmtrupp!“

Nathan blieb noch ein paar Sekunden lang ernst, dann musste auch er lachen. „Ja, sie sind ziemlich speziell. Aber es heißt jetzt nicht mehr Ihre Familie, sondern deine.“ Er reichte ihr übertrieben feierlich die Hand. „Ich bin Nathan. Dein Verlobter. Freut mich, dich kennenzulernen.“

Lynn wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln und straffte sich. Sie nahm seine Hand, die warm und angenehm beruhigend war. „Ich bin offenbar jetzt Maggie. Meinen Nachnamen kenne ich allerdings noch nicht.“

„Maggie Bingham. Du kommst aus London. Bitte sag mir, dass du da schon mal gewesen bist.“

Der Stich, der durch ihr Herz ging, war heftiger als erwartet. Allein die Erwähnung ihrer alten Heimat ließ sie innerlich erbeben. Es waren nicht alles nur schlechte Erinnerungen. Nicht ganz. Aber überwiegend.

„London kenne ich sehr gut.“ Sie kniff die Lippen fest zusammen, um das ungute Gefühl zu verdrängen. London. Es würde schwer werden, darüber zu reden, sollte sie jemand darauf ansprechen.

Nathan schien ihr Unbehagen zu bemerken, doch er hakte nicht weiter nach. Stattdessen winkte er den Kellner heran, um zu bezahlen. „Du musst packen“, erklärte er ruhig. „Meine Familie erwartet dich in unserer Villa.“ Er sah sie schweigend an, dann legte er sehr sanft eine große Hand auf ihre. „Danke“, sagte er schlicht.

Lynn schluckte schwer. „Keine Intimitäten“, erinnerte sie ihn. „Und du bezahlst mich dafür.“

Er nickte.

„Dann lass uns gehen. Du musst mir möglichst viel über deine Familie erzählen. Und ich muss meiner Mitarbeiterin irgendwie erklären, dass ich die nächsten Tage nicht im Laden auftauchen werde.“

Michelle platzte zwar vor Neugierde, fragte aber in Nathans Anwesenheit nicht nach den Gründen für die Abwesenheit ihrer Chefin. Lynn trug ihr auf, den Laden zu den gewohnten Zeiten zu öffnen, ihn aber früher zu schließen. Sie konnte es ihr nicht zumuten, eine Überstunde nach der nächsten zu leisten. Was ihr dadurch an Einnahmen entging, würde Nathans Geld ausgleichen. Die dringendsten Aufgaben, die Lynn sonst übernahm, notierte sie für Michelle auf einem Zettel. Alles andere musste warten, bis sie zurück war.

Danach fuhren sie zu ihrem Apartment, damit Lynn ein paar Sachen packen konnte. „Soll ich helfen?“, fragte Nathan, doch Lynn lehnte ab. Ihr war es unangenehm, wenn er ihre heruntergekommene Wohnung zu Gesicht bekam. All ihre Ersparnisse flossen entweder in den Laden oder gingen nach England zu ihrer Mutter. Da blieb kein Geld übrig, um sich auch nur den kleinsten Luxus zu gönnen. Lynn teilte sich die Wohnung mit einer Mitbewohnerin, die sie allerdings so gut wie nie zu Gesicht bekam.

Kaum war sie in ihrem Zimmer, begann sie hastig zu packen. Ihre Garderobe würde kaum gut genug sein, um den eleganten Maßstäben von Nathans Familie gerecht zu werden. Aber egal, das konnte sie jetzt ohnehin nicht ändern. Also faltete sie so schnell wie möglich ihre hübschesten Kleider zusammen und räumte ihren Badezimmerschrank vollkommen leer. Danach schrieb sie ihrer Mitbewohnerin eine kurze Notiz und war nur eine halbe Stunde später wieder draußen.

Nathan wartete auf sie, lässig lehnte er an seinem schwarzen SUV. Touristen durften auf Capri kein Auto fahren. Das galt zum Glück nicht für die Einheimischen. Er nahm ihr den kleinen Koffer ab und zog fragend die Augenbrauen hoch. „So wenig?“, erkundigte er sich freundlich.

Lynn schoss wie immer in solchen Situationen die Röte in die Wangen. „Ich habe nicht viel, was mir passend für deine Familie erschien“, erklärte sie schüchtern.

Er nickte. „Wir werden einkaufen gehen“, sagte er und musterte ihr buntes Kleid. „Wobei mir dein Kleidungsstil gefällt.“ Sein Lächeln war echt und verursachte ein merkwürdiges Kribbeln in ihrem Inneren.

„Keine unpassenden Komplimente“, erinnerte sie ihn. Trotzdem freute sie sich über seine Worte.

Er seufzte. Die Regeln. Offenbar bestand sie tatsächlich auf den Regeln.

Im Wagen war es angenehm kühl. Lynn schloss genießerisch die Augen und atmete tief ein und aus. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, aber es brachte nichts, sich jetzt verrückt zu machen.

Sie öffnete die Augen erst wieder, als Nathan losfuhr. „Ich brauche Hintergrundinformationen. Zumindest die wichtigsten. Wer ist Nora?“

Nathan versuchte seine Miene möglichst neutral zu halten, doch Lynn hatte den Schatten trotzdem gesehen. Den Moment der Trauer, den er rasch zu überspielen versuchte. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Offenbar fiel es ihm nicht leicht, darüber zu sprechen.

„Nora war meine Jugendfreundin. Sie starb bei einem Verkehrsunfall. Zusammen mit dreien meiner besten Freunde.“ Er versuchte es gelassen klingen zu lassen, doch Lynn hörte den Schmerz deutlich heraus.

„Das tut mir sehr leid“, sagte sie leise. Normalerweise hätte sie es auf sich beruhen lassen, um ihn nicht weiter zu quälen. In ihrer Situation konnte sie sich das aber nicht leisten. Sie musste mehr wissen. „Deine Mutter sagte, du hättest dich danach völlig zurückgezogen?“

Jetzt warf er ihr einen kurzen Blick zu. Einen warnenden Blick. „Ja“, sagte er kühl.

Sie war zu weit gegangen. Es passte ihm nicht, dass sie so detailliert nachfragte und in seine Privatsphäre eindrang.

„Ach, komm schon, Nathan. Ich mache das hier auch nicht freiwillig. Deine Familie wird jedoch erwarten, dass ich solche Dinge weiß. Ich bin sonst schneller enttarnt, als ich meinen Namen buchstabieren kann. Meinen richtigen Namen.“

Er presste die Lippen aufeinander und umklammerte das Lenkrad fester. Schließlich nickte er. „Du hast recht. Entschuldige. Nach dem Tod meiner Freunde bin ich … anders geworden, schweigsamer. Mein Vater hat den Moment der Schwäche für seine Zwecke genutzt. Denn so konnte er mich ohne große Gegenwehr in das Familienunternehmen drängen. Doch zu meiner eigenen Überraschung hat mir der Job irgendwann Spaß gemacht. Ich bin ziemlich gut darin. Vater überließ mir schon bald die Verantwortung für den Londoner Firmensitz.“

Er zuckte mit den Schultern, als wäre das nichts Besonderes. „Vor drei Jahren habe ich dann Maggie kennengelernt. In einem Pub. Sie fiel mir sofort auf, weil ihre Augen beim Lachen regelrecht funkelten. So wie bei dir.“ Sein Blick war weich, als er sie ansah. „Das sollte jetzt keine unangemessene Bemerkung sein. Das ist die Wahrheit. Du bist ihr wirklich ziemlich ähnlich. Hast du noch eine Schwester, die in London lebt?“

Lynn lachte leise. Die düstere Atmosphäre, die sich im Inneren des Autos aufgebaut hatte, löste sich ein wenig auf. „Zumindest keine, die Maggie heißt. Meine Schwester heißt Lianne – und sie sieht mir kein bisschen ähnlich. Dunkle Haare, blaue Augen. Verwechslung ausgeschlossen.“

Sie legte den Kopf schief und sah Nathan forschend an. „Du scheinst deine Familie sehr zu lieben. Ihr steht euch offensichtlich sehr nahe. Wie kommt es, dass du ihnen noch nie deine Freundin vorgestellt hast? In drei Jahren hast du das nicht ein Mal geschafft?“

„Maggie war schwierig, was das Thema Familie angeht. Zu ihren Eltern hatte sie kein gutes Verhältnis. Dadurch war sie auch nicht scharf darauf, meine kennenzulernen. Sie hatte jede Menge Ausreden. Also bin ich immer allein gefahren, was bei meiner Familie natürlich nicht gut ankam.“

„Das heißt, sie erwarten eigentlich eine richtige Zicke“, stellte Lynn trocken fest und ließ sich in den Sitz sinken. „Na wunderbar.“

Nathan schmunzelte. „Ja, ich gebe zu: Meine Familie hatte sich zum Schluss schon über meine unsichtbare Freundin lustig gemacht. Sie kannten sie ja nur von Fotos. Emma war sogar der Meinung, ich hätte sie mir ausgedacht, um meine Ruhe zu haben. Aber nein. Sie hat wirklich existiert.“ Jetzt klang er traurig.

