Romana Sommerliebe Band 4

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EIN TRAUMMANN AUF MALLORCA von ROBERTS, PENNY
"Sie wollen mich engagieren?" Charlenes Probleme sind gelöst: Sie wird Nanny auf Mallorca - für ein tolles Gehalt! Doch dann erfährt sie: Der Vater ihres Schützlings ist Javier Santiago, der die Werft ihres Vaters ruiniert hat. Sie müsste ihn hassen, aber bei jeder Begegnung mit Javier hat sie Schmetterlinge im Bauch …

MAGISCHER ZAUBER DES MITTELMEERS von ROBERTS, PENNY
Nur ungern lässt sich Beth von ihrem Chef zu einer Reise in ihre Heimat drängen, um dem Reeder Luís Santiago ein Grundstück abzukaufen. Denn sie verbindet schlechte Erinnerungen mit Mallorca. Bis sie Luís näherkommt und spürt, dass er ihr sehr viel bedeutet …

MALLORCA - HAFEN DER LIEBE von ROBERTS, PENNY
Stephanie soll eine Regatta vor der Küste Mallorcas organisieren. Einziger Haken an diesem lukrativen Job: Alejandro Santiago muss an dem Segelwettbewerb teilnehmen. Er ist Rekordsegler, Frauenschwarm … und ihre erste Liebe. Wird er ihr wieder das Herz brechen?


  • Erscheinungstag 11.05.2018
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744618
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Penny Roberts

ROMANA SOMMERLIEBE BAND 4

3 Romane von Penny Roberts

Ein Traummann auf Mallorca

„Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!“ Nachdem sie ihn so angeblafft hat, dürfte Unternehmer Javier Santiago die Nanny Charlene eigentlich gar nicht mehr einstellen. Aber sie ist so erfrischend ehrlich. Und unwiderstehlich attraktiv …

Magischer Zauber des Mittelmeers

Nein, der Reeder Luís Santiago wird sein Grundstück, an dem so viele Erinnerungen hängen, bestimmt nicht verkaufen. Trotzdem möchte er Beth helfen … und das Herz dieser tapferen Frau gewinnen.

Mallorca – Hafen der Liebe

Unglaublich! Damals hat Stephanie ihn abblitzen lassen, und nun soll er bei ihrer Regatta mitsegeln. Alejandro ist entschlossen abzulehnen. Auch wenn ihre Lippen ihn genauso locken wie das Meer …

PROLOG

Zielstrebig bahnte sich der Chauffeur der schwarzen Limousine seinen Weg durch schmale Sträßchen, die zum Teil kaum breiter waren als das Fahrzeug selbst. Dann endlich eröffnete sich am Ende einer Gasse der Blick aufs Meer, das glatt wie ein Spiegel dalag und den tiefblauen Sommerhimmel reflektierte.

Maria Velasquez, die auf dem Rücksitz des Wagens saß, hatte kein Auge für die Schönheit ihrer mallorquinischen Umgebung.

„Also wirklich, die Santiago-Männer sind die schlimmsten Dickköpfe, mit denen ich es je zu tun hatte!“, sagte sie scherzend ins Handy, doch es war nur ein schwacher Versuch, ihre Schwester Gabriela am anderen Ende der Leitung ein wenig aufzumuntern.

Um das zu schaffen, wäre schon ein kleines Wunder vonnöten gewesen – nach all den Katastrophen, mit denen die Mutter von vier Kindern in der Vergangenheit hatte klarkommen müssen. Zuerst der Verlust ihrer einzigen Tochter Laura vor vielen Jahren: Das sechsjährige Mädchen war während eines Familienausflugs ins Grüne spurlos verschwunden und nie gefunden worden. Dann die Schwierigkeiten mit ihrem Mann Miguel … Und schließlich, als hätte sie nicht schon genug durchgemacht, war es auch noch zum Bruch zwischen ihrem Mann und seinen drei Söhnen gekommen.

Javier, Luís und Alejandro.

Miguel bereute inzwischen längst, sich damals mit seinen Jungs überworfen zu haben. Sie zu verlieren hatte ihn viel tiefer getroffen, als sein männlicher Stolz es ihn sich eingestehen ließ.

Stolz! Maria verdrehte die Augen. Was hatten die Männer bloß immer damit? Als ob es so wichtig wäre, aller Welt seinen Dickkopf zu beweisen!

Zu ihrem Leidwesen besaßen auch ihre drei Neffen, so wohlgeraten sie ansonsten sein mochten, diese lästige Eigenschaft. Und genau das machte es so schwierig – um nicht zu sagen unmöglich –, zwischen ihnen und ihrem Vater zu vermitteln. Doch nun glaubte Maria, einen geeigneten Weg gefunden zu haben: Die Jungs mussten selbst darauf kommen, wie wichtig es war, über den eigenen Schatten zu springen.

„Und da ich annehme, dass du deinen Miguel nicht dazu überreden kannst, sich wie ein erwachsener Mann zu benehmen, ist es wohl an mir, eine andere Taktik aus dem Hut zu zaubern“, sprach sie weiter.

„Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“, fragte ihre Schwester zweifelnd. „Du erinnerst dich doch sicher noch, was beim letzten Mal passiert ist, oder?“

„Natürlich, wie könnte ich das vergessen!“ Maria verscheuchte den Gedanken an das Fiasko, das sie mit ihrem wohlmeinenden Versuch, die Familie auszusöhnen, vor ein paar Jahren verursacht hatte. „Aber dieses Mal werde ich geschickter vorgehen – und mich der Hilfe einer geeigneten Person bedienen, um deinem Ältesten den Spiegel vorzuhalten.“

Maria hatte ihren Fahrer angewiesen, gegenüber dem Café am Jachthafen zu parken. Dort war sie mit Charlene Graham verabredet – der Frau, die es hoffentlich schaffen würde, ihren Neffen zum Nachdenken zu bringen. Und das, obwohl Javier und Charlene sich, soweit Maria wusste, noch nie begegnet waren.

Die junge Engländerin, die sie durch die getönten Scheiben der Limousine auf der Terrasse des Cafés sitzen sah, schien genau die richtige Person zu sein, Javier den Spiegel vorzuhalten. Doch dazu musste es Maria erst einmal gelingen, die beiden zusammenzubringen.

„Und wen?“, erklang es aus dem Hörer. Täuschte Maria sich, oder schwang nun ein Fünkchen Hoffnung in Gabrielas Stimme mit?

„Später“, vertröstete sie ihre Schwester. „Ein wenig Geduld, hermanita, sobald ich mehr weiß, werde ich mich wieder bei dir melden.“

Maria beendete das Gespräch und warf einen Blick auf ihre Uhr.

Es war Zeit.

Sie atmete noch einmal tief durch, dann stieg sie aus.

1. KAPITEL

Wenn man Pech und Glück in eine Waagschale werfen könnte, würde bei ihr immer das Pech schwerer wiegen, davon war Charlene Beckett überzeugt. Und zwar nicht etwa, weil man ihr einen besonders ausgeprägten Hang zum Pessimismus nachsagen konnte, sondern ganz einfach, weil ihre Vergangenheit dies nur allzu deutlich zeigte.

Schon früh hatten sie ausgerechnet die beiden wichtigsten Menschen in ihrer Umgebung spüren lassen, dass es ihr anscheinend nicht vergönnt war, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Sie musste an ihre Mutter denken, der sie offenbar nur eine unerwünschte Last gewesen war. Und an ihren Vater, der zwar alles für sie getan, bei seinen vielen Verpflichtungen als Besitzer einer Werft aber immer wieder vergessen hatte, dass seine Tochter überhaupt existierte.

Später, als Teenager, waren ihr schmerzliche Enttäuschungen in der Liebe nicht erspart geblieben, und mit zwanzig hatte sie beschlossen, Mallorca für immer zu verlassen. Sie war nach London gegangen, um dort ein neues Leben anzufangen und vielleicht endlich ihr Glück zu finden – eine Hoffnung, die sich allerdings nur sehr bedingt erfüllt hatte. Und dann, vor zwei Wochen, war sie unfreiwillig und ziemlich überstürzt auf die Baleareninsel zurückgekehrt. Kurz gesagt: Ihr bisheriges Leben bestand aus nichts weiter als einer einzigen Aneinanderreihung von Misserfolgen.

Und genau aus diesem Grund war Charlene jetzt auch so furchtbar aufgeregt. Denn das bevorstehende Gespräch würde für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sein, und zwar nicht nur für ihre eigene.

Ihre Finger zitterten leicht, als sie zur Cappuccinotasse vor sich auf dem Bistrotisch griff. Kurz verharrte sie, dann atmete sie tief durch, hob die Tasse an und führte sie zu den Lippen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals – das war schon auf dem Weg hierher, zum Cafe Marítima in Port Pollença, der Fall gewesen, hatte sich in den letzten Minuten aber noch verstärkt. Kein Wunder, schließlich wartete sie auf eine Frau, die ihr die Lösung für all ihre Probleme in Aussicht gestellt hatte.

Und vor allem für die meines Vaters.

Sie trank einen Schluck und kam nicht umhin, anerkennend zu nicken. Der Cappuccino war einfach köstlich – die geschäumte Milch so hauchzart, dass sie auf der Zunge zerging, zudem nahm Charlene auch einen Hauch Zimt wahr. Also genau so, wie sie ihren Cappuccino mochte. Durchaus keine Selbstverständlichkeit auf Mallorca, denn während mediterrane Köstlichkeiten in kaum gekannter Qualität beinahe überall zu bekommen waren, hatte man in Bezug auf Kaffeespezialitäten nicht unbedingt die Nase vorn.

Sie wollte die Tasse gerade wieder abstellen, als ihre Finger erneut zu zittern begannen. Charlene sah das Unglück kommen und konnte nichts weiter tun, als hilflos mit anzusehen, wie ein Teil der braunweißen Flüssigkeit über den Rand schwappte und geradewegs auf dem cremefarbenen Seidentop landete, den sie sich von einer Freundin geliehen hatte.

