PROLOG
Zehn Jahre zuvor
„Nein! Nein! Bitte nicht! Bitte nicht!! Bi…“
Die verzweifelten Schreie nahmen ein jähes Ende. Schwer atmend richtete er sich auf und warf einen Blick auf sein Werk. Die junge Frau rührte sich nicht mehr, ihr Blick war starr zum Himmel gerichtet, so als hätte sie mit letzter Kraft noch ein Stoßgebet an ihren Gott geschickt, aber der hatte entweder nicht hingehört oder es nicht für nötig gehalten, ihr das Leben zu retten.
„Gut“, flüsterte er heiser. „Das wäre damit erledigt.“
Langsam erhob er sich und betrachtete das blutige Messer in seiner Hand. Dann nickte er zufrieden und wandte sich ab. Das Werk war vollbracht, er konnte nach Hause gehen.
Ein leichter Wind trug den Duft der zahllosen exotischen Blumen und Pflanzen zu ihm, der ihm in die Nase stieg und in seiner unglaublichen Reichhaltigkeit eine fast berauschende Wirkung auf ihn hatte.
Er lächelte und ging.
1. KAPITEL
Schülerin Sheila Rayne (15) ermordet!
Grausamer Vorfall in Folsom Gardens
Michelle Jenkins starrte auf die Überschrift des Zeitungsausschnitts, den ihre Mutter Anett seinerzeit ausgeschnitten und wie alle folgenden in einer Mappe gesammelt hatte. Fast genau zehn Jahre waren seit dem Tag vergangen, an dem die Polizei die Leiche der jungen Frau hier in Folsom Gardens entdeckt hatte. Ihre Mutter hatte sich immer gewünscht, den historischen Garten etwas mehr ins Interesse der Öffentlichkeit zu rücken, aber diese Art von Publicity war nicht das gewesen, was ihr dabei vorgeschwebt hatte.
Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie die Leute aus ganz England und sogar vom Kontinent hierher nach Cornwall gekommen waren, um Folsom Gardens zu besuchen – aber nicht, um sich an der Schönheit des Gartens mit seiner unglaublichen Vielfalt an Pflanzen zu erfreuen, sondern um jene Stelle aufzusuchen, an der man die Tote entdeckt hatte. Zeitweise war es notwendig geworden, die Polizei zu rufen, damit der Garten geräumt wurde, weil sich ganze Heerscharen von Schaulustigen rund um den Tatort drängten und dabei rücksichtslos alles Grün niedertrampelten, das ihnen im Weg war. Schließlich war ihrer Mutter nichts anderes übrig geblieben, als die Öffnungszeiten des Gartens drastisch einzuschränken und immer nur maximal zwanzig Leuten den Zutritt zu gewähren, die den Garten erst komplett verlassen haben mussten, ehe die nächsten zwanzig Einlass erhielten.
Und das, obwohl es doch gar nichts mehr zu sehen gab. Irgendjemand hatte der Presse ein Foto der grausam zugerichteten Leiche zugespielt, und die Boulevardzeitungen waren sich natürlich nicht zu schade gewesen, dieses Foto genau so auf die Titelseiten zu setzen. Aus einem zumindest für Michelle und ihre Mutter unerfindlichen Grund war das von sehr vielen Leuten offenbar als Einladung aufgefasst worden, sich auf den Weg nach Folsom Gardens zu machen.
Mindestens ein Dutzend schaulustige Touristen hatte Michelle damals gezählt, die in dem Glauben hergekommen waren, genau die Szene vorzufinden, die ihnen die Zeitungen gezeigt hatten. Beim Verlassen des Gartens hatte sie die enttäuschten Mienen gesehen und Bemerkungen wie „Da war ja gar nichts mehr zu sehen“ oder „Ich dachte, die würde noch immer da liegen“ zu hören bekommen.
Mehr als ein Kopfschütteln hatte sie auch jetzt noch nicht für solche Leute übrig, die sich am Leid anderer Menschen erfreuen konnten. Grundsätzlich wünschte sie niemandem etwas Schlechtes, aber wer andere so verachtete, der hatte aus ihrer Sicht selbst nichts Gutes verdient.
Als ihr Computer einen leisen Gong ertönen ließ, sah Michelle auf die Uhr. Kurz vor zehn. In ein paar Minuten würde Julian Graeme eintreffen, der tags zuvor um diesen Termin gebeten hatte.
Michelle wusste nicht, was sie davon halten sollte. Wenn man dem Gerichtsurteil von vor zehn Jahren Glauben schenken wollte, dann war Graeme der Mann, der Sheila auf dem Gewissen hatte. Vieles hatte damals gegen ihn gesprochen, aber immer wieder war auch der Vorwurf laut geworden, die Polizei habe nie ernsthaft nach anderen möglichen Verdächtigen gesucht, sondern Graeme festgenommen und sich ganz auf ihn konzentriert. Obwohl sogar Michelle zugeben musste, dass Graeme – objektiv betrachtet – nicht viel dazu beigetragen hatte, etwas zu widerlegen oder zumindest Zweifel an seiner Schuld zu säen.
Allerdings half eine objektive Betrachtung in Graemes Fall ohnehin nicht weiter, da der Mann ein wortkarger Eigenbrötler war, der unter diversen Psychosen und Phobien litt. Schon früher hatte Michelle Schwierigkeiten gehabt, mit ihm eine halbwegs normale Unterhaltung zu führen, da er mal mitten im Satz abbrach, wenn er überhaupt zu reden begann. Dann wieder konnte er wie ein Wasserfall erzählen, meistens jedoch ohne Hand und Fuß, so als würde jemand in einem vierspaltig gesetzten Text die Zeilen über alle Spalten hinweg vorlesen, anstatt in einer Spalte zu bleiben. Manchmal, wenn er beharrlich stumm blieb, sah er einen eindringlich an, dann wieder mied er jeden Blickkontakt und drehte sich weg, als wollte er nicht, dass man ihm ins Gesicht schaute.