„Warum habt ihr euch denn überhaupt getrennt?“

Für einen Moment schien Nathan es ihr verraten zu wollen, doch dann schüttelte er den Kopf. „Wir haben uns ja gar nicht getrennt, nicht wahr? Meine Verlobte sitzt schließlich neben mir“, sagte er möglichst locker. „Sie ist übrigens Bankerin. Aber keine Sorge, Dad hasst Banker und redet ohnehin nicht viel. Er wird dich niemals darüber ausfragen. Und meine Mutter und meine Schwester … du hast sie ja erlebt. Sie reden lieber selbst, als andere etwas zu fragen. Das wird schon alles gut gehen.“ Er nickte ihr aufmunternd zu, doch Lynn sah die Sorge in seinem Gesicht.

Als sie sich der Villa näherten, kam Lynn aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das Haus lag abseits des pittoresken Hauptortes Capri. Eine einsame Straße wand sich in Serpentinen hin zu einem eindrucksvollen gusseisernen Tor. Wie von Geisterhand schwang es auf, sodass Nathan einfach hindurchfahren konnte.

Auf dem akkurat geschnittenen Rasen standen hohe Palmen und liebevoll angelegte Beete, auf denen bunte Blumen blühten. Lynn war keine Botanikerin, aber sie wusste, dass Capri als die pflanzenreichste Insel Italiens galt. Hier schienen alle Blumen und Pflanzen auf einem Fleck versammelt zu sein.

Die Straße führte in sanften Kurven den Hügel hinauf. Inmitten der durch Sandsteine getrennten Terrassen glitzerte ein blauer Pool. Die Liegestühle drum herum waren verlassen, genau wie der Rest des parkähnlichen Gartens. Je höher sie kamen, desto besser konnte Lynn das kristallklare Meer erkennen, das sich schäumend unter ihnen gegen die Klippen warf.

„Der Ausblick ist wunderschön“, murmelte sie begeistert. Als dann auch noch die Villa in ihr Blickfeld kam, konnte sie es kaum glauben. Das Gebäude war im Stil der Insel ganz in Weiß gehalten. Der Parkplatz war mit ockerfarbenem Pflaster ausgelegt, das sich perfekt in die Umgebung einfügte und zu den steinernen Bögen passte, die den Parkplatz von der Terrasse und dem hinteren Bereich des Gartens abtrennten.

Nathan parkte neben einem Lamborghini mit offenem Verdeck und wandte sich Lynn zu. „Wenn dir der Gesprächsstoff ausgeht oder irgendwer unbequeme Fragen stellt, sprich Mum einfach auf ihren Garten an. Oder du fragst Emma, in welchem Teil des Gartens die Hochzeitszeremonie stattfinden soll. Ab da übernehmen sie das Reden für dich.“ Er zwinkerte ihr aufmunternd zu und stieg aus.

Lynn hingegen blieb noch einen Moment im Wagen sitzen und atmete tief ein und aus. Sie musste verrückt gewesen sein, sich auf so etwas einzulassen! Statt ihren Prinzipien treu zu bleiben, hatte sie nur das Geld gesehen und war in die Falle der Versuchung getappt.

All die Jahre über hatte sie sich gegen die Ränkespiele ihrer Mutter gewehrt. Die hatte ihr stets einen reichen Mann angeln wollen und sie für den Moment vorbereitet, wenn ein Millionär ein Auge auf sie werfen würde. Und jetzt? Jetzt saß sie in einem der teuersten Wagen der Welt und blickte auf eine Villa, die ihr Vorstellungsvermögen überstieg. Und das alles nur für Geld.

In diesem Moment verachtete sie sich. Sie hatte sich immer über ihre Mutter lustig gemacht, die Männer nur nach ihrem Vermögen beurteilte. Kein Wunder, angesichts der finanziellen Lage, in der sich ihre Familie befand. Für Lynn war aber niemals infrage gekommen, sich aus finanziellen Gründen auf einen Mann einzulassen. Sie hätte sich wie eine Prostituierte gefühlt. Und was tat sie jetzt?

Mit einem leisen Stöhnen schlug sie die Hände vor das Gesicht. Das durfte doch wohl nicht wahr sein!

In diesem Moment öffnete Nathan die Beifahrertür. „Kommst du?“

Lynn schluckte. Sie brauchte das Geld. Das war die bittere Wahrheit. Sie konnte es sich nicht leisten, kalte Füße zu bekommen. Jetzt oder nie. Also reichte sie Nathan die Hand und ließ sich von ihm aus dem Wagen helfen.

„Alles wird gut“, sagte er leise zu ihr. „Du schaffst das.“

Nathan war überrascht, wie mühelos sich Lynn in ihrer Rolle zurechtfand. Selbst sein stets brummiger Vater erwiderte ihr strahlendes Lächeln. Sie hatte eine ganze spezielle Art, sich zu bewegen, die ihm gut gefiel. Es war, als schwebte sie durchs Leben.

Dass sie im Moment Sorgen hatte, konnte er nur vermuten. Wahrscheinlich ging es dabei um Geld, sonst hätte sie sein Angebot niemals angenommen. Der Gedanke weckte sofort sein schlechtes Gewissen.

Er wollte nicht, dass sie sich gezwungen fühlte. Und dennoch. Er war froh, dass sie jetzt bei ihm war. Mit ihr an der Seite ließen ihn seine Familienmitglieder endlich in Ruhe. Statt ihn mit unbequemen Fragen über sein Liebesleben zu löchern, konzentrierten sie sich auf Lynn. Zum Glück erzählten sie Lynn sehr viel über die Familie, sodass sie kaum etwas zum Gespräch beisteuern musste.

An diesem Nachmittag hatte die gesamte Familie sich auf der Terrasse versammelt, um das Wiedersehen zu feiern. Die riesigen weißen Sonnensegel schützten sie vor der Sonne, und die großen Blumenkübel neben jedem Sessel machten den Ort zu einem gemütlichen Treffpunkt.

Anders als sonst hatte sich sein Vater nicht neben Nathan gesetzt, um über Geschäftliches zu diskutieren. Wie es schien, akzeptierte er, dass Lynn gerade wichtiger war. Nathan konnte kaum in Worte fassen, wie erleichtert er darüber war. Es war anstrengend, mit seinem Vater zu diskutieren. Eigentlich konnte er ihm nie etwas recht machen. Er analysierte jeden seiner Schritte und hatte fast immer etwas auszusetzen.

„Komm, Maggie. Wir zeigen dir, wo die Hochzeitszeremonie geplant ist. Es gibt zwei Orte. Du musst entscheiden, welcher besser ist“, erklärte seine Schwester in diesem Moment aufgeregt und sprang auf, um Lynn auf die Beine zu ziehen. Die warf Nathan einen amüsierten Blick zu, den er mit einem Augenzwinkern erwiderte. Sekunden später waren die drei Frauen im Garten verschwunden.

Kaum waren sie fort, schlug auch sofort die Atmosphäre um. Jack, der zukünftige Bräutigam, blickte nervös zwischen Nathan und seinem Vater hin und her und stand hastig auf. „Ich muss kurz auf mein Zimmer“, erklärte er abrupt und warf Nathan einen entschuldigenden Blick zu.

Verräter. Nathan war klar, was jetzt folgte. Und tatsächlich, kaum war Jack fort, setzte sich Nathans Vater zu ihm.

„Die Londoner Bilanzen sehen mies aus“, eröffnete er augenblicklich das Gespräch.

Nathan seufzte in Gedanken. „Dad! Muss das jetzt sein? Die Bilanzen sind völlig in Ordnung.“

„Und wann wolltest du mir sagen, dass du Bio-Top doch aufgekauft hast? Ich hatte doch gesagt, dass ich dagegen bin!“

Jetzt geht es los, dachte Nathan müde. Er hatte keine Lust, sich mit seinem Vater zu streiten. Allerdings konnte er den Vorwurf, das falsche Unternehmen aufgekauft zu haben, nicht auf sich sitzen lassen. Wenn er zu wenig wagte, war es verkehrt. Wenn er aber selbstständig etwas entschied, war das auch nicht richtig.

In Momenten wie diesen wusste er wieder, warum er so selten nach Capri kam. Er liebte seine Familie über alles, aber es war schwierig, es allen recht zu machen. Sein Vater war ein Patriarch, der eigentlich nur das Geschäft im Sinn hatte. Seine Mutter hingegen verbot derlei Gespräche rundheraus, was automatisch zu Spannungen führte.

