Romana Extra Band 74

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SÜßE NÄCHTE IN VENEDIG von D'ANGELO, ROSA
Ein Blick, und es ist um Carlotta geschehen: Maurizio Castello ist der Mann ihrer Träume. Doch sie darf sich nicht in ihn verlieben! Denn der attraktive Geschäftsmann ist nur kurz in Venedig und offenbar bereits vergeben …

KANN DAS WIRKLICH LIEBE SEIN? von SHAW, CANDACE
Auch wenn Bryce Monroe jetzt zur Familie gehört - Sydney kann ihn nicht ausstehen. Nur widerwillig fährt sie gemeinsam mit ihm nach Las Vegas. Doch unterwegs lernt sie den charmanten Playboy von einer ganz neuen Seite kennen. Und plötzlich gerät ihr Herz in Gefahr …

KOMMT MIT MIR INS PARADIES! von SHAW, CHANTELLE
Liebe wird Belle in seinen Armen nicht finden, bloß heiße Leidenschaft. Der faszinierende Milliardär Loukas Christakis stellt von vornherein klar, dass er nur an einer Affäre interessiert ist. Doch die Nächte auf seiner paradiesischen Privatinsel haben ungeahnte Folgen …

NUR EIN FLÜCHTIGES GLÜCK? von FIELD, SANDRA
Er ist der Vater ihres Schützlings - und damit ihr Boss! Nach einer sinnlichen Nacht erwartet Lise ein Kind von Tycoon Judd Harwood. Sie ist sich sicher: Für den bekannten Playboy war sie nur eine Affäre. Oder täuscht sie sich etwa ihn ihm?


  • Erscheinungstag 30.10.2018
  • Bandnummer 0074
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744434
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rosa d’Angelo, Candace Shaw, Chantelle Shaw, Sandra Field

ROMANA EXTRA BAND 74

ROSA D’ANGELO

Süße Nächte in Venedig

Er ist nach Venedig gekommen, um einen Palazzo zu kaufen – und verliert sein Herz. Doch die hinreißende Carlotta lässt ihn abblitzen. Dabei spürt Maurizio genau: Sie ist die Richtige!

CANDACE SHAW

Kann das wirklich Liebe sein?

Für Bryce Monroe war es Liebe auf den ersten Blick. Doch die umwerfende Sydney kann ihn nicht ausstehen, das weiß er. Warum erwidert sie dann so leidenschaftlich seinen Kuss?

CHANTELLE SHAW

Komm mit mir ins Paradies!

Der Milliardär Loukas Christakis lädt Belle auf seine Privatinsel ein. Sie soll das Hochzeitskleid für seine Schwester anfertigen – und seine Geliebte sein! Ein lustvoller Plan mit ungeahnten Folgen …

SANDRA FIELD

Nur ein flüchtiges Glück?

Tycoon Judd Harwood ist vom ersten Moment an hingerissen von Lise, der neuen Nanny seiner Tochter. Schon bald begehrt er Lise immer mehr, doch sie weist ihn ab. Denn sie hält ihn für einen Playboy …

1. KAPITEL

Der Wind spielte mit Carlottas langen kastanienbraunen Haaren, als sie sich über die Reling lehnte, um den fantastischen Blick auf den hohen schlanken Campanile und den Dogenpalast zu genießen. Wie an jedem Tag, an dem sie mit dem Vaporetto von der Insel Giudecca nach San Marco übersetzte, konnte sie es kaum fassen, dass sie jetzt inmitten all dieser historischen Pracht und Schönheit lebte.

Sie war erst vor ein paar Monaten von Amerika hierher nach Venedig gezogen und hatte sich Hals über Kopf in die wunderschöne Stadt an der Lagune, deren poetischen Beinamen „Serenissima“ sie besonders mochte, verliebt. Obwohl sie sich anfangs dagegen gewehrt hatte. Zu viele Probleme waren mit Italien verbunden. Dennoch sollte ausgerechnet hier ihre Zukunft liegen. Das hatte sie ihrer Tante Rosalie an deren Sterbebett versprechen müssen. Rosalie hatte sie nach dem frühen Tod ihrer leiblichen Eltern aufgezogen, und Carlotta hatte sie geliebt wie eine Mutter.

Trotz ihrer Vorbehalte hatte Venedig sie auf Anhieb in ihren Bann gezogen. Jeden Tag überraschte die Lagunenstadt sie aufs Neue. Obwohl Carlotta die Sprache perfekt beherrschte, war ihr dennoch vieles immer noch fremd. Nicht nur der Singsang des venezianischen Dialekts, sondern auch die Mentalität der Menschen. Sie war durch und durch Amerikanerin, aber die Vorfahren ihres Vaters und seiner Schwester Rosalie stammten ursprünglich aus Venezien. Wenn sie sich jedoch vergegenwärtigte, was ihre Tante ihr kurz vor dem Tod eröffnet hatte, stieg jedes Mal Wut über die Ungerechtigkeit in ihr auf. Sobald sie daran dachte, wie ihre Familie betrogen worden war, ballte sie unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Und ihr wurde angst und bange, da es jetzt an ihr lag, dafür zu sorgen, dass endlich späte Gerechtigkeit hergestellt wurde. Allerdings hatte Carlotta noch immer keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Zunächst hatte sie auch genug damit zu tun, sich in ihrem neuen Job und dieser ihr fremden Welt zurechtzufinden.

Hier in Venedig ging es sehr viel lauter und temperamentvoller zu, als sie es aus Wakefield in Massachusetts gewohnt war. Tief in ihrem Herzen vermisste sie die kleine Stadt am Crystal Lake immer noch, in der sie einst ihrer Tante Rosalie das Versprechen gegeben hatte.

Um es einzuhalten, hatte sie ihren tollen Job in einem New Yorker Nobelhotel aufgeben müssen. Trotzdem hatte sie keinen Moment lang gezögert, als sie das ersehnte Angebot bekam, als Assistentin der Geschäftsleitung im Hotel Danello zu arbeiten.

Die italienische Personalchefin, mit der sie früher in einem Hotel in Boston zusammengearbeitet hatte, hatte sich an sie erinnert und ihr die Stelle angeboten. Carlotta hatte die Gelegenheit ergriffen, ihr kleines Apartment gekündigt, ihre wenigen Habseligkeiten verkauft und Amerika hinter sich gelassen, um sich mutig in das Abenteuer Italien zu stürzen. So kam sie der Einlösung des Versprechens, späte Gerechtigkeit für ihre Familie wiederherzustellen, endlich einen großen Schritt näher. Zumindest hoffte sie das.

Als der Wasserbus nach der kurzen Fahrt über den Canal Grande an der Haltestelle San Marco Zaccaria festmachte und Carlotta sich mit all den anderen Fahrgästen über den leicht schwankenden Anleger vom Vaporetto an Land drängte, schlug ihr die sommerliche Hitze entgegen. Sie beneidete die Touristen, die in Shorts und luftigen T-Shirts die Stadt erkundeten. Sie selber trug ein dunkelblaues Businesskostüm, Nylonstrümpfe und ihre bequemen Sneakers. Die hohen Pumps, die sie während der Arbeit anzog, standen an ihrem Schreibtisch bereit. Im Danello wurde bei den Angestellten großer Wert auf ein gepflegtes Outfit gelegt.

Carlotta betrat das Hotel durch den seitlichen Personaleingang und lief die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Sie war froh, dass ihr Chef noch nicht da war, als sie in ihr Büro gleich neben seinem huschte.

Sosehr sie ihren Job liebte, so sehr litt sie unter ihrem Vorgesetzten. Obwohl sie fachlich kompetent war und sich Mühe gab, besonders freundlich zu Mario Visconti zu sein, konnte sie ihm einfach nichts recht machen.

Ständig kritisierte er sie und ihre Arbeit, hatte immer etwas auszusetzen und ließ keine Gelegenheit aus, ihr das Leben schwer zu machen. Carlotta wusste, dass er sie am liebsten möglichst schnell wieder loswerden würde. Ihre Tante Rosalie hatte sie vor ihm und seiner Familie gewarnt.

Die Personalchefin vermutete, dass der Geschäftsführer sauer war, weil seine neue Assistentin über seinen Kopf hinweg eingestellt worden war – anstelle seiner unfähigen Cousine, die er sich für den Job gewünscht hatte. Carlotta dagegen befürchtete, dass Mario Visconti ahnte, wer sie wirklich war. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie sein Geheimnis kannte, bis sie die fehlenden Beweise gefunden hatte. Sie musste ihren Job fehlerfrei erledigen, ihm keinen Grund geben, sie zu entlassen, und gute Miene zu seinem bösen Spiel machen. Dieser Teil des Vermächtnisses ihrer Tante lag ihr besonders schwer auf der Seele.

Carlotta begann den Tag mit dem üblichen Meeting mit der Hausdame Signora Favero. Dabei erfuhr sie von dem neuen Gast, der gegen Nachmittag anreisen würde. Er hatte die edelste Suite im Hotel gebucht, die meist leer stand, weil kaum jemand sich den horrenden Preis leisten konnte. Eine gute Nachricht fürs Danello. Nachdem sie sich versichert hatte, dass alles perfekt vorbereitet war, zog Carlotta sich an ihren Schreibtisch zurück und arbeitete konzentriert am Computer. Sie war froh, dass Mario Visconti sie heute anscheinend in Ruhe ihren Job machen ließ.

Sie freute sich auf den Abend, an dem sie endlich das kleine Fischlokal besuchen wollte, das ein Freund vor Kurzem in Cannareggio, im Norden der Stadt, eröffnet hatte, und das bislang ein echter Geheimtipp war.

Als sie um halb sieben den Rechner ausschaltete und ihre Sachen zusammenpackte, schnarrte jedoch die Stimme ihres Chefs aus der Gegensprechanlage: „Signorina Leone, kommen Sie mal eben rüber!“

Carlotta seufzte. Was wollte er denn jetzt noch von ihr? Sie drückte auf den Knopf und antwortete zuckersüß: „Aber gerne, Signor Visconti.“

Als sie sein Büro betrat, war er offensichtlich selbst auf dem Sprung. Die gepackte Aktentasche lag schon bereit.

„Da sind Sie ja endlich“, begrüßte er sie, ohne sie anzusehen. Er wühlte nach etwas auf seinem chaotisch überladenen Schreibtisch, fischte einen Zettel aus dem Papierberg, stand auf und drückte ihn ihr in die Hand. „Hier. Dieser Amerikaner, der heute angekommen ist, benötigt noch Ihre Dienste.“

„Wer?“, fragte sie verständnislos und las den hingekritzelten Namen: Maurizio Castello.

„Na, der New Yorker, der die Lagunen-Suite gebucht hat.“

„Ach so, ja, richtig. Signora Favero hat mir heute Morgen davon erzählt. Was will er denn? Extra-Handtücher, irgendwas Besonderes für die Mini-Bar? Ich kann ihm gerne eins der Zimmermädchen vorbeischicken.“

„Nein, es geht um eine Übersetzung bei seinem Geschäftsessen in unserem Restaurant.“

„Und dafür soll ich ihm einen Dolmetscher besorgen?“ Carlotta war genervt von den Info-Bröckchen, die ihr Chef ihr hinwarf. Warum konnte er nicht einfach einen normalen Satz formulieren, damit sie wusste, was er von ihr erwartete? Musste er es ihr denn immer schwerer als nötig machen?

Mario Visconti schüttelte den Kopf. „Dafür ist es zu spät. Das Essen findet in einer halben Stunde bei uns im La Vista statt. Deshalb müssen Sie einspringen.“

„Äh, ja natürlich“, antwortete sie verblüfft. „Aber ich bin keine ausgebildete Dolmetscherin.“

„Das ist jetzt egal. Der Gast ist König, und seine Sonderwünsche, mögen sie auch noch so ausgefallen sein, müssen in jedem Falle befriedigt werden“, leierte er sein ewig gleiches Mantra herunter. „Wir sind schließlich das Danello!“ Er zog die Augenbrauen zusammen und sah sie an. „Also geben Sie sich Mühe! In jeder Beziehung!“ Kritisch ließ er den Blick über ihr Kostüm schweifen und blieb an ihren Sneakers hängen, in die sie bereits geschlüpft war. „Ziehen Sie Ihre Pumps an! Solange Sie in meinem Hotel sind, will ich Sie nicht noch mal in diesen ausgelatschten Turnschuhen erwischen!“

Carlotta brauste innerlich jedes Mal auf, wenn Visconti von „seinem“ Hotel sprach, denn tatsächlich war er nicht der wahre Chef des Danello. Zwar waren er und seine Familie vermutlich im Besitz von alten Papieren, die genau das belegten, aber nach dem, was Tante Rosalie ihr auf dem Sterbebett eröffnet hatte, mussten das Fälschungen sein.