Bei der Verhandlung waren seine psychischen Störungen einige Male im denkbar ungünstigsten Moment zum Vorschein getreten, womit er sich selbst der Möglichkeit beraubt hatte, seine Unschuld zumindest zu beteuern, vielleicht sogar zu belegen. Letztlich war er zwar wegen des Mordes an der Fünfzehnjährigen verurteilt worden, von mehreren Gutachtern jedoch nahezu übereinstimmend als nicht schuldfähig eingestuft worden, sodass ihm das Gefängnis erspart geblieben war, man ihn aber in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen hatte.
Dass er jetzt, zehn Jahre später wieder ein freier Mann war, verdankte er einem interessanten Zusammentreffen sehr unterschiedlicher Umstände. Zum einen hatte er sich in der gesamten Zeit seiner Unterbringung niemandem gegenüber aggressiv verhalten, weshalb die Ärzte ihn als weitgehend harmlos einstuften. Zum anderen waren die staatlichen Mittel für den Unterhalt der psychiatrischen Anstalt erst zu Beginn des Jahres noch einmal radikal gekürzt worden, sodass die Klinikleitung beschlossen hatte, alle Patienten zu entlassen, die seit ihrer letzten gründlichen Untersuchung als ungefährlich galten und die in der Lage waren, ihr Leben ohne fremde Hilfe zu führen.
Beide Kriterien hatte Julian Graeme erfüllt, und damit war er einer der Glücklichen, die nicht länger ihr Leben in einer Institution fristen mussten, die von vielen Leuten immer noch – zumindest hinter vorgehaltener Hand – als Irrenhaus oder Klapsmühle bezeichnet wurde.
Der Funkwecker schlug von 09:59:59 auf 10:00:00 um, im gleichen Moment wurde angeklopft.
„Ja, bitte“, rief Michelle und atmete tief durch. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie jemanden vor sich hatte, von dem sie wusste, dass er wegen eines Mordes rechtskräftig verurteilt worden war. Möglicherweise hatten ihr schon andere Mörder gegenübergestanden, ohne dass ihr das bekannt gewesen war, aber das hier war etwas anderes. Nicht dass sie Julian tatsächlich für den Mörder hielt – das Gegenteil war der Fall –, es war vielmehr dieses Wissen, dass andere ihn zum Mörder erklärt hatten, ohne ihn zu kennen, ohne etwas über ihn oder über sein Leben im Bilde zu sein.
Mit einem Mal empfand sie es als unglaublich anmaßend, dass wildfremde Menschen in der Gestalt von Richtern und Geschworenen für sich das Recht in Anspruch nahmen, über jemanden zu urteilen, den sie gar nicht kannten. Sicher, das war objektiv, weil sie ohne Vorwissen an einen Fall herangingen und sich nicht von persönlichen Gefühlen für oder gegen den Angeklagten beeinflussen ließen. Aber es war auch eine Reduzierung auf die Tat, in der viel zu selten der Mensch hinter der Tat eine Rolle spielte. Jedenfalls war das ihr Eindruck gewesen, als sie den Prozess gegen Julian Graeme mitverfolgt hatte. Zwar wurden seine Psychosen durchaus erwähnt, aber nur im direkten Zusammenhang mit dem Mord an der Schülerin. Um zu belegen, dass er der Täter sein musste, ein Gestörter, ein Irrer, der eine unschuldige junge Frau grausam ermordet hatte. Niemand hatte etwas über den Julian Graeme wissen wollen, wie ihn alle in und um Folsom Gardens kannten. Niemand war an dem schrulligen, aber liebenswerten Julian interessiert gewesen, der ganz sicher nicht der Typ war, der über eine Fünfzehnjährige herfiel, um sie zu töten. Der Verteidiger hatte zwar versucht, ein paar seiner Nachbarn und Bekannten als Zeugen aussagen zu lassen – ihre Mutter war auch vorgesehen gewesen –, doch der Staatsanwalt hatte den Richter dazu gebracht, alle Äußerungen zu Julians Charakter zu unterbinden und keinen der vorgeschlagenen Zeugen zu Wort kommen zu lassen. Seine Begründung: Keiner dieser Zeugen hatte die Tat beobachtet oder konnte Julian ein Alibi für die Tatzeit geben.
Die Tür ging auf, und ein Mann trat ein, den Michelle sofort als Julian Graeme wiedererkannte. Ja, er wirkte älter als vor seiner Verhaftung, aber man merkte ihm nicht an, dass er zehn Jahre in Haft gewesen war. Obwohl es in den Gefängnissen des Landes rau zugehen musste, war Julian nicht über Gebühr gealtert, sondern machte vielmehr den Eindruck, als seien höchstens vier oder fünf Jahre vergangen. Seine Haare waren schon damals so grau gewesen, und er hatte sie immer so lang getragen wie jetzt auch. Dass er dabei stets frisch rasiert war, stand ein wenig im Widerspruch zu seiner Frisur, die eher einen zotteligen Vollbart hätte erwarten lassen.
„Hallo, Miss Jenkins“, sagte er und schloss die Tür hinter sich. Er hatte sie schon immer so genannt, selbst auf ihr Beharren hin, er könne ruhig „Michelle“ zu ihr sagen.