Auch das noch! Leise fluchend stellte sie die Tasse ab und besah sich die Bescherung: Obwohl nur ein kleines bisschen hinuntergetropft war, prangte auf dem Top nun ein unübersehbarer Kaffeefleck, etwa so groß wie eine Münze, und zwar genau unterhalb des Dekolletés, wo man ihn einfach nicht übersehen konnte.

Kurz schloss Charlene die Augen und zählte im Stillen bis drei – eine Art kleines Ritual, das sie sich schon vor langer Zeit angewöhnt hatte und das ihr dabei half, sich zumindest einigermaßen zu beruhigen. Trotzdem spürte sie, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Sicher bildeten sich gerade wieder die für sie so typischen hektischen Flecke auf ihren Wangen. Als sie die Lider öffnete, musste sie in einem Anflug von Galgenhumor kurz über sich selbst schmunzeln. Eigentlich hätte sie dieses Missgeschick nicht überraschen sollen, immerhin passierte ihr dergleichen nicht zum ersten Mal, im Gegenteil: Immer dann, wenn irgendetwas Wichtiges bevorstand, sei es ein Termin bei einer Bank oder ein Vorstellungsgespräch, bekleckerte sie sich. Das war noch nie anders gewesen und schien bei ihr beinahe so eine Art unausweichliches Schicksal zu sein.

Suchend blickte sie sich in alle Richtungen um. Noch herrschte auf der Terrasse des Cafés alles andere als rege Betriebsamkeit, was der frühen Mittagszeit geschuldet war, in der sich die Einheimischen von einem arbeitsreichen Vormittag erholten und die Touristen an den Stränden lagen. Etwas abseits von ihr saß ein älterer Herr, der in die Lektüre seiner Zeitung vertieft war, und auf einer niedrigen Mauer aus Naturstein rekelte sich genüsslich eine Katze und ließ sich die Sonne aufs Fell scheinen.

Einen Moment lang gestattete Charlene sich, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen.

Das Cafe Marítima lag direkt am Jachthafen von Port de Pollença, in dem Motorboote und Segeljachten aller Größen und Preisklassen ankerten. Das Wasser glitzerte in fast demselben tiefen Blau wie der Himmel, den kein Wölkchen trübte. Palmen säumten die Promenade, auf der trotz der noch recht frühen Stunde viele Spaziergänger unterwegs waren, die die Sonne genießen wollten.

Charlene schüttelte den Kopf. War sie noch ganz bei Sinnen? Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Maria Velásquez endlich eintraf. Mit ihrer Zulieferfirma, die die meisten größeren Werften an der Mittelmeerküste mit Bootsbauteilen und Zubehör versorgte, gehörte diese Frau zu den Reichsten der Reichen auf Mallorca, und was tat sie? Saß hier und genoss den Ausblick? Stattdessen sollte sie sich besser darum kümmern, ihr kleines Malheur zu beseitigen!

Entschlossen nickte sie und besah sich die Bescherung auf ihrem Top noch einmal genauer. Nun, beseitigen lassen würde sich der Fleck auf die Schnelle sicher nicht, aber wenn einem so etwas beinahe ständig passierte, eignete man sich im Laufe der Zeit die passenden Tricks und Kniffe an.

Rasch holte sie ihre Tasche unter dem Tisch hervor und zog den Reißverschluss des Innenfachs auf, in dem sie für den Fall der Fälle immer mindestens drei Broschen in drei verschiedenen Größen aufbewahrte. Die mittelgroße überdeckte den Kaffeefleck genau und passte auch farblich am besten, also steckte Charlene sie sich an. Sie war dabei, ihr Werk kritisch zu begutachten, als sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie eines der Segelboote ablegte. Sie hob den Blick und sah der Jacht sehnsüchtig hinterher, wie sie den Hafen verließ. Der Wind blähte das weiße Vorsegel, und Gischt spritzte hoch, als das Schiff Fahrt aufnahm. Fast glaubte Charlene, die frische Brise in den Haaren zu spüren und das Salz auf den Lippen zu schmecken. Sie hatte das Segeln immer geliebt, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutete, dass sie Verständnis für ihren Vater aufbrachte, dem seine Arbeit und die Werft stets über alles gegangen waren. Doch inzwischen konnte sie damit umgehen, immer nur die zweite Rolle im Leben von Graham Beckett gespielt zu haben. Und sie wollte auch nicht, dass er seine Existenz verlor.

Was sich von einer anderen Person ganz und gar nicht behaupten ließ …

Ihre Stirn legte sich in Falten, als Charlene an den Mann dachte, der für die Misere der Firma ihres Vaters verantwortlich war. An den skrupellosen Menschen, der kein Gewissen zu haben schien und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war und …

Das Geräusch sich rasch nähernder Schritte riss sie aus ihren Gedanken. Als sie aufschaute, erblickte sie eine ältere Spanierin, die ihr grau meliertes Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengefasst trug. Ihr Kleid, dessen Rock bis übers Knie reichte, war zeitlos und elegant zugleich. Feine Fältchen zogen sich über ihr Gesicht, was sie erstaunlicherweise nicht alt, sondern vielmehr weise, aber auch streng erscheinen ließ. Die Frau sagte nichts, musterte sie jedoch so durchdringend, dass Charlene sich einen Moment lang unbehaglich fühlte.

Angestrengt schluckte sie. „Sind … sind Sie Señora Velásquez?“, fragte sie, um das unangenehme Schweigen zu durchbrechen. Es ärgerte sie, dass es ihr nicht gelang, das leichte Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie hatte sich vorgenommen, selbstbewusst aufzutreten. Doch das war ihr schon immer schwergefallen, und wie es aussah, sollten ihre Bemühungen auch diesmal nicht von Erfolg gekrönt sein.

, die bin ich“, erwiderte die Spanierin, und das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, verscheuchte prompt Charlenes Anspannung und Skepsis. Maria Velásquez’ Gesicht wirkte gleich viel freundlicher und aufgeschlossener. „Dann müssen Sie Miss Beckett sein.“

Charlene stand auf und reichte der Frau die Hand. „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Señora. Allerdings muss ich gestehen, dass ich mich frage, was Sie eigentlich genau von mir wollen.“

„Nun, zuallererst einmal, dass Sie einen Kaffee mit mir trinken“, erwiderte die ältere Dame scherzhaft.

Sie mussten beide lachen, und als sie Platz nahmen, hatte sich Charlenes Nervosität bereits spürbar gelegt. Sobald sie saßen, kam die Bedienung herbeigeeilt.

„Espresso, por favor“, gab Maria Velásquez ihre Bestellung auf. Die Kellnerin entfernte sich, und die ältere Spanierin wandte sich wieder Charlene zu. „Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten“, sagte sie. „Sie wissen ja bereits in groben Zügen, worum es geht.“

Charlene räusperte sich. „Nun, so würde ich es nicht ausdrücken“, erwiderte sie lächelnd. „Im Grunde weiß ich nur, dass es um einen gut bezahlten Job geht, mehr nicht.“

Das stimmte in der Tat: Vor gerade einmal zwei Tagen war Charlene von einer Mitarbeiterin aus Maria Velásquez’ Büro angerufen worden. Die junge Frau hatte sie gefragt, ob sie an einer lukrativen Stelle interessiert sei. Mehr Details würde sie bei einem Gespräch mit der Firmeninhaberin persönlich erfahren. Natürlich hatte Charlene sofort zugesagt, zu dem Treffen zu erscheinen. Schließlich war eine gut dotierte Anstellung genau das, was sie im Augenblick am dringendsten benötigte.

„Job, Job, was ist schon ein Job?“ Maria Velásquez machte eine wegwerfende Geste und schüttelte den Kopf. „Hier geht es um viel mehr als einen einfachen Job, Miss Beckett. Was ich Ihnen biete, ist eine feste Anstellung. Und zwar zu Konditionen, die all Ihre Sorgen in Luft auflösen werden.“ Sie hob die Hand und schnippte mit den Fingern. „Por la jeta.“

„Sorgen?“ Irritiert sah Charlene sie an. „Woher wissen Sie … Ich meine …“

„Nun, das ist ganz einfach.“ Maria hob die Espressotasse, die die Bedienung soeben serviert hatte, hielt sie mit abgespreiztem kleinem Finger, nippte und stellte sie wieder ab. „Sehen Sie, Miss Beckett, ich möchte ehrlich zu Ihnen sein: Ich habe Erkundigungen über Sie eingeholt.“ Sie lächelte besänftigend, als Charlene eine abwehrende Körperhaltung einnahm. „Bitte erschrecken Sie nicht. Sie müssen wissen, dass ich mit einem ehemaligen Mitarbeiter der Werft Ihres Vaters sehr gut bekannt bin. Durch einen Zufall kam mir Ihre Geschichte zu Ohren, und ich fing an, mich für Sie zu interessieren. Für die Frau, die ihr Leben in England, ohne mit der Wimper zu zucken, aufgegeben hat, weil ihr Vater ihre Hilfe benötigt. Das hat mir imponiert.“

Imponiert? Charlene hätte am liebsten bitter aufgelacht. Señora Velásquez konnte ja nicht ahnen, wie es in Wahrheit um das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Vater bestellt war. Es stimmte, sie war, ohne zu zögern, nach Mallorca zurückgekommen, als sie erfahren hatte, dass ihr Vater alles verlieren würde, wenn sie ihm nicht half. Zwar bedeutete das, dass sie nun eine ganze Weile auf der Insel bleiben musste, aber was machte das schon? Schließlich hatte sie in den Jahren in London nichts erreicht …

Trotzdem – ihr Verhalten zeugte keineswegs von einem unerschütterlichen, harmonischen Vater-Tochter-Verhältnis, wie die ältere Spanierin offenbar annahm. Es hatte schlicht und einfach mit Charlenes ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein zu tun.

Und damit, dass sie tief im Innern schon lange Zweifel hegte, ob sie ihrem Vater vielleicht doch das eine oder andere Mal unrecht getan hatte.

