Romana Extra Band 76

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SCHICKSALSNÄCHTE IN APULIEN von BARLEY, ROBERTA
Er verhält sich abweisend, aber Lucy spürt genau, dass der attraktive Matteo sich zu ihr hingezogen fühlt. Eigentlich will sie in Apulien neu anfangen. Sich in einen Mann zu verlieben, gehört nicht zu ihrem Plan. Doch dann küsst Matteo sie plötzlich …

MILLIARDÄR SUCHT FRAU FÜRS LEBEN von MACKENZIE, MYRNA
Mit ihrem Job bei Milliardär Carson Banick will Beth ihrer Familie endlich beweisen, dass sie bestens allein zurechtkommt. Romantische Gefühle für Carson kann sie sich nicht erlauben. Aber warum schlägt ihr Herz immer so schnell, wenn er sie nur anschaut?

KÜSSE - SÜß WIE GRIECHISCHER WEIN von JAMES, SUSANNE
Ein prachtvoller englischer Landsitz! Zumindest eine Hälfte davon … Helena sollte sich über ihr unerwartetes Erbe freuen. Doch die Sache hat einen Haken: Die andere Hälfte gehört ausgerechnet dem feurigen Griechen Oscar Theotokis! Schon einmal hat er ihr das Herz gebrochen …

MEIN SPANISCHER VERFÜHRER von GREEN, SOPHIA
Mit gebrochenem Herzen reist Josy nach Spanien. Von Männern hat sie vorerst genug. Dann lernt sie den gutaussehenden Samuel Torres kennen - und all ihre Vorsätze sind vergessen. In ihn könnte sie sich verlieben. Aber sie spürt: Er verbirgt etwas vor ihr!


  • Erscheinungstag 24.12.2018
  • Bandnummer 0076
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744458
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Roberta Barley, Myrna Mackenzie, Susanne James, Sophia Green

ROMANA EXTRA BAND 76

ROBERTA BARLEY

Schicksalsnächte in Apulien

Seit sie in seine kleine Olivenölmanufaktur gestolpert kam, geht die bezaubernde Lucy ihm nicht mehr aus dem Kopf. Aber Matteo darf sich nicht in sie verlieben. Schließlich ist er mit einer anderen verlobt …

MYRNA MACKENZIE

Milliardär sucht Frau fürs Leben

Eine Affäre mit seiner Assistentin Beth kommt für Milliardär Carson Banick nicht in Frage. Er muss eine standesgemäße Frau finden. Doch wenn Beth in seiner Nähe ist, will er nur eins: sie für sich gewinnen!

SUSANNE JAMES

Küsse – süß wie griechischer Wein

Als Helena gemeinsam mit ihrer Jugendliebe Oscar einen Landsitz erbt, fürchtet sie nur eins: Dass Oscar sie verführt – und sie dann erneut verlässt. Allein mit der Sehnsucht nach seinen Küssen …

SOPHIA GREEN

Mein spanischer Verführer

Damit hat Bauunternehmer Samuel Torres nicht gerechnet: Er wollte nur einen harmlosen Sommerflirt, doch die bezaubernde Josy erobert sein Herz im Sturm! Niemals darf sie von seinen Plänen erfahren …

1. KAPITEL

Bellissima, bellissima! Der Mai ist der schönste Monat in Apulien! Lucy konnte die tiefe Stimme ihres Vaters in Gedanken fast hören, als sie mit dem Leihwagen langsam den steinigen Weg hinunterholperte. Alles blüht, alles ist grün, und manchmal regnet es eben.

Ja, manchmal regnet es, Dad, aber das hier ist kein Regen, das ist die Sintflut, dachte Lucy traurig und schaute aus dem linken Seitenfenster. Auch wenn sein Tod nun schon zwei Jahre her war, stiegen ihr die Tränen in die Augen, wenn sie sich ihm so nah fühlte wie hier. Er hatte Apulien so geliebt!

Wahre Sturzbäche gurgelten über die Felssteine des abschüssigen Weges. Die Scheibenwischer arbeiteten auf höchster Stufe, hatten aber gegen den wie aus Eimern runterprasselnden Regen keine Chance.

Lucy wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und die Ponyfransen aus der Stirn. Sie klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne, wie immer, wenn sie sich konzentrierte. Ihre praktische Baumwollbluse klebte an ihrem Körper, auch für die eng anliegende Jeans war es viel zu warm im Auto. Sie hielt kurz an, um ihr langes kastanienbraunes Haar im Nacken zu einem Knoten zu schlingen, und fächelte sich Luft zu.

Warum war das Lenkrad eigentlich überall auf der falschen Seite, außer in Großbritannien? Lucy packte es fester und versuchte durch die beschlagenen Scheiben etwas zu erkennen. Unten am Wege waren die Wassermassen schon zu einem rotbraunen See angewachsen. Um zu ihrem Grundstück zu gelangen, ging es dort links, oder?

Sie wischte mit der Handfläche an den milchigen Scheiben herum. Schon bei Sonnenschein sah hier alles ziemlich gleich aus. Bei einem Unwetter wie diesem war eine Orientierung aber schier unmöglich. Eine endlos scheinende Landschaft aus Olivenbäumen, Feigenbäumen, roter Erde und Mauern.

Brombeerranken kratzten am Lack des schicken kleinen Straßenflitzers entlang. Himmel, was sollte sie tun, wenn ihr jetzt jemand entgegenkam? Es passte gerade mal ein Auto zwischen die halbhohen Natursteinmauern. Und wo war eigentlich der Rückwärtsgang? Sie hasste diese moderne Technik! Es gab kaum noch Schalter und Hebel, alles funktionierte über das leuchtend bunte Display in der Mitte des Cockpits. „Nicht mal mehr einen Autoschlüssel gibt es!“, rief sie empört. „Nur so einen Ministick!“

Alan hätte sich jetzt über sie amüsiert. „Du bist eben hoffnungslos rückständig, Baby“, hätte er gesagt.

Alan ist aber nicht hier, und das ist gut so! ermahnte sie sich selbst und biss die Zähne zusammen. Sie war alleine unterwegs. Das erste Mal in ihrem Leben. Drei Monate hatte sie die Augen vor dem verschlossen, was alle im Filmteam schon längst wussten … und hatte nun endlich die Beziehung zu Alan beendet.

Du kannst alleine reisen, du schaffst das, beschwor sie sich. Immerhin hast du den miesesten Betrüger der Welt verlassen, bevor er dich mit weiteren Lügen einlullen konnte. Es war wie in einem schlechten Film gewesen …

Bei dem Bild der beiden vor den Augen wurde ihr wieder ganz elend. Auf seinem Sofa, mitten am helllichten Tage, hatten die beiden nackt und eng umschlungen gelegen! Und sie davor, die Drehbücher für die nächste Staffel noch im Arm. Wieder stiegen ihr bei der Erinnerung die Tränen in die Augen, und ihr Gesicht wurde ganz heiß vor Scham.

Sie war so dumm. So naiv! Wenn sie sich nicht beeilt hätte, um ihren Tagesbericht abzugeben, wenn sie nicht früher als geplant aus den Studios zurückgekommen wäre, würde sie jetzt vielleicht mit Alan auf dem Weg zur Abschiedsparty sein. Nach jeder abgedrehten Staffel gab es ein kleines Fest. Zwei davon hatten sie gemeinsam besucht. Das kleine Scriptgirl und der bekannte Seriendarsteller. Das hatte ja schiefgehen müssen … Der Schmerz übermannte sie so heftig, dass sie kaum mehr atmen konnte. Wie hatte er ihr das antun können? Sie liebte ihn doch! Hektisch suchte Lucy nach dem automatischen Fensterheber, um frische Luft ins Auto zu lassen. Sofort durchnässte sie der Regen, der in den Innenraum hineinpladderte.

Dann eben keine frische Luft!

Fluchend ließ sie das Fenster wieder hochfahren und den Wagen weiterholpern. Nein! Sie würde keinen einzigen Gedanken mehr an Alan verschwenden und sich in der casina, in ihrem rustikalen Häuschen, erholen! Wie es darin wohl aussehen mochte? In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich aus Angst vor den schmerzlichen Erinnerungen nicht hergetraut. Ach, Dad! Wärst du doch jetzt bei mir! Hier unten im Süden, tief in Italiens Absatz, hatte ihr Vater sich immer am allermeisten zu Hause gefühlt, viel mehr als in London.

Schon als kleines Mädchen war sie mit ihm oft über die rotbraune Erde der endlosen Olivenhaine spaziert. Sie hatten Stücke von süßen Honigmelonen zum Frühstück gegessen und auf dem flachen Dach unter den Sternen geschlafen.

Lucy seufzte. Kurz bevor er mitten in den Kulissen seines geliebten Theaters von dem tödlichen Herzinfarkt überrascht worden war, hatten sie einige Tage im casina auf dem abgelegenen Grundstück verbracht. Die schönste Woche ihres Lebens!

Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Das erste seit ihrem Abflug aus Heathrow an diesem Mittag.

Stundenlang hatte sie im Schatten der Schilfmatten auf der Veranda gesessen und gelesen, während Dad auf dem Grundstück unter den Olivenbäumen herumwerkelte oder für sie kochte.

Nun konnte sie sich wenigstens für ein paar Tage vor der Welt des Klatsches verstecken, der jetzt einsetzen würde. Alan hatte sie mit der neuen weiblichen Hauptdarstellerin der Serie betrogen. Teresa Timothy-Baker war ein Star, der schon bessere Tage gesehen hatte. Aber das störte Alan nicht. Er würde die Sache bestimmt nicht diskret behandeln, nein. Dazu kannte sie ihn zu gut. So leicht kam er nie wieder in die Schlagzeilen. Sicher dachte er, den ganz großen Ruhm auf diesem Weg erreichen zu können.

Lucy hielt die Luft an und fuhr beherzt in den See aus rotbraunem Wasser. Sie fühlte sich schrecklich. Noch nicht einmal zur Rede hatte sie ihn gestellt, sondern war mit ihren Drehbüchern gleich wieder aus seiner Wohnung geflohen. Sie mochte eben keine Auseinandersetzungen, sondern war eher zurückhaltend. Wo ist dein Temperament, Lucy? hörte sie in Gedanken die Stimme ihres Vaters. Du bist immerhin Halbitalienerin! Ach, Dad. Ich glaube, das ist bei mir irgendwo verloren gegangen …

KLONK!!

Mit einem lauten Knall donnerte etwas von unten gegen das Auto. Vor Schreck rutschte Lucy der Fuß vom Gaspedal. Das Auto machte einen Satz, und der Motor erstarb. Auch das Display gab sein buntes Flackern auf und wurde schwarz, nur der Regen prasselte mit unverminderter Kraft auf das Autodach.

„Oh nein. Das glaube ich jetzt nicht!“ Aber sooft Lucy den Startknopf neben dem Lenkrad auch drückte, der Motor gab kein Lebenszeichen von sich. „Was ist los? Was hast du denn?“ Sie streichelte mit den Händen über das Lenkrad. „Spring an, bitte! Du bist doch so ein feines Auto. Ein ganz tolles Auto!“

Niemand außer ihrem Vater wusste davon, doch schon seit sie ein kleines Mädchen war, redete sie mit Dingen. Sie begrüßte sie, verabschiedete sich und gab ihnen manchmal Namen. Vielleicht hatte sie sich früher doch einsamer gefühlt, als sie es in Erinnerung hatte? Ihre Mutter war gestorben, als sie kaum fünf Jahre alt war.

Dad, ein bekannter Szenenbildner, hatte sich zwar rührend um sie gekümmert und überall mit hingenommen. Wenn in der Zeit der Proben bis spät im Theater etwas zu tun war, hatte sie sogar oft in einer der Garderoben hinter der Bühne geschlafen. Die Garderobieren hatten ihr Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen. Dennoch war sie oft alleine gewesen. Sie hatte ihren Vater so sehr geliebt und sich an ihn geklammert, weil es sonst niemanden mehr in ihrem Leben gab. In Alan hatte sie versucht, einen Ersatz für ihn zu finden. Toll! Dahin führte es also, wenn man einen Mensch ersetzen wollte.

Lucy versuchte es wieder mit ein paar Streicheleinheiten, doch das Auto rührte sich nicht. „Warum tust du mir das an?“ Lucy ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken und blieb eine ganze Weile sitzen. Genau das hatte sie auch Alan vor ein paar Stunden gefragt. Es schien erst zehn Minuten her zu sein.

„Nun stell dich doch nicht so an, Honey, wir Männer brauchen ab und zu mal unseren Freiraum …“, war seine Antwort gewesen. Er war noch nicht einmal vom Sofa aufgestanden.

In ihrer Wohnung hatte sie ein paar Sachen in ihren Koffer geschleudert, bei der Produktionsfirma angerufen und um Urlaub gebeten. Nur ein paar Tage. „Aber es ist doch nicht wegen Alan, oder?“, hatte die Sekretärin scheinheilig gefragt. Sie wussten es, alle wussten es! Sie hatten ihr keinen Urlaub geben wollen, ihr aber freigestellt zu kündigen. Unter Tränen hatte sie das Ticket gebucht, nur schnell weg. Auf und davon, wie ein kleiner aufgeschreckter Vogel.