„Julian“, erwiderte sie und nickte ihm freundlich zu. „Nehmen Sie Platz.“
Während er sich hinsetzte, fragte er unvermittelt: „Kann ich meine alte Arbeit wiederhaben?“
„Ähm …“ Michelle stutzte, weil ihr bewusst wurde, dass sie nach zehn Jahren völlig verdrängt hatte, wie gewöhnungsbedürftig es doch war, mit diesem Mann zu reden. Mal bekam er den Mund nicht auf, und dann wiederum fiel er so wie jetzt mit der Tür ins Haus.
„Ich wollte Sie eigentlich erst mal fragen, wie es Ihnen geht“, erwiderte sie.
Julian nickte und sah die Wand hinter ihr an. „Oh. Smalltalk. Ja. Stimmt.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Es muss nicht sein, wenn Sie nicht wollen, Julian. Wenn Sie nur …“
„Sie beide haben mich nie besucht.“
„Wie bitte?“
„Nie besucht“, wiederholte er. „Sie beide.“
„In der Psychiatrie, meinen Sie?“
„Nein, in meinem fahrbaren Gourmetrestaurant gegenüber dem Buckingham Palace“, schnaubte er, zuckte zusammen und riss wohl über sich selbst erschrocken die Augen auf und sagte leise: „Entschuldigung.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen, es war eine dumme Frage, die ich Ihnen gestellt habe. Wir haben Sie nicht besucht, das ist richtig. Allerdings nur, weil man uns nicht zu Ihnen gelassen hat, Julian“, entgegnete sie. „Wir haben mehrere Anläufe unternommen, aber jedes Mal wurden wir mit dem Hinweis weggeschickt, Sie dürften nur von Ihrer Familie besucht werden.“
„Keine Familie.“
Michelle nickte. „Ich weiß, dass Sie keine Familie haben. Das haben wir der Anstaltsleitung auch wiederholt zu erklären versucht, aber man wollte uns nicht zu Ihnen lassen.“
„Meine Schwestern.“
Sie sah ihn fragend an, aber er hatte den Kopf weggedreht und starrte auf den leeren Stuhl neben ihm.
„Sie haben Schwestern?“, hakte sie nach.
„Nein, Sie sind Schwestern. Meine Schwestern. Große Schwester Ihre Mutter, kleine Schwester Sie.“
Seine Worte hatten etwas Rührendes. „Das ist lieb von Ihnen, Julian“, sagte sie. „Also, wie haben Sie diese Zeit erlebt?“
„Zehn Jahre.“
Sie nickte. „Ja, diese zehn Jahre.“
„Zehn Jahre mal dreihundertfünfundsechzig Tage.“
Michelle sah ihn abwartend an.
„Über dreieinhalbtausend Tage. Dreieinhalbtausend mal vierundzwanzig Stunden. Vierundachtzigtausend Stunden. Mal sechzig Minuten. Über fünf Millionen Minuten.“ Julian ließ eine lange Pause folgen. „In jeder Minute der Gedanke, wie lange noch. Über fünf Millionen Mal dieser eine Gedanke.“
Wieder nickte sie, um ihr Mitgefühl auszudrücken. „Das muss schlimm gewesen sein“, war das Einzige, was ihr in den Sinn kommen wollte, abgesehen von der allzu offensichtlichen Erwiderung in der Form von: „Das kann ich mir vorstellen.“ Es wäre gelogen gewesen, so etwas zu sagen, denn sie konnte es sich nicht vorstellen, wie es sein musste, den Rest des Lebens an einem einzigen Ort und dort die meiste Zeit in dem immer gleichen Zimmer zu verbringen zu müssen, ganz ohne Hoffnung darauf, jemals wieder irgendeinen anderen Ort besuchen zu können.
Graeme erwiderte nichts, er schien in seine Gedanken versunken zu sein.
„Also?“, fragte er plötzlich.
„Also was?“, gab sie verständnislos zurück.
„Meinen alten Job. Kann ich ihn wiederhaben?“
Dass er sie mit seiner Frage so überrumpelte, hatte einen einfachen Grund: Sie war nicht davon ausgegangen, dass er an den Ort zurückkehren wollte, an dem sich etwas so Schreckliches ereignet hatte, dass er deswegen als Mörder verurteilt worden war. Vielleicht hätte sie aber schon damit rechnen sollen, als sie vor ein paar Tagen von seiner bevorstehenden Freilassung gehört hatte.
So lange ihre Mutter sich um die Verwaltung und Führung von Folsom Gardens gekümmert hatte, war Graeme sozusagen Teil des Inventars gewesen. Niemand sonst in der Umgebung wollte ihm eine Anstellung geben, und er wollte nicht aus dieser Gegend weg. Vermutlich war er hier geboren und hatte nie etwas anderes kennengelernt, weshalb er sich in Folsom Gardens und dem angrenzenden Dorf Tradis Spring wohl heimischer fühlte als an jedem anderen Ort im Land. Und vermutlich hatte er hier seine diversen Psychosen ein wenig besser unter Kontrolle, während die Angst vor fremden Dingen und Umgebungen sie wohl in einem Maß verstärkt hätte, die er selbst nicht mehr hätte beherrschen können.
