Magischer Zauber des Mittelmeers

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Nur ungern lässt sich Beth von ihrem Chef zu einer Reise in ihre Heimat drängen, um dem Reeder Luís Santiago ein Grundstück abzukaufen. Denn sie verbindet schlechte Erinnerungen mit Mallorca. Bis sie Luís näherkommt und spürt, dass er ihr sehr viel bedeutet …


  • Erscheinungstag 30.03.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776992
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Der Himmel über Mallorca war von einem so intensiven Blau, wie man es sonst nur von Ansichtskarten kennt. Heiß brannte die Sonne über dem Mittelmeer, dessen glasklares Wasser wie Saphire und Diamanten glitzerte. Ein leichter Wind, der vom Gebirgsmassiv der Tramuntana her wehte, milderte die sengende Glut des Tages ein wenig.

Das war Maria Velásquez nur recht. Die Spanierin befand sich mit ihren neunundfünfzig Jahren in einem Alter, in dem die Hitze eher eine Belastung denn eine Wohltat darstellt. Sie saß unter einem Sonnenschirm auf der Terrasse ihrer Villa, vor sich auf dem Tisch ein Glas Weinschorle, und ließ den Blick über das herrliche Panorama schweifen. Als das Hausmädchen ihr das Telefon brachte, bedankte sie sich knapp und wählte eine Nummer, die ihr ein guter alter Bekannter besorgt hatte.

Es klingelte einige Male, ehe am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde. „Ja?“, meldete sich eine leicht gereizt klingende Männerstimme auf Englisch.

Angesichts dieser reichlich formlosen Begrüßung runzelte Maria die Stirn und überprüfte rasch noch einmal die Nummer, die auf dem Display stand. Doch die war korrekt.

Maria räusperte sich. „Entschuldigung“, sagte sie, ebenfalls auf Englisch – eine Sprache, die sie als international tätige Geschäftsfrau so gut beherrschte wie ihre Muttersprache. „Bin ich verbunden mit der Firma Beckham Real Estate?“

„Allerdings“, entgegnete die Männerstimme. „Sie sprechen mit dem Inhaber, Lyle Beckham. Was kann ich für Sie tun?“

„Die Frage lautet viel eher, was ich für Sie tun kann, Mr Beckham.“ Ein Lächeln stahl sich auf Marias Lippen. „Ich weiß, dass Ihre Immobilienagentur … nun, sagen wir einmal, ein lukrativer Auftrag käme Ihnen augenblicklich mehr als recht, liege ich damit richtig?“ Das Räuspern am anderen Ende der Leitung war ihr Antwort genug, daher sprach sie direkt weiter. „Und genau mit einem solchen Auftrag könnte ich Ihnen dienen.“

Lyle Beckham schwieg kurz. „Und wie sähe dieser Auftrag genau aus?“

„Ich interessiere mich für ein recht begehrtes Grundstück. Ich sage es Ihnen gleich vorweg: Der Besitzer ist derzeit nicht an einem Verkauf interessiert. Sie werden also nicht nur Ihre Mitbewerber ausbooten, sondern vor allem erst einmal dafür sorgen müssen, dass Señor Santiago einen Verkauf überhaupt in Betracht zieht.“

„Das sind Probleme, mit denen meine Mitarbeiter und ich es nicht zum ersten Mal zu tun haben. Dürfte ich denn erfahren, wo sich das Anwesen, dem Ihr Interesse gilt, befindet?“

„Auf Mallorca. Genauer gesagt unweit des kleinen Orts Estellencs.“

„Mallorca?“ Die Überraschung war Lyle Beckham anzuhören. „Nun, Señora, wie Sie sicher wissen, befindet sich meine Agentur in London, und …“

Der Betrag, den Maria Velásquez an dieser Stelle nannte, brachte den Makler augenblicklich zum Schweigen.

„Meinen Sie damit …“, fragte er vorsichtig nach.