Sie schüttelte den Kopf. Das alles irritierte sie. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand Erkundigungen über sie einzog. Sicher, irgendwie konnte sie Maria Velásquez’ Beweggründe nachvollziehen, schließlich wollte jeder Arbeitgeber gern etwas über einen zukünftigen Angestellten wissen, aber dennoch … so ganz gefiel Charlene die Entwicklung dieses Treffens nicht.

„Nun“, riss die ältere Spanierin sie aus ihren Gedanken, „ich hoffe, Sie sind trotzdem daran interessiert zu erfahren, was ich Ihnen zu bieten habe?“

Charlene zögerte kurz. Im Grunde war es vollkommen egal, was die Frau über sie wusste oder nicht – jedenfalls angesichts der Tatsache, dass das Lebenswerk ihres Vaters vor dem Aus stand und dass sie alles dafür tun musste, das Unheil doch noch abzuwenden. Viel zu lange hatte sie sich vorgemacht, dass sie die einzige Person war, der das Recht zustand, sich zu beklagen. Dabei hatte Graham Beckett sich die Rolle des alleinerziehenden Vaters auch nicht ausgesucht, und man musste ihm zugutehalten, dass er sich all die Jahre über bemüht hatte, es seiner Tochter finanziell an nichts mangeln zu lassen. Nun war es an ihr, sich dafür zu revanchieren. Und genau deshalb brauchte sie als Erstes diesen gut bezahlten Job, von dem die ganze Zeit die Rede war.

Entschlossen straffte Charlene die Schultern und sah Maria Velásquez fest an. „Natürlich“, antwortete sie. „Ich bin ganz Ohr.“

Die Spanierin lächelte zufrieden. „Das ist schön. Erfreulicherweise bedarf es auch nicht einmal großer Worte, denn alles ist ganz einfach: Ich biete Ihnen neben einem festen monatlichen Gehalt eine einmalige Zahlung, die hoch genug ist, die Behandlungskosten Ihres Vaters zu decken. Außerdem erhält Ihr Vater, wenn wir beide uns einig werden, einen Einkaufsrabatt in Höhe von vierzig Prozent – das ist mehr, als wir unseren eigenen Mitarbeitern zugestehen.“

„Sie bieten – was?“ Charlene kniff die Augen zusammen und musterte die ältere Frau eine Weile lang sprachlos. Mit einem guten Gehalt hatte sie gerechnet, das ja. Aber der Rest klang einfach zu schön, um wahr zu sein. „Ich … verstehe nicht. Warum tun Sie das? Ich meine, Sie kennen mich doch gar nicht. Wieso bieten Sie mir so etwas an?“

„Wie ich schon sagte: Sie gefallen mir, und Ihr Verhalten Ihrem Vater gegenüber imponiert mir. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.“

Charlene schluckte. „Und … was muss ich dafür tun?“ Skepsis machte sich in ihr breit. „Von welcher Art Anstellung ist hier überhaupt die Rede?“

„Keine Angst, keine Angst.“ Wieder lächelte Maria Velásquez milde. „Es ist selbstverständlich alles ganz und gar seriös. Ich möchte, dass Sie wieder in Ihren alten Beruf zurückkehren, Señorita Beckett. Das tun, was Sie ursprünglich gelernt und einige Jahre praktiziert haben.“

„Sie wollen, dass ich als Kindermädchen arbeite?“, fragte Charlene überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet – aber es war keine unangenehme Überraschung. Die Arbeit mit Kindern machte ihr Spaß. Ehe sie damals nach England gegangen war, hatte sie sich über das Internet einen Job bei einer Familie in London gesucht. Leider war der Familienvater recht bald ins Ausland versetzt worden, sodass Charlene hatte umdisponieren müssen. Ein Job in einem der zahllosen Callcenter der Metropole war das Einzige gewesen, was sie auf die Schnelle hatte finden können. Und seitdem hatte sich an ihrer Situation nichts geändert.

„Allerdings“, antwortete Señora Velásquez, und ihre Augen fingen an zu strahlen. „Und zwar geht es um meine Großnichte Aurora.“

„Aurora“, wiederholte Charlene lächelnd. „Die Morgenröte – was für ein wunderschöner Name.“

„Nicht wahr? Das Mädchen ist sechs Jahre alt und hat vor einiger Zeit seine Mutter verloren. Ich fürchte, Auroras Vater ist mit der Erziehung ein wenig überfordert. Das Problem ist, dass die Kleine bisher jedes Kindermädchen vergrault hat.“

Charlene nickte. „Viele Kinder haben Angst, dass man versuchen könnte, ihnen die Mutter oder den Vater zu ersetzen. In solchen Fällen muss man sehr behutsam vorgehen, um die fragile Kinderseele nicht zu verletzen.“ Kurz musste sie an ihre eigene Kindheit denken. Auch sie war ohne Mutter aufgewachsen, und die ständigen Zurückweisungen durch den Vater, der seine Gefühle nicht zeigen konnte, hatten sie wahrscheinlich bis an ihr Lebensende geprägt …

„Ich sehe schon, wir verstehen uns“, unterbrach Maria ihren Gedankengang. „Sie werden Aurora bestimmt ein wunderbares Kindermädchen sein. Allerdings – eine weitere Bedingung gibt es dann doch noch.“

Aha! Charlene horchte auf. Jetzt kam also der Haken an der Sache! „Und die wäre?“, fragte sie skeptisch.

„Nun, Auroras Vater, Javier, darf nie erfahren, dass ich etwas mit Ihrer Vermittlung zu tun habe. Offiziell läuft alles über eine Agentur, an der ich über Umwege beteiligt bin. Dadurch kann ich … nun, sagen wir einfach, es ist mir möglich, einen gewissen Einfluss zu nehmen.“

Den letzten Satz bekam Charlene nur noch beiläufig mit. „Javier?“ Sie runzelte die Stirn. Eine dunkle Ahnung stieg in ihr auf. Konnte es möglich sein, dass … Aber nein, sicher handelte es sich nur um eine zufällige Namensgleichheit!

„Sí.“ Maria Velásquez nickte. „Javier Santiago. Mein Neffe.“

„Javier Santiago?“ Also doch! Entsetzt riss Charlene die Augen auf. Javier Santiago war der Mann, durch den ihr Vater alles zu verlieren drohte. Er betrieb seine Werft für Sportjachten auf der anderen Seite der Insel, doch das hielt ihn nicht davon ab, Beckett’s Dockyard mit aller Macht aus dem Geschäft zu drängen. Santiago bot seine Segeljachten zu Preisen an, bei denen Graham Beckett einfach nicht mithalten konnte. Charlene zweifelte nicht daran, dass er damit eine Taktik verfolgte. Sicherlich ging es ihm nur darum, ihren Vater in den Bankrott zu treiben – danach würde er garantiert mit den Preisen wieder anziehen. „Es tut mir leid, aber ich kann das nicht.“ Sie machte Anstalten, aufzustehen, doch Maria Velásquez legte ihr die Hand auf den Arm.

„Warten Sie, Miss Beckett“, sagte die Spanierin, und zu ihrer Verwunderung glaubte Charlene kurz, einen flehentlichen Klang aus ihrer Stimme herauszuhören. „Hören Sie mir einen Moment zu, por favor!“

Charlene zögerte, doch schließlich nickte sie. „Also schön, reden Sie.“

„Sehen Sie, ich weiß natürlich, in welcher Verbindung mein Neffe zu Ihrem Vater steht. Die beiden sind Konkurrenten, und …“

„Konkurrenten?“ Charlene lachte bitter auf. „Nein, so kann man das wahrlich nicht bezeichnen!“ Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Konkurrenz ist im Grunde keine schlechte Sache, im Gegenteil: Sie belebt das Geschäft. Aber Ihr Neffe – Señor Santiago – ist nicht einfach ein Konkurrent. Er nutzt die Tatsache, dass er über die größeren finanziellen Rücklagen verfügt, skrupellos aus. Aus den Unterlagen meines Vaters geht hervor, dass er seine Jachten zu Dumpingpreisen anbietet; Preisen, mit denen er unmöglich Gewinn machen kann. Ich habe die Bücher von Beckett’s Dockyard überprüft. Wissen Sie eigentlich, wie viele Boote mein Vater in den vergangenen Monaten verkauft hat? Ein einziges! Und das alles nur, weil Javier Santiago uns aus dem Geschäft drängen will!“

„Nun, ich muss zugeben, dass ich Ihnen dazu nichts weiter sagen kann, denn mit dem Unternehmen meines Neffen habe ich nichts zu tun. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass er in irgendeiner Weise unlautere Methoden einsetzt.“

„Die Fakten sprechen aber eine andere Sprache!“, entgegnete Charlene gereizter als beabsichtigt.

„Wenn das so ist, wäre es doch gut, mein Angebot anzunehmen und sich einen Teil von dem, was er Ihrem Vater genommen hat, zurückzuholen“, erwiderte Maria Velásquez lächelnd. Dann winkte sie seufzend ab. „Hören Sie, Charlene, es ist Aurora, um die Sie sich kümmern sollen, nicht Javier. Und finden Sie nicht auch, es wäre nur fair, dem Kind eine Chance zu geben, ohne es für die Sünden seines Vaters zu verurteilen?“

Charlene zögerte, doch im Grunde ihres Herzens war sie mit der Unternehmerin einer Meinung. Ein einsames kleines Mädchen, das in der Obhut eines Mannes wie Javier Santiago aufwuchs, brauchte einfach jemanden, dem es sein Herz öffnen konnte. Und vielleicht konnte ja tatsächlich sie dieser Jemand sein.

„Nun, was sagen Sie?“ Maria Velásquez beobachtete sie gespannt. „Geben Sie Aurora trotz Ihrer Abneigung gegen ihren Vater eine Chance? Ich kann Ihnen natürlich nicht garantieren, dass Javier Sie auf Dauer behalten wird, aber er hat kaum eine andere Wahl, als es zumindest mit Ihnen zu versuchen. Die meisten geeigneten Kindermädchen auf der Insel hat seine Tochter nämlich bereits in die Flucht geschlagen. Ich bin mir also recht sicher, dass Sie nach einem Vorstellungsgespräch die Anstellung bekommen.“

„Vorstellungsgespräch?“, fragte Charlene unsicher.