Es war kompliziert. Und ermüdend.

Als die Frauen von ihrem Rundgang zurückkamen, hatte sich die Diskussion in ein Streitgespräch verwandelt. Zu Nathans Überraschung ging Lynn dazwischen.

Sie trat neben ihn und legte ihm eine kühle Hand in den Nacken. „Der Pool sieht traumhaft aus. Wo hast du denn meine Koffer hingebracht, Nathan? Ich würde gerne schwimmen gehen“, sagte sie sanft.

Nathan war so verblüfft über die Unterbrechung, dass er zunächst nicht antwortete.

Lynn hingegen streckte ihm auffordernd die Hand entgegen. „Mr. Shannon, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihren Sohn kurz entführe.“ Sie lächelte so charmant, dass sein Vater automatisch in die Defensive ging.

„Nein. Natürlich nicht. Gehen Sie ruhig. Nathan und ich können das auch zu einem späteren Zeitpunkt besprechen.“ Da Nathan seinen Vater sehr gut kannte, entging ihm keineswegs der leise Tadel in seiner Stimme. Für den Moment akzeptierte er jedoch ihre Einmischung.

Nathan ließ sich nur zu gerne von Lynn von der Terrasse ziehen. Sie behielt dabei seine Hand fest in ihrer, verstärkte ihren Griff sogar noch. Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Sie erreichten die Empfangshalle, die eher einem Ballsaal ähnelte, und liefen die Steinstufen hinauf. Er hatte die Koffer bei ihrer Ankunft in die Suite bringen lassen, sodass Lynn den Weg noch nicht kannte.

Jetzt sah sie sich staunend um, behielt seine Hand aber noch immer in ihrer. Erst als er vor einer kunstvoll geschnitzten Tür stehen blieb und die Klinke berührte, löste sie sich von ihm.

„Ist dein Vater immer so?“, fragte sie leise und folgte ihm in den Raum. „Wow“, sagte sie, während sie sich langsam um sich selbst drehte. Dabei bewunderte sie die hohen Decken.

Amüsiert beobachtete Nathan sie dabei. Wie hübsch sie war! Anziehend und unkompliziert. Er räusperte sich, um sich selbst zur Vernunft zu bringen. Wo kamen bloß diese Gedanken her? Sie war tabu für ihn.

„Mein Vater denkt nur ans Geschäft, während meine Mutter sich die ganze Zeit Sorgen um meinen Seelenzustand macht“, nahm Nathan den Anfang des Gesprächs wieder auf.

„Du hast ziemlich angestrengt ausgesehen. Nimmt er dich immer so in die Mangel?“

Nathan war es unangenehm, über seinen Vater zu urteilen. Auf der anderen Seite war lügen in diesem Fall zwecklos. „Dad ist noch von der ganz alten Schule. Er ist das Familienoberhaupt und sagt, wo es langgeht. Da ich schon bald das Unternehmen übernehmen soll, ist er zusätzlich streng mit mir. Eigentlich erwartet er, dass ich bald die Position als Familienoberhaupt einnehme. Gleichzeitig will er sie nicht abgeben. Es ist schwer, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

Nathan zuckte möglichst lässig mit den Schultern, aber Lynns Blick sprach Bände. Sie hatte seine lockere Fassade durchschaut.

„Familie kann man sich nicht aussuchen“, erklärte sie trocken. „Sie treibt einen in den Wahnsinn, aber sie treibt einen auch an. Die Frage ist allerdings, ab welchem Punkt man sich lösen muss, um sich selbst zu schützen.“

Nathan spürte, dass sie längst nicht mehr über seine Familie sprach. Die Bitterkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Er hakte jedoch nicht weiter nach. Noch nicht. Lynn faszinierte ihn allerdings immer mehr, was ihm gar nicht gefiel. Sie war nur hier, um seine Verlobte zu spielen. Dafür bekam sie sogar Geld. Das durfte er niemals vergessen.

Denk an Maggie, dachte er. Denk daran, was die letzten Male passiert ist, als du geglaubt hast, etwas für eine Frau zu empfinden. Die Erinnerung brachte ihn sofort auf den Boden der Tatsachen zurück. Er und die Liebe – das passte einfach nicht zusammen. Irgendwer hatte offenbar entschieden, dass er allein bleiben sollte. Wann immer er sich sicher war, endlich jemanden gefunden zu haben, wurde sie ihm mit aller Gewalt entrissen. Auf die eine oder andere Art.

3. KAPITEL

Das Streitgespräch zwischen Nathan und seinem Vater fand Lynn ziemlich beunruhigend. Sie hatte schon von solch komplizierten Vater-Sohn-Beziehungen gehört, sie aber noch nie so deutlich vor Augen geführt bekommen. Auf der anderen Seite war die Beziehung zu ihrer Mutter auch nicht viel besser. Auch dabei ging es stets um Geld – allerdings um nicht vorhandenes Geld. Kurz bevor sie sich den Bikini anzog, warf Lynn noch einen Blick auf ihr Handy.

Drei Anrufe in Abwesenheit. Zwei davon von ihrer Mutter, natürlich. Lynn hatte das versprochene Geld noch nicht geschickt. Nicht, nachdem sie von der Mieterhöhung gehört hatte. Die neue Miete für ihr Geschäft und die Pachtzahlungen für das marode Familienanwesen waren einfach zu viel für ihr Konto gewesen.

Der altbekannte Knoten in ihrem Magen verhärtete sich. Er war seit ihrer Jugend ihr ständiger Begleiter. Seitdem ihre Mutter ihr unmissverständlich klargemacht hatte, dass das Wohl und Wehe ihres Erbes von einer guten Heirat abhing. Von ihrer guten Heirat. Das war auch in etwa die Zeit gewesen, als Lynn sich emotional von England verabschiedet hatte. Ihr war klar geworden, dass sie so nicht leben konnte – und auch nicht wollte.

Allerdings war es naiv von ihr gewesen, zu glauben, dass sie ihren Problemen entfliehen konnte. Auch der Umzug nach Capri hatte nichts an ihren Verpflichtungen geändert. Sie musste ihrer Mutter zwar nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und sich beschimpfen lassen. Doch der emotionale Druck, den sie durch jedes Telefonat aufbaute, blieb derselbe. Sie entkam ihrer Familie nicht, egal wie weit sie fortging. Den Kontakt ganz abzubrechen, wagte sie jedoch nicht. Ihre Schwester litt genauso unter ihrer Mutter wie sie. Lynn konnte sie nicht im Stich lassen. Niemals.

Ein Problem nach dem nächsten, dachte Lynn und schaltete das Handy aus. Im Moment konnte sie keine Ablenkung gebrauchen. Die Aufgabe, die vor ihr lag, war ihr zunächst nicht schwierig erschienen. Doch jetzt, wo sie mittendrin steckte, lagen überall Fallstricke. Sie kannte Maggie viel zu wenig und hatte keine Ahnung, wie viel Nathans Familie über diese Frau wusste. Ein falsches Wort – schon hatte Lynn sich verraten.

Warum Nathan überhaupt all das auf sich nahm, nur um das Ende seiner Beziehung zu verheimlichen, war Lynn noch immer schleierhaft. Auf ihre Fragen hatte er nicht reagiert. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als zu spekulieren.

Die Familie achtete auf jeden seiner Schritte. Die Mutter machte sich viel zu viele Sorgen um ihn. Der Vater erwartete hingegen Höchstleistung und baute enormen Druck auf. All das hatte Lynn innerhalb kürzester Zeit erfasst. Doch was hatte das alles mit Maggie zu tun?

Sobald sie später am Abend allein sein würden, würde sie Nathan noch einmal danach fragen. Bei dem Gedanken daran beschleunigte sich ihr Herzschlag. Ihr Blick glitt automatisch zu dem großen Kingsize-Bett, das den Schlafraum dominierte. Es war mit einer dunkellila Bettwäsche bezogen, die einzige Farbe im ganzen Raum. Ansonsten beherrschten Weiß und Creme das Ambiente.

Nathan hatte sich auf den großzügigen Balkon zurückgezogen, um ihr etwas Privatsphäre zu lassen. Rasch zog sie ihren Bikini aus dem Koffer und schlüpfte in das Badezimmer. Sandfarbener Marmor, eine begehbare Dusche und ein Whirlpool in der Ecke – der pure Luxus. Lynn ließ den Anblick einen Moment auf sich wirken.

Du bist genau da, wo du nie sein wolltest, dachte sie bitter. Sie hörte geradezu, wie sich die Stimme ihrer Mutter vor Freude überschlug.

Du musst ihn dir schnappen. Dann sind all deine Probleme gelöst.

Genau. Nur ihr Stolz wäre für immer zerstört.