Und nun war der Vogel in einer riesigen Wasserlache gelandet. Allein, ohne Job. Fast hätte sie angefangen zu lachen, doch dazu war ihre Lage zu hoffnungslos.

Denn das Auto gab immer noch keinen Mucks von sich. Wie sollte sie hier wieder wegkommen? Es konnte passieren, dass tagelang keine Menschenseele in dieser abgelegenen Gegend vorbeikam, und wenn, dann höchstens ein vereinzelter Olivenbauer … Die reichen Mailänder und Römer, deren luxuriösen, Ferienhäuser sich zwischen den alten Ölbäumen versteckten, reisten erst im August an. Lucy schaute sich verzweifelt im Auto um. Das Handy lag auf dem Beifahrersitz. Dad hatte oft italienisch mit ihr gesprochen. Sie war nicht brillant, aber doch fähig, einen Abschleppdienst zu rufen.

„Aber leider hast du vergessen, deinen Akku zu laden. Das ist mal wieder typisch für dich, Honey!“, höhnte Alans Stimme in ihren Ohren.

„Ach, halt doch den Mund!“, rief sie, bevor ihre Gedanken wieder zu ihm wandern konnten und zu dem Anblick, den er ihr dort auf dem Sofa geboten hatte.

Es hielt sie nicht mehr im Wagen. In zwei Stunden wurde es bereits dunkel. Sie würde die paar Kilometer zurück zur Landstraße laufen, irgendein Auto anhalten und sich ein Telefon leihen. Sie nahm ihren leichten Trenchcoat und öffnete vorsichtig die Tür. Natürlich würde sie klatschnass werden, aber alles war besser, als untätig herumzusitzen und das Auto zu beschwören …

Sie spannte den Mantel wie ein Segel über sich und stieg mit ihren einfachen weißen Tennisschuhen bis zu den Waden in das rotbraune, kalte Wasser. Schon war ihre dünne Bluse vorne durchnässt. Lucy seufzte. Tropfende Olivenbäume, so weit ihr Auge reichte. „Ich hol dich gleich! Keine Sorge!“ Sie klopfte dem Auto beruhigend auf das Dach, watete durch die Riesenpfütze und machte sich auf den Weg.

Der Mantel rutschte ihr einen Moment von Kopf und Schultern, augenblicklich waren ihre Haare nass. Das Wasser lief nur so an ihr herab. Was für eine Idee, hier nach Hilfe zu suchen! Dennoch stapfte sie weiter, denn nun wusste sie auch wieder, wo sie war. Da vorne ging es zu der alten Fattoria.

Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer der Erleichterung, und auch der Regen ließ nach und hörte eine Minute später wie durch ein Wunder ganz auf.

Wie oft war sie mit Dad an dem verlassenen, ehemals weiß gestrichenen Gemäuer inmitten der gepflegten Olivenbäume vorbeigekommen. In ihrer Fantasie war die verlassene Fattoria damals zu einer alten Dame geworden, die in ihrem Brautkleid dort hockte und auf Besuch wartete. Auf dem Kopf der Dame nisteten die Tauben, an ihren Hals klebten die Schwalben ihre Nester, und abends wurde sie von Fledermäusen umflogen.

Wenigstens die Tiere hatten sie nicht allein gelassen, dachte Lucy auch jetzt, doch dann blieb sie abrupt stehen. Die ehemals verfallenen Säulen waren aufgerichtet und frisch verputzt. Der überwucherte Weg dahinter war zu einer Allee aus Oleanderbüschen geworden, deren rosa Blütenblätter wie frisch gewaschen aus dem Grün hervorblitzten. Ein Großteil von ihnen lag allerdings auch nass auf der schlammig roten Erde. Vor den weißen Mauern hatte jemand Lavendelbüsche gepflanzt. Wie um auf die Schönheit des renovierten Gebäudes hinzuweisen, riss in diesem Augenblick die Wolkendecke auf. Ein Sonnenstrahl traf das Dach und ließ die nassen Terrakottaziegel glänzen.

Wie wunderschön! Aus der alten verlassenen Dame war ein wahres Schmuckstück geworden. Und das Beste daran: Im Hof standen Autos, dort waren Menschen, die sie um Hilfe bitten konnte!

„Vater, du hast doch keine Ahnung, wie die Konkurrenz heutzutage arbeitet!“ Matteo ballte die Hände zu Fäusten und lief in der Halle auf und ab. Es war nicht zu fassen, wie stur sein Vater sein konnte.

„Qualität kostet, Matteo. Sieh das endlich ein!“ Romolo DellaPina war zwar schon an die achtzig, doch seine Stimmer konnte wie die seines Sohnes sehr laut und schneidend werden.

„Gut und schön, aber was, wenn man unser Extra-Virgine Öl einfach nicht mehr kauft, weil wir zu teuer sind?“ Matteo konnte es nicht ertragen, dass sein Vater sich immer noch in seinen Führungsstil einmischte. Er war jetzt das Oberhaupt der Firma! Also legte er auch die Qualitätsstandards für das Öl fest, ganz egal, wie unsinnig hoch sie früher einmal gewesen sein mochten.

„Qualität ist wichtig, Matteo, vergiss das nie! Gerade wegen unserer hohen Standards haben die Leute mir vierzig Jahre lang alles abgekauft.“

Matteo rollte wütend mit den Augen und stellte die Flasche Olivenöl mit einem Knall auf den gemauerten Tresen zurück. „Das waren andere Zeiten, Vater! Damals musste man noch nicht Betriebswirtschaft studiert haben, um den Markt zu durchschauen. Ich senke die Standards, weil ich es angesichts des europäischen Marktes tun muss! Wann akzeptierst du endlich, dass ich der Chef bin … und darum werde ich …“ Er brach mitten im Satz ab, denn er sah, wie sein Vater auf einen Punkt hinter ihm starrte.

Er drehte sich um. Eine Frau stand in dem Torbogen, dessen hohe Flügeltür nur angelehnt war. Eine sehr nasse Frau, die in diesem Moment ihren durchweichten Mantel vom Kopf nahm.

Matteo hörte unwillkürlich auf zu atmen. Sie war… nackt! Also – so gut wie. Ihre Figur zeichnete sich überdeutlich unter der durchsichtigen nassen Bluse und der eng anliegenden weißen Jeans ab. Ihre Brüste waren klein und reckten sich vorwitzig gegen den Stoff des weißen Büstenhalters. Die Taille war schmal, und Matteo merkte, dass er sie unbedingt dort umfassen wollte, um sie hochzuheben, wegzutragen … auf das nächste Lager, auf dem er sie … Dio, woher kommen auf einmal diese Gedanken, dachte er. Reiß dich zusammen! Doch er konnte den Blick einfach nicht von ihr abwenden, so sehr begehrte er sie plötzlich.

Ihr nasses Haar leuchtete kupferfarben in den zögernden Sonnenstrahlen, die jetzt durch die kleinen Fenster der Halle fielen, es lag wie ein glänzendes glattes Tuch an ihrem Kopf und betonte ihren zarten Hals. Matteo atmete tief ein. Sie war wunderschön, ein göttliches Wesen, eine dem Meer entstiegene Venus! Trotz der rot verschlammten, ehemals weißen Tennisschuhe, die sie an den Füßen trug …

Er merkte, dass ihm der Mund offen stand. Verlegen beeilte er sich, ihn zu schließen. Und auch die Venus schien sich jetzt des Eindrucks bewusst zu werden, den ihr Anblick auf die beiden Männer machen musste, denn sie hielt sich verunsichert den Mantel vor.

Scusi! Entschuldigen Sie! Ich habe eine Autopanne … ob mir wohl jemand von Ihnen helfen könnte?“

Ihre Stimme war weich, registrierte Matteo, doch recht unsicher. Sie machte beim Sprechen kleine Fehler und gab den Worten einen Klang, den nur eine Engländerin oder Amerikanerin fertigbrachte. Aus ihrem Mund hörte sich das allerdings ganz entzückend an.

Sein Vater fing sich als Erster: „Signorina, kein Problem. Was ist passiert? Wo steht Ihr Auto?“

„Da draußen, mitten in einer riesigen Regenpfütze, und gibt keinen Ton mehr von sich!“

„Matteo kümmert sich sofort darum!“

Matteo biss die Zähne zusammen. Seit wann war der Alte so nett zu jungen Frauen? Gegenüber seiner Verlobten Eleonora hatte er jedenfalls noch nie dieses Schmunzeln gezeigt, das sich jetzt auf seinen Lippen ausbreitete und sein Gesicht in tausend Fältchen legte.

Als Matteo näher kam, sah er, dass die Fremde große dunkle Augen hatte, die einen wunderschönen Kontrast zu ihrem Haar bildeten und an deren langen dunklen Wimpern noch winzige Regentropfen hingen. Die Lippen ihres Mundes waren verführerisch voll und geschwungen. Er musste sich zwingen, seinen Blick von ihnen abzuwenden. „Angenehm. Matteo DellaPina.“

„Lucy Tamburini.“

Er wollte ihr schon die Hand geben, entschied sich aber dagegen. Sie brauchte Hilfe, das war alles. Du weißt, dass das längst nicht alles ist, schalt er sich. Sie ist eine Schönheit und bringt dich gehörig durcheinander.

„Ihr Nachname klingt italienisch. Dennoch kommen Sie nicht von hier“, stellte sein Vater hinter ihm fest.

„Nein.“ Sie lächelte, und er konnte zwei Reihen perlweißer Zähne bewundern.

Natürlich nicht, Papa, dachte Matteo. Sonst hätte sie bei dem Namen DellaPina sofort ungläubig gelacht und „DellaPina?! Wie das Olivenöl?“, gefragt.

„Mein Vater war Italiener. Aber ich bin England aufgewachsen. In London.“ Er sah, wie ihr Blick hoch in das gemauerte Gewölbe glitt und dann neugierig die gesamte Eingangshalle abmaß.

„Als kleines Mädchen bin ich manchmal hier draußen vorbeigekommen. Aber da waren Tor und Hof immer verschlossen. Jahrelang. Wie schön, dass das Gebäude wieder bewohnt ist. Dass es auch von innen so prächtig ist, habe ich nicht gewusst!“

Matteo mochte den Klang ihrer Stimme, er mochte, wie sie die Hände bewegte, wenn sie sprach, er mochte und bewunderte alles an ihr. Sie war so zart, alles an ihr wirkte weich. Ganz anders als bei Eleonora, die mit ihrer Größe von einem Meter achtzig nur fünf Zentimeter kleiner war als er. Die ihren durchtrainierten, fast asketischen Körper und ihren scharfen Verstand gerne als Waffen einsetzte.

Seine Miene verhärtete sich, als er hörte, wie sein Vater lachte. „Ja, es ist unser Familienbesitz, den wir einige Zeit nicht bewohnt haben. Wir haben lange Zeit im Norden gelebt und gearbeitet.“

Zu lange, viel zu lange, dachte Matteo wütend. Mama hatte immer zurückgewollt, aber du hast es nicht beachtet! Die Firma war dem Alten immer wichtiger gewesen. Und er hatte seinen Sohn mit seinem Ehrgeiz angesteckt. Erst stürzte Matteo sich ins Studium, und danach gab es lange Zeit nur die Firma. Und was blieb für Mama? Viel zu spät haben wir ihr den Gefallen getan und die Fattoria für sie wieder bewohnbar gemacht.

Er starrte auf den Boden und versuchte die Traurigkeit zu verjagen, die in ihm aufstieg, sobald er an seine Mutter dachte. Zwei Jahre hatte sie noch in der geliebten Heimat gehabt, bevor sie den Kampf gegen den Krebs verlor.

Er spürte, dass die junge Frau ihn anlächelte. Er schaute sie nicht an, sondern nickte nur seinem Vater zu. „Ich werde mal einen Blick auf den Wagen werfen“, brummte er und ging betont gleichgültig an der Engländerin vorbei. Gleichzeitig schrie alles in ihm danach, in ihrer Nähe zu bleiben. Er wollte sie in die Arme ziehen, nass wie sie war, er wollte sie beschützen, er wollte diese sinnlichen Lippen küssen und ihren zarten Körper an seinem spüren.

Sofort verbot er sich dieses absurde Begehren. Das ging nicht! Das durfte er Eleonora auf keinen Fall antun! Er war verlobt, und er war glücklich. Er würde versuchen, das Auto flottzubekommen oder den Abschleppdienst zu rufen. Das war Ehrensache. Doch dann würde er sich verabschieden und sie nie wiedersehen.

Lucy schüttelte fassungslos den Kopf. Das kleine Auto war verliebt in ihn! Natürlich! Sobald er sich nur hinter das Lenkrad gesetzt und seine schönen großen Hände daraufgelegt hatte, tat der Startknopf scheinheilig seine Aufgabe und aktivierte ohne Zögern den Motor. Typisch. Jetzt stand sie wie ein dummes Huhn da, das noch nicht mal in der Lage war, einen abgewürgten Motor wieder anzulassen.

Lucy knetete verlegen ihre Hände, als der Sohn des Gutsbesitzers den Wagen aus der Riesenpfütze steuerte und mit laufendem Motor neben ihr hielt.