Carlotta hatte Mühe, ihre heimliche Wut auf ihn und seine Vorfahren ein weiteres Mal zu unterdrücken. Ihr blieb jedoch nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, bis sie den Betrug beweisen konnte. Ob ihr das je gelingen würde? Oder würde Mario Visconti ihr Geheimnis vorher aufdecken und dafür sorgen, dass sie unter irgendeinem Vorwand ihre Stellung im Danello verlor und damit die letzte Chance auf Wiedergutmachung? Obwohl das frustrierend war, half es nichts. Sie musste sich vorerst seinen Anweisungen fügen, wenn sie ihren Job behalten wollte. Also erwiderte sie zähneknirschend: „In Ordnung.“

Als sie in ihrem Büro in die hohen Schuhe schlüpfte und ihr Make-up auffrischte, fluchte sie innerlich vor sich hin. Da hatte sie einmal ihren freien Abend verplant, doch nun musste sie sich stattdessen mit irgendeinem Amerikaner im Hotel treffen. Wenigstens war das La Vista eins der besten Restaurants der Stadt und bot einen traumhaften Blick über die Lagune, aber zum Essen war sie schließlich nicht eingeladen.

Nur zum Übersetzen. Sie seufzte. Hoffentlich würde es nicht so lange dauern. Vielleicht kann ich später noch nach Cannareggio fahren, überlegte sie, als sie das Restaurant betrat und den Oberkellner mit zwei Wangenküsschen begrüßte. Antonio war ein guter Freund ihrer Mitbewohnerin Sabrina, und seinem Freund Matteo gehörte das Fischlokal, in das sie jetzt viel lieber gegangen wäre.

„Ist der Amerikaner schon da?“, fragte sie und sah auf den Zettel in ihrer Hand. „Maurizio Castello heißt er.“

„Nein, aber ich habe euch den Tisch ganz hinten auf der Terrasse reserviert, damit ihr eure Ruhe habt. Geschäftsessen?“, erkundigte sich Antonio.

„Ja, ich soll irgendwas übersetzen.“ Carlotta verdrehte die Augen. „Keine Ahnung, worum es geht.“

Gerade, als sie in die Richtung, die Antonio ihr anzeigte, losgehen wollte, wurde sie von hinten leicht angerempelt. Sie geriet auf den hohen Absätzen ihrer schwarzen Pumps ins Schwanken und spürte fast im selben Moment einen festen Griff um ihren Arm. Entrüstet drehte sie sich um. Bevor sie dazu kam, den Rüpel zurechtzuweisen, schaute sie in das Gesicht eines ausgesprochen attraktiven Mannes, mehr als einen Kopf größer als sie, der sie festhielt. Beim Blick in seine dunklen Augen stockte ihr der Atem, und sie vergaß augenblicklich die empörten Worte, die sie ihm ursprünglich entgegenschleudern wollte.

„Bitte verzeihen Sie mir, Miss. Ich war ganz in Gedanken.“

Seine tiefe Stimme faszinierte sie. Wortlos starrte sie ihn an, bis er entschuldigend mit den Schultern zuckte und erklärend den aufgeschlagenen Aktenordner hob, den er vor sich hertrug.

„Sorry, man sollte nicht gleichzeitig lesen und gehen.“

Sein entwaffnendes Lächeln ließ Carlottas anfängliche Verärgerung endgültig verrauchen. „Ist ja nichts passiert“, erwiderte sie und sah irritiert auf seine Hand, die immer noch auf ihrem Arm lag.

Jetzt schien auch er zu bemerken, dass er sie länger als nötig berührte. Er trat zögernd einen Schritt zurück, wobei sein Blick an ihren makellosen Beinen hinab zu ihren eleganten Lackpumps glitt.

Carlotta registrierte den angenehmen Duft seines Aftershaves, während sie ihn fasziniert anstarrte. Was für ein gut aussehender Mann! Er hatte kurze schwarze Haare und einen gepflegten Dreitagebart. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Sein perfekt geschnittener, dunkler Anzug war garantiert maßgeschneidert. Dazu trug er ein weißes Hemd und eine hellblaue Krawatte. Er sah sehr italienisch aus, hatte sie jedoch auf Englisch angesprochen, wie sie erst jetzt begriff.

Sein Blick auf ihre Schuhe machte sie nervös. War mit ihren Pumps irgendetwas nicht in Ordnung? Verwirrt sah sie ebenfalls an sich herunter.

Antonio tippte ungeduldig auf das dicke Buch mit den Reservierungen und versuchte ihre Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. „Carlotta, es ist der Tisch in der Ecke, ganz vorne an der Brüstung, mit Blick auf die Isola di San Giorgio.“

„Oh, scusi, Antonio!“, murmelte sie gedankenverloren. Sie sah zu ihrem Kollegen auf, der erneut in Richtung Terrasse zeigte, und lächelte entschuldigend. Carlotta zwang sich, sich nicht noch mal zu dem überaus attraktiven Mann hinter ihr umzudrehen, straffte die Schultern und ging zielstrebig quer durchs Restaurant nach draußen.

Am reservierten und mit einer weißen Decke, silbernem Besteck und einem hübschen Blumenarrangement geschmückten Tisch saß niemand. Carlotta schaute auf die Uhr – sie war zehn Minuten zu früh dran. Seufzend setzte sie sich und kramte in ihrer geräumigen Lederhandtasche nach dem Smartphone, um sich damit ein bisschen die Zeit zu vertreiben.

„Sorry, ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.“

Beim Klang der dunklen Stimme erschauerte sie und blickte überrascht aus der Tiefe ihrer Handtasche auf. Vor ihr stand der Mann von eben. Was wollte der denn schon wieder? Ob er ihr gefolgt war? Ihr Herz schlug etwas schneller, und eine Sekunde lang verfing ihr Blick sich in seinem. Mein Gott, was hat er für tolle Augen, ging es ihr durch den Kopf, sanft, tiefbraun und mit geschwungenen schwarzen Wimpern. Schließlich riss sie sich zusammen und sagte höflich: „Ich verstehe nicht. Was meinen Sie?“

„Nun, ich hab diesen Tisch für ein Geschäftsessen reserviert. Meine Gäste kommen sicher jeden Moment“, erklärte er freundlich, sah dabei jedoch demonstrativ auf seine silberne Armbanduhr.

Endlich kapierte Carlotta. „Sie sind Maurizio Castello!“, stieß sie aus.

„Woher wissen Sie …?“ Er sah sie fragend an.

Sie schob ihre Tasche auf den leeren Stuhl neben sich, stand auf und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. „Verzeihen Sie. Mein Name ist Carlotta Leone. Ich soll hier für Sie dolmetschen.“

„Oh“, antwortete er überrascht. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das Hotel mir so kurzfristig jemanden wie Sie schickt.“ Er strahlte sie an. Dann wurde er sich seiner Worte bewusst. „Äh, also ich meine … Ich hatte irgendwie gedacht, dass …“

Als sie ihn verständnislos ansah, ergänzte er: „Bitte entschuldigen Sie. Vielleicht liegt es am Jetlag. Ich bin erst heute aus New York angekommen und scheinbar noch nicht ganz da. Also noch mal: Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Leone.“

Er hatte wieder dieses entwaffnende Lächeln im Gesicht, als er ihre Hand ergriff, und ein Prickeln ging durch ihren Körper, als ihre Finger sich berührten. Sie stand stumm vor ihm und sah ihn verwundert an.

„Bitte nehmen Sie doch Platz“, sagte er irritiert, als sie keine Anstalten machte, seine Hand loszulassen.

Carlotta merkte, dass sie ihn immer noch festhielt, und murmelte verwirrt: „Äh, ja. Natürlich.“ Schnell setzte sie sich wieder.

Was ist nur mit mir los, fragte sie sich verwundert. Sie war doch sonst nicht so schüchtern. Unter gesenkten Lidern beobachtete sie heimlich, wie Maurizio Castello ihr gegenüber Platz nahm.

„Ein traumhafter Ausblick“, stellte er im Plauderton fest und blickte über den Canal Grande auf den hohen rötlichen Turm neben der weißen Kirche. „Ist das der berühmte Campanile?“

Carlotta sah auf und folgte mit dem Blick seiner Hand, die auf die andere Insel zeigte. „Nein, der Campanile steht hier um die Ecke auf dem Markusplatz“, erklärte sie höflich, wobei sie seine schlanken Finger eingehend betrachtete, die entschlossen auf sein Ziel deuteten. Auch, wenn er mit seiner Vermutung hier falschlag, hatte sie das Gefühl, dass dieser Mann gerne die Richtung vorgab. „Das dort drüben ist die Isola di San Giorgio Maggiore mit der Benediktiner-Abtei. Aber der Turm ist genauso hoch wie der von San Marco.“

„Sie kennen sich gut aus. Leben Sie schon lange in Venedig?“, fragte er beeindruckt.

„Nein, hier arbeite ich erst seit ein paar Monaten. Ich stamme aus Massachusetts.“

„Tatsächlich? Und Sie sprechen Italienisch?“

„Ich bin dank meiner Tante zweisprachig aufgewachsen. Meine Vorfahren stammen von hier.“

„Interessant! Meine auch“, erwiderte er erfreut.

Das erklärte sein italienisches Aussehen und den Namen. Carlotta betrachtete sein Gesicht mit den dunklen Augen und dem lässigen Dreitagebart genauer. Ein verdammt attraktiver Mann, ging es ihr wieder durch den Kopf. Als sie bemerkte, dass er auf eine Reaktion von ihr wartete, fragte sie schnell: „Und trotzdem sprechen Sie kein Italienisch?“

„Nein, leider nicht.“ Er lächelte entschuldigend. „Deshalb brauche ich ja Ihre Hilfe.“

„Gerne, aber ich warne Sie, ich bin keine professionelle Dolmetscherin.“

„Kein Problem, das meiste ist bereits geklärt. Eigentlich will ich heute nur kurz den Makler treffen, der mir morgen den Palazzo zeigt.“

„Palazzo?“, fragte sie irritiert.

„Ja, ich will …“

Bevor er weiter erklären konnte, worum es ihm ging, trat ein älterer Herr an den Tisch, sein Haar war grau meliert, und seine Anzugjacke spannte um den Bauch.

Scusi, Signor Castello?“ Er verbeugte sich mit übertriebener Höflichkeit vor dem Amerikaner.

„Mister Rossi, nehme ich an?“, erwiderte Maurizio Castello und erhob sich.

„Si, si, il Mediatore“, bestätigte er eifrig nickend.

„Miss Leone, das ist der Makler. Mister Rossi, Miss Leone, unsere Dolmetscherin“, stellte der Amerikaner sie einander vor.

Nach der Begrüßung zog Carlotta ihre Handtasche vom Stuhl neben sich, um Signor Rossi Platz zu machen, der sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihr setzte und sofort in schnellem Italienisch auf sie einredete. Er machte ihr Komplimente, wollte wissen, woher sie stammte und wo sie wohnte. Carlotta gab ihm höfliche, nichtssagende Antworten. Der Typ mit seiner schleimigen Art nervte sie, aber sie bemühte sich, nicht zickig zu reagieren. Schließlich war das ein Geschäftstermin.

Maurizios Blick verdüsterte sich, je länger der Makler mit Carlotta sprach. Er verstand zwar nicht die Worte, aber dass der aufdringliche Kerl diese attraktive Frau anbaggerte, entging ihm nicht. Erstaunt registrierte er, dass er einen Anflug von Eifersucht verspürte. Ein gänzlich unbekanntes Gefühl, das ihn stark irritierte. Und das auch noch wegen einer Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte. Allerdings hatte sie etwas an sich, das ihn auf Anhieb faszinierte.

Er wünschte, er hätte mehr Zeit, sie näher kennenzulernen, doch leider war er kein einfacher Tourist, der die Schönheiten Venedigs – zu denen diese Frau eindeutig gehörte – erkunden konnte. Er hatte schließlich einen wichtigen Auftrag.

Sofort fing es in ihm zu brodeln an. Er hasste es, nicht wirklich Herr über seine Zeit zu sein. Wieder einmal machte ihm sein Vater einen Strich durch die Rechnung – wenn auch nur indirekt. Es wurde Zeit, dass er sich endgültig von seiner Familie abnabelte. Allerdings hatte er seinem Dad sein Wort gegeben, sich um diese Angelegenheit zu kümmern. Immerhin gab ihm das die Gelegenheit, diese attraktive Frau ihm gegenüber weiter zu bewundern.

Sie war sehr feminin und zart, obwohl ihr langweiliges Businesskostüm nicht so recht nach seinem Geschmack war, doch sie wirkte ausgesprochen professionell und selbstbewusst. Was für eine interessante Mischung. Es gefiel ihm, wie sie diesen aufdringlichen Makler freundlich, jedoch bestimmt abblitzen ließ. Und was ihre Schuhe betraf, hatte sie gutes Stilgefühl. Ihre schlichten, aber eleganten Pumps waren ihm gleich aufgefallen.