„Ganz recht. Diese Summe biete ich Ihnen, sollte es Ihnen gelingen, das Anwesen für mich zu beschaffen. Sind Sie interessiert?“

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Selbstverständlich.“

„Dachte ich es mir doch.“ Maria nickte zufrieden. „Aber es gibt zwei Bedingungen.“

Sofort war Misstrauen in Beckhams Stimme zu hören. „Welche?“

„Ich möchte, dass Sie eine ganz bestimmte Mitarbeiterin nach Mallorca schicken, um die Verhandlungen zu führen. Ihr Name ist Bethany Coldwell.“

„Beth?“ Beckham schien mehr als irritiert. „Ich meine … Miss Coldwell?“ Er zögerte. „Hören Sie, ich bin mir nicht sicher, ob sie die Richtige für diese Angelegenheit ist. Ich habe einen Angestellten, der weitaus geeigneter wäre und …“

„Entweder Miss Coldwell – oder gar niemand!“ Marias Stimme gewann an Schärfe. Sie wusste, ein anderer Mitarbeiter von Beckham würde ihr nichts nützen. Es musste Bethany Coldwell sein, da nur sie es schaffen konnte, Marias Neffen davon zu überzeugen, seine halsstarrige Haltung noch einmal zu überdenken. „Das ist die erste Bedingung. Außerdem dürfen weder Miss Coldwell noch Señor Santiago erfahren, dass ich die Auftraggeberin bin. Zu keinem Zeitpunkt!“

„Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …“

„Das ist auch nicht nötig“, entgegnete Maria ungerührt. „Ich erwarte lediglich von Ihnen, dass Sie sich an meine Bedingungen halten. Meine Gründe haben Sie nicht zu interessieren.“

Sie konnte förmlich vor sich sehen, wie es hinter der Stirn des Immobilienmaklers arbeitete. Gleichzeitig wusste sie natürlich, dass ihm gar keine andere Wahl blieb, als auf ihre Forderungen einzugehen, wenn er seine Firma retten wollte.

Und entsprechend fiel auch seine Antwort schließlich aus. „Also schön, Señora, ich bin einverstanden.“

Maria nickte stumm. Sie hatte nichts anderes von dem Mann am anderen Ende der Leitung erwartet. „Dann richten Sie Miss Coldwell bitte aus, dass sie sich schnellstmöglich an die Arbeit machen soll. Ich erwarte in den kommenden Wochen Resultate, Mr Beckham. Ich hoffe, darüber sind Sie sich im Klaren.“

„Selbstverständlich“, beeilte Beckham sich zu versichern. „Wir werden Sie nicht enttäuschen.“

Maria Velásquez beendete das Gespräch, doch sie legte den Telefonhörer noch nicht zur Seite. Stattdessen wählte sie eine weitere Nummer.

Bereits nach dem ersten Tuten meldete sich eine weiche Frauenstimme.

„Gabriella“, richtete Maria das Wort an ihre Schwester. „Hör zu, ich rufe nur an, um dir zu sagen, dass wir soeben in Phase zwei unseres kleinen Plans eingetreten sind. Dieses Mal ist dein Mittlerer an der Reihe …“ Sie machte eine kurze Pause, ehe sie weitersprach: „Ich hoffe nur, Luís erweist sich am Ende als ebenso einsichtig wie sein Bruder Javier …“

1. KAPITEL

Estellencs! Gott, wie sehr hatte sie gehofft, niemals hierher zurückkehren zu müssen. Zu dem Ort, in dem sie aufgewachsen war. Und doch war sie jetzt wieder hier, und der Anblick, der sich ihr von dem kleinen Hügel am Rande des Dorfes an der Nordwestküste Mallorcas bot und wohl für die meisten Menschen schöner kaum hätte sein können, versetzte ihr einen Stich ins Herz.

Von hier aus konnte man die ganze Bucht überblicken, in deren kristallklarem Wasser sich der blaue Himmel spiegelte. Die Ortschaft selbst, die sich in die steilen Hänge der Serra de Tramuntana schmiegte, war von terrassenförmig angelegten Feldern und Gärten umgeben.

Bethany Coldwell, von allen Beth genannt, fuhr sich mit den Fingern durch ihr schulterlanges, flammend rotes Haar. Schön war es hier, sicher. Wunderbare Natur und Estellencs selbst herrlich romantisch für Touristen, dank der schmalen, verwinkelten Gassen und der aus Naturstein errichteten Häuser. Aber gleichzeitig auch ein Käfig, zumindest für sie, und vor allem voller Erinnerungen, die sie am liebsten unwiderruflich aus ihrem Gedächtnis gelöscht hätte.

Sie blickte zu ihrer zehn Jahre jüngeren Schwester, die neben ihr stand und den Ausblick sichtlich genoss, verträumt und mit einem Lächeln auf den Lippen. Und was war das da in ihren Augen? Schimmerten dort etwa Tränen? Ja, kein Zweifel, Lindy weinte. Und Beth hätte auch am liebsten geweint. Allerdings keineswegs vor Glück, so wie ihre Schwester.