Sein akkurat geschnittenes, dunkles Haar würde sich bestimmt über der hohen Stirn locken, wenn es nicht so kurz wäre. Seine Nase war gerade, die Lippen seines Mundes sexy geschwungen. Aber am auffälligsten waren seine Augen. Sie waren hellblau, und an guten Tagen würden sie vielleicht strahlen wie zwei Türkise, doch anscheinend war auch für ihn heute kein guter Tag. Meine Güte, wie laut er mit seinem Vater gestritten hatte!

Um was es gegangen war, hatte sie nicht verstehen können, dafür hatten sie zu schnell gesprochen. Doch als sie in seinem Wagen zu ihrem Auto fuhren, hatte er keinen Ton zu ihr gesagt, und auch jetzt waren seine Züge abweisend und wie festgefroren.

Sie fühlte sich mit einem Mal wie eine typische englische Stadtpflanze auf Urlaub. Gegen seine von der Sonne gebräunte Haut war sie blass und passte einfach nicht in diese wilde, ursprüngliche Umgebung. Ein Mann wie er würde sich nie für jemanden wie sie interessieren. Dabei hatte er so einen melodischen Namen! Matteo. Matteo. Sie wiederholte den Namen für sich und stellte sich vor, wie es wohl klingen würde, wenn sie ihm ein atemloses ‚oh Matteo!‘ ins Ohr flüstern würde … Im nächsten Augenblick rief sie sich zur Ordnung, denn er öffnete die Fahrertür und stieg aus.

Sie blickte an seiner hochgewachsenen Gestalt empor. Mit seinen breiten Schultern und den langen Beine war er so hinreißend attraktiv, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief und ihre Brustspitzen sich unter der nassen Bluse aufrichteten. Was wäre, wenn er dich mit diesen Händen anfassen würde … Stopp! fuhr sie sich an. Was ist mit dir los, du hast doch wahrlich gerade andere Sorgen!

Schnell schaute sie auf den schlammigen Boden vor sich und musste dann doch lächeln. Jetzt hatte er auch nasse Schuhe, verlor aber kein Wort darüber. Warum war er nur so ärgerlich? Hatte sie ihm etwas getan? Und wenn ja, was?

Sie zuckte mit den Schultern. Sie würde sich bei diesem gut aussehenden, aber unverschämt mürrischen Kerl bedanken und dann, so schnell es die Wege zuließen, zu ihrem Häuschen fahren.

Matteo verschränkte die Arme: „Ich denke, Sie kommen alleine klar. Arrivederci!

„Arrivederci?“, fragte sie schnippisch und vergaß tatsächlich einen Moment lang ihre zurückhaltende Art. „Auf Wiedersehen? Das nehme ich Ihnen nicht ab, das wollen Sie doch nicht wirklich!“

Er schnaubte: „Entschuldigen Sie meine Wortwahl. Aber richtig: Ich habe leider nicht den ganzen Tag Zeit, mich um Autos zu kümmern, die angeblich nicht mehr fahren und es dann doch tun.“

Lucy schnappte nach Luft: „Glauben Sie mir! Wenn ich es hätte verhindern können, wäre ich niemals freiwillig in dieser Pfütze stehen geblieben. Und schon gar nicht, um mir mit Ihrer überaus charmanten Bekanntschaft meinen Aufenthalt zu verderben.“ Sie stieg ein und schlug die Tür zu. Was für ein arroganter Typ, bloß schnell weg hier!

Während sie den Sitz wieder auf ihre Beinlänge einstellte, beobachtete sie im Rückspiegel, wie er auf seinen Jeep zuging. Sie kniff die Augen zusammen. Auch von hinten sah er umwerfend aus. Die Jeans lag an genau den richtigen Stellen eng an.

„Idiot“, murmelte sie. Er war ein eingebildeter Idiot, aber warum folgte er ihr denn jetzt noch? Wahrscheinlich suchte er nur eine geeignete Stelle, um zu wenden. Doch er fuhr immer weiter hinter ihr her durch die halbhohen Natursteinmauern, bis sie schließlich vor der Kette hielt, die quer über die Einfahrt zu ihrem Grundstück gespannt war.

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, stieg sie aus und öffnete das kleine Vorhängeschloss. Dass sie ihm dabei den Anblick ihrer Kehrseite in ihrer nassen eng anliegenden Jeans bot, ärgerte sie umso mehr. Sie kehrte in den Wagen zurück und fuhr auf das Grundstück. Der hohe Jeep war immer noch hinter ihr. Lucy wurde wütend. Was wollte er denn noch? Sie steuerte das kleine Auto die von Unkraut überwucherte Auffahrt hoch und stieg aus.

Er auch. Sie hörte die Autotür schlagen. „Hier wohnen Sie also.“

Sie nickte und presste die Lippen zusammen, die Augen fest auf die Fruchtpinien gerichtet. Sie hätte das Wiedersehen mit ihrem geliebten Grundstück nach zwei Jahren lieber alleine gefeiert. Nun wusste er, wo sie in den nächsten Tagen zu finden sein würde.

Die Pinien waren ein ganzes Stück in die Höhe gewachsen, die Rosmarinsträucher auch. Das Unkraut war auch ins Kraut geschossen, doch es war von wunderschönen roten Mohnblüten und weiß-gelber Kamille gesprenkelt. Wie es hier wohl aussehen würde, wenn Luigi, unser treuer Gärtner, nicht ab und zu gemäht hätte, dachte Lucy. Sie betrachtete das Häuschen, das aus unterschiedlich großen Feldsteinen erbaut war. Anheimelnd und unerschütterlich stand es unter dem größten der vielen knorrigen Olivenbäume.

„An Ihrer Stelle würde ich die Elektrik auf jeden Fall noch einmal bei der Autovermietung überprüfen lassen. Am besten nehmen Sie gleich einen anderen Wagen!“

Sie sah ihn überrascht an. „Ach! Machen Sie sich etwa Sorgen um mich …“

Er hielt es wohl nicht für nötig, ihr zu antworten, sondern schaute sich nur in aller Ruhe um und fasste dann skeptisch das Häuschen ins Auge. Wenn er es kannte, dann ließ er es sich nicht anmerken.

„Haben Sie alles? Gibt es hier überhaupt Elektrizität und Wasser?“

„Danke, ich komme klar! Grüßen Sie Ihren bezaubernden Herrn Vater herzlich von mir!“

Wortlos drehte er sich um, stieg in sein Auto und fuhr davon. Lucy seufzte. Was für ein Grobian! Dieser Mann hatte ihr gerade noch gefehlt, dabei musste sie jetzt erst einmal ihre Behausung für die nächsten Tage bewohnbar machen.

Obwohl sie sich dagegen wehrte, wanderten ihre Gedanken während des Auspackens und Einrichtens ständig zurück zu dem attraktiven Matteo DellaPina und seinem versteinerten Gesichtsausdruck.

Ihr gemeinsames Drehbuch, die Geschichte zwischen ihr und ihm, war noch nicht zu Ende geschrieben, das ahnte sie.

2. KAPITEL

„Dein caffè, Matteo!“ Mit leisem Plätschern goss die alte Giovanna den Espresso aus dem Kännchen in die Tasse und rührte ihm wie immer einen Löffel Zucker hinein. Matteo drehte sich nicht um, sondern blieb am Fenster seines Schlafzimmers stehen und schaute weiter in den Garten. Dort unter ihm wetteiferten die Farben der Lavendelrispen und Oleanderblüten miteinander. Hinter den Mauern erstreckte sich die Ebene mit unzähligen Olivenbäumen, deren Blätter im Wechsel von Silbrighell und Grün schimmerten.

„Danke, Giovanna, ich hätte auch hinunter in die Küche kommen können!“

„Sie liebte den Mai“, antwortete die Köchin, ohne auf sein Angebot einzugehen, und rückte mit ihrem typischen Schnaufen Teller und Tablett auf dem Tischchen zurecht. Matteo lächelte. Giovanna hatte ihm schon als Kind das Frühstück gemacht.

Doch sofort verflog sein Lächeln wieder und machte einer ernsteren Miene Platz. Sie kannte ihn so gut und wusste, dass er es in den letzten Tagen vermieden hatte, seinem Vater zu begegnen, wann immer es möglich war.

„Ja. Wenn ihr Garten blühte.“ Matteo fühlte sich verloren. Er wollte nicht nach Mailand zurück, aber auch nicht hier sein. Seit einem halben Jahr hatte er keine rechte Freude mehr an der Fattoria, auf der er geboren war und die er als Kind oft besucht hatte, um seine Großeltern zu sehen. Es war der Familienbesitz seiner Mutter. Sie war es, die das Gutshaus und die Ländereien mit den ausgedehnten Olivenhainen mit in die Ehe gebracht hatte.

Doch sein Vater hatte sich durchgesetzt. Kurz nach Matteos Geburt waren sie nach Mailand gegangen. Romolo DellaPina war damals bereits vierzig und noch ehrgeiziger gewesen als in jungen Jahren. Er hatte sich nicht mit dem Besitz in Apulien begnügt, sondern ein riskantes Spiel gewagt, indem er Olivenernten in ganz Italien aufkaufte.

Dort im Norden, mit einem von ihm entworfenen, vollautomatisierten System, hatte er die Oliven dann pressen lassen. Damals wie heute besaßen sie die modernste Ölgewinnungsanlage Italiens. So wurde der Grundstein des Imperiums der Familie DellaPina gelegt.

„Mama hat es nicht lange genießen können, wieder in ihrer Heimat zu sein! Dabei hat sie sich im Norden nie wohlgefühlt.“

„Du solltest dir deswegen keine Vorwürfe machen!“ Giovannas rundliche weiche Hand tätschelte ihm die Schulter. Dann hörte er ihre Schritte in Richtung Tür schlurfen.

„Giovanna! Bleib einen Moment!“ Endlich drehte er sich um. Die Haushälterin hielt erstaunt inne.

„Sollen wir die Fattoria in diesem Sommer für Touristen öffnen? Papá redet zwar davon, aber ob ihm klar ist, was das bedeutet? Er experimentiert Tag und Nacht daran, immer hochwertigere Olivenöle herzustellen. Regelrecht besessen ist er davon.“ Was ihn aber nicht davon abhält, mir bei meinen Plänen in Mailand hineinzureden, dachte er.

Der aufmerksame Blick der untersetzten Köchin bewog ihn, einfach weiterzureden und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen.

„Von mir will er, dass ich sein außerordentliches Öl vermarkte, ohne ihn zu stören. Mal sagt er Ja zu meinen Maßnahmen und drängt mich regelrecht, dann wieder sträubt er sich, auch nur an der Landstraße ein Werbeschild aufzustellen, das auf sein Öl aufmerksam machen würde.“

Die Köchin seufzte. „Du fragst dich, ob sie es gewollt hätte?“

Oh ja, die alte Giovanna kannte ihn wirklich sehr gut. Er zuckte die Schultern und stürzte den Espresso mit einem Schluck hinunter, um den Kloß aus seinem Hals zu vertreiben, der ihm jedes Mal die Kehle eng werden ließ, wenn er an seine Mutter dachte.

„Sie hatte doch immer so gerne Gäste “, sagte Giovanna und stützte die Hände auf ihre ausladenden Hüften. „Sie war so glücklich, hier zu sein, und liebte es, wenn das Haus voller Leben war und sie Besucher durch ihren Garten führen konnte.“

Ja, Giovanna hatte recht. Matteo legte alles daran, die Gefühle, die ihn überfluteten, in seinen Zügen zu verbergen. „Gut. Dann machen wir es. Aber … könntest du nicht den Verkauf und die Verkostung organisieren?“

„Wie stellst du dir das denn vor, junger Mann!?“

Matteo zuckte zusammen. Er hatte Giovanna gern, und er wusste, dass man ihre Knurrigkeit nicht unbedingt ernst nehmen musste. Doch wenn sie ihn ‚junger Mann‘ nannte, war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Da legte sie auch schon los:

„Ich koche, ich kaufe ein. Ich kontrolliere Tittina, der muss man auf die Finger gucken, sonst putzt sie sofort schlampig! Erst gestern hat sie doch glatt …“

„Du machst das prima, Giovanna, und du hast wahrlich genug zu tun. Entschuldige, dass ich gefragt habe!“

Doch nun war die Köchin in Fahrt: „Der Signor DellaPina ist ein würdiger Chef, ganz bestimmt, doch wir brauchen eine gute Seele, die die Fattoria wieder zu dem macht, was sie einmal war. Wir brauchen eine Frau im Haus!“

Wie auf das Stichwort meldete sich sein Handy zu Wort. Es lag neben dem Tablett mit dem Croissant und der Espressokanne und zeigte einen Namen an: Eleonora.

Seine Verlobte hatte die Geschäfte in Mailand gut im Griff, wenn er einmal ein paar Tage unterwegs war. Matteos persönliche Sekretärin Concetta hatte ihm das erst gestern auf seine Nachfrage hin bestätigt.

„Sie weiß, was sie will!“, war ihre Aussage gewesen. „Und sie hat die besten Kontakte zur Presse und allen Medien.“

Matteo nickte. Seitdem Eleonora die Arbeit als Firmensprecherin aufgenommen hatte und ihre beiden Assistenten mit Argusaugen überwachte, war die Presse wirklich auf ihrer Seite. Eleonora wusste natürlich auch über seine Aufgaben Bescheid und unterstützte ihn manchmal bei Preis- und Vertragsverhandlungen. In ihren Forderungen war sie unerbittlicher als er. Dank ihrer Tipps aus dem Hintergrund hatte er schon so manches Mal erfolgreicher abgeschlossen als ohne ihre Beratung.