Er betrachtete den strengen Haarknoten in ihrem Nacken und überlegte, wie ihr kastanienbraunes Haar, das in der Abendsonne leicht rötlich schimmerte, wohl aussah, wenn sie es offen trug.

Carlotta schien seinen intensiven Blick auf sich zu spüren und wandte sich ihm zu.

„Bitte verzeihen Sie, Mister Castello“, sagte sie auf Englisch. „Aber Ihr Freund hier scheint keine Eile zu haben, das Geschäftliche zu klären.“

„Er ist nicht mein Freund!“ Maurizio korrigierte sie knurrig, hatte sich jedoch sofort wieder im Griff. „Mister Rossi?“, sprach er den Makler direkt an und schlug demonstrativ den Aktenordner vor sich auf. „Hier wären noch ein paar Punkte zu besprechen, bevor Sie mir morgen das Objekt zeigen.“

Da er schon extra nach Venedig gereist war, um dieses Geschäft abzuschließen, wollte er sich wenigstens nicht länger als nötig mit dem unangenehmen Typen aufhalten. Er musste ihn loswerden. So schnell wie möglich. Vielleicht blieb ihm dann doch noch etwas Zeit, die er allein mit dieser faszinierenden Frau verbringen könnte.

Carlotta beeilte sich, ins Italienische zu übersetzen. Die kurz angebundene Reaktion des Amerikaners irritierte sie, doch ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, warum er so unwirsch auf ihre Bemerkung reagiert hatte. Sie musste sich konzentrieren, um möglichst exakt zu dolmetschen, was die beiden Männer besprachen.

Es war höchst interessant, was sie dadurch über das historische Gebäude mitten in Venedig im Stadtteil Castello erfuhr. Sie kannte den alten Palazzo Perucci, der offensichtlich schon viele Jahre leer stand, und hatte immer bedauert, dass sich niemand um den Erhalt kümmerte.

Wie würde es sich in so einem antiken Gemäuer mit all der Pracht vergangener Zeiten wohl leben? Hoffentlich sollte daraus nicht ein weiterer Verkaufstempel für irgendeinen Luxusdesigner gemacht werden. Oder, noch schlimmer, ein Fast-Food-Restaurant, dachte sie wehmütig, nachdem sämtliche Fragen geklärt zu sein schienen.

Im Laufe der Jahre war ein Großteil der historischen Gebäude Venedigs von finanzstarken Investoren aus dem Ausland aufgekauft worden. Normale Venezianer konnten sich die steigenden Mieten schon lange kaum noch leisten. Die Stadt drohte zu einer einzigen Shopping-Mall zu werden.

Ob Maurizio Castello einer von diesen Finanzhaien war, die nur den schnellen Profit im Auge hatten? Oder verfolgte er mit dem Kauf ein anderes Ziel? Zumindest schien er sich mit Immobilien sehr gut auszukennen. Im Gegensatz zu ihr. Wenn sie doch nur auch so viel darüber wüsste. Dann könnte sie vielleicht den letzten Wunsch ihrer Tante erfüllen und das Hotel, das ihrer Familie vor drei Generationen gestohlen worden war, zurückbekommen. Aber leider würde sie den Amerikaner nach diesem Geschäftstermin nie wiedersehen. Und wer mal eben einen Palazzo kaufte, hatte garantiert weder Zeit noch Interesse an ihren Problemen mit dem komplizierten italienischen Immobilienrecht.

„Was möchten Sie essen, Miss Leone?“

Seine dunkle Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Oh, äh, ich …“, stotterte Carlotta überrumpelt. Sie hatte nicht damit gerechnet, danach gefragt zu werden.

„Was halten Sie von einem Garnelen-Carpaccio vorweg? Das hat mir der Kellner am Eingang vorhin empfohlen. Dann Pasta und vielleicht ein Steak als Hauptgang?“, fragte er weiter, ohne in die Menükarte zu sehen. Stattdessen fixierte er sie und wartete auf eine Antwort.

„Ja, gerne. Warum nicht?“, antwortete sie zögernd.

„Oh, Carpaccio klingt gut“, schaltete sich Signor Rossi sofort ein.

Maurizio Castello schenkte ihm jedoch keine Beachtung. Er hatte nur Augen für sie, die Frau ihm gegenüber.

Während sie auf den Kellner warteten, redete der Makler weiter belangloses Zeug auf Italienisch. Carlotta hörte kaum richtig zu, sondern betrachtete stattdessen versonnen die gepflegten Hände von Maurizio Castello, die auf dem weißen Tischtuch lagen. Sie konnte nicht anders, als sich vorzustellen, von ihnen berührt zu werden.

Wie würde es sich wohl anfühlen, seine Nähe zu spüren?

Augenblicklich merkte sie, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Sie verspürte ein angenehmes Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern. Die Vorstellung, in den Armen dieses überaus anziehenden Mannes zu liegen, war aufregend.

Carlotta bemühte sich, sich wieder auf das zu konzentrieren, was Signor Rossi vor sich hinredete, doch es gelang ihr nicht. Erst als er ihr erklärte, wer dieser reiche Amerikaner war, horchte sie auf.

„Er ist der Geschäftsführer von Castellioni“, wisperte Signor Rossi verschwörerisch. „Sie kennen sicher die teuren Pumps mit der berühmten silbernen Sohle aus Glitzersteinen?“

Carlotta nickte beeindruckt. Sie hatte sich schon mehrfach die Nase an den Schaufenstern der edlen Schuhgeschäfte in der Calle Larga XXII Marzo platt gedrückt, die diese sexy High Heels anboten. Doch immer, wenn ihr Blick auf die Preisschilder gefallen war, hatte sie den Kopf geschüttelt. Die Castellionis waren so exklusiv und teuer, dass sie solche Schuhe nie im Leben an ihren Füßen tragen würde.

Und hier saß ihr nun der Chef der Luxusfirma aus New York gegenüber. Sie konnte nicht anders, als ihn wieder fasziniert anzustarren. Unter ihrem Stuhl verschränkte sie gleichzeitig ihre Füße in den schwarzen Pumps, die nur einen Bruchteil des Preises, der für echte Castellionis verlangt wurde, gekostet hatten.

Das Garnelen-Carpaccio wurde serviert. Carlotta griff, ohne den Blick von Maurizio Castello zu lassen, nach dem silbernen Brotkorb. Sofort zuckte sie zurück, meinte, ein Stromschlag hätte sie getroffen. Ihre Finger hatten versehentlich seine gestreift, da er im selben Moment nach dem Brot gelangt hatte.

„Oh“, stieß sie verwirrt aus. Sie hatte das Gefühl, die Stelle, an der er sie berührt hatte, würde in Flammen stehen.

„Entschuldigen Sie“, erwiderte er lächelnd und hielt ihr das silberne Körbchen mit den warmen Weißbrotscheiben hin.

Er fing ihren verwirrten Blick auf, während sie zaghaft danach griff.

Carlotta ärgerte sich, als sie spürte, wie ihr die Röte den Hals hinaufkroch. Warum brachte dieser Mann sie bloß derartig aus der Fassung? Das war albern und unprofessionell. Nur weil er vermutlich mehrfacher Millionär und Chef des berühmtesten Schuhlabels der Welt war, musste sie doch nicht in Ehrfurcht vor ihm erstarren.

Sie riss sich zusammen, brach ein Stück Brot ab und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Sobald sich ihre Blicke wieder trafen, versagte ihre Stimme jedoch, und sie konnte nur ein undeutliches „Danke“ murmeln.

Zum Glück begann Signor Rossi langatmig die Vorzüge des Palazzo zu preisen, und sie musste einfach nur seine Worte übersetzen, statt sich in die Unterhaltung einzubringen. Die Antworten ihres Auftraggebers waren recht einsilbig. Auch er schien nicht ganz bei der Sache zu sein.

Maurizio lauschte nur halbherzig dem, was Carlotta abwechselnd auf Englisch und Italienisch dolmetschte. Stattdessen starrte er fasziniert auf ihre vollen roten Lippen, die sich beim Sprechen schnell bewegten, und stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, sie zu küssen.

Er fieberte dem Moment entgegen, wenn das Geschäftsessen endlich zu Ende wäre, und hoffte, der Makler würde sich bald verziehen, damit er wenigstens den restlichen Abend mit dieser attraktiven Frau allein verbringen konnte. Statt sich auf die Unterhaltung zu konzentrieren, plante er lieber detailliert den Verlauf der kommenden Stunden. Er hatte genügend Erfahrung, um seinen Schlachtplan nebenher entwerfen zu können. Er kannte seine Wirkung auf Frauen und hatte noch nie Probleme gehabt, diejenigen, auf die er ein Auge warf, auch in sein Bett zu bekommen.

Er würde Carlotta auf ein paar Drinks an der Bar einladen, die würden ihre Schüchternheit vertreiben. Und dann würde er sie mit hinauf in seine Suite nehmen. So lief es immer auf seinen Geschäftsreisen. Ein unverbindlicher, befriedigender One-Night-Stand, bei dem beide auf ihre Kosten kamen. Keine Verpflichtungen, keine Reue. Nur Spaß und Lust.

Die Vorstellung, sie schon bald in seinen Armen zu halten, ihre langen Haare aus dem strengen Knoten zu lösen, ihr das steife Businesskostüm auszuziehen und ihren nackten, warmen, sehr weiblichen Körper zu berühren, ihre vollen Brüste zu küssen und seine Zunge um ihre rosigen Spitzen kreisen zu lassen, bewirkte, dass er ein unmissverständliches Ziehen zwischen den Lenden verspürte.

Gleichzeitig war da aber noch ein anderes Gefühl, das ihn irritierte. Ein Anflug von Wehmut, die sich in seiner Brust ausbreitete. Wenn er morgen Abend abflog, zurück nach New York, würde er Carlotta Leone vermutlich nie wiedersehen. So war es bisher mit seinen Affären immer gewesen. Und es hatte ihm gefallen. Genauso wollte er leben – frei und ungebunden. Keine Verpflichtungen. Davon hatte er in seinem Job und seinem Vater gegenüber genügend. Die brauchte er nicht auch noch in seinem Liebesleben.

Diese Frau hier hatte allerdings etwas an sich, das ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Was war es bloß, was ihre verwirrende Mischung aus Schüchternheit und Selbstsicherheit bei ihm auslöste?

Verwirrt legte er sein Besteck zur Seite und lehnte sich zurück. Er riss seinen Blick von Carlottas Lippen los und blickte hinaus auf den Canal Grande, auf dem auch am Abend noch lebhaftes Treiben von Vaporetti, Lastkähnen, Gondeln und kleinen Sportbooten herrschte.

Ohne es zu ahnen, sah Maurizio Castello genau in Richtung Giudecca, der Insel, auf der ihr Apartment lag.

Carlotta folgte seinem Blick. Es erschien ihr wie ein Zeichen, als würde er sich ebenso wie sie danach sehnen, jetzt nur zu zweit dort drüben zu sein, statt mit diesem aufdringlichen Makler hier länger als nötig herumzusitzen.

Wenn der sich doch bloß endlich verabschieden würde. Dann könnte sie noch ein bisschen mit Maurizio plaudern, ihn besser kennenlernen. Andererseits, wozu eigentlich? Und hatte er überhaupt Interesse daran? Er schien eher gelangweilt von diesem Geschäftsessen zu sein.

Die dröhnende Stimme von Signor Rossi riss sie aus ihren Gedanken.

„Und zum krönenden Abschluss müssen Sie die Dessertvariationen hier probieren, Signor Castello! Die sind einfach fantastisch!“

Verstohlen seufzend übersetzte Carlotta, während der Makler bereits mit dem Kellner sprach. Offenbar genervt, dass es jemand wagte, eine Entscheidung über seinen Kopf hinweg zu treffen, widmete Maurizio sich demonstrativ seinen Akten.

Zum Glück dauerte es nicht lang, bis ihre Mitbewohnerin Sabrina, die Chefin der Patisserie im Restaurant La Vista, persönlich mit einem großen Silbertablett erschien. Sie zwinkerte ihr zu, bevor sie begann, die in hübschen Schälchen und auf kleinen Tellern angerichteten Köstlichkeiten auf dem Tisch zu verteilen. Angesichts der dekorativen Meisterwerke, die mit Früchten, karamellisierten Zuckerskulpturen und kunstvoll gestalteten Mustern aus schwarzer und weißer Schokoladensoße verziert waren, huschte endlich wieder ein Lächeln über das verschlossene Gesicht von Maurizio Castello.

Sabrina beschrieb die einzelnen Desserts auf Italienisch, und Carlotta übersetzte: „Das ist Amarettini-Mousse, dies sind Pasticciotto-Törtchen, Limoncello-Tiramisu, Basilikum-Eis, Crostata di Noci …“

„Danke, danke“, unterbrach er sie lachend. „Das klingt alles genauso fantastisch, wie es aussieht. Grazie!

Sie ließen sich die Desserts schmecken, doch als der Makler auch noch Grappa für alle bestellen wollte, widersprachen sie und Maurizio wie aus einem Mund.