Gedankenverloren zog sie sich um und schnappte sich einen kuschelig weißen Bademantel vom Haken an der Tür. Das riesige Strandlaken nahm sie ebenfalls mit. Danach huschte sie barfuß zu Nathan auf den Balkon. „Wollen wir?“, fragte sie.

Er drehte sich um und blinzelte überrascht. Lynn bemerkte, wie sein Blick an ihren langen, schlanken Beinen hängen blieb. Wie er ihre Taille und für einen winzigen Moment auch ihre Brüste betrachtete. Bevor es jedoch peinlich wurde, riss er sich zusammen.

„Ich ziehe mich auch nur eben um“, sagte er.

Klang seine Stimme etwas rauer als sonst? Lynn war sich nicht sicher, hütete sich aber, ihn deswegen aufzuziehen.

Er verschwand kurz nach drinnen und kam nur eine Minute später wieder heraus. Anstatt des Hemdes trug er jetzt ein einfaches, weißes T-Shirt, das seine kräftigen Oberarme betonte. Es passte zu seiner engen schwarzen Badeshorts.

Bevor er fragen konnte, hielt sie ihm die Hand hin. „Frisch Verliebte halten Händchen“, erklärte sie ihm mit einem Schmunzeln.

„Wir sind aber nicht mehr frisch verliebt. Wir sind schon seit drei Jahren zusammen.“

„Aber frisch verlobt.“

Nathan lächelte und nahm ihre Hand, drückte sie kurz. „Ich dachte, Berührungen sind verboten“, zog er sie auf.

„Händchen halten gehört zu den harmlosen Berührungen. Das ist schon in Ordnung. Nur beim Küssen streike ich.“ Sein Blick glitt automatisch zu ihren Lippen, was ein Prickeln in ihrem Unterleib auslöste. Fast hätte sie ihm die Hand doch noch entzogen, aber das wäre zu auffällig gewesen. Sie musste wirklich aufpassen, dass sie nicht anfing, mit ihm zu flirten. Nicht, dass er etwas falsch verstand.

Sie gingen nebeneinander durch die leeren Flure. Die Villa war riesig. Die meisten der Zimmer schienen unbenutzt.

„Maggie wollte nie Händchen halten“, bemerkte Nathan nach einer Weile. „Sie fand das albern.“

Lynn zog erstaunt eine Augenbraue hoch. „Also diese Maggie mag Händchen halten. Und ich schwöre dir: Wenn wir das nicht tun, machen wir uns verdächtig.“

„Ich dachte nur, ich bin lieber ehrlich zu dir. Maggie war eher zurückhaltend, was so etwas angeht. Umarmungen in der Öffentlichkeit, Küsschen auf die Wange, Händchen halten – all das war nicht so ihr Ding. Meine Eltern wissen natürlich nicht, dass Maggie das nicht mochte. Sie haben sie ja nie kennengelernt. Wenn du nicht willst, müssen wir das also nicht tun.“

Lynn warf ihm einen nachdenklichen Blick zu und überlegte, ob sie den Gedanken laut aussprechen sollte, der ihr gerade in den Sinn kam. Eigentlich kannten sie sich zu wenig, als dass sie so etwas offen sagen konnte. Trotzdem. Sie musste das jetzt klarstellen. „Aber du magst so etwas“, sagte sie. Das war offensichtlich. Er hatte sich nicht eine Sekunde gesträubt. „Allmählich ahne ich, warum ihr euch getrennt habt.“

Er öffnete den Mund, um zu protestieren. Wahrscheinlich wollte er seine Ex-Verlobte aus Gewohnheit verteidigen, doch dann nickte er zögernd.

Emma und Jack lagen bereits am Pool und sonnten sich. Die junge Frau zog ihre Designersonnenbrille nach unten, um Lynn genauer betrachten zu können. „Wow, Brüderchen. Da hast du aber einen richtig guten Fang gemacht. Sie hat nicht nur den Mumm, Dad den Mund zu verbieten und dir den Hintern zu retten. Sie sieht auch noch verdammt gut aus!“

„Emma“, fuhr Nathan seine Schwester augenblicklich an. „Benimm dich!“

Emma kicherte vergnügt und warf ihrem Bruder eine Kusshand zu. Lynn hingegen spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Natürlich freute sie sich über das Kompliment, allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Hastig warf sie den Bademantel und das Handtuch auf die Liege und sprang in den Pool.

Sie schwamm ein paar Bahnen, um sich abzukühlen. Erst als sie ein Plätschern hörte, wandte sie sich wieder den anderen zu. Nathan saß am Rand des Pools und sah sie nachdenklich an. Er hatte sich das T-Shirt ausgezogen, sodass sie ihn zum ersten Mal mit nacktem Oberkörper sah. Er war braun gebrannt und für einen Geschäftsmann erstaunlich muskulös.

Augenblicklich drehte sie sich von ihm fort und tauchte unter. Sie musste unbedingt einen kühlen Kopf bewahren. Ganz dringend. Den Anblick dieses Oberkörpers sofort vergessen. Sofort! Dass sie ihn attraktiv fand, war eine Sache. Aber wie sehr, war ihr erst gerade eben klar geworden. Er war extrem sexy. Wenn sie nicht aufpasste, hatte sie bald ein weiteres Problem am Hals. Denn er war tabu für sie, und zwar in jeder Hinsicht.

Sie schwamm ein paar Bahnen und sah sich um. Elizabeth stand neben einer anderen Frau am Rande der Terrasse und diskutierte mit ihr. Lynn kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Irgendetwas kam ihr an der Fremden bekannt vor.

Ihr Magen verkrampfte sich. Nein! Sie sah Gespenster. Ganz sicher sah sie Gespenster. Die Frau war schlank und sehr groß. Die Art, wie sie sich bewegte, ließ sie stolz und unnahbar wirken. Das traf auf viele Frauen zu.

Lynn schwamm an den Rand und versuchte mehr zu erkennen, doch die Sonne stand ungünstig. Das ist sie nicht, versuchte sie sich zu beruhigen. Was sollte ihre Vermieterin hier bei Nathans Familie machen? Sicherlich sah sie ihr nur ähnlich. Lynn gab es nicht gerne vor sich selber zu, aber sie hatte Angst vor dieser Frau. Die alte Italienerin hatte die Macht, ihr Leben zu zerstören. Und wie es schien, hatte sie das auch vor.

Genau diese Angst war sicherlich schuld daran, dass Lynn sie jetzt überall sah. Elizabeth gestikulierte gerade, zeigte daraufhin zum Pool. Vor Schreck hielt Lynn den Atem an und tauchte unter. Sicher war sicher.

Ihr Herz klopfte wie wild. Panik schnürte ihr die Kehle zu. Sie ist es nicht, sagte sie sich immer wieder. Doch was, wenn sie es doch war? Sie würde erkennen, dass sie nicht Maggie war, und ihr ganzes Vorhaben zunichtemachen. Sie hatte die Macht, sie zu enttarnen. Dann würde sie kein Geld mehr bekommen. Geld, das sie bitter benötigte.

Sie ist es nicht.

Doch das ungute Gefühl blieb.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Lynn kam sich mittlerweile vor, als wäre sie im Urlaub, und spielte dabei die Rolle ihres Lebens. Zum Glück machte ihr Nathans Familie die Sache ziemlich leicht. Nathans Mutter und seine Schwester achteten darauf, nicht in ihre Privatsphäre einzudringen. Sie verzichteten sogar auf überflüssige Fragen.

Mittlerweile war sie sich auch sicher, dass die fremde Frau nicht ihre Vermieterin gewesen sein konnte. Ihre Fantasie war lediglich mit ihr durchgegangen. Als Lynn aus dem Pool kam, war sie jedenfalls nicht mehr da gewesen. Seitdem war sie auch nicht wieder aufgetaucht.

Auch die Nächte mit Nathan waren deutlich unkomplizierter als befürchtet. Er schlief auf der Couch, sie im Bett. Dass jemand hereinplatzte, war äußerst unwahrscheinlich. Trotzdem schlossen die beiden zur Sicherheit immer die Tür ab.

Ganz allmählich begann Lynn sich zu entspannen. Sie mochte Emma mit ihrer stürmischen Art. Die mütterliche Elizabeth hatte Lynn von Anfang an in ihr Herz geschlossen. Nathans Vater hielt sich seit dem letzten Zusammenprall etwas zurück, was jedoch nicht hieß, dass er seinen Sohn nicht immer wieder zur Seite nahm. Der Einzige, der ein wenig außerhalb des Familiengefüges stand, war Jack. Der junge Bräutigam sagte kaum ein Wort und half eher schweigsam bei den Hochzeitsvorbereitungen.

Die waren mittlerweile in vollem Gange. Vor der Hochzeit war ein Galaabend mit all jenen Gästen geplant, die nicht zur eigentlichen Feier eingeladen werden konnten. Hinzu kamen noch der Polterabend, zahlreiche Probedinner, die Generalprobe und natürlich die Hochzeit selber. Lynn schwirrte schon bald der Kopf vor Dekorations-Problemen, Blumen-Desastern und diversen Panikattacken.