Einen Moment lang sah sie Lindy schweigend an. Mit ihrem mahagonifarbenen Haar und dem dunklen Teint wirkte sie beinahe wie eine echte Spanierin. Nur ihre strahlend blauen Augen – eindeutig ein Erbe ihres Vaters – zeugten davon, dass sie eigentlich nicht aus diesem Land stammte, in dem sie vor siebzehn Jahren das Licht der Welt erblickt hatte und seitdem lebte.

Lindy war sehr hübsch – Beths Meinung nach hübscher als sie selbst. Das hatte sie schon gedacht, als sie als Zehnjährige ihre kleine Schwester zum ersten Mal im Arm halten durfte, und daran änderte auch die starke Brille nichts, ohne die Lindy heute kaum noch etwas erkennen konnte. Sie so mitgenommen und hilfsbedürftig zu sehen, zerriss Beth schier das Herz. Und schuld daran war nur dieser verdammte Unfall vor anderthalb Jahren …

Genau genommen war es gar kein Unfall gewesen, sondern himmelschreiender Leichtsinn. Eine Mutprobe! Ihre damaligen Freunde hatten Lindy herausgefordert, und sie war zu stolz gewesen, um auf die Stimme ihrer Vernunft zu hören. Seit jenem verhängnisvollen Tag war sie nicht mehr dieselbe. Und damit meinte Beth nicht die körperlichen Beeinträchtigungen wie das leichte Humpeln und die Tatsache, dass Lindys rechte Hand nicht mehr voll funktionierte. Nein, die Veränderung ging sehr viel tiefer.

Sanft legte sie ihrer Schwester die Hand auf die Schulter. „Ich denke, wir sollten wieder zum Wagen gehen. Mum wartet schon.“

Doch Lindy schüttelte den Kopf.

„Also gut.“ Seufzend nickte Beth. „Ich gehe schon mal runter. Aber in zehn Minuten komme ich dich holen.“

Lindy nickte stumm, und Beth stieg den Hügel hinunter, an dessen Fuß der Mietwagen stand, den sie direkt nach ihrer Ankunft in Palma besorgt hatte. Ihre Mutter, die zusammen mit Lindy in der Hauptstadt Mallorcas lebte, besaß kein eigenes Auto. Dazu fehlten die finanziellen Mittel, und noch mehr, als sie es ohnehin schon jeden Monat tat, konnte Beth ihr beim besten Willen nicht überweisen.

Sie erreichte den Wagen und blieb stehen. Einen Moment lang beobachtete sie ihre Mutter. Helen Coldwell saß auf dem Beifahrersitz, die Tür geöffnet. Sie hatte es vorgezogen, im Wagen zu bleiben und blickte geistesabwesend nach vorn. Auch auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Beth wusste, dass ihre Mum glücklich war – glücklich, noch einmal hierherzukommen. Vor allem wohl, weil sie glaubte, dass es gut für Lindy war.

Die ganze Familie vereint. Zumindest das, was von dieser Familie noch übrig ist …

Beth unterdrückte einen Anflug von Trauer und konzentrierte ihre Gedanken stattdessen auf ihren Chef, Lyle Beckham. Prompt kochte Wut in ihr hoch. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Und das Schlimmste war nicht einmal, dass er hartnäckig darauf bestanden hatte, ausgerechnet sie nach Estellencs zu schicken, um diesen Auftrag zu erledigen. Obwohl auch das schon alles andere als feinfühlig war, zumal er wusste, dass sie sich geschworen hatte, nie wieder hierher zurückzukehren. Immerhin gehörte er zu den wenigen Menschen, denen sie sich anvertraut hatte.

Und zwar zu einer Zeit, als er für mich mehr war als nur mein Boss …

Nein, das wirklich Schlimme waren die Mittel, zu denen er gegriffen hatte, um sie zu zwingen, hierherzukommen. Sie grenzten an Erpressung und führten ihr nur einmal mehr ihre schlechte Menschenkenntnis vor Augen. Wie hatte sie sich nur je auf diesen Mann einlassen können? Beruflich wie privat?