Er sah, wie die Köchin erst mit den Augen rollte und sich dann selber wie ein Kreisel auf die Tür zubewegte.

Giovanna mochte Eleonora nicht, nachdem diese sich bei ihrem ersten Besuch geweigert hatte, ihre pasta zu probieren, und auch nicht bereit war, ihr selbst gebackenes Brot zu essen. Das wäre schädlich für ihren Stoffwechsel, hatte sie gesagt. Die dicke Giovanna war mit ihren selbst gemachten cavatelli schluchzend wieder in ihre Küche zurückgekehrt.

Auch die große Schachtel feinster belgischer Pralinen, die Matteo gekauft hatte und ihr von Eleonora beim nächsten Aufenthalt überreicht worden war, hatte Giovanna nicht umstimmen können.

Er atmete tief ein. Eleonora war manchmal etwas harsch in ihrem Benehmen. Sie konnte sich im Privatleben einfach nicht verstellen, sondern einzig und allein, um Kunden zu überzeugen. Er drückte auf den grünen Hörer: „Guten Morgen, mein Schatz!“

„Hör mal, Matteo, ich bin schon im Büro“, kam Eleonora ohne Umschweife zur Sache. Matteo konnte sie fast vor sich sehen: In einem ihrer figurbetonten Businesskostüme würde sie gerade hinter ihrem Schreibtisch stehen, lang, schmal und elegant. Obwohl sie mörderisch hohe Pumps trug, setzte sie sich nie hin, sondern war immer in Bewegung. Ihre Artikel hämmerte sie an einem Stehpult in ihr Laptop, ihren morgendlichen Dauerlauf auf dem Laufband hatte sie bestimmt längst hinter sich.

„Was ist jetzt, wann kommst du zurück? Ich habe den Termin mit Signor Tuturi nun auf Donnerstag gelegt. Wird dein Vater dann endlich wieder ohne dich auskommen?“

„Donnerstag?“ Das war in drei Tagen. Bis dahin würde er es geschafft haben, die etwas wirren Vorstellungen seines alten Herrn in einen vernünftigen Plan umzusetzen und alles zu veranlassen. Vielleicht geschah ja ein verdammtes Wunder, und er ließe ihn im Gegenzug in Ruhe seinen Geschäften nachgehen – ohne sich dauernd einzumischen … „Natürlich. Perfekt. Ich lasse Concetta gleich einen der ersten Flüge buchen.“

Während er Eleonoras Stakkato-Ton zuhörte, schweifte sein Blick wieder aus dem Fenster über die unzähligen Olivenbäume. Wie viele davon standen eigentlich drüben bei ihr auf dem Grundstück? Bei ihr … dieser Engländerin.

Ohne es zu wollen, tauchte ihr herzförmiges Gesicht mit den dunklen Augen vor ihm auf. Das glatte kupferfarbene Haar wehte im sommerlichen Wind und glänzte. Was sie jetzt wohl gerade machte? Im Bikini vor dem Häuschen in einem Liegestuhl liegen? Sosehr er sich dagegen zu wehren versuchte, entstanden sofort die erotischsten Fantasien vor seinem geistigen Auge, auf die sein Körper reagierte.

Dio! Was war bloß in ihn gefahren? Er wischte die Vorstellung von ihrem verführerischen Körper beiseite. Die Bäume! Er wollte sich doch nur um die vernachlässigten Bäume kümmern, die er gestern dort drüben entdeckt hatte. Er würde seinen Vater fragen, ob er sie nicht für seine ausgesuchten Öle kultivieren wolle.

„Ja, das werde ich tun …“, murmelte er vor sich hin.

„Bitte? Seit wann kümmerst du dich persönlich um die Verträge?“, kam es von Eleonora durch die Leitung. „Vertraust du Arnoldo nicht mehr? Der hat schließlich jahrelang Jura studiert und nicht du.“ Matteo wusste, dass er ihren herablassenden Ton nicht persönlich nehmen musste.

„Doch, doch. Ich …“ Arnoldo war sein bester Freund und Anwalt der Firma. Zusammen mit Geschäftsführer Francesco bildeten sie ein brillantes Team an der Spitze der Firma.

„Hör mir bitte wenigstens zu, wenn es um diesen wichtigen Bereich geht“, sagte Eleonora mit scharfer Stimme.

„Aber das tue ich ja.“ Warum hatte er sich damals eigentlich in Eleonora verliebt? Weil er gerade das an ihr mochte? Diese Klarheit, diese absolute Gewissheit, was zu tun war? Nur mit Mühe schaffte er es, sie zu besänftigen und das Gespräch friedlich zu beenden.

Plötzlich hatte er gute Laune. Er würde sich um die verwilderten Olivenbäume auf dem Nachbargrundstück kümmern. Wenn sie beschnitten worden waren, würden sie in ein, zwei Jahren wieder reichlich Früchte tragen.

Doch eine klare Stimme in seinem Kopf schalt ihn einen Dummkopf. Du willst sie wiedersehen. Nichts anderes als das, Matteo DellaPina…

Kein Wasser!

Schon gestern Abend hatte Lucy festgestellt, dass die Zisterne wohl leer sein musste.

Natürlich hatte sie bei ihrem überstürzten Aufbruch nicht daran gedacht, Luigi, den Gärtner, anzurufen, der sich sonst um alles kümmerte. Aber das würde sie nun heute Morgen nachholen, und einiges konnte sie auch selber machen. Dad hatte sie sehr selbstständig erzogen.

Obwohl sie so glücklich gewesen war, ihr Häuschen wieder in Besitz zu nehmen, war die erste Nacht darin nicht sehr komfortabel gewesen. Nach zwei Jahren war alles von einer dicken Staubschicht überzogen und schrie danach, sauber gemacht zu werden. Auch Bettdecken, Matratzen und Bettzeug rochen muffig.

Sie hatte sich auf dem schmalen Bett in ihrer Kammer herumgewälzt und wieder Alan auf dem Sofa vor sich gesehen. In allen erdenklichen Positionen … dann hatte sich das Gesicht von Matteo DellaPina vor dieses Bild geschoben, der sie aus seinen türkisblauen Augen spöttisch anschaute.

An Schlaf war nicht zu denken gewesen.

Schließlich hatte sie das Licht angemacht und sich mit ihrem Bettzeug auf das breitere Bett ihres Vaters gekuschelt. Es gelang ihr, sich mit einer seiner uralten Theaterzeitschriften abzulenken. Und auch die Tatsache, dass wenigstens der Strom nicht abgestellt war, hatte sie mit Dankbarkeit erfüllt.

Doch nun war es Morgen, der Himmel war blau, und sämtliche Gegenstände aus dem Häuschen lüfteten im hellen Sonnenschein. Voller Tatendrang stützte Lucy die Hände in die Hüften. Sie brauchte nur noch Wasser, um putzen zu können!

Sie kniete sich auf die gemauerte Terrasse, unter der die Zisterne lag, und öffnete das kleine Vorhängeschloss. Der eiserne Deckel protestierte quietschend, als sie ihn in die Höhe hob.

Als sie den Kopf in das dunkle Viereck steckte, erschauerte sie. Der glatte Betonboden wurde nur von einer minimalen Wasserschicht bedeckt. Zu wenig für die Pumpe. Modriger Geruch kam ihr entgegen. Plötzlich sah sie etwas zappeln. Ein Tier?

Oh ja. Eine winzig kleine Maus schwamm dort unten um ihr Leben. Wie war die da hineingekommen?

„Wo sie hineingekommen ist, wird sie auch wieder hinauskommen“, hätte Alan jetzt gesagt. Ihr Vater dagegen … Ihr Vater hätte das kleine Lebewesen gerettet. Und das werde ich jetzt auch tun, dachte sie. Angst vor Mäusen habe ich noch nie gehabt. Nur vor Menschen, die nicht ehrlich sind …

Lucy sah sich um. Der bunte Kescher, noch aus Kindertagen, würde ihr gute Dienste leisten, genau wie die von der Sonne gebleichte Holzleiter am Haus. Sie war schmal genug, um in die Luke zu passen.

Einen Moment später kletterte sie vorsichtig, Stufe für Stufe, in den Schacht hinab.

Sie war gerade in der Mitte der Leiter angekommen, als die Sprosse, auf der sie stand, mit einem hellen Knacken durchbrach. Auch die nächsten beiden Sprossen gaben unter ihren Füßen nach wie Streichhölzer. Mit einem Aufschrei stürzte Lucy die Leiter hinab und fand sich kurz darauf auf dem Boden im Wasser wieder, den Kescher neben sich. Sie rieb sich den Ellbogen und prüfte ihre Gliedmaßen. Gott sei Dank. Alles an ihr schien noch heil zu sein.

Beim Aufstehen rutschte sie mit ihren bloßen Füßen aus und landete wieder in der modrig riechenden Flüssigkeit, dass es nur so spritzte. Diesmal hatte auch ihr langes Haar etwas abbekommen.

„Verdammt!“ Vorsichtig erhob sie sich und klopfte den nassen Hosenboden ihrer kurzen Jeans ab. Darüber trug sie nur ein Bikinioberteil. Beim Schleppen der Matratzen war sie ins Schwitzen gekommen.

Die Zisterne war ziemlich groß, sogar aufrecht stehen konnte man darin, doch man sah die Seitenwände kaum, so dunkel war es. Nur das Viereck blauer Himmel spendete Licht.

Warum hatte sie den Gärtner nicht vorher angerufen? Oder Antonio, den Mann mit dem Wasserlaster? Beide Nummern waren in ihrem Handy gespeichert. Doch das lag … neben den offenen Kisten und Matratzen auf der Terrasse!

Wie dumm von mir, tadelte sie sich. Wie dumm, wie dumm! Und das alles nur wegen einer Maus! Mehr aus Verzweiflung nahm sie den Kescher, um das Tier zu fangen, das zwei Meter von ihr entfernt hektisch im handbreiten Wasser paddelte.

„Komm her!“ Zu ihrer eigenen Verwunderung brauchte sie nur einen Versuch, dann zappelte das kleine Ding schon im Netz. „Gut, mein Mäuschen. Nun müssen wir beide nur noch hier hinauskommen …“ Sie lehnte den Kescher an die Wand. Das Tier versuchte vergeblich, freizukommen.

Was war mit der Leiter? Ließ die sich nicht vielleicht auf den Kopf stellen, sodass sie vorsichtig auf den intakten Stufen nach oben klettern konnte? Mit großer Anstrengung drehte Lucy die Leiter kopfüber und stellte sie wieder auf. „So werde ich hier ganz einfach wieder heraussteigen!“, versuchte sie sich zu beruhigen und strich über das poröse Holz. Doch gleich beim ersten Versuch brachen die beiden verbleibenden Stufen unter ihren Füßen entzwei. Wieder verlor sie auf dem rutschigen Untergrund das Gleichgewicht und landete auf dem Boden.

Hoffnungslos betrachtete sie die kaputte Leiter und die Luke aus der Froschperspektive. Es war zu hoch, sie war gefangen und kam hier nicht mehr heraus! Sie würde die Nacht hier unten zubringen müssen. Nur in Gesellschaft der Maus! Wie viele Stunden würden vergehen, bis jemand sie suchte? Niemand wusste, dass sie hier war.

„Hallo! Hilfe!!“, rief sie auf Italienisch und rappelte sich auf. Das Echo war beängstigend. Vor Schreck stellte sich die kleine Maus in ihrem Kescher tot. „Hilfe! Ist da jemand?!“

Nein. Niemand war da, und es würde sie auch niemand hier auf dem einsamen Grundstück hören. Das nächste Haus war die Fattoria, und die lag zehn Fußminuten entfernt! Mit diesem Angeber Matteo, der sie verdächtigt hatte, ihr Auto absichtlich abgewürgt zu haben … Wütend griff sie nach den Seitenteilen der Leiter und rüttelte daran.

„Hilfe! Warum holt mich denn keiner hier raus?“, rief sie verzweifelt auf Englisch. Sie wiederholte den Satz so oft, bis sie erschöpft nach Luft schnappen musste.

In diesem Moment tauchte der Umriss eines Kopfes in dem blauen Viereck auf.

„Italienisch wäre in so einer Situation vielleicht hilfreicher, Signorina!“

„Oh, Matteo. Sie sind da!“, brach es aus ihr hervor, bevor sie nachdenken konnte. „Danke!“ Zu ihrem eigenen Erstaunen merkte sie, wie Tränen der Erleichterung über ihre Wangen strömten.

„Was tust du da unten? Bist du verletzt?“

Er duzte sie mit einem Mal, registrierte sie, doch dann musste sie trotz allem lachen und wischte sich die Nässe aus dem Gesicht. „Nein. Alles in Ordnung. Ich rette nur jemanden.“

„Aha! Interessant. Du rettest jemanden und musst dann selbst gerettet werden.“ Er grinste und schien die Lage mit einem Blick zu erfassen. „Warte. Ich überlege mir etwas.“ Sein Kopf verschwand.