Ihre Mutter war ihm unvoreingenommen begegnet und hatte ihm von sich aus vorgeschlagen, sich doch als Gärtner in Folsom Gardens zu betätigen. Es war zu der Zeit nicht so gewesen, dass sie sich über einen Mangel an Gärtnern hätte beklagen können, und so war für Graeme auch keine neue Planstelle geschaffen worden – die Anett Jenkins ohnehin nicht hätte rechtfertigen können. Ein Gehalt konnte sie dem Mann daher gar nicht zahlen, aber sie einigte sich mit ihm auf ein Taschengeld und Verpflegung, wenn er bereit war, im alten Pfarrhaus hinter der Kirchenruine auf dem Gelände von Folsom Gardens zu wohnen. Es war eine gute Entscheidung von ihrer Mutter gewesen, weil Graeme von da an förmlich aufblühte – jedenfalls im Rahmen seiner Möglichkeiten. Jeden Tag ging er mit viel Eifer an die Arbeit, kümmerte sich um Blumenbeete, schaffte mit der Schubkarre unermüdlich Erde in irgendeine entlegene Ecke des riesigen Gartens, beschnitt Büsche und Pflanzen, ohne dass ihm jemand erklären musste, wann dafür die richtige Jahreszeit war und wie weit das eine oder andere Grün zurückgeschnitten werden musste.
Graeme war ein Naturtalent, wenn es um das Gärtnern ging. Wäre er frei von allen psychischen Störungen gewesen, hätte er es zu einem bedeutenden Landschaftsgestalter bringen können. Aber so etwas blieb einem Mann verwehrt, der mitten in einer Unterhaltung abrupt in tiefstes Schweigen verfiel und an seine Arbeit im Garten zurückkehrte. So konnte er keine Projekte präsentieren und mit potenziellen Kunden über Preise reden. Vielleicht wäre ein Vermittler, ein Manager eine gute Lösung gewesen, der mit ihm unter vier Augen die Details besprach und dann gegenüber einem möglichen Kunden mit dem nötigen Selbstbewusstsein auftrat, um zu betonen, dass er wusste, was er wollte. Doch das hatte sich mit der Verurteilung von selbst erledigt.
„Wollen Sie ihn denn noch zurückhaben? Ihren alten Job?“
„Haben Sie jetzt einen anderen an meiner Stelle?“ Ein Hauch Enttäuschung mischte sich in seinen Tonfall.
„Nein“, beteuerte sie. „Sie sind der Einzige, der diesen Posten ausfüllen kann.“
„Hmm“, machte Graeme und starrte vor sich hin.
Michelle wartete geduldig ab. Von ihrer Seite gab es nichts, was sie sagen konnte, und sie wusste, es war meistens sinnlos, Graeme anzusprechen, wenn er so dasaß. Er folgte dann irgendwelchen Gedankengängen und reagierte meistens nicht.
„Ich war’s nicht“, erklärte er nach einer Weile.
„Ich glaube Ihnen“, versicherte sie ihm.
„Wirklich nicht.“
„Ja, so etwas passt auch gar nicht zu Ihnen, Julian.“
„Ich weiß es nicht.“
„Was wissen Sie nicht?“
„Wer es war. Ich weiß es nicht.“ Seine Mundwinkel zuckten, während er redete, danach hielt das Zucken an.
„Das werden wir vermutlich jetzt auch nicht mehr herausfinden können“, sagte sie. „Zehn Jahre sind eine lange Zeit.“
„Ich war es nicht.“
Michelle nickte verständnisvoll. „Warum haben Sie sich vor Gericht nicht gewehrt?“
„Keiner glaubt einem wie mir. Keiner.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Hier …“, er zeigte auf seinen Kopf, „… habe ich die Antworten gehört, als noch niemand die Fragen ausgesprochen hatte. Ich wusste, was sie sagen würden. Ich musste mich gar nicht verteidigen.“
Michelle sah ihn schweigend an. Was sollte sie darauf erwidern? Sie wusste, er hatte recht. Bei jedem Einwand hätte der Staatsanwalt ihn im Zeugenstand so mit Fragen bombardiert, dass er am Ende nicht mal mehr seinen Namen gewusst hätte. Nein, es wäre tatsächlich sinnlos gewesen, das musste sie jetzt einsehen. Dadurch, dass die Polizei ohnehin keinen anderen Tatverdächtigen präsentiert hatte, war für die meisten Leute klar gewesen, dass außer Julian Graeme niemand infrage gekommen war.
Wegen der angenehmen Wärme an diesem Morgen im Mai hatte Michelle das Fenster geöffnet, um das Büro zu lüften. Eigentlich war das ein sinnloses Unterfangen, da das gesamte Mobiliar aus dem späten 19. Jahrhundert stammte und im Lauf der Jahrzehnte einen Eigengeruch angenommen hatte, der mit bloßem Lüften nicht mehr herauszukriegen war.
„Leyla, du lebst ja noch.“
Michelle hob den Kopf, nachdem sie einige Zeit gedankenverloren auf den Stapel Formulare auf ihrem Tisch gestarrt hatte, und sah nach links.
Auf der Fensterbank saß Leyla, die Lieblingskatze ihrer Mutter. Das Fell der Haus- und Hofkatze von Folsom Gardens wies eine extrem ungewöhnliche Zeichnung auf. Die Grundfarbe war ein helles Grau, das fast weiß wirkte, überzogen war das Tier am ganzen Leib von unterschiedlich großen schwarzen Flecken, was Leyla wie die Katzenversion eines Dalmatiners erscheinen ließ. Auf dem Gelände von Folsom Gardens tummelten sich etliche Katzen, bei denen es sich ausschließlich um wild lebende Tiere handelte, die immer sehr großen Abstand zu den Menschen wahrten und erst dann zu den Futterstellen kamen, wenn sie keinen Zweibeiner mehr entdecken konnten. Mehreren Überwachungskameras war es zu verdanken, dass sie seit ein paar Jahren einen recht guten Überblick über die Katzenbevölkerung des Gartens hatten.