„Ist sie glücklich?“ Die Stimme ihrer Mutter riss Beth aus ihren Gedanken. Beth räusperte sich. „Lindy?“ Sie nickte. „Ja, ich glaube, sie ist sehr glücklich, wieder hier zu sein.“

„Sie hat Estellencs nie vergessen können.“

Beth nickte. Sie selbst hatte Estellencs auch nie vergessen können. Und das, obwohl sie es sich, im Gegensatz zu ihrer Schwester, sehnlich wünschte. „Warum seid ihr nicht einfach mal hergefahren?“, fragte sie ihre Mutter. „Palma ist doch keine Stunde entfernt.“

„Ach, ich habe doch kein Auto, und …“ Helen zuckte mit den Schultern. „All die Erinnerungen an die Vergangenheit, an deinen Vater … Allein oder nur mit deiner Schwester wäre ich nicht in der Lage gewesen, mich ihnen zu stellen.“ Ihr Blick hellte sich auf. „Aber als dein Chef vor ein paar Tagen anrief und den Vorschlag machte, dass wir dich auf deiner Geschäftsreise begleiten … da wusste ich sofort, das ist genau das Richtige für Lindy! Die ganze Familie wieder vereint in Estellencs …“

Beth schluckte. Die ganze Familie … das war wohl kaum möglich. Ihr Vater fehlte, und er würde niemals wieder dabei sein.

„Du weißt, dass ich nie mehr hierher zurückkommen wollte“, sagte sie bedrückt.

Ihre Mutter nickte. „Ich verstehe es bis heute nicht. Was findest du bloß an London?“

„Ach, darum geht es doch gar nicht. Einfacher ist das Leben dort auch nicht.“ Das stimmte in der Tat. Als Beth vor neun Jahren, nach dem schrecklichen Ereignis, das ihr Leben für immer verändert hatte, aus Mallorca weggegangen war, hatte sie noch geglaubt, in London ihr Glück finden zu können. Und anfangs ging ja auch alles gut, rief sie sich in Erinnerung. Doch dann wendete sich das Blatt, und von da an lief alles schief, was nur schieflaufen konnte. Der Höhepunkt ihrer Pechsträhne war allerdings erst dann eingeläutet, als sie Lyle Beckham kennenlernte …

„Es geht auch gar nicht um Mallorca“, fuhr sie mit ihrer Erklärung fort. „Immerhin war ich seit der Sache mit Lindy mehr als ein Mal bei euch in Palma. Leicht fiel mir das nicht, das kannst du mir glauben. Aber jemals wieder nach Estellencs zu kommen außer zu …“ Sie stieß ein gequältes Seufzen aus. Seit ihrem Weggang war sie noch ein einziges Mal in den Ort ihrer Kindheit und Jugend zurückgekehrt. Vor sieben Jahren, zur Beerdigung ihres Vaters. Danach hatte sie zwar ihre Mutter und ihre Schwester mehrfach besucht, doch das war bereits nach deren Umzug nach Palma gewesen. „Kannst du dir denn nicht vorstellen, wie schwer das für mich ist, nach allem, was war?“

„Du bist nicht die Einzige, die mit der Vergangenheit klarkommen muss, Kind! Und irgendwann muss man schließlich wieder nach vorn blicken, findest du nicht?“

„Aber genau das habe ich doch getan, indem ich fortgegangen bin!“, entgegnete Beth gereizt. Sie mochte Weisheiten dieser Art nicht, schon gar nicht, wenn sie aus dem Mund ihrer Mutter kamen. „Ich habe mir eine Zukunft aufgebaut, und das ist es doch wohl, worum es im Leben geht, oder nicht?“

„Aber Estellencs ist deine Heimat, Kind. Dein Vater und ich haben viel dafür getan, dir und deiner Schwester ein Zuhause zu schaffen und …“

„… und ihr seid gescheitert!“, platzte Beth heraus. Die Worte waren noch nicht ganz verklungen, da bedauerte sie schon, sie ausgesprochen zu haben. „Und immerhin seid ihr nach Dads Tod ja auch aus Estellencs fortgegangen“, fügte sie leise hinzu.