Geh nicht weg, wollte Lucy am liebsten rufen, verkniff es sich aber. Schon wieder war sie gezwungen, seine Hilfe anzunehmen, was musste er jetzt von ihr denken? Doch ihr Herz klopfte, und ihre feuchten Wangen brannten, weil sie plötzlich an seine schönen Hände und kräftigen Arme denken musste, mit denen er sie sicher bald aus dem dunklen Verlies ziehen würde.

„Sind Sie noch da?“, kam es von außen. Aha! Nun siezte er sie also wieder.

„Ja! Ich bin noch da.“ Gegen ihren Willen musste sie abermals lachen. „Ich dachte, ich lasse Ihnen den Spaß, mich zu retten, wenn Sie sich schon solche Mühe geben“, rief sie hinauf. Sie hörte ihn draußen umhergehen. Nach einigen Minuten erschien sein Gesicht über ihr, und er ließ etwas zu ihr hinab.

„Dieses Nylonseil lag zufällig in meinem Wagen.“

Sein Wagen? Wahrscheinlich hatte sie zu laut um Hilfe gerufen, um das Auto kommen zu hören.

„Ich habe Schlingen reingeknüpft und das Ende an den Pfeiler der Pergola gebunden. Sie müssen ihre Füße nach und nach hineinsetzen und sich daran hochziehen.“ Seine hellen Augen waren ernst und hörten nicht auf, sie anzuschauen, während er ihr alles erklärte. Lucy verlor sich in ihnen, sodass sie zunächst keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Dann räusperte sie sich und wandte sich ab: „Erst kommt die hier!“ Sie reichte ihm den Kescher hoch, in dessen verdrehtem Netz die Maus gefangen war. Dann kletterte sie Stück für Stück an dem schwankenden Seil hoch, bis er ihr die Hand reichte und sie nach draußen zog. Erschöpft und außer Atem kauerte sie vor ihm.

„Sie hatte es offenbar eilig.“ Matteo zeigte auf das leere Netz des Keschers. „Ihre Tierliebe in Ehren! Aber wegen einer Maus riskieren Sie Ihr Leben?“ Seine Stimme klang ungläubig und gleichzeitig abweisend.

„Ja, manchmal auch das“, sagte Lucy patzig. Sie erhob sich. In ihrem Bikinioberteil und der kurzen Jeans fühlte sie sich plötzlich viel zu nackt. Sein gnadenloser Blick tat nichts, um sie von diesem Gefühl zu erlösen.

Sie schaute an sich hinab. Ihre helle Haut war von dunklen Flecken überzogen, die von dem dünnen Schlamm stammten, der sich in der Zisterne auf dem Boden angesammelt hatte. Ihre Hose hing nass und tief auf ihren Hüften, sodass man die Spitzenborte ihres hellblauen Slips sehen konnte.

Sie zerrte an den Jeans. „Meine Güte, schauen Sie weg!“

„Keine Sorge! Ich werde schon nicht über Sie herfallen. Dafür riechen Sie ein wenig zu streng.“

Lucy erstarrte. Hatte er einen Scherz gemacht? Doch in seinem perfekt geschnittenen Gesicht mit den umwerfend männlichen Zügen konnte sie nicht einmal den kleinsten Funken eines Lächelns erkennen.

Im nächsten Moment lief er auch schon die Treppen der Veranda herunter und steuerte auf die offen stehende Heckklappe seines Jeeps zu.

„Woher Sie Wasser bekommen, wissen Sie?“, rief er, den Rücken zu ihr gewandt.

Lucy schluckte. „Ja, bei Antonio“, antwortete sie mühsam und rang um Fassung. Wollte er wirklich gleich wieder fahren und sie alleine lassen? „Ich habe seine Nummer“, sagte sie leise.

Doch da kam er schon zurück, ein Sechserpack Wasserflaschen in der Hand schwingend.

„Antonio ist zuverlässig. Wenn Sie ihn gleich anrufen, sollte Ihre Zisterne bis heute Nachmittag gereinigt und gefüllt sein “, sagte er, während er eine der Wasserflaschen öffnete. „Aber bis dahin …“

Lucy schaute ihn an.

„… waschen wir Sie hiermit. Kopf zurück!“

Gehorsam schloss sie die Augen und legte den Kopf in den Nacken während Matteo ihr das lauwarme Wasser über die Stirn rinnen ließ. „Oh, ist das angenehm!“, seufzte sie auf. Das Wasser lief über ihre Wangen und in ihre Haare. Sie öffnete den Mund, es schmeckte süß. Sie wusch sich das Gesicht und spürte, wie das lauwarme Wasser über ihren Oberkörper rann und das Bikinioberteil durchnässte. Matteo war dicht neben ihr. Sie nahm seinen würzigen Duft wahr. Am liebsten hätte sie ihm ihre Brüste entgegengereckt, denn sie wollte plötzlich, dass er sie berührte. Dass er ihren Bikini zur Seite schob, um sie überall zu liebkosen und ihre Brustspitzen zu küssen!

Sie spürte ein Prickeln in ihrem Körper und stöhnte unwillkürlich auf. Erschrocken hielt sie den Atem an und drehte sich schnell von ihm weg. Doch immer noch musste sie an sich halten, um sich nicht mit dem Rücken an ihn zu lehnen und in seine Arme gleiten zu lassen. Wie gut, dass er ihr Gesicht jetzt nicht sehen konnte!

Da spürte sie seine Hand auf ihrem Rücken.

Scusi! Entschuldigen Sie, dort oben ist auch noch was.“ Sanft, aber doch fest strich Matteo mit einer Hand über ihre Schultern, während er das Wasser aus der Flasche laufen ließ.

Er hielt inne. Die Flasche war offenbar leer und fiel klappernd zu Boden. Im nächsten Augenblick fühlte Lucy auch schon, wie er sie von hinten umarmte und sie an sich presste. Sie legte den Kopf zurück und ließ es geschehen. Ja, sie wollte, dass er sie überall küsste, ihren Hals, ihr Ohrläppchen, ihren Nacken.

Mein Gott, wie konnte sie nur so schwach sein und sich sofort nach Alans Betrug dem nächsten Mann in die Arme werfen? Doch sie vergaß ihre Gedanken sofort, denn nun packte er sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum.

„Lucy“, flüsterte er mit rauer Stimme.

„Ja?“ Sie umarmte ihn, drückte ihr Gesicht an seine harte Brust und sog seinen köstlichen Geruch in tiefen Zügen ein. Er wollte sie, das merkte sie. Sie spürte seine Hitze und die Energie und Lust, die von ihm auf sie überging. Mit seinen kräftigen Händen erforschte er ihren Körper, strich über ihre nackte Taille, streifte sanft die nasse Jeans. Es fühlte sich so unendlich vertraut und gleichzeitig erregend an … dabei waren sie sich doch eigentlich völlig fremd.

Nun hielt er sie ein Stück von sich weg und umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht. Sie sah ihm in die Augen. Diese wunderschönen, leuchtenden Augen, die sie zu verschlingen schienen. Sie hielt es nicht mehr aus und schloss sanft ihre Lider.

Jetzt würde er sie gleich küssen. Doch dann hörte sie nur noch ein heiseres „Nein!“.

3. KAPITEL

Was hatte sie falsch gemacht? Was war passiert? Warum war er geflohen, fragte Lucy sich seit gestern Nachmittag immer wieder. Und nicht nur das irritierte sie. Vielmehr war sie über ihre eigenen Gefühle entsetzt. Warum hatte sie sich überhaupt so derart zu Matteo hingezogen gefühlt? Sie war zwar maßlos enttäuscht von Alans Betrug, aber das war doch kein Grund, sich gleich dem Nächstbesten an den Hals zu werfen …

Auch in der zweiten Nacht hatte Lucy nicht besonders gut geschlafen, obwohl im Häuschen nun alles geputzt und gelüftet war und frisch nach Zitronenreiniger roch.

Was war gestern nur mit Matteo los gewesen? Wenn sie an seine großen schönen Hände dachte, die ihr Gesicht so unendlich zart und doch selbstsicher umschlossen hatten, zog es süß in ihrer Magengegend, und sie stellte sich wieder und wieder den Moment vor, in dem er sie fast geküsst hätte …

Basta! Ich bin nicht hier, um mir weitere Probleme einzuhandeln, Mr. DellaPina“, sagte sie laut. Sie wrang ihr nasses Haar mit den Händen aus und wickelte das große Handtuch fester um sich. Gerade hatte sie an der Außendusche das frische Zisternenwasser genossen. Aber seine Dusche war noch schöner gewesen …

„Vergiss ihn“, murmelte sie unwillig. Doch als sie nun ein Motorengeräusch vernahm, das immer näher kam, wurde ihre Kehle plötzlich ganz trocken, und ihr Herz jubelte förmlich auf. Er war zurückgekommen, um sich für seine abrupte Flucht zu entschuldigen … um dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte …

Sie rannte hinein und warf einen Blick in den kleinen Wandschrank. Hastig streifte sie ein leichtes weißes Sommerkleid vom Bügel und warf es auf ihr Bett. Und was für Unterwäsche? Die schönste natürlich!

Was tue ich hier eigentlich, fragte sie sich und bemerkte im Spiegel dass sie tatsächlich ein wenig rot geworden war. Ich benehme mich wie ein verliebtes Mädchen, das sich gerade in Windeseile für seine erste Verabredung anzieht, dachte sie peinlich berührt, und nicht wie eine unglückliche Frau, die erst vor wenigen Tagen von ihrem Freund betrogen wurde.

Wenn ihr Vater sie hier im Häuschen sehen könnte … beinahe unbeschwert und fast glücklich! Es würde ihm gefallen!

„Finde deine Leidenschaft, und genieß dein Leben, Kind, du hast doch nur eins“, hatte er immer zu ihr gesagt. Sogar noch an dem Tag, an dem der tödliche Herzinfarkt ihn so überraschend ereilte. „Ich arbeite daran, Daddy“, flüsterte sie in den Spiegel. „Sieh mich an!“

Draußen wurde der Motor des Wagens abgestellt. Mit einem Lächeln kämmte Lucy sich noch einmal durch ihr nasses Haar und trat dann vor die Tür.

„Buon giorno, Signorina!“

Es war … nicht Matteo, sondern sein Vater, der sie begrüßte. Eine Sekunde lang war Lucy enttäuscht, doch dann lächelte sie. Sie mochte den alten Herrn.

Sein Vollbart wie auch sein Haupthaar waren sehr weiß und gepflegt. Die Tränensäcke warfen tiefe Schatten, doch die hellblauen Augen darüber schauten immer noch lebhaft. Er war sehr solide gekleidet, wie ein wohlhabender Olivenbauer, und erklomm in diesem Moment rüstig die Stufen der Terrasse, um ihr die Hand zu geben.

„Signorina, hätten Sie Lust, mir auf der Fattoria bei einem späten Frühstück Gesellschaft zu leisten?“

Lucy wusste nicht, was sie antworten sollte. Wollte sie ihm dort drüben begegnen?

„Danke, das ist sehr nett, aber ich wollte gerade in die Stadt fahren …“

„Das können Sie doch später auch noch. Matteo hat mir von Ihrem Problem mit dem Wasser gestern erzählt.“ Er schaute sich heiter um. „Es dauert immer ein paar Tage, bis alles wieder in Schuss ist, nicht wahr?“

Aha. Matteo hatte also über sie gesprochen. Wie weit sein Bericht wohl gegangen war …? „Da haben Sie recht. Wir waren zwei Jahre nicht hier.“

„Oh ja, das sieht man! Das Unkraut muss untergepflügt werden! Sonst wird es jetzt im Sommer zu einer großen Brandgefahr!“

Lucy nickte und seufzte: „Ich habe meinen Gärtner schon angerufen.“

Auf einmal lächelte der Gutsbesitzer unter seinem weißen Bart: „Sie sprechen sehr gut Italienisch.“

„Mein Vater hat immer Italienisch mit mir gesprochen.“

„Hat? Ist er …?“ Das Gesicht von Matteos Vater wurde von einem Schatten verdunkelt.

„Ja. Vor zwei Jahren.“

„Das tut mir sehr leid, Signorina. Wenn ich Sie so ansehe, weiß ich, dass er ein wunderbarer Vater gewesen sein muss.“

Lucy nickte. Das war einer der tröstlichsten Sätze, die sie in der Zeit ihrer Trauer gehört hatte.

„War er von hier? Kannte ich ihn vielleicht?“

„Nein. Er ist im Norden von Apulien geboren worden. In Foggia. Das Grundstück hat er nach dem Tod meiner Mutter gekauft. Sie waren hier in der Gegend auf Hochzeitsreise.“

Romolo DellaPina schaute betrübt. „Das tut mir leid. Wenn deine Frau zu früh von dir geht, bleibt kaum etwas von dir übrig“, sagte er mehr zu sich selber. Doch dann fasste er sich wieder.