Leyla war das einzige zahme Tier, sie war von Michelles Mutter aufgezogen worden, nachdem sie von ihrer Katzenmutter entweder verstoßen oder schlicht vergessen worden war.
„Na, komm zu mir, Leyla, damit ich dich begrüßen kann“, redete Graeme leise weiter, und fast im gleichen Augenblick machte die Katze einen Satz von der Fensterbank auf den Schreibtisch und ging laut schnurrend so zielstrebig auf den Mann zu, als wäre er ein guter Bekannter, der mindestens einmal in der Woche mit einem frischen Fisch zu Besuch kam.
Graeme beugte sich vor, dann begann Leyla ihren Kopf an seiner Nase und seinem Kinn zu scheuern, so wie vor zehn Jahren, als sie noch nicht mal ein Jahr alt gewesen war. Obwohl sie in erster Linie auf Michelles Mutter fixiert gewesen war, hatte sie Graeme auf eine ganz besondere Weise in ihr Herz geschlossen.
„Sie hat mich nicht vergessen“, flüsterte Graeme und schien den Tränen nah zu sein.
„In der Zeit, als Sie … nicht hier waren, ist sie in regelmäßigen Abständen bis zum Pfarrhaus gewandert und hat dort ein paar Minuten vor der Tür gesessen“, berichtete Michelle. Als er sich daraufhin scheinbar beiläufig übers Gesicht wischte, wusste sie, die Tränen hatte sie sich nicht eingebildet. Sie selbst musste vor Rührung lächeln. Wie sollte sie diesen Mann für einen Mörder halten, wenn die Katze ganz offensichtlich fest davon überzeugt war, einen Menschen vor sich zu haben, der nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun konnte?
Graeme hob die Katze vom Tisch, nahm sie in seine Arme und drückte sie an sich – oder besser gesagt: Die Katze drückte sich an ihn und drehte den Kopf hin und her, um sich nun an seiner Schulter zu reiben.
„Sie wissen ja, Julian“, sagte Michelle und grinste, „dass Sie jetzt Ihre Stelle auch wieder annehmen müssen, ob Sie das nun wollen oder nicht. Sie werden es doch nicht übers Herz bringen, die arme Leyla noch einmal im Stich zu lassen.“
Er nickte und lächelte ein wenig verlegen. „Ja, ich weiß. An mir soll das nicht liegen.“
„An mir auch nicht“, bekräftigte sie und zog eine Schublade auf. „Hier sind die Schlüssel für das Pfarrhaus“, sagte sie und hielt ihm ein Ledermäppchen hin. „Wir haben da schon länger nicht mehr Staub gewischt, aber ich schätze, es macht Ihnen nichts aus, wenn Sie das selbst erledigen, nicht wahr?“
„Danke“, entgegnete er. „Danke, dass ich nach Hause kommen darf.“
Ihr fehlten die Worte angesichts dieser Äußerung. In den letzten Minuten war es ihr so vorgekommen, als würde sie sich mit einem ganz anderen Mann unterhalten. Dass er nun tatsächlich ein konventionelles ‚Dankeʻ über die Lippen brachte, war höchst ungewöhnlich und hatte ihn womöglich große Überwindung gekostet.
„Gern geschehen“, antwortete sie schließlich. „Wenn Sie irgendetwas brauchen, sagen Sie Bescheid.“ Sie überlegte kurz, dann fiel ihr ein, was sie noch hatte sagen wollen: „Heute oder morgen bekommen Sie von mir auch ein Funkgerät …“
Seine finstere Miene ließ sie verdutzt verstummen. Hatte sie etwas Falsches gesagt?
„Warum?“, wollte er wissen.
„Nicht, um Sie zu überwachen, wenn Sie das befürchten“, versicherte sie ihm besänftigend. „Aber wir hatten ein paar Fälle von Vandalismus, bei denen die Verursacher unbehelligt entkommen konnten, weil wir erst hierher ins Büro laufen mussten, um die Polizei zu verständigen. Und es gab einen Arbeitsunfall, bei dem einer der Gärtner fast verblutet wäre, weil er niemanden auf seine Notlage aufmerksam machen konnte. Er wurde nur durch Zufall von einem Kollegen entdeckt. Das war der Moment, in dem für mich feststand, dass wir aller Tradition zum Trotz dann mit der Zeit gehen müssen, wenn es für unsere Arbeit von Nutzen ist.“
Er hielt immer noch Leyla in seinen Armen, als er aufstand. Er setzte die Katze auf dem Tisch ab, die einmal kurz zufrieden miaute, während er das Schlüsselmäppchen entgegennahm und zur Tür ging.
Als er ihr Büro verlassen hatte, lehnte Michelle sich auf ihrem Stuhl zurück und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Hoffentlich würde sich ihre Entscheidung nicht als fataler Fehler erweisen. Wenn sich herumsprach, dass Julian in Freiheit und an seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt war, würden dann wieder die Schaulustigen herbeieilen, um diesmal den vermeintlichen Mörder anzugaffen? So als wäre er eine Attraktion auf einem Jahrmarkt anno 1880? Oder war ihr Entschluss eine unausgesprochene Einladung an einen wütenden Mob, herzukommen und das Urteil zu vollstrecken, das sich das Volk gewünscht hatte?
2. KAPITEL
Kaum hatte Graeme das Büro verlassen, sprang Leyla zurück auf die Fensterbank und von dort nach draußen auf den Rasen vor dem Haus. Zielstrebig lief sie nach rechts, bog um die Ecke und empfing ihren alten Freund, als der gerade aus der Tür kam.