„Ich wäre viel lieber mit Lindy hiergeblieben, wenn …“ Helen brauchte nicht weiterzusprechen. Beth wusste auch so, was sie meinte. Oder besser gesagt, wen. Diego. Nach Clives Tod war niemand mehr da gewesen, um die beiden Frauen vor den Anfeindungen der González-Familie zu beschützen. Diego … Wieder drängten die Erinnerungen mit aller Macht an die Oberfläche, doch Beth kämpfte dagegen an. Sie wollte sie nicht zulassen, nicht jetzt. „Jedenfalls freue ich mich sehr, wieder hier zu sein“, fuhr ihre Mutter fort. „Und Lindy erst … Ihr Arzt ist übrigens auch der Ansicht, dass der Aufenthalt hier ihr guttut.“

„Trotzdem werde ich sie wohl jetzt besser holen, damit wir aufbrechen können.“ Beth wandte sich zum Gehen und machte sich ein zweites Mal daran, den Hügel zu erklimmen.

Wenige Minuten später saßen die drei Frauen wieder im Wagen, und Beth fuhr los. Es waren nur noch wenige Kilometer nach Estellencs, doch ein Gefühl des Nachhausekommens stellte sich bei ihr nicht ein.

Das Haus, vor dem Beth den Mietwagen parkte, schien einem Bilderbuch zu entstammen: Es lag ein wenig abseits, direkt an der Steilküste. Über einen schmalen Pfad mit vielen Stufen gelangte man zu einem kleinen Kiesstrand hinunter. Das Gebäude selbst war – im Gegensatz zu den meisten anderen in der Region – aus Holz und hatte eine große Veranda.

„Oh, wie schön, wir sind da!“, rief Lindy begeistert. Helen stieg aus, und das Mädchen folgte ihr, so schnell sein Handicap es erlaubte. Nur Beth blieb noch im Auto sitzen und starrte gedankenverloren ins Leere. Erstaunlich stellte sie verwundert fest. Wie viele Erinnerungen allein der Anblick des Hauses heraufbeschwört.

Die meisten angenehmen Eindrücke von damals waren untrennbar mit diesem Haus und Onkel Timothy verbunden, der mehr Zeit bei ihnen verbracht hatte als in seinen eigenen vier Wänden. Natürlich war er nicht ihr echter Onkel. Doch als einzige Engländer unter lauter Mallorquinern waren er und Beths Familie ganz von selbst miteinander in Kontakt gekommen.

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie an die Abende dachte, die sie gemeinsam draußen auf der Terrasse verbracht hatten.

In mancherlei Hinsicht gehörten diese kostbaren Momente zu ihren letzten glücklichen Erinnerungen. Denn schon kurze Zeit später war ihr unbeschwertes Leben in sich zusammengestürzt wie ein Kartenhaus. Und nicht zum ersten Mal fragte Beth sich, ob dasselbe nicht auch für ihre Eltern galt.

Sie waren noch vor Beths Geburt nach Mallorca gegangen, weil sie sich hier eine bessere Zukunft erhofften. Clive Coldwell fand eine Anstellung als Bootsbauer – harte Arbeit, die nicht besonders gut bezahlt wurde, doch er und seine Frau waren glücklich. Und dann kam Beth und später Lindy zur Welt, und alles schien perfekt. Erst als Clive von einem Tag auf den anderen seine Stellung verlor, bekam die Idylle Risse.

Helen hielt die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser, aber ihr Mann tat sich schwer damit, nicht mehr für Frau und Kinder sorgen zu können. Er fing an, seinen Frust im Alkohol zu ertränken.

Beth atmete tief durch, um die Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln.

Sie stieg aus und hob die Reisetaschen aus dem Kofferraum. Mit den Taschen bepackt stieg Beth die Verandastufen hinauf, als Timothy Garland heraustrat.

Ein Lächeln erhellte sein sonnengebräuntes, von Falten durchzogenes Gesicht, und seine hellblauen Augen blitzten vor Freude. Er musste inzwischen die sechzig überschritten haben, wirkte aber immer noch überraschend jung. „Beth, Liebes!“, begrüßte er sie freundlich. „Es ist so schön, dich endlich wiederzusehen!“

Beth stellte ihr Gepäck ab, und sie umarmten sich. Obwohl der Kontakt abgerissen war, nachdem sie Mallorca verlassen hatte, fühlte es sich absolut richtig und vertraut an, Timothy zu umarmen. „Ich freue mich auch, Onkel Tim“, sagte sie und stellte überrascht fest, dass ihre Stimme erstickt klang. „Es ist so lange her …“

Timothy löste sich von ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Dann lass uns zusehen, dass nicht so viel Zeit verstreicht, bis zum nächsten Wiedersehen, einverstanden?“

Beth nickte gerührt. Sie gestattete Timothy, ihr eine der Taschen abzunehmen, und folgte ihm ins dämmrige Innere. Nach der brütenden Hitze im Wagen erschien ihr die Luft im Eingangsflur angenehm kühl.