„Ein wunderschönes kleines Grundstück haben Sie da, aber die Bäume? Oje, oje! Wie lange sind die Bäume nicht geschnitten worden?“

Lucy zuckte die Schultern. „Mein Vater hat sich immer gefreut, wenn sie recht üppig wuchsen …“

„Nun, das mag sein, doch so bringen sie keine einzige essbare Olive hervor. Sehen Sie die Triebe dort an den Ästen und unten am Stamm?“ Matteos Vater berührte sie mit einer Hand an der Schulter, mit der anderen zeigte er auf den mächtigen Olivenbaum, der sich schützend über das Häuschen erstreckte. „Die trocknen den Baum aus, und womöglich bricht beim nächsten Herbststurm einer der großen Äste ab und fällt auf das Haus. Sie müssen die jungen Triebe jedes Jahr kappen!“

„Gut. Ich werde es meinem Gärtner sagen.“

„Nun ja, allerdings könnte ich das auch machen lassen, Signorina Lucy. Ich schneide die Bäume auf meine Kosten auf Ertrag, und Sie bekommen jedes Jahr, na, sagen wir …“ Er hielt in seinem Redefluss inne. „Was hat Matteo gesagt, wie viele Bäume haben Sie? Zwölf?“

„Keine Ahnung.“ Die Gedanken in ihrem Kopf wirbelten durcheinander. Aha, Matteo hatte also ihre Bäume gezählt! War das etwa der Grund gewesen, warum er gestern Nachmittag hier aufgetaucht war? Immer noch hörte sie sein rau hervorgestoßenes „Lucy“ in ihren Ohren, und ein genussvoller Schauder durchfuhr sie.

„Zwölf, ja, zwölf“, murmelte der Alte vor sich hin. „Ich bin mir sicher.“

Lucy schaute sich verwirrt um und fing automatisch an, die Olivenbäume zu zählen, die sich zwischen den hochstehenden Gräsern auf dem Grundstück verteilten.

„Ich würde die Bäume kultivieren, und Sie bekommen … ab nächstem Jahr zehn Liter von meinem feinsten Öl. Wie wäre das?“

„Wunderbar“, sagte sie schwach. „Aber das ist doch viel zu viel … so viel brauche ich doch gar nicht.“

Würde sie Matteo dann öfter wiedersehen, wenn sein Vater Öl aus ihren Bäumen gewann? Wollte sie das? Warum war er nur so überstürzt weggelaufen?

„Wenn es Sie interessiert, fahren wir hinüber auf die Fattoria. Ich zeige Ihnen mein neues Mahlsystem, und wir besprechen alles!“

„Die alte Dame!“, brach es aus Lucy hervor, und sie lächelte unwillkürlich.

„Wie bitte?“

„Ich habe die Fattoria immer ‚die alte Dame‘ genannt, wenn Dad und ich bei unseren Spaziergängen über das Land daran vorbeigekommen sind.“

„Das gefällt mir!“ Der alte DellaPina reichte ihr noch einmal die Hand: „Darf ich dir das Du anbieten und dich Lucia nennen? Ich bin Romolo.“

„Gern, Romolo!“ Sie nahm seine Hand. „Ich weiß nur nicht, ob ich mit hinüberkommen sollte … ich will nicht stören!“

„Du störst doch nicht! Unsere Köchin Giovanna wird uns einen feinen caffè machen, und Matteo ist sowieso nicht da! Der fährt schon seit heut Morgen in der Gegend herum.“

„Oh. Das ist … gut.“ Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte. „Dann komme ich gerne mit!“

Lucy kletterte in Romolos alten Jaguar. Als sie wenig später über die schmalen Wege durch den Garten der Fattoria liefen, wusste sie gar nicht, wohin sie den Blick zuerst wenden sollte. Zwischen den hohen Oleanderbüschen standen einige steinerne Bänke, es gab blühende Zitronenbäume, die Bienen summten in den Lavendelblüten, und der Rosmarin duftete.

„Es ist richtig verwunschen hier, wie in einem Märchengarten! Als ob es dieses Plätzchen schon, immer gegeben hätte.“

„Aber ja, den gab es schon, als Matteo hier bei seinen Großeltern herumgetollt ist. Doch dann waren wir über Jahre weit weg, in Mailand.“

Lucy sah im Geiste den kleinen Matteo über die Kieswege laufen. Nun ja, das war lange her, mittlerweile war ein Mann aus ihm geworden, und was für einer! Wieder spürte sie die süße Erregung in ihrem Körper pulsieren, die sich gestern mit dem warmen Gefühl des Vertrauens vereint hatte, als er sie umarmte.

„Matteo hat es übernommen, die Fattoria zu renovieren“, fuhr der Alte fort. „Meine Frau hat den Garten erweitert und teilweise neu angelegt. Sie hatte für alles, was wachsen sollte, eine Gabe. Nur den Kräutergarten für die Köchin hat sie nicht mehr geschafft.“ Seine Stimme wurde brüchig. „Gott habe sie selig.“

„Ich weiß, wie furchtbar sich diese Lücke anfühlt“, sagte Lucy leise und tastete nach der Hand des alten Mannes, um sie kurz zu drücken.

Nach der Gartenbesichtigung führte Romolo DellaPina Lucy durch die hohen Kellergewölbe und erklärte ihr stolz seine neu erfundene Methode der Ölgewinnung.

„Verstehst du jetzt, warum mir diese kleine Manufaktur mittlerweile viel wichtiger ist als das große Geschäft des Abfüllens in Mailand? Das hat mein Sohn nun übernommen. Marketing, Public Relations und wie das heute alles heißt, das kann er.“

Klang das ein wenig abfällig? Lucy konnte Romolo DellaPina nicht genau einschätzen.

„Er lässt sich hier höchst selten blicken“, sagte er gerade. War er nun froh, dass Matteo in Mailand wohnte und dort die Geschäfte leitete, oder hätte er ihn lieber bei sich auf der Fattoria gehabt?

Matteo. Matteo. Lucy seufzte unhörbar auf, als der alte DellaPina sie an den mächtigen Mahlsteinen vorbeiführte. Wenn er wüsste, was gerade in ihrem Kopf vorging … Sie hätte seinen Sohn am liebsten in diesem Augenblick neben sich … in ihrem Bett, auf weißen Laken, während draußen die Sonne immer höher stieg … Mein Gott, hatte die italienische Sonne ihr die Sinne verwirrt, oder woher kamen diese Gedanken? Schluss jetzt, Lucy, schalt sie sich. Schlag ihn dir endlich aus dem Kopf!

Schnell nickte sie Romolo DellaPina zu, der ihr schon seit geraumer Zeit den Produktionsprozess erklärte: „Alles wird von Hand gemacht, wie früher. Doch wir entfernen zusätzlich noch die Kerne vor dem Pressen und gewinnen dadurch ein klares, reines Öl, das die Welt noch nicht gesehen hat!“

Er führte sie aus dem Gewölbe, und nun standen sie in der Eingangshalle, in der Lucy bei ihrer Ankunft regendurchnässt gelandet war. War das wirklich erst zwei Tage her?

„Hier wollen wir vielleicht einen kleinen Laden einrichten, wo man meine feinen Öle zunächst verkosten und dann kaufen kann.“ Er zeigte ihr den gemauerten Tresen und die in der Wand eingelassenen Regale dahinter. Die Sonne schien durch die kleinen Fenster im oberen Drittel der Halle und malte ein paar warme Lichtvierecke auf den uralten Steinboden.

„Ja, das solltet ihr unbedingt machen! Das ist ein so schöner Raum! Ich würde allein schon wegen der wunderbaren Atmosphäre etwas kaufen!“ Lucy tat nichts, um ihre Begeisterung zu verbergen. Sie fühlte sich wohl in diesen Mauern. Kein Wunder, dachte sie lächelnd. Ich habe sie ja schon von klein auf gekannt. Zumindest von außen.

Kurz darauf brachte Romolo sie in einen gemütlich eingerichteten Salon mit einer großen Glastür, von der man einen einmaligen Blick in den Garten hatte. Dort war schon für sie gedeckt.

Lucy ließ ihren Blick über die Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden schweifen. Ahnen und Verwandte und dazwischen immer wieder der kleine Matteo. Vor einer der Fotografien hielt sie inne. Die Frau, die den ungefähr dreijährigen Matteo dort im Arm hielt, musste seine Mutter sein.

Sie war eine wahre Schönheit gewesen!

Lucy sah wieder Matteos strenges Gesicht mit den türkisblauen Augen vor sich, und plötzlich beschlich sie ein seltsames Gefühl. Er wusste nicht, dass sie sich hier in diesen Räumen aufhielt. Es war, als ob sie ihn ausspionierte …

„Setzen wir uns!“ Romolo DellaPina schob ihren Stuhl in formvollendeter Höflichkeit für sie zurück, wartete, bis sie Platz genommen hatte, und schob ihn dann wieder heran. Im Gegensatz zu seinem Sohn hatte der alte DellaPina ausgezeichnete Manieren!

Lucy bewunderte den wunderschön gedeckten Tisch. Neben einem Korb mit dem typischen Brot der Gegend gab es Butter und Schüsselchen mit unverkennbar selbst gemachter Marmelade. Auf einem Tablett standen eine Espressokanne, aus der es dampfte, und ein silberner Krug mit heißer Milch. Ein Teller mit Erdbeeren, Kirschen und gelben Pflaumen rundeten, das farbenfrohe Bild ab.

„Nun kennst du also meine Leidenschaft.“

„La mia passione!“, wiederholte Lucy gedankenverloren. „Eine Leidenschaft. Die hat mein Vater auch immer von mir verlangt!“,

„Greif doch zu“, sagte der Hausherr lächelnd und reichte ihr den Brotkorb. Mit geschlossenen Augen sog Lucy den Duft der kräftig gelb leuchtenden Brotscheibe unter ihrer Nase ein.

„Also Giovannas Brotrezept aus Altamura magst du schon mal, und mit was für Leidenschaften beschäftigt sich meine Nachbarin Lucia Tamburini noch so?“

„Ich weiß nicht recht. Ich suche noch.“ Sie mochte es, wenn er sie Lucia nannte.

Nach dem Schulabschluss hatte sie Regie studieren wollen, war dann aber nach einem Ferienjob bei einer albernen Unterhaltungssendung von der Filmbranche nicht mehr weggekommen. Der Verdienst war verlockend, auch wenn die Arbeit stressig und unbefriedigend war.

„Zurzeit arbeite ich in London in den Uptown-Filmstudios. Ich bin das sogenannte Scriptgirl, das die Länge der Szenen stoppt und aufpasst, dass alle Sätze so wie im Drehbuch gesprochen werden. Außerdem achte ich zum Beispiel darauf, dass das Weinglas am Ende der Szene nicht voller ist als am Anfang.“

Genau damit hatte sie sich jahrelang beschäftigt. In fensterlosen Studios zu stehen, öde Seriendialoge zu kontrollieren und sich von nervösen Regisseuren wegen Kleinigkeiten anpfeifen zu lassen. Weiter hatte sie es in ihrem Leben noch nicht gebracht.

Und auch diesen Job bist du jetzt los, dachte sie. Ihr Vater hatte ihr nie wegen ihrer fehlenden beruflichen Karriere in den Ohren gelegen. Er hatte sie nie zum Theater zwingen wollen und war mit allem zufrieden, was sie machte. Nur glücklich hatte er sein Mädchen sehen wollen. Warum hatte sie ihm immer vorgespielt, es beim Film zu sein?

Nach seinem Tod hatte sie Trost in Alans Armen gefunden und sich eine Zeit lang auch tatsächlich geborgen bei ihm gefühlt.

Dabei wusste sie es doch besser und hätte schon damals die Zeichen deuten können … Schauspieler, noch dazu gut aussehende Schauspieler, hatten es furchtbar einfach bei den Frauen.

Sie tranken ihren Kaffee und plauderten noch eine Weile über die Ernte und Verarbeitung von Oliven, ganz offenbar das Lieblingsthema des alten Romolo.

Mit einem Mal stand er auf, ging zu der Anrichte unter dem Fenster und brachte ihr einige Silberrahmen. „Mariangela. Meine Frau. Matteos Mutter.“

Lucy betrachtete die Frau auf den Fotos in aller Ruhe, als in der Ferne plötzlich eine Tür zuschlug und sich hektische Schritte näherten.

„Vater!“, rief eine herrische Stimme.

Seine Stimme, wie Lucy sofort erkannte. Befangen stellte sie den Rahmen, den sie in der Hand hielt, auf den Tisch.

„Wenn du mich sabotieren willst, dann mach nur weiter so!“

Romolo stand auf. In diesem Augenblick stürmte sein Sohn in den Salon und warf seine Anzugjacke in hohem Bogen über ein kleines Sofa, ohne Lucy wahrzunehmen.

„Ich habe die Entwürfe der Werbeagentur gerade anschauen wollen, als man mir sagte, dass du sie bereits abgelehnt hast! Alle! Abgelehnt!“

„Jawohl!“ Der Alte nickte.

„Wie kannst du nur? Du hast doch keine Ahnung davon! Ich denke, du wolltest Schilder für die Straße? Und außerdem, seit wann kannst du mit meinem Computer umgehen?“

„Ich kann so einiges, von dem du nichts ahnst! Und die Entwürfe? Die waren doch samt und sonders großer Mist! Lachende Oliven … ich bitte dich!“

Lucy hielt sich die Hand vor den Mund, doch zu spät. Der kleine Lacher, den sie unterdrücken wollte, war schon aus ihr rausgeplatzt.