„Na, meine Kleine“, sagte er und ging in die Hocke, um die Katze wieder zu streicheln, die sich ihm zu diesem Zweck demonstrativ in den Weg gestellt hatte. „Willst du mich nach Hause begleiten?“
Sie rieb den Kopf an seinem Knie und schnurrte zufrieden.
„Du scheinst dich wirklich zu freuen mich wiederzusehen, wie?“, murmelte er und kraulte sie unter dem Kinn, was sie noch mehr genoss, da ihr Schnurren lauter und lauter wurde. „Du kannst gern mitkommen, aber zu essen kann ich dir noch nichts geben. Vielleicht hast du ja Glück, und wir finden beim Saubermachen eine Maus, die sich im Pfarrhaus einquartiert hat.“
Er richtete sich auf und ging weiter. Sein Weg führte vorbei an den alten Rhododendronbüschen, die zum Teil schon im späten 19. Jahrhundert gepflanzt worden waren. Aus den einstmals zarten Pflanzen waren stattliche Büsche geworden, für die Graeme eine große Leiter benötigte, wenn er sie weiter oben beschneiden musste. Die tiefroten Blüten schienen im Sonnenlicht von innen heraus zu strahlen und boten einen wundervollen, beruhigenden Anblick.
Graeme mochte den alten Garten mit all seinen Facetten … mit fast all seinen Facetten. Er kannte auf dem Hunderte Hektar großen Gelände jeden Winkel, war mit jedem Baum und jedem Busch vertraut, und genauso wusste er auch, wo es damals passiert war. Es … dieses tragische Ereignis, das sein Leben so grundlegend verändert hatte, das ihn aus dieser Welt herausgerissen und in eine kalte, sterile Umgebung gesperrt hatte, die so schlimm war wie der Tod, wie die Hölle. Jener Ort, an dem man ihn Tag für Tag gezwungen hatte, irgendwelche Tabletten zu nehmen, an dem man ihm immer wieder Spritzen verabreicht hatte, wenn er zu laut war oder wenn er nicht dann schlafen wollte, wenn andere es ihm vorschrieben.
Und das alles nur, weil … weil das passiert war.
Er schüttelte den Kopf, um sich von diesen Gedanken zu befreien. Leyla, die ein paar Meter vorausgelaufen war, um einen Schmetterling zu verfolgen, der ihr immer wieder hatte entwischen können, blieb stehen und drehte sich zu Graeme um. Mit großen Augen sah sie ihn an, als wollte sie ihn fragen, ob mit ihm alles in Ordnung war.
„Ist schon gut, Kleines“, sagte er und lächelte Leyla an. Er wusste, die Katze verstand ihn. Das war schon damals so gewesen, als er sie als junges Kätzchen kennengelernt hatte. Dass sie ihn verstand, davon sagte er niemandem etwas. Wer so etwas von sich behauptete, wurde von anderen schnell als Spinner abgetan. Aber was wussten diese Leute schon?
„Lass uns weitergehen“, forderte er die Dalmatiner-Katze auf, die nicht wartete, bis er vor ihr war, damit sie ihm folgen konnte. Stattdessen spazierte sie weiter vor ihm her und bog immer genau im richtigen Moment mal links, mal rechts in einen Seitenweg ein, ohne zu sehen, wohin er eigentlich gehen wollte. Das musste sie auch gar nicht, weil sie wusste, was sein Ziel war. Sie wusste, er war der Mann, der im alten Pfarrhaus lebte, auch wenn es zehn Jahre her war, seit sie ihn dort zum letzten Mal gesehen hatte.
Während es für einen Außenstehenden so aussah, als würde Graeme sich von dem Tier den Weg zeigen lassen, kannte er den Weg zu seinem alten Quartier nach wie vor so genau, dass er ihn auch nachts ohne Taschenlampe oder andere Hilfsmittel gefunden hätte.
Folsom Gardens war sein Zuhause, das einzige wirkliche Zuhause, das er je gekannt hatte. Schon als junger Mann war er auf der Suche nach diesem Ort gewesen, ohne überhaupt zu wissen, dass er existierte. Ein Ort, an dem man tagelang keiner Menschenseele begegnete, wenn man genau das auch wollte. Als er dann das erste Mal nach Folsom Gardens kam, war es für ihn wie ein Wiedersehen mit einer Welt gewesen, die er nicht kannte und mit der er dennoch bestens vertraut war.
Wenn er in Folsom Gardens unterwegs war, stellte er sich vor, auf eine Erde zurückzukehren, auf der vor Jahrhunderten alles menschliche Leben ausgelöscht worden war und auf der seitdem die Natur damit beschäftigt war, alles zurückzuerobern, was der Mensch ihr in den Jahrtausenden seiner Existenz entrissen hatte. Er malte sich aus, wie die Wurzeln die Fundamente aufbrachen und Gebäude zum Einsturz brachten, wie die Ranken allmählich alle Ruinen und Straßen überzogen und ein Geflecht bildeten, das anderen Pflanzen Halt bot, um dort zu wachsen, wo zuvor Beton, Stahl und Glas geherrscht hatten.
Er wusste, diese Gedanken waren keine Fantastereien, auch wenn sie von anderen als solche abgetan worden wären – wenn er darüber geredet und ihnen einen Grund gegeben hätte, über ihn zu lachen. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen, hier in Folsom Gardens. Er wusste, die Natur holte sich alles zurück, sobald die Menschen das aufgaben, was sie irgendwann einmal geschaffen hatten.
Als er um die nächste Ecke bog, sah er vor sich den Beweis.