Maria Velásquez nickte. „Wie schon gesagt, kann ich nur bei der Vermittlungsagentur Einfluss nehmen. Die wird Sie meinem Neffen zwar wärmstens empfehlen, doch er wird Sie natürlich kennenlernen wollen. Aber da sehe ich keine Probleme. Seien Sie einfach Sie selbst. Wenn Sie die Anstellung haben, werden Sie Ihr Gehalt von Javier erhalten. Die Extravereinbarungen, von denen ich sprach, erfülle ich.“

Charlene atmete noch einmal tief durch und nickte. „Also gut, versuchen wir es. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Wenn das Kind mich nicht mag oder wir nicht miteinander zurechtkommen, kann ich nichts machen.“

„Das versteht sich von selbst“, entgegnete Maria Velásquez sichtlich zufrieden. „Glauben Sie mir, Auroras Wohl steht für mich an allererster Stelle.“ Die Unternehmerin erhob sich und reichte Charlene die Hand. „Die zuständige Dame von der Arbeitsvermittlung wird sich noch heute mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich bin zuversichtlich, dass dann alles schnell über die Bühne gehen wird.“

Die zwei Frauen verabschiedeten sich voneinander, und als Charlene wieder allein war, starrte sie einen Moment lang gedankenversunken aufs Meer hinaus. So groß ihre Erleichterung über die Chance, doch noch alles zu einem guten Ende zu führen, auch sein mochte – ebenso groß waren ihre Zweifel. Warum tat Señora Velásquez das alles, warum war sie so großzügig? Was steckte dahinter? In erster Linie aber fragte Charlene sich, was für ein Mensch Javier Santiago sein mochte.

Nun, zumindest Letzteres würde sie schon sehr bald erfahren.

Über die Frage, was für ein Mensch Javier Santiago war, dachte Charlene noch nach, als sie sich zwei Tage später auf dem Weg zu seinem Anwesen befand. Die Straße führte direkt an der Küste entlang, und so hatte sie einen herrlichen Ausblick auf das glitzernde tiefblaue Meer. Felsige Abschnitte mit schroffen Klippen wechselten sich ab mit geschützten Buchten, die von feinsandigen, blütenweißen Stränden gesäumt waren.

Charlene seufzte. Auch wenn Mallorca nicht immer das Paradies für sie gewesen sein mochte, das es für die meisten Touristen darstellte – die unverwechselbare und wundervolle Landschaft hatte sie bereits als Kind geliebt. Nie würde sie vergessen, wie sie Muscheln am Strand gesammelt und daraus eine Kette gebastelt hatte. Sie war barfuß durch das seichte Wasser gelaufen, mal allein, mal mit ihrem Hund Buster, den sie sehr geliebt hatte. Doch leider war ihre Kindheit nicht immer so sorglos gewesen. Wie viel schöner hätte alles sein können, wenn ihre Mutter nicht …

Sie schüttelte den Kopf. Dies war nicht die richtige Gelegenheit, um über Vergangenes nachzudenken, und auch nicht, um die Natur zu genießen. Jetzt gab es anderes, um das es sich zu kümmern galt.

Nach dem Treffen mit Maria Velásquez war alles ganz schnell gegangen – viel zu schnell für Charlenes Begriffe. Ehe sie sich an den Gedanken hatte gewöhnen können, künftig für den größten Konkurrenten ihres Vaters zu arbeiten, war auch schon der Termin für das Vorstellungsgespräch vereinbart worden.

Die folgende Nacht hatte sie mehr oder weniger schlaflos verbracht. In ihrem Kopf waren die Gedanken durcheinandergewirbelt. Tat sie wirklich das Richtige? Durfte sie sich überhaupt auf ein solches Abenteuer einlassen?

Doch immer wieder waren ihr Maria Velásquez’ Worte in den Sinn gekommen. Stimmte es nicht, was die ältere Frau gesagt hatte? Bei genauerem Betrachten war Charlene klar geworden, dass die Situation mehr Vor- als Nachteile barg. Sicher, Javier Santiago mochte ein skrupelloser Geschäftsmann sein, aber wenn es ihr durch das Arrangement mit seiner Tante möglich war, ihrem Vater zu helfen, so stellte das im Grunde doch nur ausgleichende Gerechtigkeit dar. Graham Beckett würde sich wieder um die Werft kümmern und sie aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem Ruin retten können.

Und ich kann endlich wieder dem Beruf nachgehen, den ich einmal so geliebt habe …

„So, Señorita, da wären wir.“ Der Taxifahrer lenkte seinen Wagen an den Straßenrand.

Charlene bezahlte und warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Sie unterdrückte ein Seufzen. Viel zu früh – wie immer. Ihr blieben noch mehr als anderthalb Stunden bis zu ihrem Termin mit Javier Santiago. Und die Gegend, in der der Schiffbauer lebte – ein Villenviertel bei Port d’Andratx, etwa dreißig Autominuten von Palma de Mallorca entfernt –, gehörte zwar zu den gehobenen Adressen der Insel, aber gewiss nicht zu den sonderlich belebten. Charlene seufzte unhörbar. So war es immer bei ihr, wenn derartige Termine bevorstanden: Vor lauter Nervosität hielt sie es einfach nicht länger zu Hause aus und machte sich dann viel zu zeitig auf den Weg.

Sie stieg aus, schlug die Wagentür hinter sich zu und sah sich um. Die meisten Grundstücke waren riesig, und die Häuser standen entsprechend weit voneinander entfernt. Manche Zufahrt lag so versteckt zwischen dichten Sträuchern und Bäumen, dass man sie erst entdeckte, wenn man gezielt danach Ausschau hielt. Wer hier wohnte, war eindeutig vermögend und legte großen Wert auf die Wahrung seiner Privatsphäre. Sicher waren die Häuser luxuriös und verfügten über jeden nur erdenklichen Komfort. Trotzdem vermochte Charlene sich nicht vorzustellen, dass man hier draußen wirklich glücklich sein konnte. Sie für ihren Teil brauchte Menschen um sich, pulsierendes Leben. Wie sollte ein kleines Mädchen wie Aurora Santiago hier Freunde finden?

Das Taxi fuhr davon, und Charlene blieb allein zurück. Resigniert ließ sie die Schultern hängen. Und nun? Zum Spazierengehen war sie viel zu aufgeregt. Einfach herumstehen und warten ging ebenso wenig. Also begann sie unruhig vor der Zufahrt des Anwesens auf und ab zu laufen. Dabei entdeckte sie ein kleines Tor in der von Efeu überwachsenen Mauer, das ein Stück weit offen stand. Neugierig trat sie näher. Sie wollte nur einen kurzen Blick auf das Grundstück werfen, nichts weiter. Sehen, wie ein Mann wie Javier Santiago wohnte.

Doch als das leise Schluchzen eines Kindes an ihr Ohr drang, vergaß sie alles andere und trat in den Garten.

Charlenes Augen weiteten sich, und ihre Lippen formten einen stummen Laut der Begeisterung. Nein, das hier war kein Garten – es war ein regelrechter Park, riesengroß, mit in allen Farben blühenden Blumenrabatten, einem künstlich angelegten Teich, in dem Zierkarpfen ihre Runden drehten, und einem schattigen Wäldchen.

Von dort her kam das Weinen.

„Hallo?“, rief sie. „Ist da jemand?“

Das Schluchzen verstummte. „Wer bist du?“ Ein kleines dunkelhaariges Mädchen trat aus dem schattigen Unterholz des Wäldchens hervor. Seine Augen waren gerötet, doch es musterte Charlene mit abschätzender Vorsicht. „Ich habe dich noch nie hier gesehen!“

„Du hast geweint“, entgegnete Charlene, ohne auf die Frage des Mädchens einzugehen. „Warum?“

Schweigend blickte die Kleine in die Richtung, aus der sie gekommen war, drehte sich um und lief los. Charlene beeilte sich, ihr zu folgen. Schon nach ein paar Schritten erreichten sie eine Lichtung. Als Charlene stehen blieb und sich umblickte, entdeckte sie ein Vogelnest, das auf dem Boden lag. Es musste vom Baum gefallen sein.

„Zwei der Vogelbabys waren schon tot, als ich es fand“, erklärte das Mädchen ernst und deutete auf ein flaumiges Etwas, das zitternd in dem Nest hockte. „Dieses hier lebt noch, aber es will einfach nichts fressen, ganz egal, womit ich es auch versuche.“ Die Augen der Kleinen füllten sich mit Tränen. „Es wird doch wieder gesund, oder?“

Charlene holte tief Luft. Sie kannte solche Situationen und wusste, wie schwer es für ein Kind war, mit so etwas umzugehen. Sie schaute sich das Vogeljunge genauer an. Es wirkte geschwächt, reagierte aber auf Berührungen. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht war es noch nicht zu spät.

„Wir sollten das Vögelchen zu einem Tierarzt bringen, Kleines, ich …“

„Aurora“, sagte sie. „Ich heiße Aurora Santiago.“

Charlene nickte. Sie hatte sich bereits gedacht, dass sie es mit dem Kind zu tun hatte, auf das sie zukünftig aufpassen sollte. Für eine Sechsjährige war Aurora sehr beherrscht und gefasst. Von ein paar Tränen abgesehen, ließ sie sich kaum anmerken, wie sehr der Zustand des Vogelkükens sie traf. Unwillkürlich fragte Charlene sich, warum das Mädchen ihr gegenüber die Tapfere spielte. Sie hatte sein Weinen doch gehört. Ob Javier Santiago von seiner Tochter verlangte, dass sie ihre Gefühle unterdrückte? Passen würde es zu ihm, dachte Charlene bitter.

„Aurora, hast du vielleicht einen kleinen Karton oder ein Kästchen? Wir könnten das Vogeljunge hineinsetzen, um es zum Tierarzt zu bringen.“

„Würdest du mir dabei helfen?“, fragte das Mädchen hoffnungsvoll.