Wie ein Blitz drehte Matteo sich zu ihr um. Die Anzughose stand ihm wirklich ganz hervorragend, und unter dem weißen Hemd zeichneten sich seine durchtrainierten Muskeln ab, die sie gestern hatte spüren können!

Doch der Blick aus seinen türkisblauen Augen verdüsterte sich augenblicklich, als er sah, wer da mit seinem Vater am Tisch saß. Mit einem zweiten Blick erfasste er die Silberrahmen, die vor Lucy zwischen dem Obst, den Tellern und Tassen standen.

„Vater, ist das dein Ernst? Was macht sie denn schon wieder hier?“

So ging es nicht weiter. Verfolgte Lucy ihn etwa? Ja, das tat sie! Und zwar in seinen Gedanken! Matteo ging wütend in dem kleinen Büro auf und ab, das er sich in einem Nebenflügel der Fattoria eingerichtet hatte.

Sein Vater hatte sie hergebeten. Er hatte ihr die Fotos seiner Mutter gezeigt. Warum traf ihn das so sehr? Weil er gestern fast eine große Dummheit begangen hätte?

Als er ihren zarten anschmiegsamen Körper mit den weiblichen Rundungen und den kleinen festen Brüsten in diesem knappen Bikinioberteil vor sich gesehen hatte, wäre es beinahe um ihn geschehen gewesen.

Sie hatte ihn mit ihren langen Haaren, ihrem schönen Hals und der weichen, hellen Haut betört. Doch was ihn wirklich berührt hatte, waren ihre dunklen Augen und der Ausdruck darin gewesen. So ehrlich, so strahlend und dabei so unendlich warm. Gleichzeitig aber auch verletzlich.

Matteo schüttelte den Kopf. Um das Bild aus seinem Hirn zu vertreiben, musste er nur wieder an seinen Vater denken. Was war er nur für ein Sturkopf!

Er hatte doch nur helfen wollen! Er seufzte. Dio! Warum nahm er es nicht einfach hin, wie es war? Nun, da sein alter Vater seine Vorschläge ablehnte, konnte er genauso gut wieder nach Mailand verschwinden und dort seinen Geschäften nachgehen. Eleonora wartete schon auf ihn.

Apropos Eleonora. Es war Zeit, sie anzurufen, um zu hören, wie weit sie mit den Verträgen gekommen waren. Er griff nach dem Telefon.

Seine Sekretärin Concetta meldete sich. Eigentlich hatte er sich sofort zu Eleonora durchstellen lassen, doch dann kam ihm etwas in den Sinn. „Sagen Sie, Concetta, um wie viel Uhr ist jetzt das Treffen am Donnerstag mit Signor Tuturi angesetzt?“

„Schon morgens um elf. Ich habe ja extra den frühen Flug für Sie gebucht.“ Concetta vergaß nie einen Termin und nie einen Geburtstag. Er liebte die Fünfundfünfzigjährige für die Ruhe, die sie auch jetzt am Telefon ausstrahlte, und ihre angenehm zurückhaltende Art.

„Von wo reist Signor Tuturi an? Wissen Sie das?“

„Nein, bedaure. Darum hat sich Signora Pettinelli persönlich gekümmert.“

Matteo nickte. Auch nach den vier Jahren, in denen sie nun schon in der Firma mitarbeitete, war Eleonora für Concetta nur Signora Pettinelli. Leider kam Eleonora mit seiner Sekretärin nicht so gut aus wie er. Aber Eleonora brauchte auch keine Sekretärin. Sie hatte lieber selber alles unter Kontrolle.

Er ließ sich von Concetta zu Eleonora durchstellen. „Bonjour?“, kam es nach ein paar Sekunden durch den Hörer.

„Hallo, mein Schatz! Seit wann redest du französisch mit mir?“ Er lachte.

„Ach, entschuldige bitte.“ Eleonora schnalzte mit der Zunge. „Concetta hat gesagt, Marseille sei in der Leitung.“

„Marseille?“

„Mit denen stehe ich doch in Kontakt wegen des … na, wegen des Logos der geschützten Ursprungsbezeichnung! Damit du dich nicht darum kümmern musst.“

„Was würde ich nur ohne dich machen! Ich finde es großartig, dass du so viele Sprachen sprichst!“

„Und ich fände es großartig, wenn du bald wieder hier wärest …“ Sie senkte ihre Stimme am Ende des Satzes zu einem heiseren Raunen herab.

Ich könnte auch schon heute fliegen, ging Matteo durch den Sinn. Jetzt, wo Vater meine Hilfe abgelehnt hat. Doch obwohl Eleonora sich Mühe gegeben hatte, verführerisch zu klingen, erweckte ihre Stimme nicht den geringsten Wunsch in ihm, seine Verlobte wiederzusehen. Was war nur los mit ihm?

Vor drei Jahren hatte er sich in die ehrgeizige Journalistikstudentin verliebt. Ihr zweites Fach waren die Wirtschaftswissenschaften gewesen. Das hatte ihm gefallen. Mit welcher Frau konnte man sich schon stundenlang angeregt über Bilanzen und den Welthandel unterhalten? Auch ihr kühler Blick und ihre Intelligenz hatten ihn fasziniert. Aber am allermeisten wurde er von der Tatsache angestachelt, dass sie sich von ihm nicht verführen ließ.

Er sah nicht schlecht aus, das wusste er. Er hatte sich die Frauen immer aussuchen können und vor ihr einige Freundinnen gehabt. Doch was er auch tat, die schlanke hochgewachsene Studentin plauderte und diskutierte zwar mit ihm, ließ ihn aber nicht an sich heran. Auch seine Geschenke schienen keinen großen Eindruck auf Eleonora zu machen. Obwohl ihr Elternhaus alles andere als wohlhabend zu nennen war, hatte sie kaum etwas von ihm annehmen wollen.

Gerade das hatte ihn gereizt! Gegen den Willen seiner Eltern hatte er sich mit ihr verlobt. Er grinste, doch seine Augen blieben ausdruckslos dabei. Am selben Abend war sie endlich mit ihm ins Bett gegangen! Wobei Bett für diese Örtlichkeit, die sie gewählt hatte, ein eher unpassender Begriff war. Tatsächlich war es überstürzt und hastig im Hinterhof eines schicken Restaurants passiert.

Ein Jahr später hatte sie ihr Studium abgeschlossen und unterstützte ihn seitdem in der Firma als erste weibliche und jüngste Pressesprecherin. Außerdem war sie zu so etwas wie seiner persönlichen Assistentin geworden, denn sie interessierte sich für alle Firmenabläufe und war immer an seiner Seite.

Seine Mutter hatte nichts dagegen gehabt, im Gegenteil. „Wir brauchen den weiblichen Blick in der Firma an einer so wichtigen Stelle“, hatte sie mit ihrer sanften Stimme zu ihm gesagt. „Ich wünsche mir dennoch nichts so sehr wie ein paar Enkelkinder, die durch meinen schönen Garten tollen.“

Matteo schluckte. Auch diesen Wunsch hatte er ihr, wie so viele andere, nicht erfüllt. Im Herbst wollten Eleonora und er nun endlich heiraten. Es sollte ein großes Fest in Mailand werden. Auch das wird Eleonora professionell organisieren, dachte er. Auf ihre Art eben, die sie niemals ablegt, selbst wenn wir alleine sind. Er erschrak bei seinen Gedanken.

Liebte er sie überhaupt noch? Wann hatten sie eigentlich das letzte Mal miteinander geschlafen? Seit sie verlobt waren, machte Eleonora keinen Hehl aus ihrem Gefallen an Geld und tat alles dazu, das Firmenguthaben zu vermehren. Sie war immer kontrolliert, sie ließ sich nie fallen.

Wieder spürte er die weiche Haut von Lucys Rücken an seiner Brust. Wie vertrauensvoll sie sich einfach an ihn gelehnt hatte …

„Wir sehen uns ja am Donnerstag. Und, ach ja, Schatz“, nun erst fiel ihm wieder der leichte Anflug des Argwohns ein, den er zu Anfang des Telefonats verspürt hatte. „Woher kommt dieser Signor Tuturi eigentlich? Was ist das für ein Name?“

„Italien“, sagte Eleonora wie aus der Pistole geschossen. „Rom, um genau zu sein.“ Er hörte, wie sie einen ihrer hohen Absätze ungeduldig auf den Boden trommeln ließ. Ja, das war Eleonora. Sie war ungeduldig, aber präzise und hatte immer alles parat. Namen, Absatzzahlen, Paragrafen. Sie wusste, wie die Konkurrenz arbeitete, kannte sich mit den neuen europäischen Gesetzgebungen bestens aus und hatte optimale Kontakte, um ihre Artikel dort zu platzieren, wo sie erscheinen sollten.

Matteo fuhr sich erschöpft durchs Haar. Noch vor einigen Jahren konnte man ein Olivenöl so nennen wie den Ort, an dem es gepresst worden war. Kaufte man also griechische Oliven und ließ sie in der Toskana pressen, durfte Toskanisches Olivenöl auf der Flasche stehen. Heute dagegen war alles den europäischen Standards gewichen.

Ungeduldig schüttelte er den Kopf. Nichts gegen die Qualität des spanischen oder griechischen Öls, doch in der Firmengeschichte der DellaPinas hatte niemals etwas anderes als italienisches Öl aus garantiert italienischen Oliven seinen Weg in die Flaschen gefunden. Und auch das reichte seinem Vater nicht. Er wollte immer höhere Standards, immer mehr Kontrollen. Wenn es nach ihm ginge, wären wir überhaupt nicht mehr konkurrenzfähig, dachte er grimmig.

„Gut. Dann sehen wir uns Donnerstag um elf Uhr in der Firma.“

Er legte auf. Was sollte er nun mit dem Tag anfangen? Sein Vater sabotierte seine Ideen und Bemühungen. Noch dazu brachte er die Engländerin mit ins Haus, die ihn schon seit zwei Nächten nicht schlafen ließ.

Er würde etwas dagegen tun müssen. Aber was? Sagte Eleonora nicht immer, Angriff sei die beste Verteidigung?

Ja, natürlich, damit du erneut die Möglichkeit hast, sie anzustarren – und sie vielleicht zu verführen.

Er beschloss, tief in den Süden bis nach Gallipoli zu fahren. Dort würde er einen Großgrundbesitzer besuchen, von dem sie im nächsten November vielleicht Oliven aufkaufen wollten. Er würde mit ihm über Schnitt, Bodenbeschaffenheit, Schädlinge und die Ernte sprechen. Ihm aber bestimmt nicht mit ausführlichen tief greifenden Qualitätskontrollen drohen, wie sein Vater das bisher mit neuen Lieferanten getan hatte. Der Kontrollzwang des Alten war absurd! Auf diese Weise, weil er immer nur das beste Öl wollte, waren ihm schon viele Geschäfte entgangen. Matteo rieb sich das glatt rasierte Kinn. Nun war er der Chef und finanziell doch um einiges erfolgreicher mit seiner Auslegung von Reinheit und Qualität.

Aber das Beste von allem: Er würde einer ganz bestimmten weiblichen Person mit langen kupferfarbenen Haaren und dunklen großen Augen dort unten nicht begegnen.

4. KAPITEL

Diese Ruhe! Lucy steckte ihre Füße in den Eimer mit kaltem Zisternenwasser und stöhnte vor Wonne auf. Ein Liegestuhl im Halbschatten, eine Schale süßer Erdbeeren neben sich und ein gutes Buch in den Händen, das sie vor Jahren einmal gelesen hatte – mehr brauchte sie nicht. Die Sonne brannte vom Himmel, es hatte bestimmt über achtundzwanzig Grad. Temperaturen, mit denen man in London Ende Mai nicht rechnen konnte.

Doch schon einen Moment später legte Lucy den Roman beiseite und starrte in die Schilfmatten der Pergola hoch. Was sollte sie heute tun?

Sie hatte in den vergangenen zwei Tagen viel geputzt und wunderbare Früchte, frisches Brot und knackiges Gemüse auf dem Markt des Städtchens erstanden. Die Schlagzeilen der englischen Boulevardpresse, die es hier an manchen Zeitungsständen mit einem Tag Verspätung gab, hatte sie zunächst geflissentlich ignoriert. Sie war ans Meer gefahren und sogar schwimmen gewesen.

Die Seele baumeln lassen, nichts tun, so wie sie es damals mit Dad immer getan hatte. Schlafen, essen und in der Natur schwelgen.

„Genieß es einfach für mich mit, mein Kind!“

Natürlich! Das tat sie! Spätabends hatte sie den Füchsen zugehört, deren Jungen wie früher durch das Gebüsch am Rande des Grundstücks tobten. Und für Dad die schwirrenden Fledermäuse am Nachthimmel mit beobachtet.

Lucy atmete tief ein. Es tat weit weniger weh, ohne Dad hier in der casina zu sein, als sie befürchtet hatte. Und sie fühlte sich wirklich wohl! Doch langsam fiel ihr die Decke auf den Kopf. Seit zwei Tagen schon hatte sie mit niemandem geredet! Sie angelte nach ihrem Handy neben dem Liegestuhl. Nicht einmal telefoniert hatte sie. Hier unten auf der Terrasse hatte sie sowieso keinen Empfang. Aber wen sollte sie auch anrufen?