Timothy hatte Helen Coldwell das Haus abgekauft, als sie kurz nach Clives Tod mit Lindy nach Palma gezogen war – zu einem mehr als anständigen Preis, wenn man bedachte, dass die Einheimischen mit der eher englischen Architektur des Gebäudes nicht viel anfangen konnten und Estellencs zu weit abseits der üblichen Touristenpfade lag, um als Sommerresidenz viel hermachen zu können. Doch von dem Geld war längst nichts mehr übrig …

„Komm mit“, sagte er. „Ich habe Kaffee aufgesetzt. Er sollte inzwischen fertig sein.“

Als sie die Küche betraten, in der Beth so viele Abende über ihren Hausaufgaben gebrütet und so manchen Streit mit ihren Eltern ausgefochten hatte, waren Lindy und Helen gerade dabei, den Tisch zu decken. Im Grunde sah alles immer noch so aus wie damals. Die Einrichtung war so gut wie unverändert, nur die Gegenstände in den Regalen waren andere.

„Und was genau bringt dich her, Beth?“, fragte Timothy, während er den Kaffee eingoss. Neugierig musterte er sie aus seinen hellen Augen. „Helen meinte, du hast einen Auftrag in Estellencs zu erledigen?“

Beth nickte. „Ja, das stimmt. Ich arbeite in einer Immobilienagentur, und mein Boss hat mich hergeschickt, weil ich ein Grundstück hier in der Nähe für einen Kunden beschaffen soll.“ Wut keimte in ihr auf, als sie daran zurückdachte, wie Lyle ihr mitgeteilt hatte, dass er sie nach Estellencs schicken wollte.

Er hatte sie vor vollendete Tatsachen gestellt mit seiner Eröffnung, er habe mit ihrer Mutter gesprochen, die ganz entzückt sei von der Vorstellung, dass Beth im Rahmen einer Geschäftsreise mit ihnen zusammen nach Estellencs fahren wolle. Helen habe daraufhin sofort Kontakt mit Timothy aufgenommen, der sie einlud, für die Dauer ihres Aufenthalts bei ihm zu wohnen. Und auf Beths Protest hin hatte Lyle ihr einmal mehr vor Augen geführt, wie abhängig sie von ihm war.

Es stimmte, sie konnte nicht das Geringste tun. Sie war auf den Job angewiesen. Auf die Schnelle würde sie nichts Neues finden – nicht mit ihrer Vorgeschichte. Denn Lyle war nicht der erste Chef, der ihr übel mitspielte.

Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung hatte sie eine Stelle in einer Werbeagentur bekommen. Die Arbeit bereitete ihr viel Freude, doch die Avancen, die Horace, ihr verheirateter Chef, ihr machte, waren weniger angenehm. Als sie Horace drohte, dass sie ihn wegen Belästigung anzeigen würde, wenn er ihr noch einmal zu nahe trat, drehte er den Spieß einfach um und machte sie in der gesamten Branche unmöglich. Am Ende galt sie als die Frau, die versucht hatte, die Ehe ihres Chefs zu zerstören, nachdem sie von ihm zurückgewiesen worden war.

Eine himmelschreiende Lüge – aber die Leute glaubten Horace. Beth konnte von Glück reden, dass Lyle ihr noch eine Chance gab. Doch leider wusste er das auch ganz genau.

„Und wer ist dieser Kunde?“, unterbrach Timothy ihre Gedanken.

„Sein Name ist Luís Santiago – kennst du ihn?“

„Vom Sehen.“ Timothy nickte. „Du kennst ihn übrigens auch. Allerdings liegt eure letzte Begegnung schon viele Jahre zurück. Damals warst du noch ein Kind. Die Santiagos verbrachten zu der Zeit oft ihre Ferien in Estellencs. Du hast häufig mit Luís und seinen Geschwistern am Strand gespielt. Doch nach der Geschichte mit dem Mädchen kamen sie nicht mehr her.“

Autor

Penny Roberts
Penny Roberts verspürte schon als junges Mädchen die Liebe zum Schreiben. Ihre Mutter sah es gar nicht gern, dass sie statt Schule und Hausaufgaben ständig nur ihre Bücher im Kopf hatte. Aber Penny war sich immer sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, und ihr Erfolg als Autorin gibt ihr...
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