„Natürlich“, erklärte Charlene feierlich. „Aber wir sollten uns beeilen.“

Hastig nickte das Mädchen und verschwand im Haus. Charlene sah ihm nach, wie es durch die offen stehende Terrassentür eilte. Dann blickte sie an dem Gebäude hoch.

Die Villa war riesig. Allein die Dachterrasse im zweiten Obergeschoss musste ungefähr doppelt so groß sein wie das Apartment, das sie in London bewohnt hatte. Die strahlend weiße Fassade schimmerte wie eine Perle im Sonnenlicht, und in den unzähligen Fenstern spiegelte sich der makellos blaue Sommerhimmel.

Und nun? Charlene seufzte. Wie so oft hatte sie nicht zu Ende gedacht. Ihr Vorstellungsgespräch begann in etwas weniger als einer Stunde. Ihr blieb keine Zeit, das Vögelchen zum Tierarzt zu bringen – ganz davon abgesehen, dass sie auch nicht wusste, wie sie dorthin gelangen sollte.

Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn in dem Moment erklang eine aufgebrachte männliche Stimme hinter ihr:

„Was, zum Teufel, machen Sie hier?“

Mit einem erstickten Aufschrei wirbelte Charlene herum. Doch als sie den Mann erblickte, der sie so rüde angefahren hatte, wandelte sich ihr Schreck in Wut. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Zugegeben, er sah recht gut aus in seinen abgeschnittenen kakifarbenen Cargohosen und dem flaschengrünen Poloshirt, das erstaunlich gut mit seinem olivfarbenen Teint harmonierte. An den Füßen trug er derbe, mit Erde und Dreck verkrustete Arbeitsboots. Und auch der Rest seiner Kleidung war mit Schmutzflecken bedeckt. Er hatte ganz offensichtlich im Garten gearbeitet, vermutlich war er für die Instandhaltung der Parkanlage verantwortlich. Aber auch wenn er hier arbeitete, gab ihm das noch lange nicht das Recht, in diesem Ton mit ihr zu reden!

„Ich …“ Sie atmete tief durch. „Mein Name ist Charlene Beckett. Ich bin hier wegen eines Vorstellungsgesprächs … Señor Santiago erwartet mich.“ Wenn auch noch nicht jetzt, fügte sie in Gedanken hinzu, während sie den Mann unverwandt ansah.

Der Gärtner zeigte keinerlei Regung. „Und warum gehen Sie dann nicht ins Haus, sondern schnüffeln im Garten herum?“, fragte er unfreundlich.

„Herumschnüffeln? Aber ich …“ Sie kniff die Augen zusammen. Was für ein arroganter … Hielt er sie etwa für eine Einbrecherin? Sie holte tief Luft. „Jetzt hören Sie mir mal gut zu“, begann sie, und die Festigkeit ihrer Stimme wunderte sie selbst wohl am meisten. „Ich schnüffele nicht. Ich habe lediglich einem kleinen Mädchen geholfen, das dies hier gefunden hat.“ Sie deutete mit dem Kinn auf das am Boden liegende Vogelnest. „Eines der Jungen lebt noch, ist aber verletzt.“ Sie blickte den Unbekannten wieder an. „Also, was stehen Sie tatenlos herum? Holen Sie lieber einen Wagen und bringen mich und das Mädchen zum Tierarzt!“

„Sie haben doch wohl hoffentlich nicht zugelassen, dass Aurora das Tier anfasst, oder?“ Erschrecken zeigte sich in den Zügen des Mannes. „Wer weiß, was für Krankheiten so ein Vogel überträgt!“

Charlene war fassungslos. Wie grob und gefühllos konnte man sein? „Zu Ihrer Information: Ich kam erst dazu, als die Kleine das Nest bereits gefunden hatte. Und überhaupt – was hätten Sie an meiner Stelle getan? Ihr erklärt, dass sie das Tier sterben lassen soll, weil es womöglich irgendwelche Krankheiten überträgt?“

„Das wäre jedenfalls vernünftig gewesen“, entgegnete der Mann unbeeindruckt.

Entsetzt schaute Charlene ihn an. „Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein! Ich …“

In diesem Moment trat das Mädchen, eine Pappschachtel unter dem Arm, aus dem Haus und eilte auf sie zu. Als es den Gärtner erblickte, verlangsamte es seine Schritte und überreichte Charlene schüchtern die Schachtel, ehe es sich dem Mann zuwandte. „Das Vögelchen ist krank, Papá. Wir müssen es zum Tierarzt bringen …“

Charlene brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, was sie da gerade gehört hatte. Dann riss sie erschrocken die Augen auf. „Papá?“, stieß sie entgeistert hervor. „Soll das heißen, Sie sind …“

„Javier Santiago, Ihr neuer Arbeitgeber.“ Die Lippen des Mannes verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. „Das heißt, falls ich es nach Ihrem Auftritt eben überhaupt noch in Erwägung ziehen kann, Sie einzustellen.“

2. KAPITEL

Javier konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Größer hätte der Schock für diese Frau – Charlene Beckett – nicht sein können. Ihr Gesichtsausdruck sprach jedenfalls eine deutliche Sprache. Der offen stehende Mund, die weit aufgerissenen Augen, in denen sich Fassungslosigkeit widerspiegelte, die nun langsam durch Verzweiflung abgelöst wurde … Außerdem – was war das? Bildeten sich da etwa hektische rote Flecken auf ihrem Gesicht?

Zu seinem eigenen Erstaunen machte sie das nicht minder attraktiv. Und attraktiv war sie wirklich, daran konnte kein Zweifel bestehen: Seidiges rotblondes Haar umschmeichelte ein exquisit geformtes Gesicht mit hohen Wangenknochen, fein geschwungenen Lippen und einer schmalen Nase. Lange Wimpern beschatteten die aufregendsten blauvioletten Augen, die er je gesehen hatte. Trotz des wenig schmeichelhaften schwarzen Hosenanzugs, den sie trug, konnte er erkennen, dass sich darunter eine schlanke, wohlgeformte Figur verbarg. Kurz blickte Javier an sich selbst hinunter. Im Gegensatz zu ihr war er eher unpassend gekleidet, wobei dies die Übertreibung des Jahrhunderts darstellte. Aber Jeans, derbe Stiefel und Poloshirt waren auch nicht seine normale Kleidung. Dieses Outfit trug er nur, wenn er draußen im Garten arbeitete.

In Catalinas Garten …

Seufzend dachte er zurück. Als seine Frau und er vor vier Jahren zusammen mit dem Kind in die Villa eingezogen waren, hatte es hier nichts gegeben außer einer ausgedehnten Rasenfläche. Allein Catalinas „grünem Daumen“ war es zu verdanken, dass sich daraus ein kleines Paradies entwickelt hatte, mit blühenden Blumenrabatten, einem schattigen Wäldchen und einem kleinen Kräutergarten, in dem sich Jolanda, die Köchin, gern bediente. Nach Catalinas Tod hatte Javier wie selbstverständlich ihr Werk fortgeführt. Vielleicht war es eine Art von Buße, weil er …

Nein, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Die Arbeit im Garten war für ihn zu einer Art Ausgleichssport geworden. Andere spielten Tennis oder Golf, Javier beschnitt Rosenstauden oder pflanzte Setzlinge – Tätigkeiten, die ihm wie keine anderen dabei halfen, abzuschalten und einen klaren Kopf zu bekommen.

Und einen klaren Kopf brauchte er im Moment so dringend wie selten zuvor. Denn irgendjemand brachte neuerdings Jachten zu Schleuderpreisen, bei denen ein ehrlicher Unternehmer nicht mithalten konnte, auf den Markt. Und wie es aussah, bediente sich dieser Konkurrent auch noch aus dem Ersatzteillager der Santiago-Werft. Javier fand jedenfalls keine andere Erklärung dafür, dass Bauteile mit Seriennummern, die eigentlich bei ihm auf Lager liegen sollten, in eine Jacht gelangt sein konnten, die er sich über einen Strohmann beschafft hatte.

Seine Recherchen nahmen so viel Zeit in Anspruch, dass er es nicht schaffte, sich in dem Maß um Aurora zu kümmern, wie es nötig gewesen wäre. Unwillkürlich kam ihm sein Vater in den Sinn. Javier unterdrückte einen Kraftausdruck. Wie oft hatte er sich geschworen, niemals so zu werden wie sein alter Herr. Und? Was war aus dem guten Vorsatz geworden?

Unwirsch verscheuchte Javier die unwillkommenen Gedanken an seinen Vater, den er seit mehr als acht Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Beziehung zwischen ihnen war vollkommen zerrüttet, ebenso wie die zwischen Miguel Santiago und Javiers jüngeren Brüdern Luís und Alejandro. Sie alle drei wollten nichts mehr mit dem Mann zu tun haben, der ihnen eine Unterschlagung unterstellt hatte. Da machte es auch keinen Unterschied, dass ihm dieser Unsinn von der falschen Schlange eingetrichtert worden war, die vorgegeben hatte, ihre als junges Mädchen verschwundene Schwester Laura zu sein. Miguel Santiago hatte ihr mehr geglaubt als seinen drei Söhnen – und zahlte nun den Preis dafür.

Javier atmete tief durch. Nun, zumindest hatte Charlene Beckett ihn in seinem Aufzug zunächst für einen Gartenarbeiter gehalten. Und die Erkenntnis, dass sie in Wahrheit mit dem Mann redete, der sie zu einem Vorstellungsgespräch erwartete, schien ihr nachhaltig die Sprache verschlagen zu haben.

Jetzt räusperte sie sich angestrengt und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich …“, stammelte sie unbeholfen. „Es tut mir leid, Señor Santiago, ich …“

„Was ist denn jetzt mit dem Vogeljungen?“, fiel Aurora ihr ins Wort. Seine Tochter blickte zu ihm hoch, und Javier stellte fest, dass ihr Tränen in den Augen standen. „Wir müssen es zum Tierarzt bringen, Papá – schnell!“

Javier runzelte die Stirn. Dann ging er in die Hocke und sah sich das verletzte Tier an. Es zuckte schwach, und allem Anschein nach war der rechte Flügel gebrochen. „Ob man da überhaupt noch etwas tun kann …?“, murmelte er halb zu sich selbst.