„No, grazie!“

Verdutzt sahen sie sich in die Augen und mussten beide grinsen. Scheinbar waren sie sich sehr einig, dass sie nicht länger mit Signor Rossi hier sitzen wollten. Und endlich schien der Makler ein Einsehen zu haben. Er verabschiedete sich mit einem übertriebenen Handkuss von ihr, bestätigte erneut die morgige Verabredung am Palazzo und verschwand.

Als Maurizio Castello sich seufzend zurücklehnte und sich müde über die Augen strich, erschien ihr das wie eine Aufforderung, sich auch zu verabschieden. Carlotta griff fahrig nach ihrer Handtasche und machte Anstalten, aufzustehen.

„Wo wollen Sie hin?“, fragte Maurizio verblüfft und setzte sich auf.

„Nun … Mein Job ist erledigt. Sie sind sicher müde“, sagte sie zögernd.

„Aber nein!“, widersprach er vehement. „Der Abend fängt doch gerade erst an! Mit meinem Jetlag kann ich sowieso noch nicht schlafen. Bitte leisten Sie mir etwas Gesellschaft.“

Er blickte ihr tief in die Augen, und sie entdeckte ein wohlbekanntes Aufflackern darin, als er mit seiner dunklen, verführerischen Stimme hinzufügte: „Lassen Sie uns noch einen Drink an der Bar nehmen.“

Diesen Blick kannte Carlotta von den Italienern, die sie, seit sie vor wenigen Monaten nach Venedig gekommen war, mehr als einmal unzweideutig angemacht hatten. Von amerikanischen Männern war sie es gewohnt gewesen, dass es mindestens drei Dates brauchte, bevor sie mehr von einer Frau erwarten durften. Maurizio Castello hatte offenbar nicht so viel Zeit. Es war ihr sofort klar, was dieser selbstbewusste, attraktive Mann plante.

Obwohl sie bis eben davon geträumt hatte, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren, erschien ihr der Gedanke plötzlich völlig abwegig. Sie war nicht der Typ für einen One-Night-Stand. Wenn sie doch bloß ein wenig mehr Zeit hätten, sich kennenzulernen. Dann vielleicht … aber so … Nein, sie war sich zu schade, nur ein kurzes Sex-Abenteuer für einen Millionär auf Geschäftsreise zu sein.

Außerdem wäre sie ihren Job los, wenn ihr Chef mitbekäme, dass sie sich mit einem Hotelgast einließ. Sie wusste, dass so ein Verhalten als absolutes Tabu im Hotel Danello galt.

Wer weiß, überlegte sie, möglicherweise hatte Mario Visconti genau das bezweckt, als er ihr diesen Dolmetscherjob heute Abend so kurzfristig aufzwang. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass sie unvorsichtig wäre und sich von diesem besonderen Gast bezirzen ließe. Ihm war schließlich jedes Mittel recht, sie aus Venedig zu vertreiben.

So oder so, es gab genügend Gründe, sich schleunigst zu verabschieden, bevor sie doch noch schwach würde. Dennoch starrte sie auf Maurizios volle Lippen. Verdammt, er war genau ihr Typ. Dieses pechschwarze Haar, seine athletische Figur und die tiefbraunen, fast schwarzen Augen … Vielleicht könnte sie wenigstens …

Innerlich seufzend riss Carlotta sich zusammen und bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln, welches das Gefühlswirrwarr, das in ihr tobte, verbergen sollte. Sie sah ihn so selbstbewusst wie möglich an, wohingegen ihre Finger, die ruhelos die Henkel ihrer Ledertasche kneteten, ihre wahren Empfindungen verrieten.

„Sorry, Mr. Castello“, sagte sie schließlich distanziert, „aber es ist dem Personal nicht gestattet, mit Hotelgästen an der Bar zu sitzen.“

Das Glitzern verschwand aus seinen Augen und machte einem Anflug von Enttäuschung Platz.

„Nun, dann vielleicht wenigstens noch ein Espresso?“, wagte er einen neuen Versuch.

„Tut mir leid, aber es geht wirklich nicht. Vielen Dank für den netten Abend, doch jetzt muss ich leider gehen.“ Sie schob ihren Stuhl zurück.

Maurizio Castello sprang auf und machte einen Schritt auf sie zu.

Einen Herzschlag lang hoffte Carlotta, er würde sie in seine Arme schließen und ihr einen Abschiedskuss geben. Dennoch streckte sie ihm reflexartig die Hand entgegen.

Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung registrierte sie, dass er sie ergriff. Als er ihre Finger länger als nötig sanft zwischen seinen Händen festhielt, schaute sie verwirrt zu ihm auf und versank sofort wieder in dem Blick aus seinen dunklen Augen, die sie sehnsüchtig betrachteten. Da war keine Spur mehr von der Begierde, die sie eben noch darin entdeckt hatte. Mein Gott, was tat sie bloß? Warum lief sie vor ihm weg? Alles in ihr schrie danach, bei ihm zu bleiben, die wenigen Stunden, bevor er abreiste, mit ihm zu verbringen.

Ehe sie sich anders besinnen konnte, ließ er ihre Hand los und sagte förmlich: „Es war mir ein großes Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben, Miss Leone. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Vielleicht begegnen wir uns irgendwann mal wieder.“

Carlotta bekam keinen Ton heraus, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie nickte ihm nur zu und verließ eilig die Terrasse. Während sie sich zwischen den voll besetzten Tischen im Restaurant hindurchschlängelte, spürte sie schmerzhaft, wie sehr ihr die viel zu kurze Berührung seiner Hände schon jetzt fehlte.

2. KAPITEL

Carlotta hatte unruhig geschlafen, war immer wieder aufgewacht und hatte das Gesicht von Maurizio Castello vor sich gesehen. Sie bedauerte inzwischen zutiefst, dass sie gestern nicht wenigstens ein paar Stunden allein mit ihm verbracht hatte. Sie hätten doch außerhalb des Hotels noch einen Drink nehmen können, ohne dass ihr Chef etwas davon mitbekommen hätte.

Die halbe Nacht lang hatte sie sich danach gesehnt, in seinen Armen zu liegen. Und nicht nur das.

Sie seufzte auf. Nein, es war die richtige Entscheidung gewesen, nicht mit ihm zu gehen, versuchte sie, sich selbst zu überzeugen.

Aber warum hatte sie sich nicht einmal anständig von ihm verabschiedet, sich nicht mal für die Einladung zum Essen bedankt? Er musste sie für ausgesprochen unhöflich halten. Hoffentlich beschwerte er sich nicht bei Mario Visconti über ihr Benehmen.

Missmutig machte Carlotta sich einen Cappuccino und setzte sich mit hängenden Schultern zu ihrer Mitbewohnerin an den Frühstückstisch. Die Sonne schien durch das Fenster, doch heute hatte sie keinen Blick für den Canal Grande übrig, der durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Häusern in der Ferne glitzerte.

„Was ist denn mit dir los?“, erkundigte sich Sabrina, die mit großem Appetit in ihr Cornetto biss.

„Ach, nichts“, murmelte Carlotta, zog ein Bein unter sich, umfasste den Kaffeebecher mit beiden Händen und starrte auf den dampfenden Milchschaum.

Ihre Freundin dagegen war in Plauderlaune. Grinsend stellte sie fest: „Der Typ, dieser Amerikaner, sieht ja hammermäßig aus. Jedenfalls soweit ich das beurteilen konnte. Ich hab ihn leider nur kurz gesehen, als ich euch die Desserts serviert habe.“

„War ganz nett“, antwortete Carlotta einsilbig.

„Nun erzähl schon!“, forderte ihre Kollegin.

Carlotta seufzte. „Er will den Palazzo Perucci kaufen.“

„Echt?“

„Ja. Was er damit vorhat, weiß ich nicht. Vermutlich plant er, eine Boutique oder so darin zu eröffnen.“

„Oh nein! Wieder ein schönes altes Gebäude, das zweckentfremdet wird. Es ist zum Heulen!“, schimpfte Sabrina. „Dabei sieht er so nett aus.“

„Tja, auch Finanzhaie können attraktiv sein“, antwortete sie mit sarkastischem Unterton.

„Dass er verdammt gut aussieht, ist dir also doch aufgefallen.“ Sabrina zwinkerte ihr zu.

„Ja.“

„Wart ihr noch was trinken?“

„Nein.“

„Aber warum denn nicht?“, fragte Sabrina verständnislos. „Und lass dir nicht alles einzeln aus der Nase ziehen.“

„Du weißt doch selber, dass wir nichts mit Hotelgästen anfangen dürfen. Und außerdem hatte ich kein Interesse an einem kurzen Abenteuer!“

„Nun sei doch nicht so spießig. Ihr hättet doch hierher kommen können.“

„In unsere winzige Wohnung? Mit Maurizio Castello?“ Carlotta zog eine Augenbraue hoch. „Weißt du, wer er Typ ist? Das ist der Chef von Castellioni. Den kann ich doch nicht hierherschleppen!“

„Castellioni?“ Sabrina sah sie mit großen Augen an. „Echt? Die Schuhe mit der Silbersohle?“

„Ja.“

„Wow! Hat er dir wenigstens ein Paar geschenkt?“

„Quatsch! Ich hab nur als Dolmetscherin ausgeholfen, und das war’s. Er reist heute nach der Besichtigung des Palazzo zurück nach Amerika, und ich werde ihn nie wiedersehen.“ Sie verstummte, drehte sich gedankenverloren eine Locke ihrer langen kastanienbraunen Haare um einen Finger und sah wieder frustriert auf ihren Cappuccino. Bis vor Kurzem hatte sie noch selber in seiner Heimatstadt New York gelebt. Hätte sie ihrer Tante nicht dieses elende Versprechen gegeben, wäre sie wohl nicht nach Venedig gezogen. Andererseits wäre sie Maurizio in der Millionenmetropole vermutlich niemals begegnet.

Es war zum Haareraufen.

„Du scheinst es zu bedauern, dass er so schnell wieder aus Italien verschwindet.“

Sabrina riss sie aus ihren wehmütigen Gedanken, und Carlotta seufzte. „Er ist so ein sympathischer Mensch und sieht fantastisch aus. Wenn ich ehrlich bin, bereue ich total, dass ich gestern Abend einfach so abgehauen bin.“ Sie sah ihre Freundin bekümmert an.

„Ach, Süße.“ Sabrina beugte sich über den Tisch, nahm sie in den Arm und strich ihr tröstend über den Rücken. Dann setzte sie sich wieder auf und sagte voller Tatendrang: „Vielleicht ist er ja noch da, wenn du ins Danello kommst. Du könntest ihm vorschlagen, gemeinsam zur Palazzo-Besichtigung mit diesem Makler zu gehen. Wie wäre das?“

„Ich weiß nicht …“

„Ach, komm! Jetzt raff dich auf. Du musst es wenigstens probieren! Außerdem bist du sowieso schon spät dran. Also los!“

Carlotta hatte das Gefühl, neue Energie eingehaucht bekommen zu haben, als sie sich im Bad fertig machte. Die Aussicht, möglicherweise doch noch ein paar Stunden mit Maurizio verbringen zu können, steigerte ihre Laune. Sie hatte zwar keine Ahnung, wozu das führen sollte, aber das war erst einmal zweitrangig. Hauptsache, sie würde ihn wiedersehen.

Gut gelaunt bestieg sie das Vaporetto nach San Marco und eilte durch den Personaleingang ins Hotel – nicht ohne vor der Tür ihre Sneakers gegen die hohen Pumps getauscht zu haben, damit ihr Chef nicht wieder etwas zu beanstanden hatte.

Als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete, blieb sie wie angewurzelt stehen. Auf ihrem Schreibtisch stand ein riesiger Blumenstrauß, und dahinter, halb verdeckt von der bunten Blütenpracht, erwartete sie ihr Chef.

„Signor Visconti?“, fragte sie überrascht.

„Sie sind spät dran, Signorina Leone“, begrüßte er sie ungehalten.

„Es ist doch gerade erst neun. Und gestern habe ich schließlich unbezahlte Überstunden gemacht“, rechtfertigte sie sich.

„So, so. Überstunden nennen Sie das“, knurrte er und erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl. Er hielt ein kleines Kärtchen in der Hand und wedelte damit in ihre Richtung. „Und was ist das?“ Er deutete auf den Blumenstrauß. „Und das hier?“

„Äh, keine Ahnung. Sagen Sie es mir.“

„Dieser Strauß samt Karte stammt von Maurizio Castello. Damit bedankt er sich für …“ Er las die Worte mit schneidendem Unterton von der Rückseite der Visitenkarte ab: „… einen unvergesslichen Abend in äußerst angenehmer Gesellschaft.“ Er zog die Augenbrauen zusammen und sah sie an. „Sie wissen, dass es dem Personal verboten ist, etwas mit Hotelgästen anzufangen?“

„Was unterstellen Sie mir da, Signor Visconti?“ Carlotta funkelte ihn entrüstet an. „Ich habe lediglich den Job gemacht, um den Sie mich gebeten haben – bei einem Geschäftsessen übersetzen, obwohl das gar nicht zu meinen Aufgaben im Danello gehört. Und jetzt wollen Sie mir daraus einen Strick drehen?“

„Ach, Sie wollen also behaupten, dass nach dem Essen im La Vista nichts passiert ist?“, bohrte er unbeeindruckt weiter.