Nathan war bei alldem der Fels in der Brandung. Wann immer Tränen flossen, hatte er ein Taschentuch parat. Er schlichtete zwischen seiner Schwester und den Brautjungfern, suchte in Windeseile einen neuen Caterer und blieb selbst dann noch gelassen, als die Probefrisur eine völlige Katastrophe wurde und die Braut sich stundenlang im Zimmer einschloss.

Lynn beobachtete das alles mit leichtem Amüsement, war aber trotzdem ziemlich eingespannt. Ihre Meinung war häufig gefragt, und gerade bei Dekorationsfragen hatte sie als kreative Goldschmiedin ein gutes Auge.

Zwischendurch entspannte sich die Familie bei Ausflügen. Sie besuchten die legendäre Blaue Grotte, eine Höhle, deren Inneres in einem einzigartigen Blauton schimmerte. Auf einem kleinen Boot ging es durch den schmalen Eingang ins Innere hinein. Lynn kannte die Grotte bereits, doch inmitten der fröhlichen Gesellschaft genoss sie das fantastische Azurblau des funkelnden Wassers noch viel mehr.

„Eigentlich könnten Jack und ich auch hier heiraten, oder?“, merkte Emma an, woraufhin es eine wilde Diskussion gab, um sie von dem Gedanken abzulenken. Nathan und Lynn waren sich nicht sicher, wie ernst Emma die Idee meinte, und legten sich entsprechend ins Zeug.

Sie besuchten die zweite Stadt der Insel, das etwas ländlichere Anacapri. Hier bummelten sie durch die engen Einkaufsgassen, bewunderten die hübsche Altstadt und machten schließlich einen Abstecher zum Strand. Aufgrund der vielen Steilküsten gab es hier viele kleine, versteckte Badebuchten. Nathan, Emma, Jack und Lynn gingen eine Weile über den feinen Sand, bis sie eine abgelegene Stelle fanden. Hier blieben sie für mehrere Stunden und genossen die Sonne und das Meer.

Zum Glück waren Emma und Jack vollkommen aufeinander fixiert, sodass ihnen nicht direkt auffiel, dass Nathan und Lynn nicht nah genug nebeneinanderlagen. Als Emma und Jack im Wasser miteinander tobten, sahen sie ihnen lediglich zu. Lynn musste zugeben, dass sie ein wenig neidisch auf die beiden war. Wie sie miteinander umgingen, war wunderschön. Man spürte ihre tiefe Verbundenheit und die Vertrautheit, die Lynn in ihrem Leben so sehr vermisste.

Sie musste wohl einen leisen Seufzer von sich gegeben haben, denn Nathan stand plötzlich von seinem Strandtuch auf und grinste breit. Er trug lediglich Badeshorts und eine große Sonnenbrille, die ihn geheimnisvoll und gleichzeitig wahnsinnig verführerisch aussehen ließ.

Ohne ein Wort zu sagen, schnappte er sich Lynn, legte sie sich wie einen Sack über die Schulter und rannte lachend ins Meer hinein. Das Wasser spritzte ihr ins Gesicht, während sie sich spielerisch wehrte. Sekunden später warf Nathan sie ins kalte Meer, woraufhin eine wilde Wasserschlacht zwischen den beiden Frauen auf der einen und den beiden Männern auf der anderen Seite begann.

Am Ende des Tages waren alle vier vollkommen erschöpft, aber glücklich. Das wiederum beunruhigte Lynn ein wenig. Sie stellte nämlich fest, dass Nathan sich ganz langsam in ihr Herz stahl. Sie hatte ihn bereits von Anfang an gemocht, ihn auch sofort attraktiv gefunden, aber er war tatsächlich der umgänglichste und freundlichste Mensch, den sie kannte. Und jedes Mal, wenn er ihre Hand nahm, machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer.

Du musst aufpassen, ermahnte sie sich, während sie Nathan und seine Schwester beobachtete. Nathan maß gerade für die Trauungszeremonie den Abstand von einer Stuhlreihe zur nächsten ab. Zum dritten Mal. Emma stand mit einem Klemmbrett daneben und notierte alles geflissentlich. Lynn hatte eine Weile dabei geholfen, sich dann aber etwas abseits in den Schatten begeben.

Nathans Mutter gesellte sich zu ihr. Sie lächelte zufrieden. „Ich bin so froh, dass Nathan dich gefunden hat. Ich habe ihn noch nie so glücklich gesehen!“

Die Aussage traf Lynn heftiger als erwartet. Heiß schoss ihr das Blut in die Wangen.

Elizabeth, der ihre Reaktion nicht entgangen war, sah sie überrascht an. „Alles in Ordnung, Maggie?“

„Ja, nein, natürlich. Es freut mich, dass ich Nathan glücklich mache“, setzte sie rasch hinterher, doch das beunruhigende Gefühl blieb. Sie hatte angenommen, dass Nathan immer so war wie jetzt. Offen, fröhlich, entspannt und freundlich. „Eigentlich kenne ich ihn gar nicht anders.“

Beide blickten zu Nathan, der gerade über einen Kommentar seiner Schwester lachte. „Wenn Nathan uns früher besucht hat, dann war er immer sehr schweigsam. Fast schon melancholisch. Wobei er immer schon ein nachdenklicher Mensch war, vor allem seit der Sache mit Nora. Wir waren so froh, als er dich das erste Mal erwähnte. Endlich wirkte er glücklich. Aber du bist ja nie mitgekommen – und das hat ihn schon belastet. Er war meistens sehr ernst und angespannt.“

Sie warf Lynn einen nachdenklichen Blick zu. „Aber jetzt bist du ja hier. Gemeinsam werden wir die Hochzeit völlig skandalfrei über die Bühne bringen. Diese elende Klatschpresse.“

Sie seufzte dramatisch. „Die Reporter lauern schon die ganze Zeit darauf, dass Nathan aus seiner Deckung kommt. Du weißt ja: Die High Society steht immer unter Beobachtung. Der Geschäftsführer eines Biotech-Konzerns mag auf den ersten Blick nicht interessant sein, doch einer der begehrtesten Junggesellen Italiens ist er allemal.“ Sie zwinkerte Lynn verschwörerisch zu. Gleich darauf glitt ihr Blick zur Terrasse, und ihre Miene verfinsterte sich.

„Entschuldige mich bitte. Stella ist gerade angekommen. Ich muss sie begrüßen und versuchen, sie möglichst schnell wieder loszuwerden. Gerade habe ich eigentlich gar keine Zeit für sie.“ Sie nickte Lynn noch einmal zu und ging dann zu der Frau hinüber. Die Wartende musste gegen die Sonne anblinzeln, weshalb sie vermutlich nicht viel von Lynn und Elizabeth sehen konnte.

Lynn hingegen sah sie mehr als deutlich.

Sie war es. Diesmal gab es keinen Zweifel. Die Frau, die sie schon einmal am Pool gesehen hatte, war wieder da. Und es war ihre Vermieterin.

Vor Schock war Lynn im ersten Moment kaum in der Lage, sich zu rühren. Ihre Vermieterin hatte also tatsächlich irgendetwas mit Nathans Familie zu tun! Wenn sie sie erkannte …

Hastig versteckte Lynn sich hinter einem Baum und wartete mit klopfendem Herzen. Kommt nicht näher, betete sie. Bleibt auf der Terrasse! Sie hatte Glück. Elizabeth hatte offenbar tatsächlich vor, die Frau so schnell wie möglich loszuwerden. Sie sprach nur kurz mit ihr und verschwand dann mit ihr in Richtung Gartentor.

Lynn duckte sich trotzdem ganz instinktiv in den Schatten des Baumes, bis die beiden Frauen vollständig verschwunden waren. Nervös warf sie Nathan einen Blick zu und bemerkte, dass er sie fragend ansah. Offenbar hatte er bemerkt, dass sie sich vor irgendetwas versteckte.

Ich kann jetzt nicht mit ihm sprechen, dachte sie. Erst musste sie ihre Gedanken sortieren. Was bedeutete es, dass ihre Vermieterin hier aufgetaucht war? War das Geheimnis bereits gelüftet? Da Nathan Anstalten machte, zu ihr zu kommen, beeilte sie sich, im Haus zu verschwinden.

Ihr Herz raste. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie wusste, dass sie eigentlich Nathan warnen musste. Sie sollte es ihm so schnell wie möglich sagen. Doch was war, wenn er daraufhin einen Rückzieher machte? Sie brauchte das Geld wirklich und hatte schon zu viel investiert, um jetzt zurückzurudern.