Kaum dass ihm die Worte über die Lippen gekommen waren, schalt er sich einen Narren. Wie konnte er nur! Im Grunde hatte er laut gedacht und dabei völlig vergessen, dass das Kind es hörte. Er wollte gerade noch etwas Tröstliches hinzufügen, doch da war es auch schon zu spät.

Seine Tochter brach in Tränen aus, und wie immer, wenn sie weinte, fühlte Javier sich hilflos und überfordert. Er konnte einfach nicht mit Kindern umgehen, dazu fehlten ihm Geduld und Einfühlungsvermögen – eben die Eigenschaften, die Auroras Mutter besessen hatte.

„Aurora, mi corazón, ich …“ Er wollte sie in den Arm nehmen, doch sie schüttelte ihn ab und schmiegte sich stattdessen an Charlene Beckett.

Die ging neben dem Mädchen in die Knie, strich ihm über den dunklen Lockenschopf und lächelte aufmunternd. „Ich bin sicher, dass dein Papá es nicht so gemeint hat, Aurora.“ Sie lächelte mitfühlend. „Du wirst sehen, der Tierarzt findet einen Weg, das Vögelchen wieder gesund zu machen.“

Erstaunt musterte Javier die schöne Engländerin. Für einen Moment war es ihm vorgekommen, als habe er Catalina sprechen hören. Sie hätte sicher etwas ganz Ähnliches zu Aurora gesagt.

Doch als Charlene Beckett sich zu ihm umdrehte, kehrte er wieder in die Realität zurück. „Worauf warten Sie noch?“, fragte sie und bedachte ihn mit einem Blick, der keinerlei Widerspruch zuließ. „Holen Sie einen Wagen. Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Die schroff-romantische Küstenlandschaft flog förmlich an ihnen vorüber, als sie sich kurz darauf auf dem Weg zum Tierarzt befanden. Charlene saß neben Javier Santiago auf dem Beifahrersitz seines Sportcabrios, die Schachtel mit dem verletzten Vögelchen auf dem Schoß, und Aurora rutschte unruhig auf der Rückbank des Wagens hin und her.

„Kannst du nicht schneller fahren, Papá?“, fragte die Kleine und versuchte, einen Blick auf ihren Schützling zu erhaschen, doch der Sicherheitsgurt hinderte sie daran.

„Es ist nicht mehr weit“, entgegnete Javier beruhigend. „Und wir wollen doch, dass wir und das Vogelbaby heil ankommen, nicht wahr, mi corazón? Selbst in einer Situation wie dieser darf man keine unnötigen Risiken eingehen und sich selbst und andere damit gefährden, verstehst du?“

Aurora nickte, doch als Charlene sich zu ihr umdrehte, sah sie dem Kind deutlich an, dass die Worte seines Vaters gar nicht zu ihm durchgedrungen waren. Und das war in Charlenes Augen auch kein Wunder. Generell hatte sie zwar nichts dagegen einzuwenden, wenn Eltern ihren Kindern Ratschläge fürs Leben gaben. In diesem speziellen Fall jedoch konnte der Zeitpunkt kaum ungünstiger sein.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet Sie einen Tierarzt in der Nähe kennen würden“, sagte sie nun an Javier gewandt, um das Thema zu wechseln.

Es war das zweite Mal im Verlauf der letzten halben Stunde, dass sie ihr loses Mundwerk verfluchte. Nicht genug damit, dass sie ihren künftigen Arbeitgeber zuerst für den Gärtner gehalten hatte, nein! Selbst später, als ihr längst aufgegangen war, wen sie vor sich hatte, war sie mit ihm umgesprungen wie mit einem Dienstboten. Was ist bloß in mich gefahren? schoss es ihr durch den Kopf.

Nun, zumindest hatte er sie nicht gleich wieder vor die Tür gesetzt, sondern auf ihre Anweisung hin tatsächlich umgehend den Wagen geholt. Aber vielleicht hielt er sich auch nur in Gegenwart seiner Tochter zurück, wer konnte das schon sagen?

Charlene musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er trug noch dieselbe Kleidung wie vorhin im Park. Trotzdem fragte sie sich mittlerweile, wie sie ausgerechnet ihn für den Gärtner hatte halten können. Die Aura von Dominanz und Überlegenheit, die er ausstrahlte, passte definitiv nicht zu einem einfachen Arbeiter. Nur im Umgang mit seiner Tochter wirkte er überraschend gehemmt und unbeholfen. So, als sei er nicht daran gewöhnt, das Kind um sich zu haben.

Sie holte tief Luft und schob die seltsamen Gedanken von sich, ehe sie sich in ihrem Kopf einnisten konnten. Wenigstens schien er nicht wütend über ihren Auftritt, doch das mochte täuschen. Manchen Menschen sah man nicht an, ob sie innerlich brodelten. Und nach allem, was sie über Javier Santiago wusste, gehörte er nicht gerade zu den Menschen, die sich eine respektlose Behandlung von einer Angestellten bieten ließen.

Verflixt, Charlene, was hast du nur wieder angerichtet? Wenn du den Job nicht bekommst, gibt es nichts, was du noch für deinen Vater tun kannst …

Sie stieß den Atem aus. Nicht zum ersten Mal in den vergangenen paar Tagen wunderte sie sich über sich selbst. Die Beziehung zu ihrem Vater war nie sonderlich eng gewesen, im Gegenteil. Ich habe nie auf ihn zählen können, wenn ich ihn brauchte, erinnerte sie sich bitter. Fast immer blieb er bis spät in die Nacht in der Werft und nahm sich dann oft noch Büroarbeit mit nach Hause. Anders als für andere Väter waren für ihn Sonn- und Feiertage kein Anlass gewesen, etwas mit seiner Tochter zu unternehmen. Wie viele Weihnachtsfeste hatte sie allein unter dem Weihnachtsbaum verbracht? Oder schlimmer noch: im Kreise der Familie einer Freundin, wo ihr der enge Zusammenhalt von Eltern und Kindern nur noch deutlicher vor Augen führte, was sie selbst so schmerzlich vermisste.

Sie konnte sich noch an eine Zeit erinnern, bevor ihre Mutter sie verlassen hatte. Eine Zeit, als sie Nachmittage am Strand verbracht und Ausflüge nach Palma unternommen hatten oder auf den Puig Mayor, den höchsten Berg Mallorcas, gewandert waren. Heute erschien ihr diese Zeit manchmal wie ein schöner Traum, denn danach hatte sich ihr Leben radikal verändert …

Zu Anfang, Charlene war gerade fünf geworden, machte es sie furchtbar traurig, dass ihr Vater anscheinend nichts von ihr wissen wollte. Mit allen Mitteln, die einem Kind zur Verfügung standen, versuchte sie, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – vergeblich. Graham Beckett schien in seiner eigenen Welt zu leben, in der er von den Nöten seiner Tochter vollkommen unberührt blieb.

Mit den Jahren schlug ihre Traurigkeit in Wut um. Anstatt ihn für sich interessieren zu wollen, brach sie immer häufiger Streit vom Zaun. Doch auch das rüttelte ihren Vater nicht wach. Schon während ihrer Ausbildung zur Erzieherin, die sie in einem privaten Haushalt absolvierte, wurden die Spannungen zwischen ihnen unerträglich. Kurz nach ihrer Abschlussprüfung kam es dann zum Krach, und Charlene packte ihre Koffer und ging nach England, um sich ein neues Leben aufzubauen. Von Mallorca, wohin ihre Eltern einst ausgewandert waren, um ihren Traum von einer glücklichen Zukunft unter der Sonne Spaniens zu verwirklichen, hatte sie endgültig genug.

Doch in London angekommen, wurde ihr rasch klar, dass auch hier nicht alles Gold war, was glänzte.

Schon ein paar Wochen nach ihrer Ankunft verlor sie ihren Job und musste sich, da sie bei ihren Arbeitgebern auch gewohnt hatte, eine neue Unterkunft suchen. Weil sie auf die Schnelle keine neue Anstellung fand, war sie gezwungen, sich mit Jobs in wechselnden Callcentern über Wasser zu halten. Und leider lief es privat nicht besser als beruflich. Jeder Mann, den sie kennenlernte, stellte sich bei näherem Hinsehen als Niete heraus. Sie geriet an einen verheirateten Familienvater, der ihr versicherte, dass er seine Frau verlassen würde, sobald die Kinder volljährig waren, als sie die Wahrheit über ihn herausfand. Natürlich beendete sie das Ganze, weil es für sie nicht infrage kam, eine Beziehung, intakt oder nicht, zu zerstören. So oder ähnlich ließ sich die lange Liste ihrer Misserfolge fortsetzen. Dennoch – zurückzukehren nach Mallorca, dorthin, wo sie aufgewachsen war, kam für sie nicht infrage. Denn das würde ihren Vater nur darin bestätigen, dass sie es allein zu nichts brachte.

Dann ereilte sie die Nachricht von seinem Unfall. Sein behandelnder Arzt erklärte ihr, dass Graham einen leichten Herzinfarkt erlitten hatte, der vermutlich auch der Grund war, weshalb ihr Vater das Gleichgewicht verloren hatte, als er gerade auf eine hohe Leiter geklettert war. Ironischerweise wogen die Folgen des Sturzes sehr viel schwerer als die des Infarkts. Für sein Herz bekam Graham Medikamente, doch die Rückenmarksverletzung, die er sich zugezogen hatte, bereitete große Probleme. Hinzu kam, dass er immer wieder unter starken Krampfanfällen litt, die ihm die Rückkehr in sein geregeltes Leben erschwerten.

Als Charlene die schreckliche Nachricht erhielt, gab es für sie kein Überlegen oder Zögern. Sie ließ sich von ihrem Job in England beurlauben und flog Hals über Kopf in ihre Heimat zurück, um ihrem Vater in der Stunde der Not beizustehen. Aber seitdem fühlte sie sich mehr und mehr wie Don Quijote, der gegen Windmühlen ankämpft.