„Ganz genau! Ich bin nach Hause gefahren.“

„Vielleicht noch ein Drink in der Lagunen-Suite? Mit dem überaus attraktiven und überaus reichen Mr. Castello aus Amerika? Warum sonst sollte er Ihnen einen derart großen Blumenstrauß schicken? Als Dank für …“ Er las wieder jedes Wort süffisant betonend von der Karte ab. „… einen unvergesslichen Abend.“

„Nein!“, protestierte Carlotta aufgebracht. „Ich war nicht mit ihm in seiner Suite oder irgendwo anders. Ich bin nach Hause gefahren, und das war’s. Und jetzt lassen Sie mich bitte meinen Job machen.“ Wütend griff sie nach der schweren Vase und stellte die duftenden Blumen auf die Fensterbank.

„So leicht kommen Sie mir nicht davon, Signorina Leone“, sagte ihr Chef gehässig grinsend. „Ich werde weitere Erkundigungen einziehen und behalte Sie im Auge. Ihre Tage im Danello sind gezählt.“ Damit drehte er sich um und verschwand in sein Büro.

Carlotta war wie vor den Kopf geschlagen. Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken und starrte vor sich hin. Ihr Chef würde alles daransetzen, sie loszuwerden. Und jetzt meinte er, einen triftigen Grund gefunden zu haben, sie entlassen zu können. Vermutlich ist das von Anfang an sein Plan gewesen, wurde ihr klar. Nur deshalb hatte er sie gestern Abend zu dem Termin ins Restaurant geschickt. Wütend schlug sie mit der Faust auf die hölzerne Schreibtischplatte. Das durfte einfach nicht wahr sein!

Sie hatte es ihrer Tante Rosalie in die Hand versprochen, dass sie alles dafür tun würde, den Betrug, der ihrer Familie widerfahren war, aufzudecken. Doch dazu musste sie in der Nähe von Mario Visconti sein.

Ob sie versuchen sollte, Maurizio Castello zu erreichen, damit er bestätigte, dass zwischen ihnen gestern Abend nichts passiert war? Carlotta schüttelte den Kopf. Nein, auf keinen Fall. Er würde sie für verrückt halten. Dann schon eher Sabrina. Die konnte bezeugen, dass sie direkt nach dem Essen nach Hause gekommen war. Ja, und Antonio, der Oberkellner. Der hatte schließlich gesehen, dass sie das Restaurant allein verließ.

Carlotta nahm die kleine Karte aus festem Karton, die auf ihrem Schreibtisch lag, und drehte sie um. Auf der Rückseite der edlen Visitenkarte mit seiner Adresse in Amerika hatte Maurizio in schwungvoller Handschrift die netten Worte geschrieben, die ihr jetzt zum Verhängnis zu werden drohten: „Danke für einen unvergesslichen Abend in äußerst angenehmer Gesellschaft.“ Unterschrieben hatte er nur mit seinem Vornamen. Carlotta strich mit den Fingerspitzen darüber und murmelte: „Maurizio …“

Dann riss sie sich zusammen, legte das Kärtchen in die Schreibtischschublade und schob sie resolut zu. Schluss damit, rief sie sich zur Ordnung. Sie würde keinen Kontakt zu ihm aufnehmen, sich nicht für die Blumen bedanken, sondern ihn aus ihrem Leben streichen. Dieser Mann, dessen markantes Gesicht und dessen forschender Blick immer wieder vor ihrem inneren Auge auftauchten, war einfach zu gefährlich – für ihren Job und ihr Gefühlsleben.

Carlotta zögerte die morgendliche Besprechung mit der Hausdame länger als nötig hinaus, um nicht Gefahr zu laufen, Maurizio Castello vor seiner Abreise im Hotel zu begegnen. Inzwischen musste er bei der Palazzo-Besichtigung sein, aber vielleicht kam er danach zurück, um sein Gepäck abzuholen. Sie wartete lieber noch ein bisschen, bevor sie ins Büro von Signora Favero ging.

„Guten Morgen, Signorina Leone“, begrüßte die hagere Frau sie überrascht. „Da sind Sie ja endlich. Was war denn los, dass Sie jetzt erst kommen?“

„Ich hatte noch eine Besprechung mit Signor Visconti, und mein Schreibtisch war voll.“, murmelte Carlotta vage.

„Kein Problem, ich habe das meiste schon ohne Sie erledigt.“ Signora Favero lächelte verständnisvoll.

„Oh, danke! Ist so weit alles in Ordnung?“ Carlotta räusperte sich und fragte möglichst beiläufig: „Die Lagunen-Suite ist geräumt?“

„Nein.“

„Warum nicht?“, fragte sie erschrocken.

„Signor Castello hat seinen Aufenthalt bei uns verlängert.“

„Aber wieso?“, platzte Carlotta heraus, riss sich jedoch gleich wieder zusammen und ergänzte: „Wie lange denn?“ Sie ärgerte sich, weil sie in dem ganzen Durcheinander vergessen hatte, die aktuellen Zimmerbuchungen an ihrem Computer zu checken.

„Auf unbestimmte Zeit. Da wir derzeit keine Anschlussbuchung für die Suite haben, sollte das kein Problem darstellen, oder?“

„Nein, natürlich nicht!“, beeilte sie sich zu bestätigen. „Ganz im Gegenteil.“

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie überlegte, ob diese Verlängerung etwas mir ihr zu tun hatte.

Den Rest des Tages widerstand Carlotta nur mit Mühe dem Drang, sich im Hotel nach Maurizio Castello umzusehen. Sie hätte ihm in der Eingangshalle, im Restaurant oder auf dem Flur, der zu seiner Suite führte, womöglich wie zufällig begegnen können, doch sie igelte sich lieber in ihrem Büro ein, blickte immer wieder sehnsüchtig zu dem Blumenstrauß hinüber und hoffte, dass der Tag ohne weitere Überraschungen vorübergehen würde.

Schließlich knurrte ihr Magen vernehmlich, und Carlotta sah überrascht auf die Uhr. Schon weit nach sechs! Sie hatte längst Feierabend. Hastig packte sie zusammen, nahm den Blumenstrauß mit und verließ das Danello.

Als das Vaporetto nach Giudecca ablegte, grübelte sie, wo Maurizio Castello wohl gerade stecken mochte. Vermutlich aß er wieder im La Vista zu Abend. Ob er enttäuscht war, dass sie sich nicht für seinen Strauß bedankt hatte? Hatte er sich irgendwas davon erhofft? Sie sog den betörenden Duft der Blumen ein.

Ach, wahrscheinlich ist das nur die übliche amerikanische Höflichkeit, und er denkt schon längst nicht mehr an die unwichtige Übersetzerin von gestern, sagte sie sich.

3. KAPITEL

Als Carlotta am nächsten Morgen das Büro betrat, teilte ihr die Sekretärin Signorina Tresta mit, dass ihr Chef einen wichtigen Termin außerhalb des Hotels hatte und sie ihn vertreten musste. Trotz der damit verbundenen Mehrarbeit seufzte Carlotta erleichtert auf. Immerhin konnte er sie heute nicht schikanieren.

Die Sekretärin fuhr fort: „Man braucht noch einmal Ihre Hilfe als Dolmetscherin. Genauer gesagt dieser amerikanische Gast aus der Lagunen-Suite. Er hat sich gestern gemeldet und ausdrücklich nach Ihnen verlangt. Es geht um den Kaufvertrag für irgendeine Immobilie. Signor Visconti meinte, Sie wüssten darüber Bescheid.“ Signorina Tresta reichte ihr einen Zettel. „Hier ist die Adresse eines Notars im Sestiere Dorsoduro. Sie sollen dort um zwölf Uhr erscheinen.“

Sämtliche Muskeln in ihrem Körper verspannten sich, und Carlotta sah sie entgeistert an. „Aber wieso das denn? Der Anwalt wird ja wohl einen professionellen Dolmetscher haben, der den Job für ihn erledigt. Ich kenne mich mit juristischen Formulierungen doch überhaupt nicht aus“, protestierte sie.

„Sie schaffen das schon“, meinte die Sekretärin und lächelte ihr ermutigend zu.

Carlotta ließ sich seufzend auf ihren Stuhl sinken. Wie sollte sie gleichzeitig ihren Chef vertreten und zwischendurch noch einen anderen Job machen? Allerdings würde sie dort Maurizio Castello treffen. Ob das ein neuer Versuch von Mario Visconti war, sie in eine Situation zu bringen, die er gegen sie verwenden konnte?

Andererseits hatte Maurizio sich bereits gestern gemeldet. Ihr wurde schwindelig bei dem Gedanken. Während sie davon ausgegangen war, dass er sie längst vergessen hatte, hatte er versucht, sie zu erreichen. Ihr Chef hatte ihr das vorenthalten und sie stattdessen heute damit überrumpelt. Verdammt!

Würde ihr Italienisch für den Termin ausreichen, um sich nicht bis auf die Knochen zu blamieren? Zwar hatte sie dank Tante Rosalie von klein auf die Sprache ihrer Vorfahren gelernt, allerdings nur für Alltäglichkeiten, nicht die womöglich benötigten Fachbegriffe für ein großes Immobiliengeschäft.

Maurizio weiß, dass das nicht dein eigentlicher Job ist, sagte sie sich trotzig. Wenn er sie dennoch engagierte, konnte er nicht erwarten, dass sie den Kaufvertrag für einen Millionendeal perfekt übersetzte.

Sie grübelte eine Weile und gestand sich schließlich ein, dass sie trotz allem große Vorfreude auf das unverhoffte Wiedersehen verspürte.

Sie war spät dran, weil es noch so viel im Hotel zu tun gegeben hatte, als das Vaporetto an der Station Ca’ Rezzonico anlegte. Carlotta hetzte zu der Adresse in der Nähe des Campo Santa Margherita. Außer Atem betrat sie das Büro, wo sie vom Notar, Signor Rossi, dem derzeitigen Besitzer des Palazzo Perucci und Maurizio Castello bereits erwartet wurde. Die vier Herren erhoben sich und begrüßten sie höflich. Maurizio war heute weitaus weniger förmlich gekleidet als bei ihrem Treffen im Restaurant. Er trug schwarze Jeans und ein lässiges schwarzes Polohemd, das seinen ausgeprägten Bizeps perfekt zur Geltung brachte.

Als er ihr die Hand gab und ihr dabei in die Augen sah, huschte ein Lächeln über sein Gesicht, doch sofort sah er wieder ernst aus. Carlotta riss sich von seinem intensiven Blick los und setzte sich eilig auf den Stuhl, der neben dem schweren Ledersessel stand, in dem Maurizio Platz nahm. Sie umklammerte die Henkel ihrer Handtasche, die sie wie einen Schutzwall auf ihrem Schoß hielt.

Was mache ich hier bloß, fragte sie sich beklommen, während sie sich in dem geräumigen, Respekt einflößenden Büro mit dem breiten Mahagoni-Schreibtisch und den imposanten Regalen voller alter Bücher in Ledereinbänden, die bis unter die hohe Decke reichten, umsah. Sie fühlte sich plötzlich wieder so winzig und unbedeutend wie früher, musste an das schlichte Häuschen von Tante Rosalie und Onkel Robert am Crystal Lake denken. Dort war sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern aufgewachsen. Ein kleines Mädchen, das nie daran gedacht hatte, eines Tages in die große weite Welt hinauszuziehen.

Obwohl sie in bescheidenen Verhältnissen lebten, hatten ihre Zieheltern immer auf gute Bildung geachtet. Sie hatten dafür gesorgt, dass sie zu einer selbstbewussten jungen Frau heranwuchs, die es eines Tages mit den Mächtigen aufnehmen konnte. Ihre Tante hatte vehement darauf bestanden, dass sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau machte. Wieso ihr das so wichtig war, hatte Carlotta lange nicht verstanden.

Erst an ihrem Sterbebett hatte Rosalie ihr verraten, dass sie die Erbin eines großen Luxushotels in Venedig war, das einst ihren Vorfahren gehört hatte.

Carlotta musterte den Notar ihr gegenüber, der selbstgefällig hinter dem gewaltigen Schreibtisch thronte. Vielleicht war es einer seiner Vorfahren gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass die Ahnen von Mario Visconti, ihres jetzigen Chefs, ihre Familie mithilfe windiger Juristen um ihr Erbe betrogen hatten. Gegen so einen Advokaten würde sie mit ihren begrenzten Mitteln niemals eine Chance haben, wurde ihr schmerzlich bewusst.