Lynn stürmte regelrecht in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür mit einem Knall hinter sich. Leise stöhnend sank sie an Ort und Stelle auf den Boden und raufte sich die Haare. Was hast du nur getan? dachte sie. Sie war eigentlich eine durch und durch ehrliche Person. Ehrlich und aufrichtig. Und jetzt? Jetzt spielte sie mit den Gefühlen einer ganzen Familie. Und das nur, um an Geld zu kommen.

Sie musste eine Lösung finden.

Ihr Handy klingelte. Ausgerechnet jetzt. Seitdem sie in der Villa war, hatte sie immer nur abends einen kurzen Blick daraufgeworfen, mit Michelle telefoniert und es danach wieder auf das Nachttischchen gelegt. Die Anrufe ihrer Mutter hatte sie stets ignoriert.

Nicht auch noch das. Bitte, lass es nicht Mum sein.

Sie krabbelte zum Bett und sah auf das Display ihres Handys. Natürlich. Ihre Mutter. Da es sich nicht vermeiden ließ, nahm sie den Anruf diesmal an.

„Hallo, Mum“, sagte sie ergeben und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bett. Von hier aus konnte sie wenigstens die steilen Klippen und das Meer sehen. Der Anblick beruhigte sie ein wenig.

„Du gehst seit Tagen nicht ans Telefon“, ging ihre Mutter sofort in den Angriff über.

„Ich weiß. Tut mir leid, aber jetzt bin ich ja rangegangen.“

„Irgendetwas ist mit der Überweisung schiefgegangen. Wir haben kein Geld von dir bekommen.“

Wir. Nicht ich. Ihre Mom sagte immer „Wir“, obwohl sie damit nur sich meinte. Ihre Schwester lebte längst nicht mehr auf dem alten Familiensitz in England. Dort war es zu düster und deprimierend.

„Das mit der Überweisung war kein Versehen. Ich habe diesen Monat kein Geld übrig, das ich dir hätte schicken können. Tut mir leid.“

Ein langes Schweigen folgte, in dem Lynn nur dem Atmen ihrer Mutter lauschte. Vermutlich war sie gerade kurz vor einem hysterischen Anfall.

„Du weißt, wie wichtig jeder Cent für uns ist, Lynn“, sagte sie nach einer Weile scharf. „Wenn wir nicht alle gemeinsam an einem Strang ziehen, verlieren wir alles. Jahrhundertelang war das Anwesen in unserem Besitz. Jahrhunderte! Und ausgerechnet unsere Generation soll es verlieren?“ Jetzt weinte ihre Mutter, und bei Lynn zog sich das Herz zusammen.

Oberflächlich betrachtet wirkte ihre Mutter häufig sehr egoistisch. In Wirklichkeit kämpfte sie nur mit aller Verbissenheit um ihr Familienerbe. Dazu gehörten auch Status, Macht und Prestige. All das würde verloren gehen, sobald die Familie das alte Landgut verkaufen musste.

„Mum“, sagte Lynn leise. „Jetzt weine doch nicht. Ich denke mir was aus. In zwei Wochen habe ich das Geld zusammen, dann schicke ich es dir.“ Noch während sie das sagte, schnürte es ihr die Kehle zu. Sie wollte ihrer Mutter eigentlich in finanziellen Dingen nicht mehr helfen. Das Landgut war ein Loch ohne Boden. Ein Krater, der sie alle zu verschlingen drohte. Seit ihr Vater an einem Herzinfarkt gestorben war, war alles noch viel schlimmer geworden. Damals war sie sechs Jahre alt gewesen. Seitdem kämpfte die Familie ums Überleben. Wegen der fälligen Zahlungen würde sie es niemals schaffen, ihr Geschäft dauerhaft zu sichern. Wie denn auch, wenn sie keine Rücklagen bilden konnte?

„Du bist so weit weg“, startete ihre Mutter einen neuen Angriff. „Wenn du hier wärest, könnten wir viel einfacher eine Lösung finden. Aber du bist weggegangen und hast mich ganz allein gelassen.“

„Ich musste gehen – und das weißt du auch. Mum, ich muss Schluss machen. Hab dich lieb, okay? Und das Geld bekomme ich schon irgendwie zusammen. Mach dir keine Sorgen.“

Ihre Mutter schluchzte noch einmal in den Hörer und legte dann auf.

Die Stille erschien jetzt noch viel erdrückender. Lynn starrte ihr Handy einen Moment lang wie betäubt an und schleuderte es dann mit einem Fluch quer durch den Raum. Das Handy schoss schlitternd über den Marmorboden und blieb an der Wand liegen. Lynn bemerkte es nicht einmal, sondern legte die Stirn an die angewinkelten Knie.

Was für ein Schlamassel!

Jemand legte ihr sanft einen Arm über die Schulter, drückte sie an seinen warmen Körper. Überrascht sah sie auf und blickte in Nathans blaue Augen. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er hereingekommen war. Geschweige denn, dass er sich neben sie gesetzt hatte. Hastig wischte sie sich die Tränen vom Gesicht, blieb aber in ihrer zusammengekauerten Haltung sitzen.

Sie sahen einander an. Schweigend. Dem Ausdruck nach hatte Nathan das Telefonat mit angehört – und zwar alles.

„Ich kann dir jetzt schon einen Teil der Summe überweisen. Wenn du willst, bekommst du alles“, sagte er sanft.

Sie versteifte sich augenblicklich. „Ich will dein Geld nicht“, sagte sie dumpf.

„Ich weiß. Aber abgemacht ist abgemacht. Wie viel brauchst du?“

Heiße Wut kochte in ihr hoch. Was dachte er sich eigentlich bei solch einem Angebot? Sie befreite sich aus seiner Umarmung und sprang auf. „Behalt dein verdammtes Geld“, schrie sie ihn an. „Ich will es nicht. Dass ich mich überhaupt darauf eingelassen habe, macht mich krank. Es ist … erniedrigend. Und es ist weder deiner Familie noch meiner Familie gegenüber fair. Es ist schmutziges Geld, nichts weiter.“

Nathan sah sie erschrocken an und hob beschwichtigend die Hände. „Beruhig dich und lass uns darüber reden.“

„Da gibt es nichts zu reden. Das alles hier – das ist vollkommener Irrsinn. Deine Familie fängt an, mich zu mögen, mich in ihr Herz zu schließen. Ist dir eigentlich klar, wie sehr du sie verletzen wirst, sobald die Wahrheit herauskommt? Und sie wird herauskommen. Und wann wolltest du mir eigentlich erzählen, dass dich auch noch die Boulevardpresse beobachtet?“

All die angestaute Wut über ihre verfahrene Situation brach sich gerade Bahn. Zum ersten Mal gestattete sie sich, die Tränen laufen zu lassen. Einfach alles herauszulassen.

Es tat gut, machte ihr aber gleichzeitig auch Angst. Sie musste diesen Irrsinn beenden. Und zwar sofort.

Nathan erkannte, dass Lynn drauf und dran war, alles hinzuwerfen.

Schweigend stand er auf und ging zur geöffneten Terrassentür. Er schloss sie sorgfältig, ehe er sich zu ihr umdrehte. „Mein Leben ist schon immer spannend für die Presse gewesen. Meine Jugendfreundin stirbt – totale Isolation danach. Schwerreich. Ein begehrter Junggeselle, der sich nicht für Frauen interessiert.“

Ein bitterer Zug zeigte sich auf seinem Gesicht. „Maggie habe ich immer aus der Klatschpresse herausgehalten. Bis vor sechs Monaten. Jemand hatte von der Verlobung Wind bekommen, und es stand in allen Zeitungen. ‚Wer ist die geheimnisvolle Unbekannte?‘ Maggie hat Panik bekommen und machte Schluss mit mir.“

Nathan schaute sie genervt an. „Seitdem hängen die Gerüchte wie ein Damoklesschwert über mir. Ich bin ein Verlobter ohne Verlobte und kann es niemandem sagen, ohne einen gigantischen Medienrummel auszulösen. Und das bei der anstehenden Hochzeit des Jahrhunderts. Eins kannst du mir glauben: Hätte ich eine andere Möglichkeit gehabt, hätte ich die Wahrheit gesagt.“

„All das nur wegen ein paar Zeitungsberichten?“, fragte Lynn ungläubig.

„Nicht nur wegen ein paar Zeitungsberichten. Das ist nur ein kleiner Teil des Problems. Meine Schwester musste in ihrem Leben eigentlich immer zurückstecken. Ich war immer Vaters Schützling, selbst bei meiner Mutter dreht sich alles um mich und meine Probleme. Frag mich nicht, wieso. Wenn ich jetzt bekannt gebe, dass ich Single bin, dreht sich wieder alles nur um mich. Das kann ich Emma nicht antun. Sie hat es verdient, eine Traumhochzeit zu bekommen und im Mittelpunkt zu stehen. Ohne jeglichen Skandal.“

„Aber es ist nicht richtig“, protestierte Lynn. Wie sie da so dastand, mit verweintem Gesicht und hängenden Schultern, sah sie furchtbar verletzlich aus. Es tat Nathan in der Seele weh, sie so zu sehen. Am liebsten wäre er zu ihr gegangen und hätte sie umarmt. Wie in dem Moment zuvor. Es war ein Instinkt gewesen. Er hatte sie einfach berühren müssen. Sie fühlen wollen.