Von allen Seiten drangen neue Probleme und Komplikationen auf sie ein. Da war zum einen die nur sehr schleppend voranschreitende Genesung ihres Vaters, der mit jedem Tag in der Klinik niedergeschlagener und apathischer zu werden schien. Dann stellte sich beim Durcharbeiten der Geschäftsbücher der Werft heraus, dass die Firma, wenn die Dinge sich so weiterentwickelten wie bisher, schon bald vor dem Aus stehen würde. Und zu allem Überfluss weigerte sich schließlich auch noch die Krankenversicherung, für die einzige Therapie aufzukommen, die Graham wirklich helfen konnte – und das nur, weil ein paar Bürokraten der Meinung waren, dass zunächst eine klinische Studie die Wirksamkeit des Verfahrens belegen musste.

Ihr war nicht klar gewesen, auf was sie sich mit ihrer Rückkehr nach Mallorca einließ. Aber eines stand fest: Wenn sie ihrem Vater wirklich helfen wollte, musste sie nicht nur auf der Insel bleiben, nein, sie brauchte auch die Anstellung bei seinem größten Konkurrenten. Denn nur auf diesem Wege gab es für sie überhaupt eine Chance, sowohl Graham zu helfen als auch die Werft zu retten. Aber ob Javier Santiago sie überhaupt noch einstellen würde?

„Träumen Sie?“

Charlene blinzelte irritiert. Sie hatte beinahe vergessen, wo sie war – und vor allem, in wessen Gesellschaft sie sich befand.

Ihr – hoffentlich – zukünftiger Arbeitgeber schien sie von seinem Platz am Steuer des Wagens aus zu mustern, ohne dabei die Straße aus den Augen zu lassen.

„Ich … Es tut mir leid, ich war mit meinen Gedanken woanders. Ist es noch weit?“

Javier setzte den Blinker und bog von der Küstenstraße in einen schmalen, staubigen Feldweg ein. Er fuhr langsam, damit Aurora auf dem Rücksitz nicht bei jedem Schlagloch hochgeschleudert wurde. Nach wenigen Minuten tauchte ein hübsches, weiß getünchtes Haus vor ihnen auf. Die angrenzenden niedrigen Gebäude deuteten darauf hin, dass es sich um eine kleine Finca handelte, die modernisiert worden war. Den Hof zierte eine große Steineiche, deren dichtes Blattwerk Schatten vor der gleißenden Sonne spendete. Unter dem Baum stand eine Holzbank, auf der es sich eine schwarz-weiße Katze bequem gemacht hatte. Das Tier blickte nicht einmal auf, als Javier mit dem Wagen vorfuhr.

Überhaupt entdeckte Charlene überall Tiere. An eine der ehemaligen Stallungen grenzte ein kleines, von einem Zaun umgebenes Stück Land, auf dem drei prachtvolle Pferde weideten. Mehrere Katzen streunten über den Hof, und ein dreibeiniger Hund brachte sich im Eingang des Gebäudes, das früher einmal der Lagerschuppen gewesen sein mochte, in Sicherheit und betrachtete die Neuankömmlinge mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen.

Javier parkte das Auto vor der Tür des Haupthauses, dessen Fassade teilweise von wildem Wein überwuchert war. Dann stieg er aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. „Kommen Sie, ich nehme Ihnen das ab“, sagte er und griff nach der Schachtel mit dem verletzten Vögelchen.

Erstaunt blickte Charlene zu ihm auf. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Jedenfalls nicht, dass er so vorsichtig und behutsam mit dem Tier umgehen würde. Möglich, dass er es nur seiner Tochter zuliebe tat – aber was machte das für einen Unterschied? Dass er überhaupt so sanft und einfühlsam sein konnte, überraschte sie, ganz gleich, was seine Beweggründe sein mochten.

Hastig wandte sie den Blick von ihm ab. Es erschreckte sie, wie rasch es ihm gelang, sie in seinen Bann zu ziehen. Dabei mochte sie ihn doch nicht einmal. Er trug die Schuld daran, dass es ihrem Vater so schlecht ging. Der Herzinfarkt, der Unfall – in ihren Augen alles Folgen von zu viel Stress, verursacht durch den unbarmherzigen Druck, den Javier Santiago permanent auf seinen Konkurrenten ausübte.

Dieser Mann ist kein guter Mensch, rief sie sich in Erinnerung. Vergiss das nie!

Sie stieg aus und wollte ihm die Schachtel wieder abnehmen. Dabei streifte Javiers Hand leicht ihre. Es war kaum mehr als die Berührung eines Schmetterlingsflügels. Hauchzart. So gut wie gar nicht spürbar. Und doch hatte Charlene ein Gefühl, als ob ein Beben sie durchliefe. Sie sah ihm in die Augen. Es geschah ganz von allein, ohne dass sie es wollte. Sein Blick nahm sie einfach gefangen, und sie spürte, wie ihr die Knie schwach wurden.

Seine Augen waren nicht einfach nur braun, wie sie zuerst angenommen hatte. Nein, sie waren von einem so tiefen, dunklen Grün, dass es fast schwarz wirkte, und sie bemerkte einige goldene Sprenkel darin, von denen im hellen Sonnenschein ein regelrechtes Leuchten auszugehen schien. Unwillkürlich musste Charlene an einen tiefen Wald denken. Grüngoldenes Licht, das durch das Blattwerk flimmerte, erschien vor ihrem inneren Auge, und sie spürte die Magie, die von diesem Ort ihrer Fantasie ausging. Gleichzeitig war da eine Ahnung in ihr, dass irgendwo zwischen den Bäumen Gefahr lauerte.

Gefahr für ihr Herz?

Unsinn!

Trotzdem schaffte sie es nicht, sich von Javier abzuwenden. Einen Moment lang vergaß sie alles um sich her. Die Luft zwischen ihnen schien elektrisch aufgeladen, wie kurz vor einem Gewitter. Charlenes Atem ging schneller. Dieser Mann war Javier Santiago. Der Mann, der ihren Vater zu ruinieren drohte! Wieso sehnte sie sich plötzlich danach, in seinen starken Armen zu liegen und von ihm geküsst zu werden?

„Bitte, können wir jetzt endlich los? Das Vögelchen …“

Auroras ungeduldige Worte holten Charlene abrupt wieder in die Realität zurück. Sie blinzelte heftig. Was war da bloß gerade geschehen? Vermutlich wollte sie die Antwort gar nicht wissen. Nur gut, dass die Kleine sie davon abgehalten hatte, etwas zu tun, was sie später nur bereuen konnte.

„Komm“, sagte sie und nahm das Mädchen bei der Hand. „Gehen wir.“

3. KAPITEL

Die Tierärztin, eine resolute junge Frau in Jeans und Poloshirt, kümmerte sich rührend um das verletzte kleine Vögelchen, obwohl es sich für sie um einen eher ungewöhnlichen Patienten handeln musste.

„So“, sagte sie, als sie knapp eine Stunde später wieder ins Wartezimmer trat. „Das Schlimmste wäre überstanden. Ich habe den verletzten Flügel gerichtet und geschient, den Rest wird die Zeit zeigen. Aber ich denke, unser kleiner Freund hat gute Chancen. Allerdings muss er hierbleiben, damit ich ihn mit der Flasche großziehen kann. Seine Eltern werden ihn, wie ich fürchte, nach allem, was vorgefallen ist, nicht mehr akzeptieren.“

Aurora, die nichts davon hatte abbringen können, auf Nachrichten über das Schicksal ihres Schützlings zu warten, wirkte erschrocken. „Aber … Was hat das Vögelchen denn getan? Warum lässt der liebe Gott so etwas zu?“

Instinktiv spürte Charlene, dass die Kleine nicht allein von dem verletzten Vogeljungen sprach. Das Kind hatte vor Kurzem seine Mutter verloren – und vermutlich quälte es sich mit der Frage, ob ihr Tod eine Strafe für etwas war, das es getan hatte. Da Javier Santiago die Zusammenhänge nicht so schnell zu begreifen schien, übernahm Charlene es, Aurora Trost zuzusprechen.

„Manche Dinge im Leben geschehen ganz einfach, mi corazón. Niemand trägt die Schuld daran – ganz gewiss nicht das Vogelbaby.“ Sie nahm die Hand des Mädchens und drückte sie sanft. „Und was den lieben Gott angeht: Oft fällt es uns schwer zu begreifen, warum er etwas tut oder zulässt. Aber ich glaube fest daran, dass er am Ende immer einen guten Grund für alles hat – ob wir es nun verstehen oder nicht. Also, warum freuen wir uns nicht einfach darüber, dass das Vögelchen bald wieder gesund sein wird? Wer weiß, vielleicht trifft es seine Eltern ja eines Tages wieder, und dann gibt es gewiss eine große Vogelfreudenfeier!“

Offenbar hatte sie genau die richtigen Worte gefunden, denn über das Gesicht der Kleinen ging ein Leuchten, und schließlich lächelte sie. Charlene quoll das Herz über vor lauter Zuneigung zu dem Mädchen. Wie konnte man einem solchen Lächeln widerstehen? Nein, sie konnte partout nicht nachvollziehen, wieso Javier Santiago solche Schwierigkeiten hatte, mit seiner Tochter umzugehen.

Charlene beschloss, ihn später, wenn sie allein waren, darauf anzusprechen. Und zwar ganz gleich, ob sie den Job nach dem Einstellungsgespräch nun bekam oder nicht.

Sicher war sie sich dessen nämlich keineswegs, denn das Verhalten Javier Santiagos ließ leider keine Rückschlüsse zu. Der Mann kam ihr vor wie ein wandelnder Eisklotz. Er sah gut aus, keine Frage, und die Frauen lagen ihm vermutlich zu Füßen. Doch nach allem, was sie bisher über ihn wusste, schien er charakterlich ein echter Schuft zu sein. Wäre der Job bei ihm nicht die einzige Möglichkeit für sie, die Probleme ihres Vaters auf einen Schlag zu lösen …

Den Rückweg zu Santiagos Villa legten sie größtenteils schweigend zurück. Selbst Aurora verhielt sich still, was Charlene für eine Sechsjährige eher ungewöhnlich fand. Aber wer konnte es ihr bei so einem Vater schon verdenken? Er schien die meiste Zeit über vollkommen zu vergessen, dass seine Tochter überhaupt anwesend war!