Das gereizte Hüsteln des Anwalts riss Carlotta aus ihren düsteren Gedanken. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogenen, schien ihre geistige Abwesenheit zu bemerken und sah sie kritisch an. Nun erklärte er, dass die Verträge für den Verkauf des Palazzo zweisprachig verfasst waren, auf Englisch und auf Italienisch. Er dankte ihr arrogant lächelnd dafür, dass sie trotzdem gekommen war, um bei eventuellen Fragen der beteiligten Parteien zu dolmetschen.

Auch wenn sie sich über seine herablassende Art ärgerte, atmete sie auf, weil sie nicht die juristischen Klauseln übersetzen musste. Gleichzeitig fragte sie sich, weshalb Maurizio Castello sie für eine derartige Nichtigkeit extra hierherbestellt hatte. Wollte er ihr vor Augen führen, wie und wo sich sein Geschäftsleben abspielte, nämlich in völlig anderen Sphären im Gegensatz zu ihrem bescheidenen Alltag, mit Millionen Summen, mit denen er lässig umging?

Andererseits konnte ihr diese Erfahrung sogar später nützen, wenn sie das Versprechen, das sie ihrer Tante gegeben hatte, einlösen musste. Dann würde sie es mit Anwälten wie diesem hier aufnehmen müssen.

Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen, doch sie spürte deutlich Maurizios Nähe. Und es verunsicherte sie, ihm in dieser förmlichen Atmosphäre zu begegnen.

Während der Notar den Kaufvertrag auf Italienisch verlas, lehnte Maurizio Castello sich zurück und überflog seine englische Version. Carlotta konnte sich kaum auf das Gesagte konzentrieren, da ihre sämtlichen Sinne auf den Mann neben ihr gerichtet waren.

Sie senkte die Lider ein wenig, um aus dem Augenwinkel einen verstohlenen Blick auf seine muskulösen Beine zu werfen. Verblüfft bemerkte sie, dass er zu seiner Jeans schwarze Chucks aus Leder trug. In Turnschuhen und Polohemd zu einem Notartermin zu erscheinen, bei dem es um viele Millionen Dollar für einen historischen Palazzo ging, das brachte auch nur ein Amerikaner fertig. Sie musste ein Lächeln unterdrücken, ihr Chef wäre entsetzt.

Sie hörte, wie das Papier leise raschelte, wenn Maurizio die Seiten umblätterte. Ab und zu gelang es ihr, dabei einen kurzen Blick auf seine Hände zu erhaschen. Sie konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er sie damit streichelte. Bei dieser Fantasie lief ihr ein wohliges Kribbeln über den Rücken. Als sie dann auch noch den sehr männlichen Duft seines exotischen Aftershaves wahrnahm, der ihr schon bei der ersten Begegnung mit ihm im Restaurant aufgefallen war, musste Carlotta sich zusammenreißen, um nicht aufzuseufzen. Dieser Mann hatte eine unglaublich erotische Ausstrahlung.

Maurizio Castello war mit seinen Gedanken und seinem Herzen nicht ganz bei der Sache. Es fiel ihm schwer, sich auf den eigentlichen Anlass dieses Termins zu konzentrieren. Schließlich war er wieder einmal nur im Auftrag seines Vaters unterwegs, führte dessen Anweisungen aus, statt seine eigenen Ideen umzusetzen. Angesichts des angeschlagenen Gesundheitszustands seines Dads hatte er sich jedoch bereit erklärt, dieses Geschäft in Italien für ihn abzuwickeln. Dennoch wurde es Zeit, dass er sich endlich gegen den alten Patriarchen durchsetzte und seinen eigenen Weg ging. Er hoffte, dass der Kauf des Palazzo und der damit verbundene Umzug seines Vaters nach Venedig ihm die nötigen Freiräume verschaffen würde, seine langgehegten Pläne in die Tat umzusetzen. In New York. Als kreativer Chef der Firma Castellioni.

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass das bedeuten würde, weit weg von der faszinierenden Frau zu sein, die jetzt nur wenige Zentimeter von ihm entfernt saß. Carlotta Leone hatte ihn auf Anhieb fasziniert und Gefühle bei ihm geweckt, die er so bisher nicht gekannt hatte. Was war es bloß, was sie von den anderen Frauen unterschied?

Maurizio lehnte sich in dem tiefen Ledersessel zurück, um sie betrachten zu können, ihren schlanken Hals und den Nacken. Ihre kastanienbraune Mähne hatte sie wieder zu einem strengen Knoten geschlungen. Er betrachtete eingehend eine seidige Haarsträhne, die sich daraus gelöst hatte und sich auf ihrer hellen Haut kräuselte. Sie schien Locken zu haben. Es musste fantastisch aussehen, wenn sie ihr Haar offen trug.

Warum saß sie nur so aufrecht, ja angespannt auf ihrem Stuhl? Es konnte nicht nur an der steifen Lehne liegen, sie war nervös, stellte er fest. Ob es an ihm lag? Oder war es nur die Konzentration auf die einschläfernden Worte des Notars? Er selber hörte nur mit halbem Ohr auf das für ihn unverständliche Italienisch und überflog nicht sonderlich konzentriert die Klauseln auf den Papieren, die er in der Hand hielt. Dieser Termin war reine Formsache. Die Anwälte seines Vaters hatten den Vertrag längst eingehend geprüft. Hier ging es nur noch um eine Unterschrift. Eine Formalie.

Immerhin hatte der Notartermin ihm den perfekten Vorwand geliefert, Carlotta erneut zu treffen. Nachdem sein Versuch, sie zum Essen einzuladen, an der Weigerung dieses arroganten und unfähigen Mario Visconti gescheitert war. Der hatte behauptet, dass sie zu beschäftigt sei. Vermutlich hatte er gelogen. Oder hatte Carlotta ihren Chef gebeten, seinen Anruf nicht zu ihr durchzustellen?

Weshalb hatte sie sich eigentlich nicht für die Blumen bedankt?

Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass im Danello private Kontakte zwischen Hotel-Angestellten und Gästen tabu waren. Ein albernes, antiquiertes Verbot, das ihn ärgerte. Zum Glück war ihm gerade noch rechtzeitig die Ausrede mit dem Notartermin eingefallen.

Na warte, Visconti, dachte er grimmig, schon sehr bald werde ich mich näher mit dir und dem Hotel beschäftigen. Da musste sich Einiges ändern.

Maurizio lächelte zufrieden und beobachtete weiter die unglaublich attraktive Frau, die dicht neben ihm saß. Er richtete sich in seinem Sessel ein Stückchen auf, um sie im Profil zu betrachten. Dabei erhaschte er ihren verstohlenen Blick in seine Richtung. Sie starrte auf seine Turnschuhe, stellte er amüsiert fest. Wahrscheinlich wunderte sie sich, dass ausgerechnet er, als Chef von Castellioni, zu so einem Termin keine teuren Businessschuhe trug. Sie konnte ja nicht wissen, dass er jede Gelegenheit nutzte, aus seiner ungeliebten Rolle als Geschäftsführer eines Millionenunternehmens auszubrechen. Auch wenn es nur Äußerlichkeiten waren, für ihn bedeuteten seine ledernen Chucks eine Art Statement.

So gern er die teuren Castellioni-High-Heels mit der silbrig glänzenden Sohle an schlanken Frauenfüßen bewunderte, so wenig legte er bei sich selbst Wert auf irgendwelche Statussymbole. Seine maßgeschneiderten Anzüge waren seiner beruflichen Stellung geschuldet. Er betrachtete sie jedoch als Arbeitskleidung. Privat bevorzugte er ein eher lässiges Outfit.

Einzig seine edle Omega-Armbanduhr trug er aus Überzeugung. Die hatte er sich von seinem ersten Gehalt als Chef der Manufaktur geleistet, und er wusste ihre Schönheit und Präzision zu schätzen. Ansonsten lehnte er die typischen Symbole von Macht und Reichtum ab. Er hatte es nicht nötig, sich damit zu schmücken, sondern strahlte natürliche Autorität aus. Auch in Jeans und Polohemd merkte man ihm an, dass er immer bekam, was er wollte.

Sein Vater war der Einzige, der zwischen ihm und seiner wahren Leidenschaft stand. Tief in seinem Innern war er ein Künstler. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er als Kreativdirektor für das Unternehmen seiner Familie arbeiten – nicht als oberster Firmenchef. Und endlich schien es so, dass sich schon bald die Gelegenheit dazu ergäbe, dies in die Tat umzusetzen – sobald der alte Patriarch nach Venedig umzog, in den Palazzo, den er, sein Sohn, gerade in seinem Auftrag kaufte.

Maurizio war verblüfft gewesen, als sein Vater ihm vor Kurzem seine Pläne eröffnet hatte. Anfangs hatte er sie nur für die verrückten Fantasien eines alten, einsamen Mannes gehalten. Nach dem Tod seiner Frau vor einigen Jahren hatte Sergio Castello das Interesse an der Führung der Firma verloren und ihn zum Nachfolger bestimmt. Sein Vater hatte sich mehr und mehr zurückgezogen und in letzter Zeit auch körperlich rapide abgebaut. Er und seine Schwestern machten sich große Sorgen um Sergios Gemütszustand.

Erst als er begonnen hatte, sich mit der Geschichte seiner Vorfahren, die vor drei Generationen von Italien nach Amerika ausgewandert waren, zu beschäftigen, kehrte der Lebensmut seines Vaters langsam zurück. Er fand heraus, dass der alte Palazzo seit Jahren leer stand, in dem seine Urgroßeltern einer hochherrschaftlichen Familie, die dort damals residierte, als Angestellte gedient hatten.

Sergio Castello setzte Himmel und Hölle in Bewegung, machte die Besitzer des Gebäudes ausfindig und unterbreitete ihnen ein Kaufangebot, das sie nicht ablehnen konnten. Dann schickte er seinen einzigen Sohn nach Venedig, damit der die Übernahme des Palazzo juristisch regelte.

Maurizio war sich wie der Laufbursche seines dominanten Vaters vorgekommen, doch als er spürte, wie sehr dem dieser Palazzo am Herzen lag, trat er die Reise unverzüglich an. Außerdem bestand dadurch die Aussicht, dass der alte Patriarch ihm nun endgültig die Entscheidungsgewalt über die Führung des Familienunternehmens überlassen würde. Endlich könnte er in New York die Firma so umstrukturieren, wie er es sich vorstellte. Er würde sich auf den kreativen Bereich konzentrieren und seiner Schwester Allegra die Geschäftsführung übertragen. Frauen in Führungspositionen waren etwas, das der konservative Sergio Castello sich einfach nie hatte vorstellen können, anders als sein Sohn. Maurizio mochte starke, selbstbewusste Frauen, die ihm auf Augenhöhe begegneten.

Mit all diesen Plänen und Überlegungen im Kopf war er nach Venedig gekommen. Hier wollte er so schnell wie möglich alles abwickeln, damit sein Vater in den Palazzo ziehen konnte. Dann würde er noch kurz die unangenehme Sache mit der Geschäftsführung des Hotels Danello klären und umgehend zurück nach New York fliegen.

Das war sein Plan gewesen, doch seit zwei Tagen erschien ihm die romantische Lagunen-Stadt mit ihren unzähligen Kanälen und historischen Gebäuden in einem völlig anderen Licht. Und er war sich nicht mehr so sicher, dass der Palazzo ihm tatsächlich vollkommen egal war. Schließlich stand er in Venedig, da, wo Carlotta Leone lebte. Und auch das Danello war plötzlich nicht mehr nur ein Investitionsobjekt für ihn, denn dort arbeitete diese faszinierende Frau. Was immer er entschied, hatte Auswirkungen auf sie.

Maurizios Gedanken schweiften weiter ab. Er stellte sich vor, wie es wäre, mit Carlotta im Palazzo Perucci zu leben. Bei der Besichtigung war er begeistert gewesen von den wenigen noch vorhandenen antiken Möbeln, die perfekt in die wunderschönen hohen Räume passten, die mit aufwendigen Deckenmalereien und Stuck geschmückt waren. Obwohl das historische Gebäude länger leer gestanden hatte, war es kaum renovierungsbedürftig, hatte er überrascht festgestellt. Hier und da einige Modernisierungen an Heizung und Bädern, neue Matratzen für die zahlreichen Schlafzimmer.

Bei diesem Gedanken sah er sich und Carlotta in einem der breiten Himmelbetten mit den gedrechselten Holzpfosten, über die ein Baldachin aus glänzendem Brokatstoff fiel. Dort könnte er sie endlich ohne strenges Businesskostüm bewundern, ihren nackten Körper erforschen. Er spürte, dass seine Jeans bei dieser Vorstellung im Schritt spannte. Ob er versuchen sollte, sie in den Palazzo zu lotsen, sobald er die Schlüssel dafür hatte? Doch nachdem sie schon sein mehr oder weniger deutliches Angebot nach dem Essen abgelehnt hatte, wäre sie dazu sicher nicht bereit. Resigniert lehnte er sich zurück.