Die Überreste einer Kathedrale standen da, umgeben von riesigen Bäumen, die die Ruine weit überragten. Das Gebäude stammte aus dem 13. Jahrhundert, als es Folsom Gardens noch nicht gab – das älteste Dokument, in dem sein Name zum ersten Mal auftauchte, datierte aus dem Jahr 1352. Im späten 17. Jahrhundert wurde die Kathedrale von einem verheerenden Feuer heimgesucht, das den gesamten Dachstuhl und die komplette Einrichtung zerstörte. Dabei waren auch Teile der Mauern eingestürzt, bis nur noch eine rußgeschwärzte Ruine dastand. Ein Wiederaufbau kam nicht infrage, da das Bauwerk zum Zeitpunkt der Katastrophe längst von der Kirche aufgegeben worden und in den Besitz von Folsom Gardens übergegangen war. Vielmehr nutzte die Familie Hawkins, der damals das Land gehörte, diese Gelegenheit, um ein Projekt zu gründen, das den Titel „Die Reise ins Gestern“ trug. Während den künftigen Erben von Folsom Gardens verbindlich vorgeschrieben wurde, in welchen Teilen der Anlage auch weiterhin welche Pflanzen kultiviert werden sollten, legte man für die Kathedrale und ihre nähere Umgebung fest, dass die Natur hier schalten und walten durfte, wie sie wollte. Jeder sollte miterleben, wie das Grün ein von Menschenhand geschaffenes Bauwerk zurückeroberte und wieder der Natur einverleibte, bis es irgendwann auf den ersten Blick keinen Hinweis mehr darauf gab, dass es an dieser Stelle jemals irgendetwas anderes als Bäume und Büsche gegeben hatte.
Graeme musste sich bücken, um unter den dicht an dicht stehenden Büschen hindurch auf das einstige Kirchengelände zu gelangen. Von Ehrfurcht erfüllt blieb er stehen. Die schon beim Brand in Mitleidenschaft gezogenen Mauern des Kirchenschiffs waren von Ranken und von den unteren Ästen der Bäume zum Einsturz gebracht worden, die auf dem Boden verstreuten Mauersteine waren längst unter einer dichten Lage Efeu verschwunden und für einen zufälligen Betrachter nicht mehr als das zu erkennen, was sie einmal gewesen waren. Lediglich der Altar stand noch so an seinem Platz, dass sein Anblick sofort auf seine ursprüngliche Funktion verwies, obwohl er genauso zugewuchert war.
Vom Kirchturm existierte immer noch die hintere Hälfte, während die dem Schiff zugewandte Seite irgendwann vor langer Zeit jeglichen Halt verloren hatte und in sich zusammengebrochen war. Dass die hintere Hälfte noch vorhanden war, schien einzig mit der Tatsache zu tun zu haben, dass ein Baum dicht am Turm durch das hohe, geborstene Fenster gewachsen war. Seine Äste und Zweige mussten dem Mauerwerk den nötigen Halt geben, um ein Zusammenbrechen zu verhindern.
Die Morgensonne bahnte sich ihren Weg durch die Baumkronen ringsum, die das Licht in zahllose einzelne Strahlenbündel aufspaltete, die leicht geneigt in den ehemaligen Innenraum der Kathedrale fielen und den efeubewachsenen Boden mit hellen Flecken übersäten. Im ersten Moment wirkte das so, als hätte ein Filmregisseur seinen Beleuchter angewiesen, ein Dutzend Scheinwerfer aufzustellen, um genau dieses Bild auf Zelluloid festzuhalten, doch das hier war nichts, was sich jemand ausgedacht hatte, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Hier war die Natur am Werk, die solche Bilder ohne jede Absicht einfach entstehen ließ.
Graeme blieb dort stehen, wo sich früher einmal das Eingangsportal der Kathedrale befunden hatte, und schaute in Richtung Altar, während die Katze über das dichte Efeu stieg, immer wieder stehen blieb, in diese oder jene Richtung schaute, die Ohren spitzte und dann mit einer Pfote nach etwas schlug, vermutlich nach irgendwelchen Insekten, die in diesem Grün zu Hause waren.
Lächelnd verfolgte er eine Zeit lang das Spiel der Katze, dann drehte er sich nach links und sah den gefallenen, mit Moos überzogenen Engel. Die meterhohe Statue war irgendwann in den letzten zehn Jahren mitsamt ihrem hohen Sockel umgekippt, vermutlich weil Wurzeln das Fundament angehoben oder zerstört hatten. Jetzt lag sie da im hohen Gras, der rechte Flügel war abgebrochen, ebenso der rechte Arm, den der Engel genauso in einer segnenden Geste erhoben hatte wie den linken. Auf Graeme wirkte er nun wie ein Ertrinkender in einer grünen See, der einen Arm ausstreckte, um andere auf seine missliche Lage hinzuweisen und sie um Hilfe zu bitten. Aber da war niemand, der ihm hätte helfen können. Noch ein paar Jahrhunderte würde er den Ertrinkenden in diesem starren Schauspiel geben müssen, ehe Wind und Wetter genug Erde zu ihm geweht hatten, um ihn darunter verschwinden zu lassen.
Zwischen zwei Bäumen hindurch erblickte Graeme das alte Pfarrhaus, das sich – wäre es nach ihm gegangen – auch auf die Reise ins Gestern hätte begeben dürfen, damit es nicht länger wie ein Fremdkörper wirkte. Ihm wäre das nur recht gewesen.
„Komm, Leyla, wir sind da“, rief er der Katze zu, die eben noch mit einem weiteren Schmetterling gespielt hatte, nun aber wie ein Blitz zu ihm geschossen kam, an ihm vorbeistürmte und mit einem Satz auf den Kopf des steinernen Engels sprang.