Unwillkürlich musste sie an ihren eigenen Vater denken. Und an ihre Kindheit.

Graham Beckett hatte sich, nachdem seine Frau gegangen war, vollkommen von der Welt zurückgezogen. Er lebte nur noch für seine Arbeit. Dass auch seine Tochter seelischen Beistand benötigte, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Und so hatte Charlene still gelitten, ohne einen Menschen, an den sie sich wenden konnte.

Es machte sie traurig, dass Aurora offenbar dasselbe Schicksal erleiden musste. Und sie schwor sich, dass sie stets ein offenes Ohr für die Kleine haben würde – falls sie eingestellt würde.

Als sie schließlich vor Javier Santiagos Haus vorfuhren, wurden sie bereits erwartet. Es war Auroras leises Seufzen, das Charlene auf die attraktive junge Frau aufmerksam machte, die mit verschränkten Armen in der Auffahrt stand und den sich nähernden Wagen finster musterte.

„Darf ich fragen, wo du gesteckt hast?“, wandte sie sich, ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten, an Javier, sobald dieser ausstieg. „Du hast mich für drei Uhr zu dir bestellt, damit wir die Verträge für den Goméz-Auftrag noch einmal zusammen durchgehen. Jetzt ist es gleich vier! Und was ist das überhaupt für ein Aufzug?“

Der Ton der Unbekannten war alles andere als freundlich. Zudem schien sie außer Javier niemanden wahrzunehmen. Als ob Aurora und ich gar nicht da wären, dachte Charlene irritiert. Wir könnten uns ebenso gut in Luft auflösen …

Unwillkürlich fragte sie sich, wer die Frau sein mochte. Eine gewöhnliche Sekretärin sicher nicht, denn eine Angestellte würde ihren Chef niemals so maßregeln – schon gar nicht vor einer dritten Person. Charlene hatte aber auch nicht den Eindruck, dass zwischen Javier und der Unbekannten ein besonders enges emotionales Verhältnis bestand. Seine Schwester oder gar seine Freundin war sie demnach ebenfalls nicht. Aber was dann?

Sofern Javier sich am Verhalten der jungen Frau störte, ließ er es sich nicht anmerken. Er schenkte ihr ein süffisantes Lächeln. „Ja, vielen Dank, ich hatte einen sehr angenehmen Nachmittag, Dolores. Zumindest, wenn man voraussetzt, dass ich meine Zeit gerne im Wartezimmer einer Provinztierärztin vertue.“ Der liebenswürdige Klang seiner Stimme passte nicht ganz zu seinem eisigen Blick. „Und wie ist es dir ergangen?“

Die junge Frau – Dolores – begriff offenbar, dass sie zu weit gegangen war, und versuchte, von sich abzulenken. „Und wer sind Sie?“, fragte sie Charlene und fixierte sie kühl.

„Darf ich vorstellen?“, antwortete Javier an Charlenes Stelle. „Das ist Charlene Beckett. Sie kommt von der Agentur, um sich als neues Kindermädchen für Aurora vorzustellen.“

„Dann ist das also dein neues Outfit für Bewerbungsgespräche?“, konnte Dolores sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen, während sie Javier kopfschüttelnd musterte. Doch sein Stirnrunzeln brachte sie rasch wieder zur Räson.

„Treib es nicht zu weit, Dolores“, warnte er sie. „Du weißt, dass ich mich dir um Carlos’ willen verpflichtet fühle – aber halt dich in Gottes Namen ein wenig zurück, haben wir uns verstanden?“ Als Dolores mit gesenktem Blick nickte, wandte er sich Charlene zu. „Und nun zu Ihnen … Was soll ich mit Ihnen anfangen?“

Charlene spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte und gleich darauf anfing, gegen ihre Rippen zu trommeln. Sie hatte die ganze Zeit nicht mehr daran gedacht, warum sie eigentlich hier war. Nun holte die Realität sie ein – und zwar mit der Wucht eines Vorschlaghammers.

„Ich … Wir haben uns noch gar nicht unterhalten. Wollen wir nicht …?“

Er winkte ab. „Das wird nicht nötig sein, Señorita Beckett. Was ich gesehen habe, reicht mir eigentlich schon. Ich glaube nicht, dass wir zusammenkommen werden. Es tut mir leid, ich …“

„Papá, no!“

Auroras empörter Aufschrei kam für alle so überraschend, dass sich unwillkürlich alle Blicke auf sie richteten.

„Was hast du, mi corazón?“, fragte Javier irritiert.

„Ich will nicht, dass die Señorita geht!“, flüsterte das Kind mit gesenktem Blick. „Bitte, Papá, kann sie nicht bleiben?“

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Es war Dolores, die die Stille durchbrach. „Willst du dir wirklich von einer Sechsjährigen sagen lassen, wen du einstellst und wen nicht? Ich bitte dich, Javier!“

Er bedachte sie mit einem kühlen Blick. „Und auf wen sollte ich dann hören? Auf dich vielleicht?“

Säuerlich verzog Dolores das Gesicht und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

Javier ging neben seiner Tochter in die Hocke. „Du möchtest also, dass die Señorita dein neues Kindermädchen wird?“ Als Aurora eifrig nickte, lächelte er. „Herzlichen Glückwunsch.“ Er blickte über die Schulter zu Charlene hoch. „Sie haben soeben den Zuschlag für die Stelle erhalten. Wann können Sie anfangen?“

„Findest du wirklich, dass es eine gute Idee war, diese Frau einzustellen?“ Dolores sah Javier kopfschüttelnd an.

Verständnislos erwiderte Javier ihren Blick. Seit Stunden saß er nun in seinem Arbeitszimmer und brütete über komplizierten Geschäftsunterlagen. „Sonst hätte ich es nicht getan, oder?“, erwiderte er. „Zu deiner Information: Die Arbeitsagentur hat mir Charlene Beckett nicht nur empfohlen, sondern mir wärmstens ans Herz gelegt. Ihre Referenzen sind ausgezeichnet, und das Wichtigste ist, dass sie mit Kindern umgehen kann. Und vor allem scheint sie das erste Kindermädchen zu sein, mit dem Aurora auskommen könnte.“

„Trotzdem war ich überrascht zu sehen, wie du dich von dieser Engländerin hast einwickeln lassen. So kenne ich dich gar nicht.“

„Ich habe mich nicht einwickeln lassen!“, protestierte Javier aufgebracht, obwohl ihm selbst klar war, dass dies keineswegs der Wahrheit entsprach. Im Grunde hatte Dolores durchaus recht. Er wunderte sich selbst immer noch darüber, welch starke Wirkung Charlene auf ihn ausübte. Ein Blick aus diesen erstaunlichen veilchenfarbenen Augen, und er verspürte das drängende Verlangen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Das war auch der Grund, warum er sie erst gar nicht hatte einstellen wollen. Er konnte keine Frau in seiner Nähe brauchen, die sein Leben noch komplizierter machte, als es bereits war – erst recht nicht, wenn diese Frau zusammen mit Aurora und ihm unter einem Dach leben würde. „Aber ich brauche dir sicher nicht zu sagen, welche Probleme ich seit Catalinas Tod mit meiner Tochter habe. Kein Kindermädchen hat es seither geschafft, Auroras Vertrauen zu gewinnen, und Charlene … Señorita Beckett ist wirklich meine letzte Hoffnung. Sollte auch das nicht funktionieren“, er machte eine resignierte Handbewegung und lehnte sich in seinem Bürosessel zurück, „wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als Aurora nach den Sommerferien auf ein Internat zu schicken.“

„Was, wie ich anmerken möchte, gar nicht mal so verkehrt wäre. Ein Internat hat enorme Vorteile. Dort lernt man viele Dinge, die fürs Leben wichtig sind, wie Selbstständigkeit und Durchsetzungsvermögen. Ich muss es schließlich wissen, immerhin habe ich selbst die Vorzüge einer solchen Einrichtung genießen dürfen.“

Javier runzelte die Stirn. Er für seinen Teil war kein großer Freund von Internaten, und er befürchtete, dass es Aurora schwerfallen würde, sich in einer fremden Umgebung einzugewöhnen. Doch was sollte er tun? Er hatte eine Firma zu leiten. Es war schlichtweg unmöglich, dass er sich den ganzen Tag persönlich um seine Tochter kümmerte.

„Wie dem auch sei“, erwiderte er ausweichend. „Ich habe das Gefühl, dass Aurora Vertrauen zu Señorita Beckett gefasst hat, und wie es weitergeht, wird die Zeit zeigen. Jedenfalls bleibt es dabei, dass Señorita Beckett morgen bei uns anfangen wird. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe noch zu tun. Du kannst selbstverständlich Feierabend machen, schließlich ist es schon spät.“

„Ich werde im Gästezimmer übernachten, wenn du nichts dagegen hast“, entgegnete Dolores, während sie ihre Unterlagen zusammenpackte. „Dann können wir morgen in aller Frühe mit der Arbeit fortfahren.“

„Das ist schon das dritte Mal in dieser Woche, dass du nicht nach Hause fährst. Was sagt Felipe eigentlich dazu?“

„Nichts“, entgegnete Dolores scheinbar ungerührt. „Er hat auch nichts dazu zu sagen, Javier. Wir … Wir haben uns getrennt.“

Autor

Penny Roberts
Penny Roberts verspürte schon als junges Mädchen die Liebe zum Schreiben. Ihre Mutter sah es gar nicht gern, dass sie statt Schule und Hausaufgaben ständig nur ihre Bücher im Kopf hatte. Aber Penny war sich immer sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, und ihr Erfolg als Autorin gibt ihr...
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