Nein, diese Frau würde er nicht mit seinen üblichen Tricks ins Bett bekommen. Sie war so ganz anders als die leichte Beute, mit der er es sonst zu tun hatte. Und genau das reizte ihn.

Vielleicht geht sie nach dem Termin beim Notar wenigstens noch etwas mit mir trinken, hier, weit weg vom Hotel und ihrem Chef, überlegte er.

Carlotta, die sich zu ihm umdrehte und etwas sagte, riss ihn aus seinen Gedanken.

„Sorry?“ Er fühlte sich ertappt.

„Sie müssten jetzt unterschreiben, wenn Sie mit dem Kaufvertrag einverstanden sind, Mr. Castello“, wiederholte sie und sah ihn fragend an.

„Natürlich.“ Er nickte dem Notar zu, stand auf und trat an den wuchtigen Schreibtisch, um die umfangreichen Papiere gegenzuzeichnen.

Währenddessen hörte er hinter sich den Makler, der in schnellem Italienisch auf Carlotta einredete. Den hatte er beinahe vergessen, doch nun stieg sofort wieder dieses irritierende Gefühl von Eifersucht in ihm hoch. Was hatte Signor Rossi mit ihr zu besprechen? Wollte er sich etwa auch mit ihr verabreden? Genervt sah Maurizio sich nach den beiden um. War es mehr als Höflichkeit, dieses Lächeln, das Carlotta dem schmierigen Typen schenkte? Er musste dem sofort einen Riegel vorschieben, bevor sie sich von dem einwickeln ließ.

„Miss Leone, darf ich Sie noch auf einen Drink einladen?“, fragte er und hoffte, dass sein Blick nicht verriet, wie sehr er sich nach einem Moment zu zweit mit ihr sehnte. „Ich würde gerne auf den Palazzo-Kauf mit Ihnen anstoßen“, ergänzte er locker. Er wollte sie nicht verschrecken, indem er sein Interesse an ihr allzu deutlich zeigte.

Der Makler schien zu ahnen, dass er ihm in die Parade fuhr, und verzog genervt die Mundwinkel. Carlottas erleichtertes Lächeln signalisierte Maurizio, dass seine Chancen auf ein Date mit ihr durch den Vorstoß des lästigen Konkurrenten gerade gestiegen waren.

„Für einen Kaffee reicht es noch, bevor ich zurück ins Hotel muss“, antwortete sie freundlich.

„Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren.“ Maurizio verabschiedete sich vom Notar und dem zufriedenen Verkäufer des Palazzo, der nun um ein paar Millionen reicher war. Als er dem Makler die Hand zum Abschied gab, musste er ein triumphierendes Lächeln unterdrücken. Er schnappte sich die Papiere und die Schlüssel für den Palazzo und bot Carlotta galant seinen Arm an.

Sie lachten, als sie hinaus in die Sonne traten.

„Danke für die Rettung“, sagte Carlotta scherzend.

„War mir ein Vergnügen“, gab Maurizio zurück und zwinkerte ihr zu. „Ich hatte das Gefühl, dass Sie nicht sonderlich erpicht auf eine weitere Unterhaltung mit Signor Rossi waren.“

„Stimmt. Er war ein bisschen zu hartnäckig.“

Ihre Bemerkung bestätigte seine Vermutung, dass Carlotta nicht der Typ Frau war, der sich auf eine plumpe Anmache einließ. Er würde es dezenter angehen, auch wenn er sie am liebsten sofort in seine Arme gezogen und sie geküsst hätte. Gleich hier in dieser ruhigen Seitenstraße.

„Was haben Sie jetzt vor?“, fragte sie erwartungsvoll.

Ihre harmlose Frage schreckte ihn aus seinen Gedanken. Einen winzigen Moment lang hatte er das Gefühl, dass sie ahnte, woran er dachte.

Ertappt räusperte er sich und erkundigte sich möglichst locker: „Kennen Sie ein Café hier in der Nähe?“

„Auf dem Campo Santa Margherita gibt es mehrere. Da finden wir schon etwas. Kommen Sie mit.“

Carlotta hakte sich bei ihm ein, und Maurizio genoss es, dass sie die Initiative übernahm.

Sie fanden einen Tisch unter der schattigen Markise eines Straßenlokals an der malerischen Piazza. „Wie wäre es mit einem Prosecco zum Anstoßen?“, fragte er und griff nach der Karte.

„Sorry, aber ich muss noch arbeiten. Für mich bitte nur ein Mineralwasser und Thunfisch-Tramezzini, bitte.“

„Natürlich. Tut mir leid, dass der Termin so ungünstig lag. Ich hoffe, dass das Honorar dafür angemessen ist. Ich habe mit Mr. Visconti die gleiche Summe wie für Ihren Einsatz im Restaurant vereinbart.“

„Honorar?“, fragte sie irritiert. „Davon weiß ich gar nichts.“

„Wie bitte?“ Er schnaubte entrüstet. „Sie haben die fünfhundert Dollar, die ich für Ihre Dienste gezahlt habe, nicht bekommen?“

„Fünfhundert Dollar?“, wiederholte sie verblüfft. „Die hat mein Chef scheinbar vergessen.“ Carlotta zuckte resigniert mit den Schultern.

„Das ist ja ungeheuerlich! Das werde ich nachher im Hotel direkt mit ihm klären!“

„Danke, aber das schaffe ich schon“, sagte sie selbstbewusst. „Außerdem ist er heute gar nicht im Büro. Deshalb habe ich auch nicht so viel Zeit. Ich muss ihn vertreten.“

Maurizio wurde in diesem Moment klar, dass er ein völlig falsches Bild von Carlotta Leone gehabt hatte. Er hatte in ihr eher eine Art Sekretärin gesehen. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie viel Verantwortung sie als Assistentin der Geschäftsleitung eines so renommierten Luxushotels wie dem Danello tatsächlich trug. Sein Respekt für sie wuchs.

„Dann sollten wir wohl möglichst schnell etwas bestellen“, sagte er. „Sind Sie sicher, dass Sie nur ein Sandwich möchten? Ich lade Sie auch gerne zu einem richtigen Mittagessen ein.“

„Vielen Dank, aber das reicht mir.“ Sie lächelte ihn an, bevor sie sich nach dem Kellner umsah, den Arm hob und rief: „Cameriere!“

Der Ober brachte zügig das Gewünschte. Carlotta biss hungrig in das dreieckige Toastbrot mit Tunfisch und Tomate. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie den kleinen Snack aufgegessen. Zufrieden lehnte sie sich zurück und sah Maurizio Castello von der Seite an. Wieder fielen ihr seine markanten Gesichtszüge auf, die sein gepflegter Dreitagebart unterstrich. Mit seinem dunklen Teint und den schwarzen Haaren sah er sehr Italienisch aus. Eigentlich ein Bild von einem Macho, dachte sie und wunderte sich, dass ihr das ausgesprochen gut gefiel. Ob er tatsächlich dem Klischee entsprach, hatte sie bisher noch nicht wirklich herausfinden können.

Was für eine Art Mensch steckte hinter dieser attraktiven Fassade? Sie musste ihm endlich die Frage stellen, die ihr unter den Nägeln brannte.

„Ich hoffe, es ist nicht zu indiskret, Mr. Castello, aber würden Sie mir verraten, was Sie mit dem Palazzo Perucci vorhaben? Ich vermute, Sie wollen dort nicht selber leben.“

„Ich hab das Gebäude für meinen Vater gekauft“, antwortete er.

„Ach“, stieß sie verblüfft aus.

„Ja, er will dort einziehen. Unsere Vorfahren stammen aus Venedig. Sie haben früher in dem Palazzo gelebt.“

„Oh! Dann entstammen Sie einer alten venezianischen Adelsfamilie?“ Bei der Vorstellung klang Faszination in ihrer Stimme mit.

Maurizio lachte auf. „Nein, nein. Die Castellis waren Angestellte der Familie Perucci, den damaligen Besitzern des Palazzo. Sie arbeiteten in der Küche, bevor sie nach Amerika auswanderten.“

„Ach so!“ Carlotta stimmte in sein Lachen ein und ärgerte sich ein bisschen über ihre albernen Fantasien, in denen sie sich Maurizio als Prinz in strahlender Rüstung vorgestellt hatte, der auf seinem Schimmel gekommen war, um sie in seinen Palast zu entführen.

„Meine Ururgroßeltern haben immer davon geträumt, eines Tages als reiche Leute zurückzukommen und in dem Palazzo zu leben. Es hat zwar ein paar Generationen länger gedauert, aber jetzt hat sich ihr Wunsch erfüllt. Einer ihrer Nachfahren wird schon bald dort einziehen.“

Carlotta war erleichtert, dass dieser Amerikaner doch keiner von denen war, die aus den historischen Gebäuden Verkaufspaläste machten, um möglichst viel Kapital herauszuschlagen. „Das finde ich toll“, sagte sie ehrlich begeistert.

„Ich auch, zumal mein Vater sich damit ganz aus dem Geschäft zurückziehen wird. Dann kann ich hoffentlich endlich das tun, was ich wirklich will.“

Maurizio Castello blickte gedankenverloren auf die wenigen Bäume mit den kugelrunden Kronen, die auf der Piazza standen.

„Und was wäre das?“, fragte sie neugierig nach.

Maurizio sah Carlotta überrascht an. „Nun …“ Er atmete tief durch und überlegte, dass er seine Pläne, abgesehen von seinen Schwestern, noch nie jemandem erzählt hatte. Doch er hatte das Gefühl, dieser Frau vertrauen zu können. „Ich habe Kunst und Design studiert. Allerdings nur nebenbei, denn mein Vater bestand darauf, dass ich mich mit Betriebswirtschaft herumschlage.“ Er seufzte. „Als sein einziger Sohn musste ich vor ein paar Jahren die Leitung der Schuhmanufaktur übernehmen. Obwohl ich es nie wirklich wollte, bin ich inzwischen erstaunlich gut darin, einen derart großen Laden zu verwalten. Aber eigentlich träume ich davon, als Designer oder Kreativdirektor zu arbeiten. Ich möchte selbst etwas entwerfen, nicht nur Kreationen anderer verkaufen.“

„Aber wer sollte denn dann die Firma leiten, wenn Sie sich aus der Geschäftsführung zurückziehen?“, fragte Carlotta interessiert.

„Meine Schwester Allegra!“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. „Sie ist die perfekte Geschäftsfrau. Genau wie meine andere Schwester Leticia. Die beiden lieben Zahlen!“, ergänzte er lachend.

Carlotta war beeindruckt. Ihr bisheriges Bild von Maurizio Castello bekam immer mehr Risse. Sie hatte ihn nach dem Abend im Restaurant, wo er sie recht offensiv angeflirtet hatte, völlig anders eingeschätzt. Seine Schwestern konnten sich glücklich schätzen, ihn zum Bruder zu haben.

„Ich wünsche Ihnen, dass es klappt“, sagte sie, ein Hauch von Skepsis klang in ihrer Stimme mit.

„Ja, wir haben das miteinander besprochen“, erwiderte er entschlossen. „Ich hoffe, dass auch unser Vater das schließlich akzeptieren wird. Zumal es seine Urgroßmutter Antonella war, die den Grundstein für das Castellioni-Imperium gelegt hat.“

„Wirklich?“

„Ja, nachdem sie damals ohne einen Cent in Amerika ankam und ihr Mann keine Arbeit fand, überlegte Antonella, womit sie Geld verdienen könnte. Ihr fiel das schlechte Schuhwerk der armen Leute auf, und sie beschloss, etwas dagegen zu tun. Meine resolute Ururgroßmutter suchte unter den Auswanderern nach den besten Schustern und überredete einen Ladenbesitzer, ihr einen kleinen Kredit zu geben, wofür er exklusiv ihre Schuhe verkaufen durfte. Dann gründete sie eine winzige Manufaktur. Die robusten Arbeitsschuhe für Männer und bald auch Frauen fanden reißenden Absatz, und so wuchs ihre Firma schnell. Aus diesen Anfängen hat sich schließlich die Marke Castellioni entwickelt, mit Geschäftssitz in New York. Vom einfachen Arbeitsschuh zu hochwertigen Pumps mit glitzernder Sohle. Alles dank Antonellas Mut und Einsatz.“

Er lächelte sie an, und Carlotta konnte den Stolz auf seine Vorfahrin in seinen dunklen Augen erkennen.

„Das ist echt beeindruckend.“ Sie sah ihn fasziniert an.

„Ja, oder? Und sehr bald wird unsere Firma hoffentlich wieder unter weiblicher Leitung arbeiten. Dann kann ich endlich das tun, was ich schon immer wollte – außergewöhnliche Schuhe entwerfen.“ Er lächelte zufrieden und fragte: „Was ist mit Ihnen? Haben Sie auch Geschwister?“

Ein Schatten huschte über Carlottas Gesicht. „Nein. Ich bin Einzelkind und bei meiner Tante und meinem Onkel aufgewachsen. Meine Eltern sind tot“, sagte sie leise.