Doch Lynn würde sich nicht von ihm trösten lassen. Niemals. Müde fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. „Ich weiß, dass es nicht richtig ist“, sagte er leise. „Aber mir fällt keine andere Lösung ein. Wusstest du, dass meine Mutter krank ist?“ Er sah Lynn fragend an. Die schüttelte langsam den Kopf.

„Sie hat schwere Herzprobleme. Im letzten Jahr wäre sie beinahe gestorben. Die Hochzeit bringt sie ohnehin schon an den Rand ihrer Belastbarkeit. Viel mehr Aufregung verträgt sie nicht. Ich möchte, dass diese Hochzeit reibungslos verläuft – ohne Drama.“

Er ballte die Hände zu Fäusten und sah Lynn streng an. „Es gibt kein Zurück mehr. Du hast dem Plan zugestimmt – also müssen wir ihn durchziehen. Jetzt die Wahrheit zu sagen bringt gar nichts. Wir sagen es ihnen nach der Hochzeit. Keinen Moment früher. Verstanden?“ Er legte so viel Schärfe in seine Stimme, wie er konnte. Aus Erfahrung wusste er, dass sich die meisten unter diesem Blick und diesem Tonfall duckten, doch Lynn war anders.

Sie reckte das Kinn und funkelte ihn böse an. „Fein“, sagte sie. „Ich stehe zu meinem Wort. Aber das Rumgealbere hört ab sofort auf. Wir haben eine Geschäftsbeziehung. Also hör auf, mit mir zu flirten.“

Überrascht zog er eine Augenbraue hoch. „Ich flirte mit dir?“, hakte er nach. „Du flirtest ja wohl mit mir!“

„Egal wer hier wie flirtet. Das hört ab sofort auf.“ Mit diesen Worten floh Lynn ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Er hörte das Rauschen der Dusche, war sich allerdings auch sicher, ein leises Schluchzen zu vernehmen. Was hatte er nur wieder angerichtet? Aus einer gut gemeinten Idee war wohl die schlimmste Situation seines Lebens geworden.

4. KAPITEL

Lynn beruhigte sich nach einer Weile wieder. Die Tränen versiegten, die Entschlossenheit kehrte zurück. Fast sofort war ihr der ganze Auftritt peinlich. Was würde Nathan jetzt von ihr denken? Wahrscheinlich hielt er sie für völlig hysterisch.

Trotzdem. Sie hatte zwar viele Dinge im Zorn gesagt, sie waren dadurch aber nicht weniger wahr. Was sie hier taten, war einfach falsch. Seine Motive mochten ja noch einigermaßen ehrenhaft sein. Ihre hingegen fühlten sich nicht richtig an.

Das Erbe ihrer Familie zu retten. Das wirkte auf den ersten Blick moralisch einwandfrei. Trotzdem war sie zu weit gegangen. Sie war aus London fortgegangen, damit sie keine Beziehung mit einem reichen Mann eingehen musste. Und jetzt tat sie genau das?

Es ist ja keine richtige Beziehung, dachte sie trotzig. Und dennoch … der schale Geschmack blieb.

Und dann war da auch noch ihre Vermieterin. Sollte sie es Nathan sagen? Lynn überlegte hin und her, verschob die Entscheidung aber auf später. Vielleicht war die Frau nur eine entfernte Bekannte und kam gar nicht zu den Festivitäten. Lynn beschloss, zunächst herauszufinden, in welcher Beziehung ihre Vermieterin zu Nathan stand.

Ermutigt durch ihren Plan wusch sie sich das Gesicht und straffte sich. Die nächsten Tage würde sie auch noch überstehen. Danach konnte sie wieder in ihren kleinen Laden zurückkehren. In ihren Laden, den sie mit so viel Herzblut aufgebaut hatte. Dafür lohnte es sich, mit allen Mitteln zu kämpfen.

Als sie die Tür des Badezimmers öffnete, war sie wenig überrascht, Nathan zu sehen. Er hatte auf sie gewartet. „Du hast recht. Ich habe mit dir geflirtet. Mit dir an meiner Seite ist es irgendwie einfacher, leichter. Du hast eine ganz wunderbare Art, durchs Leben zu gehen. Das hat abgefärbt. Tut mir leid, wenn ich dir zu nahegetreten bin.“

Lynn blinzelte überrascht. Sie hatte eigentlich mit einem weiteren Streitgespräch gerechnet und nicht mit einer Entschuldigung. Abwartend sah sie ihn an. Er kam langsam zu ihr rüber und reichte ihr einen Scheck. „Die Hälfte der versprochenen Summe. Das ist nur fair. Immerhin ist die erste Woche bereits vorüber.“

Lynn musste all ihre Kraft aufwenden, um den Scheck entgegenzunehmen. Er war die Rettung. Die Hilfe, nach der sie verzweifelt gesucht hatte. Sie berührte das Papier, doch Nathan gab es noch nicht frei.

„Vielleicht möchtest du mir von deinen Problemen erzählen? Ich bin Geschäftsmann. Manchmal hilft ein anderer Blickwinkel, um neue Lösungen zu finden.“

„Meine Geldprobleme sind allein meine Angelegenheiten“, erwiderte sie kurz angebunden.

Er legte den Kopf schief. „Ja, das habe ich bereits bemerkt. Du legst sehr viel Wert auf Unabhängigkeit. Das verstehe ich gut. Hilfe anzunehmen heißt aber noch lange nicht, die eigene Unabhängigkeit aufzugeben.“

„Keine Hilfe ist umsonst. Und ich regele meine Probleme normalerweise alleine. Trotzdem danke.“ Lynn nahm den Scheck und ging auf den Balkon hinaus, wartete darauf, dass Nathan das Zimmer verließ. Doch er blieb noch einen Moment stehen und schien zu überlegen, ob er sie allein lassen sollte. Sie spürte seinen Blick wie Nadelstiche im Rücken.

Ihre Worte waren hart gewesen, und sie taten ihr bereits leid. Eigentlich hätte sie nichts lieber getan, als Nathan um Rat zu fragen. Doch die Vergangenheit hatte sie gelehrt, dass man nur auf sich selbst bauen konnte. Die eigenen Probleme auf anderer Leute Schultern abzuladen brachte überhaupt nichts. Lynns Mutter war das beste Beispiel dafür. Sie hatte ihr Leben damit verbracht, andere zu umschmeicheln. Und was hatte es ihr gebracht? Das Erbe war noch immer nicht gerettet, und ihre Töchter standen so unter Druck, dass sie ihr Leben nicht genießen konnten.

Und dann war da noch die Sache mit ihrer Vermieterin. Sie musste erst herausfinden, was los war. Dann konnte sie Nathan in ihre Mietprobleme einweihen. Eins war allerdings sicher: Ihre Vermieterin wollte ihr gezielt das Leben schwer machen. Sie hatte die Miete absichtlich so erhöht, um einen prestigeträchtigeren Mieter zu finden. Das Traurige daran war, dass die Vermieterin am längeren Hebel saß.

Nach einer Weile folgte Lynn Nathan nach unten in den Trubel. Sie mied ihn vorerst und beschäftigte sich mit Tischkärtchen, die Emma aus irgendeinem Grund handgefertigt haben wollte. Die Braut bestand darauf, dass die Hochzeit auch eine persönliche Note bekommen sollte. Dazu gehörten eben auch von der Familie angefertigte Karten.

Auch in den nächsten Tagen gingen sich die beiden, so gut es ging, aus dem Weg. Das blieb von der Familie nicht unbemerkt, doch noch fragte niemand nach. Damit das auch so blieb, zog sich Lynn meist etwas zurück. Der Pool war dabei ihr liebster Aufenthaltsort. Sobald niemand dort war, setzte Lynn sich auf eine Liege und las in einem Buch. Das lenkte sie wenigstens vom Grübeln ab.

„Ich habe dir für heute Abend ein Kleid besorgt.“ Nathan hatte sich unbemerkt genähert und setzte sich ungefragt auf die Liege neben sie. „Ich hoffe, es gefällt dir.“

„Du hast mir ein Kleid gekauft?“, fragte sie irritiert und ließ ihr Buch sinken.