Alan? Sie schnaubte verächtlich. Natürlich hatte sie dann doch eine Zeitung gekauft. Die SUN zerriss sich erst auf Seite drei das Maul über die neue Liebschaft des alternden Stars Teresa Timothy-Baker, die sich ihr Geld nun mit TV-Serien verdienen musste, statt wie früher in großen Kinofilmen zu glänzen.

„Ist er ihr neuer Loverboy?“ Auf dem verschwommenen Foto sah man, wie Alan hinter Teresa aus einer der typisch grauen Studiotüren hinauskam. Er trug eine monströse Damenhandtasche. Lucy hatte seine Nummer bereits gelöscht.

Sollte sie jemand aus dem Filmteam anrufen? Wohl kaum! Die lachten wahrscheinlich immer noch über ihre Blindheit.

Was war mit Patricia und Susan? Ihren beiden besten Freundinnen, die sie schon aus Kindertagen kannte. Lucy schüttelte den Kopf. Die waren gerade mit anderen Dingen beschäftigt.

Patti weilte seit zwei Wochen frisch verliebt auf Bali. Und Susan bekam bald ihr zweites Kind und war deswegen als Telefonpartnerin völlig ungeeignet. Entweder sie schlief, oder man musste sich gegen ein im Hintergrund brüllendes Kleinkind durchsetzen. Lucy seufzte lächelnd. Ein Kampf, den man nur verlieren konnte.

Sie setzte sich auf. Vielleicht sollte sie lieber die Stellenanzeigen im Internet lesen, anstatt hier so müßig herumzuliegen? Wenn sie nach London zurückkam, hatte sie keinen Job mehr! Zwar lagen ein paar Ersparnisse auf ihrem Bankkonto, doch die würden innerhalb eines halben Jahres aufgebraucht sein, auch wenn sie noch so sparsam damit haushalten sollte. Spätestens dann würde sie wieder Geld für ihren Lebensunterhalt und für die Miete verdienen müssen! Aber um nach Stellenangeboten zu suchen, müsste sie in die Stadt fahren und sich in eine Bar mit Internetzugang setzen, denn auf ihrem Grundstück, in diesem friedlichen Tal voller Olivenbäume, gab es so etwas nicht.

Lucy schaute sich um und seufzte. Es würde schwer werden, ihr wunderschönes Häuschen zu verlassen, nur um wieder nach London in ihre kleine dunkle Wohnung zurückzukehren. Sie mochte London, es war ihre Heimatstadt, doch sie vermisste den Lärm des trubeligen Großstadtlebens und die hektischen Menschen überhaupt nicht. Und da gab es auch noch Alan. Es rührte sich kaum mehr etwas in ihrem Herzen, wenn sie an ihn dachte. Liebte sie ihn noch? Wollte sie ihn überhaupt wiedersehen?

„Ich weiß es nicht“, seufzte sie leise. „Kann ich nicht einfach hierbleiben?“ Ach, Lucy, tadelte sie sich sofort, träum weiter!

Um auf andere Gedanken zu kommen, schnappte sie sich den Besen und begann abermals die schmalen Olivenbaumblätter von der Terrasse zu fegen, bis sie völlig durchgeschwitzt und erhitzt war. Dann duschte sie, schlüpfte in T-Shirt und kurze Hosen und fuhr den holprigen Weg zwischen den Olivenhainen bis zur Landstraße und weiter in den Supermarkt am Rande von Martina Franca.

In den kühlen, vom Neonlicht beschienenen Gängen füllte sie ihren Wagen mit allerlei Delikatessen aus der gut bestückten Frischevitrine und legte mit einer trotzigen Bewegung auch noch eine Flasche Champagner dazu. Noch hatte sie Geld und durfte sich doch mal etwas gönnen, oder nicht?

Richtig so, mein Kind. Du sollst es dir gut gehen lassen.

Doch als sie zur casina zurückkam, hatte sie keinen Hunger mehr. Sie verstaute die Einkäufe im Kühlschrank und schaute auf die Uhr.

Halb acht. Die richtige Zeit für ein Liebespärchen, sich umzuziehen und schick zu machen, dachte sie. Der Moment, um liebevoll miteinander zu plaudern und zu überlegen, welches der kleinen ristorante man in der pittoresken Altstadt von Martina Franca gemeinsam ausprobieren sollte. Ein sehnsüchtiges Gefühl legte sich wie ein Ring um ihr Herz und presste es zusammen.

Nein. Sie verzog ihre vollen Lippen. Da saßen diese ach so glücklichen Paare dann bei Tisch, und ehe man sichs versah, betrog einer den anderen! Da war sie doch lieber allein! Sie war allein, aber nicht einsam! Lucy schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der in ihr hochstieg.

Sollte sie sich ein hübsches Kleid anziehen, wie eine Italienerin es jetzt vielleicht tun würde, und durch die Gassen der Stadt bummeln? Kam nicht infrage. All die eng umschlungen flanierenden Paare und Kinderwagen schiebenden jungen Familien machten sie nur traurig.

Sie beschloss, einen kleinen Abendspaziergang durch die Olivenhaine zu unternehmen. Also kein Kleid, sondern praktische weite Hosen und ein dunkles Top. Eine Strickjacke zum Überziehen, wenn es kühler würde. Während sie sich die mittlerweile in der Sonne getrockneten Tennisschuhe zuband, schweiften ihre Gedanken einen Kilometer weiter, bis zu den weißen Mauern der ‚alten Dame‘.

Romolo DellaPina war eine sehr angenehme Gesellschaft, doch keinesfalls wollte sie dort gesehen werden.

Um gar nicht erst Gefahr zu laufen, zufällig vor der Fattoria zu landen, schlug Lucy die entgegengesetzte Richtung ein.

Die schmalen Wege zwischen den Natursteinmauern führten mal bergan, mal bergab. Es wurde langsam dunkel. Doch das machte ihr nichts aus, sie hatte keine Angst. Im Gegenteil. Lucy liebte die schwarzen Silhouetten der stillen großen Bäume mit ihren knorrig, verdrehten Stämmen. Die meisten von ihnen waren über hundert Jahre alt, hatte Dad ihr erzählt.

Sie kam zu einer kleinen, asphaltierten Straße und hielt sich links. In den letzten Tagen hatte sie sich immer besser orientieren können und wusste genau, wo sie war. Hier wurden die Häuser schon etwas zahlreicher.

Als sie an einem hölzernen Strommast ein buntes Plakat entdeckte, hielt sie in ihrem Schritt inne, um es genauer zu betrachten. Eine Frau schwebte auf einem Seil. Hinter ihr am blauen Himmel blähte sich in riesiges weißes Segel, wie ein Kleid. In ihrer Hand hielt sie eine silberne Mondsichel. Wie bezaubernd!

Schau mal, Dad, La Luna Piccola – il Teatro. Das wäre etwas für dich! sagte Lucy in Gedanken. Ein Theater, das „der kleine Mond“ heißt.

Das wäre etwas für uns! antwortete er ihr, und sie lächelte. Neugierig folgte sie dem Pfeil.

Nach einigen Minuten erreichte sie ein altes Gebäude, hinter dessen Mauer sich das kleine Theater befinden musste. Über einem Torbogen hing wieder das Plakat mit der Frau. Lucy ging hindurch und betrat ein überraschend großes Gelände.

Zwischen Oliven- und Feigenbäumen duckten sich mehrere lang gestreckte, grob verputzte Gebäude. Auf einem der Dächer stand eine lebensgroße, bunt bemalte Figur, die einen Geiger darstellte. Weiter hinten auf der stoppeligen Wiese war eine hölzerne Plattform zu sehen, halb umrundet von einem gemauerten Amphitheater. Es herrschte eine betriebsame Atmosphäre. Einige Männer schraubten an den Stativen für die Scheinwerfer herum und riefen sich lachend etwas zu. Jemand spannte ein Drahtseil über das große Podest, offenbar, um ein weißes Tuch daran entlangzuziehen. Eine Bühne. Ein Vorhang!

Lucys Herz klopfte mit einem Mal aufgeregt. „Das wäre etwas für uns “, wiederholte sie leise und wünschte sich wie so oft in den letzten zwei Jahren ihren Vater an die Seite.

In den Olivenbäumen am Eingang hingen bunte Lampen, unter den Ästen standen grob zusammengezimmerte Tische und Bänke. Ein kleiner Tresen war zu sehen, auf Schiefertafeln war mit Kreide das Menü des Tages angeschrieben: Melone und Schafskäse, Cavatelle mit Fleischragout oder Tomatensoße, Gemüselasagne.

Nun verspürte sie doch Hunger und hatte große Lust, etwas zu bestellen. Aber hier im vorderen Teil des Freilufttheaters war niemand zu sehen, bis auf einen großen Hund, der mitten auf dem Weg im Schein der bunten Lampen lag und schlief.

„Heute gibt es keine richtige Vorstellung, und wenn, dann würde sie erst um zehn anfangen“, hörte sie plötzlich eine Stimme. Hinter ihr stand eine junge Frau mit rosa gefärbten Haaren.

„Heute nicht? Erst um zehn?“, fragte Lucy verwirrt. „So spät?“

„Ja, wir sind ein Sommertheater. Die Leute essen erst, und dann kommen sie her und schauen sich das erste Stück der Saison an. La principessa sul pisello, ‚Die Prinzessin auf der Erbse‘!“

„Und die Kinder? Für die ist das doch viel zu spät.“

„In den Ferien nicht! Und die fangen morgen, pünktlich am ersten Juni, an.“

Lucy betrachtete die Frau mit der auffälligen Haarfarbe etwas genauer. Sie war vermutlich so alt wie sie, hatte einen hübsch geschwungenen breiten Mund und hellbraune übermütig blitzende Augen.

„Heute ist keine reguläre Vorstellung. Nur unsere Generalprobe um neun mit geladenen Gästen.“

„Schade!“ Bedauernd zuckte Lucy mit den Schultern.

„Woher kommst du? Dein Italienisch hört sich zwar nicht wirklich falsch, aber irgendwie seltsam an.“

„Ich bin in London aufgewachsen. Mein Vater war Italiener. Und Bühnenbildner“, sagte Lucy stolz. Das italienische Wort dafür kam ihr leicht über die Lippen, denn sie hatte es hundert Mal von ihm gehört. Scenografo.

„Oh! Das hört sich interessant an! Bleib doch hier, unsere Truppe besteht aus Schauspielern aus aller Herren Länder und ist sehr unterhaltsam. Wir essen vor der Vorstellung noch eine Kleinigkeit. Ich bin Carla!“

„Angenehm.“ Sie zögerte einen Moment, doch dann kam der Name ganz automatisch aus ihrem Mund: „Lucia.“ Ja. Hier unten in Apulien war sie Lucia! Plötzlich wollte sie sich nie mehr anders nennen.

Als sie kurz darauf unter den Bäumen vor ihrem Teller köstlicher apulischer cavatelle saß, musste sie schmunzeln. Die Schauspieler waren laut und recht impulsiv, aber auch sehr feinsinnig und nachdenklich. Die Bühnenarbeiter und Techniker strahlten eine Aura von großer Kompetenz und Selbstbewusstsein aus. Theaterleute eben! Sie kannte diesen Menschenschlag, seit sie ein kleines Mädchen war, und fühlte sich wohl unter ihnen.

Lächelnd beobachtete sie Carla, die ihr gerade noch etwas von dem leichten Rotwein aus einer Karaffe eingoss.

„Es muss toll sein, hier bei euch mitten in der Natur zu arbeiten! In England stehe ich von morgens bis abends im Studio und sehe zehn Stunden kein Tageslicht.“ Wenn man mich jemals wieder in einem der Studios in London beschäftigt, wird das wieder so sein, dachte sie, und ihre Miene verfinsterte sich.

„Aha! Du arbeitest also für das Fernsehen?“, mischte sich ein ungefähr fünfzigjähriger Mann ein und beugte sich über den Tisch. „Wie heißt du doch gleich? Lucia? Das Fernsehen ist doch nichts gegen die wahre Kunst: das Theater!“

Carla kicherte, doch im nächsten Moment verteidigte sie Lucy. „Lass sie, Nino! Es kann nicht jeder seinen Traumjob haben! Beim Fernsehen läuft alles eben etwas anders. Aber es gibt auch sehr gute Produktionen.“

„Mag sein“, sagte Nino mit einem Grinsen unter seinen struppigen dunklen Bart. „Doch hier bei uns machst du nicht mal eben deinen Job und gehst dann nach Hause. Leben und Arbeit vermischen sich. Als Schauspieler lebst du dein Leben im Theater!“

Lucy lächelte ihn an, er war ein komischer Kauz, doch er war frech, und seine Augen lachten beim Sprechen, das gefiel ihr. „Ich weiß. Ich bin im Theater aufgewachsen.“

Autor

Myrna Mackenzie
Myrna Mackenzie wusste in ihrer Jugend zunächst nicht, was sie später einmal beruflich machen wollte. Aber sie wusste, dass sie Geschichten und Happy Ends liebte. Und so war der Schritt zur Liebesroman-Autorin nahezu unvermeidlich.
Die inzwischen preisgekrönte Autorin von über 35 Romanen wurde in einer kleinen Stadt in Dunklin County im...
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