„Oh, das tut mir leid!“, entschuldigte Maurizio sich sofort voller Mitgefühl. „Ich wusste ja nicht …“

„Es ist lange her“, wiegelte sie ab und fuhr gedankenverloren fort: „Sie hatten ein kleines Hotel in Wakefield, bevor sie bei einem Autounfall starben.“ Sie senkte den Blick und ergänzte: „Es tut immer noch weh, wenn ich daran denke, dass sie nicht erleben konnten, wie ich meinen Weg gemacht habe und jetzt im Land ihrer Ahnen lebe und im Danello arbeite.“

Carlotta blickte abwesend in die Ferne, schien sich an längst vergangene Zeiten zu erinnern.

Maurizio hatte das Gefühl, ihre Trauer körperlich zu spüren. Es tat ihm wahnsinnig leid, sie an den Tod ihrer Eltern erinnert zu haben – gerade, als das Gespräch anfing, intimer zu werden. Er lächelte ihr aufmunternd zu und fragte: „Sollen wir noch etwas zu trinken bestellen?“

Sie zögerte, sah auf ihre Armbanduhr und stieß verblüfft aus: „Oh, schon so spät! Ich denke, ich muss jetzt wirklich los.“ Sie schob den Stuhl ein Stückchen zurück und machte Anstalten, aufzustehen.

Einem Reflex folgend, griff Maurizio nach ihrem Handgelenk.

Carlotta hatte das Gefühl, ein Stromstoß würde durch ihren Körper rasen. Überdeutlich spürte sie seine Berührung auf ihrer Haut und starrte auf die Finger, die sich fest um ihren Arm geschlossen hatten.

Als er ihren irritierten Blick auf seine Hand registrierte, lockerte Maurizio seinen Griff und ließ sie zögernd los. „Verzeihen Sie, Miss Leone.“ Er sah sie mit einem entschuldigenden Lächeln an. „Ich hätte nur so gerne noch etwas Zeit mit Ihnen verbracht.“

„Okay“, antwortete sie vorsichtig und setzte sich wieder. Eigentlich wollte sie auch gar nicht wirklich gehen.

Maurizio orderte zwei Espressi beim Kellner. Sein Blick war undurchdringlich, als er sie erneut ansah. „Verzeihen Sie. Ist sonst nicht meine Art, Frauen einfach festzuhalten, aber ich habe mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten.“

Er sah ihr tief in die Augen, und Carlottas Blick verfing sich in seinen schwarzen Wimpern. Seine dunkle Stimme klang angenehm weich. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können. Dieser Mann faszinierte sie mehr und mehr. Wenn sie doch bloß mit ihm …

Das plötzliche Klingeln seines Handys riss sie gnadenlos aus ihrem schönen Tagtraum. Der schrille Ton wirkte wie ein Alarmsignal. Maurizio schien es ähnlich zu gehen. Mit genervtem Gesichtsausdruck zog er das Smartphone aus der Hosentasche. Als er das Bild betrachtete, das auf dem Display aufleuchtete, entspannten sich seine Züge.

Carlotta erhaschte nur einen kurzen Blick darauf, aber der reichte ihr. Das Foto zeigte das lächelnde Gesicht einer äußerst attraktiven, jungen Frau mit langen blonden Haaren und einem Piercing im auffallend rot geschminkten Kussmund. Ein Anblick, der Maurizio zum Lächeln brachte, wie sie frustriert feststellte. Ein Eifersuchtsblitz durchzuckte sie. Wer ist das, fragte sie sich verärgert und versuchte, seinen Blick zu erhaschen.

Er grinste jedoch nur das Foto vor sich an, drückte auf das grüne Symbol und meldete sich erfreut: „Na, endlich! Ich versuche seit gestern Nacht, dich zu erreichen. Verdammte Zeitverschiebung! Hast du meine Mail gelesen?“ Er lauschte aufmerksam der Antwort und lachte erheitert auf.

Maurizio Castello schien völlig vergessen zu haben, dass sie neben ihm saß. Er konzentrierte sich nur auf das, was die Frau am Telefon ihm zu sagen hatte. Ihr Dialog klang sehr vertraut. Erst nach ein paar Sätzen nahm er ihre Anwesenheit wieder wahr. Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und deutete stumm auf das Smartphone.

„Sorry, Mary, was hast du gesagt?“, fragte er laut und erhob sich.

Carlotta starrte ihm entgeistert nach. Wer war die Frau, mit der er sich da unterhielt? Eine seiner Schwestern war es sicher nicht. Die beiden hatte er schließlich als perfekte Geschäftsfrauen beschrieben. Dazu passte kein Lippenpiercing. Außerdem hatte die sexy Blondine so gar keine Ähnlichkeit mit ihm.

Tja, dann war es ja wohl klar, mit wem er da gerade redete, gestand Carlotta sich frustriert ein. Er sprach mit seiner Freundin in Amerika. Logisch, dass so ein begehrenswerter Mann kein Single mehr war. Sie fragte sich, weshalb er so offensichtlich mit ihr geflirtet hatte, obwohl eine derart attraktive Frau zu Hause auf ihn wartete.

„Männer!“, schnaubte Carlotta grimmig und beobachtete, wie Maurizio mit dem Telefon am Ohr auf und ab ging und sie zu ignorieren schien.

Sie ärgerte sich, dass sie sich von ihm hatte einwickeln lassen. All seine netten Worte, die Geschichten von seinen Vorfahren, hatten dazu geführt, dass sie sich ihm so nahe gefühlt hatte. Sie war seiner Attraktivität und seinem Charme viel zu leichtgläubig verfallen. Doch durch diesen Anruf war die romantische Seifenblase urplötzlich zerplatzt. Die Realität hatte sie eiskalt erwischt.

Das Telefonat dauerte bereits mehrere Minuten, und Carlotta fragte sich, was sie überhaupt noch hier machte. Maurizio schien sie völlig vergessen zu haben. Warum saß sie hier herum, wenn sie längst wieder zurück im Hotel sein sollte? Worauf wartete sie? Darauf, einen Espresso mit einem Typen zu trinken, der vergeben war und es trotzdem darauf anlegte, auf seiner Geschäftsreise ein kurzes Abenteuer zu erleben? Nein, nicht mit ihr! Sie schnaubte.

Ohne weiter zu überlegen, sprang Carlotta auf, griff sich ihre Handtasche und lief, so schnell es auf ihren Pumps möglich war, Richtung Canal Grande, wo das Vaporetto ablegte. Sie konnte es nicht abwarten, endlich ins Danello zu kommen und diesen unverschämten, verlogenen Amerikaner endgültig aus ihrem Leben zu streichen.

4. KAPITEL

Zurück im Büro wies Carlotta die Sekretärin an, keine Anrufe durchzustellen, schnappte sich die Liste mit den Rückrufbitten, die während ihrer Abwesenheit eingegangen waren, und schloss die Tür hinter sich.

Als sie zum Hörer griff, atmete sie erst mal tief durch. Den Ärger über Maurizio hatte der angenehme Fahrtwind an Bord des Wasserbusses beinahe weggeblasen. Der wunderschöne Blick auf die historischen Gebäude am Ufer des Canal Grande, auf die pittoreske Rialtobrücke, unter der sie durchgeschippert war, und schließlich der Anblick des imposanten weißen Dogenpalastes, hatten ihre trüben Gedanken vertrieben. Bis zu dem Moment, als sie die Bürotür hinter sich geschlossen hatte.

Nun war sie mit ihren Grübeleien wieder allein und ohne Ablenkung. Was würde Maurizio jetzt von ihr denken? Einfach so, ohne Abschied und Erklärung wegzulaufen wie ein trotziges Kind. Warum hatte sie so hysterisch auf einen harmlosen Anruf reagiert?

Sie starrte aus dem Fenster. Der Ausblick auf die hübsche halbrunde Steinbrücke, die sich über den schmalen Kanal unter ihr spannte, konnte sie heute nicht erfreuen. Sie seufzte niedergeschlagen, als sie sich eingestand, dass sie sich hoffnungslos in Maurizio verliebt hatte. In diesen äußerst attraktiven und wahnsinnig charmanten Mann, der allerdings weit weg in Amerika lebte und dort eine Freundin hatte. Verdammt!

Carlotta kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

Auch ohne diese andere Frau, die es offensichtlich in seinem Leben gab, wäre es doch nie was geworden, erkannte sie und schlug mit der Faust auf die Stuhllehne. Maurizio Castello lebte schließlich in einer völlig anderen Welt als sie. Sie musste ihn vergessen. So schnell wie möglich. Seufzend wandte sie sich ihrem Schreibtisch zu und begann, die Rückrufliste abzuarbeiten.

Sie schreckte hoch, als es an ihrer Bürotür klopfte und gleich darauf die Sekretärin den Kopf durch den Türspalt steckte.

„Ich mach dann jetzt Feierabend, Signorina Leone, oder gibt es noch etwas Dringendes zu tun?“, fragte sie zögernd.

„Was? Wieso?“ Carlotta war irritiert. „Es ist doch erst …“

„Fast halb acht“, ergänzte die Sekretärin.

„Was?“ Carlotta starrte auf ihre Uhr und überlegte, was sie in den letzten Stunden gemacht hatte, dass ihr gar nicht aufgefallen war, wie viel Zeit inzwischen vergangen war.

Maurizio, dachte sie. Ja, er war ihr ständig durch den Kopf gespukt, während sie mechanisch all ihre üblichen Aufgaben erledigt hatte.

„Sie sollten dann langsam auch mal Schluss machen für heute, oder?“, fragte Signorina Tresta.

„Stimmt.“ Carlotta seufzte und begann ihre Sachen zusammenzupacken. „Dann bis morgen.“ Sie schaute fragend auf, als die Sekretärin weiter an der Tür stehen blieb. „Ist noch was?“

„Sie hatten ja darum gebeten, keine Anrufe durchzustellen …“

„Ja?“

„Signor Castello hat es fünfmal versucht und jedes Mal seine Handynummer hinterlassen. Mit der Bitte, ihn unbedingt zurückzurufen. Egal, wie spät es wird. Das waren seine Worte. Und es klang wirklich sehr dringend.“ Sie zog vielsagend eine Augenbraue nach oben.

„Oh.“ Carlotta spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Was mochte die Sekretärin jetzt denken? Hoffentlich erzählte sie Mario Visconti nichts davon. Eine derartige Hartnäckigkeit hatte sie von Maurizio nicht erwartet.

„Ich hab die Nummer hier notiert.“ Die Sekretärin wedelte lächelnd mit einem gelben Zettel.

„Ich werde mich sofort bei ihm melden“, antwortete Carlotta ein bisschen zu schnell und ergänzte möglichst locker: „Morgen. So lange hat das sicher Zeit. Jetzt muss ich nach Hause. Schönen Feierabend, Signorina Tresta.“

„Ihnen auch.“

Die Sekretärin zog die Tür hinter sich zu, und Carlotta ließ sich seufzend gegen die hohe Lehne ihres Schreibtischstuhls sinken.

Ob er sauer war und sich über ihren feigen Abgang beschweren wollte? Oder wollte er nur wissen, weshalb sie verschwunden war? Vielleicht hoffte er trotz allem auf eine gemeinsame Nacht im Hotel? Als krönenden Abschluss seiner Geschäftsreise? Wie lange er wohl in Venedig blieb? Ihre Gedanken rasten. Sollte sie den Computer wieder anschalten und seine Reservierung checken?

Nein, beschloss sie und stand auf. Entweder war er noch da, wenn sie morgen früh ins Büro kam, oder er war eben weg.

Pech gehabt, Signor Castello! Hier in Italien springt nicht jeder nach Ihrer Pfeife!

Sie schnappte sich ihre Handtasche und stürmte aus dem Büro.

Weil sie kaum ein Auge zugetan hatte, war Carlotta völlig übermüdet, als sich am nächsten Morgen die Tür des Personalfahrstuhls im zweiten Stock öffnete. Fast wäre sie in ihren Chef hineingelaufen, der direkt davor stand.

„Signorina Leone, da sind Sie ja endlich!“, blaffte er sofort los.

„Buongiorno, Signor Visconti.“ Carlotta deutete auf ihre Armbanduhr. „Es ist kurz vor neun. Ich bin pünktlich!“ Sie hatte Mühe, ihren Ärger über seinen ungerechtfertigten Vorwurf zu unterdrücken.

Autor

Chantelle Shaw
Chantelle Shaw ist in London aufgewachsen. Mit 20 Jahren heiratete sie ihre Jugendliebe. Mit der Geburt des ersten Kindes widmete sie sich ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter, ein Vollzeitjob, da die Familie bald auf sechs Kinder und verschiedene Haustiere anwuchs.

Chantelle Shaw entdeckte die Liebesromane von Mills & Boon,...
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