Nathan zuckte mit den Schultern. „Als Muster habe ich eines deiner Kleider genommen. Jetzt schimpf nicht sofort mit mir. Du hast kein geeignetes Kleid, das weiß ich genau. Du hättest von mir auch kein Geld angenommen, um dir ein passendes Kleid zu kaufen. Genau. Diesen empörten, wütenden Blick habe ich erwartet.“

Kopfschüttelnd stand Nathan auf und sah auf sie hinunter. „Wir müssen uns wieder vertragen, sonst geraten hier bald alle in Panik. Also bereite dich mental schon mal darauf vor: Heute Abend sind wir nach dem Brautpaar das verliebteste Pärchen des ganzen Saals. Alle Augen werden auf uns gerichtet sein. Alle werden uns beobachten. Also reiß dich zusammen.“

Er warf Lynn einen so warnenden Blick zu, dass ihr kalt wurde. Nathan konnte auch anders sein als der nette Sonnyboy, den er ihr vor ein paar Tagen präsentiert hatte. Sobald es ums Geschäft ging, konnte er knallhart werden.

Aus irgendeinem Grund machte sie der Gedanke traurig. Seit ihrem Streit war Nathan wieder in sich gekehrt, was sich auch auf die Hochzeitsvorbereitungen auswirkte. Mit dir an meiner Seite ist es irgendwie einfacher, leichter, hatte er gesagt. Erst jetzt begann sie zu begreifen, wie anders er sich wegen ihr verhalten hatte.

Das ist nicht dein Problem, ermahnte sie sich streng. Du hast genug andere Sorgen. Du bist nicht schuld daran, wie Nathan sich jetzt verhält.

Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen.

Da Nathan es von ihr erwartete, stand sie auf und ging in ihr Zimmer. Auf ihrem Bett lag ein Kleid, noch in Folie verpackt. Sie wickelte es aus und starrte es verblüfft an. Es war perfekt. Wunderschön. Woher hatte er nur gewusst, dass Dunkelviolett ihre Lieblingsfarbe war? Und dass sie Petticoat-Kleider ganz einfach liebte, sie aber fast nie trug?

Dieses hier war weiß mit zartem, violettem Blumenmuster, das das Kleid verspielt, aber nicht überladen aussehen ließ. Lynn wusste, dass der Pettycoat ihre schmale Schulterpartie perfekt zur Geltung brachte. Hatte Nathan das ebenfalls bemerkt? Oder war Emma es gewesen?

Sie wäre niemals auf die Idee gekommen, einen Pettycoat auf eine solch edle Feier anzuziehen. Doch Nathan hatte es irgendwie geschafft, ein Kleid zu besorgen, das trotz der bunten Blumen und der Schleife um die Taille schick aussah. Sie drückte es glücklich an sich und atmete tief durch.

Nathan. Wenn er nicht unerreichbar für sie wäre, könnte er sich schneller als erwartet in ihr Herz schleichen. Unerreichbar. Ihr war nur allzu bewusst, dass sie sich ihre Grenzen selbst setzte. Dass sie es selbst war, die ihn für sich unerreichbar machte. Aber es musste sein. Sie musste sich und ihren Stolz schützen – zumindest das bisschen, das noch da war.

Sie würde also heute Abend auf diese Feier gehen und mit ihm das verliebte Paar spielen. Dabei musste sie höllisch aufpassen, die unsichtbare Grenze nicht zu überschreiten. Sie hatte ihn schon einmal in seine Schranken gewiesen. Seitdem war es schwierig für sie geworden.

Ihr Blick fiel auf ihren Koffer, in dessen Inneren der Scheck lag. Unberührt. Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihn einzulösen. Die Fahrt zur Bank, die Überweisung. All das ließ das Geschäft nur allzu real werden. Ein kleiner Teil von ihr wollte das Geld auf keinen Fall annehmen, aber trotzdem hierbleiben. Ganz einfach, weil sie die Familie zu mögen begann. Sobald sie jedoch den Scheck einlöste, war all das nichts weiter als ein Geschäft. Also hatte sie ihn vergraben und seitdem nicht wieder angerührt.

Sie straffte sich. So oder so – heute Abend musste sie es schaffen, sich zusammenzureißen.

Professionelle Distanz. Das musste heute Nathans neues Mantra werden. Doch als Lynn den Raum betrat und sich suchend nach ihm umsah, war sein Vorsatz sofort dahin. Sie sah einfach umwerfend aus. Natürlich, aber trotzdem elegant. Grazil, aber dennoch selbstbewusst.

Als ihre Blicke sich begegneten, kam sie lächelnd auf ihn zu. Zu dem Kleid trug sie eine Schleife im Haar, die ihre Locken bändigte und perfekt zur Schleife um ihre Taille passte. Er hatte ihr drei verschiedene Paar Schuhe zur Auswahl ins Zimmer bringen lassen. Sie hatte sich für die glänzenden Highheels entschieden und lief darauf völlig mühelos.

Nicht nur er schien von ihrem Anblick bezaubert zu sein. Der Raum war mittlerweile voller Gäste. Geschäftsleute seines Vaters, weit entfernte Verwandte, aus den Augen verlorene Bekannte aus der Jugend. All jene, die Emmas und Jacks Weg gekreuzt hatten oder die aus gesellschaftlichen Gründen eingeladen werden mussten. Ihre Blicke glühten vor Neugierde, als Lynn durch den Raum schwebte und mit einem Lächeln vor Nathan stehen blieb.

Wie sehr wünschte er sich, dass dieses Lächeln wirklich nur ihm galt. Nur ihm allein. Doch es war alles nur gespielt, das durfte er nicht vergessen. Er hatte es ihr schließlich selbst befohlen. Dennoch machte sein Herz einen Satz, und er erwiderte das Lächeln fast automatisch.

„Du bist wunderschön“, sagte er unwillkürlich und meinte es auch so. Für einen Moment wirkte Lynn verunsichert. Offenbar fragte sie sich genau wie er, wie viel davon wahr und wie viel geschauspielert war. Sie schien sich für Letzteres entschieden zu haben, denn ihr Gesicht wurde ausdruckslos.

„Danke“, sagte sie kühl. Um ihrer Rolle gerecht zu werden, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, knapp neben den Mund. Wer nicht zu genau hinsah, hielt es sicherlich für einen Begrüßungskuss. Nathan stockte unwillkürlich der Atem. Er war erstaunt, was die plötzliche Nähe bei ihm auslöste.

Sehnsucht. Eine so allumfassende Sehnsucht nach weiteren Berührungen, dass es ihn fast erschreckte. Unwillkürlich streckte er den Arm aus und zog sie an sich. Leicht, nur ein bisschen. Er betete, dass sie es als Teil der Schauspielerei ansehen würde. Sie würde wieder wütend werden, wenn sie den Eindruck bekam, er nutzte die Situation aus. Und das tat er gerade. Das musste er zugeben.

Sie löste sich aus seiner Umarmung und räusperte sich, trat einen großen Schritt zurück. Er gab es ungern zu, aber sie hatte recht damit. Es war besser, eine gewisse Distanz zu wahren.

Außerdem – was tat er hier überhaupt? Nach Maggie hatte er sich geschworen, für immer die Finger von Frauen zu lassen. Es hatte ihn all seine Überwindung gekostet, um Maggie überhaupt in seinem Leben zu akzeptieren. Sich für sie zu öffnen. Und dann? Der Moment, als sie mit ihm Schluss gemacht hatte, war so plötzlich gekommen. So unerwartet und ohne Vorwarnung, dass er sich bis heute noch nicht davon erholt zu haben schien.

Okay. Wenn er ganz ehrlich zu sich war, hatte die Beziehung von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden. Sie waren wie zwei Ertrinkende gewesen, die sich aneinanderklammerten, um Boden unter den Füßen zu bekommen. Er hatte nicht versucht, Maggie zu verändern. Im Gegenzug hatte sie ihn dafür in Ruhe gelassen. Fast schon zu sehr. Sie hatte nichts dagegen gehabt, dass er sich in seinen Gedanken verlor. Sich nur für seine Geschäfte interessierte. Sie war ja selbst nicht anders gewesen. Lynn hingegen …

„Konzentrier dich, sonst fliegen wir sofort auf“, unterbrach Lynn seine Gedanken und stupste ihn an. „Die Leute beobachten wirklich jeden unserer Schritte. Das ist fast schon skurril.“ Lynn war ehrlich schockiert über die unverhohlene Neugierde der anderen. Sie sah ihn aus ihren grünen Augen fragend an. „Was jetzt?“

Anstatt einer Antwort nahm Nathan zwei Gläser Champagner vom Tablett eines Kellners und reichte ihr eins davon. „Entspann dich und lächle einfach. Dann stellt schon keiner Fragen.“

Lynn nahm zwar das Glas, wirkte aber keineswegs beruhigt. „Ich komme mir gerade lediglich wie ein hübsches Accessoire vor, das du gerne herumzeigen möchtest“, bemerkte sie mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.

Autor

Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
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