Um kurz nach eins hielt Michelle vor dem Haus der Raynes an. Sie wollte ungestört mit Sheilas Eltern reden, daher hatte sie darum gebeten, um die Mittagszeit bei ihnen vorbeikommen zu dürfen, bevor ihr Sohn Harlan mit dem Schulbus aus dem benachbarten Ellisdale nach Hause kam. Auch wenn man sich in einem Dorf wie Tradis Spring immer wieder mal begegnete, hatte Michelle bis heute nicht mit den Raynes darüber gesprochen, was sie ihrem Sohn über die ältere Schwester erzählt hatten, der erst zwei Jahre nach ihrem Tod zur Welt gekommen war.
Es hatte auch nie einen Grund für ein Gespräch gegeben, zumal Michelle nicht zu den Leuten gehörte, die mit Begeisterung alte Wunden öffneten und darin herumstocherten, bis der Betroffene die Schmerzen nicht mehr ertrug. Nicht, dass es ihr gleichgültig gewesen wäre, aber zur Zeit des Mordes war sie für Folsom Gardens noch gar nicht zuständig gewesen, und sie fühlte sich auch nicht für das verantwortlich, was seinerzeit dort geschehen war. Nicht mal ihre Mutter hatte in irgendeiner Weise Verantwortung für den Mord übernommen, auch wenn von verschiedenen Seiten an sie herangetragen wurde, dass schließlich sie diejenige war, die Julian im Garten hatte arbeiten lassen.
„Ah, Miss Jenkins, da sind Sie ja“, begrüßte Sarah sie, als sie die Haustür öffnete. „Kommen Sie rein.“
„Danke.“ Michelle folgte der zierlichen Frau mit der blonden Löwenmähne ins Haus und dort weiter bis in die Küche, wo Sarahs Ehemann Edwin am Esstisch saß. Als sie eintrat, stand er auf, um sie zu begrüßen, dann nahm er gleich wieder Platz. Die beiden waren schon ein ungewöhnliches Paar. Neben Sarah mit ihrer Frisur, die sie sich schon als junges Mädchen bei Farrah Fawcett abgeguckt haben musste, wirkte er mit seinen kurzen mittelblonden Haaren und seinem unscheinbaren Gesicht wie die sprichwörtliche graue Maus. Sie kannte die beiden seit einer Ewigkeit, und dieses Missverhältnis hatte schon immer bestanden, weshalb sie sich seit jeher fragte, womit er Sarah so sehr beeindruckt hatte, dass sie sich in ihn hatte verlieben können. Vielleicht war es ja gerade dieses Unscheinbare, das sie neben ihm umso strahlender wirken ließ, aber es war eine von diesen Fragen, auf die man letztlich keine Antwort erhalten würde.
„Ist … irgendetwas passiert?“, fragte Edwin besorgt.
„Nein, es ist …“, begann Michelle und geriet ins Stocken. „Im eigentlichen Sinn ist nichts passiert, aber es hat eine Entwicklung gegeben, über die Sie Bescheid wissen sollten, wie ich finde.“
Beide sahen sie abwartend an.
„Julian Graeme ist aus der psychiatrischen Einrichtung entlassen worden.“ So. Jetzt hatte sie es ausgesprochen.
„Nach zehn Jahren?“, gab Sarah zurück.
„Ja, richtig.“
„Viel zu lange“, sagte die Frau, ihr Ehemann nickte zustimmend.
Michelle sah so verwundert drein, dass die Raynes unwillkürlich lächelten.
„Wissen Sie“, erklärte Edwin, „wir waren nie der Meinung, dass Mr Graeme etwas mit dem Tod unserer Tochter zu tun hatte.“
„Nicht?“ Michelle zog überrascht die Brauen hoch. „Das … davon wusste ich nichts.“
„Wir haben es auch nicht an die große Glocke gehängt“, redete er weiter. „Es hätte am Gerichtsurteil nichts geändert und nur für verkehrte Schlagzeilen gesorgt.“
„Verkehrte Schlagzeilen?“, wiederholte Michelle verständnislos.
„Ja, sehen Sie, die Zeitungen waren so pietätlos, das Foto unserer toten Tochter auf die Titelseiten zu nehmen“, sagte Sarah leise. „In ein oder zwei Berichten wurde dann sogar angedeutet, sie habe diesen Mord provoziert, weil sie mit offener Bluse und ohne BH gefunden wurde. Sie hätte angeblich aus boshaftem Vergnügen heraus einen Jungen angemacht und ihm vorgegaukelt, mit ihm schlafen zu wollen, nur um ihn dann im letzten Moment abzuweisen und ihn auszulachen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sheila hätte so etwas nie gemacht, und wir versuchten uns dagegen zu wehren, aber anstatt zu schreiben, dass wir dieser Meldung widersprechen, wurde aus unserem Einwand eine Behauptung. Und eine Behauptung hat immer diesen Unterton, dass sie in Wahrheit ja doch erlogen ist.“
„Unser Vertrauen in die Medien ist seitdem so grundlegend erschüttert, dass wir nie wieder auch nur ein Wort mit der Presse gesprochen haben“, warf Edwin ein. „Seit diesem Vorfall haben wir auch nie wieder eine Zeitung gelesen.“
„Aber wenn Sie erklärt hätten, dass Sie Graeme nicht für den Täter hielten, was hätte die Presse schon schlimmes daraus machen können?“
„So ziemlich alles, was die Fantasie hergibt“, antwortete er verbittert. „Man hätte uns vielleicht unterstellt, dass wir den wahren Täter kennen. Wie könnten wir sonst so überzeugt davon sein, dass Julian Graeme unschuldig ist? Aber wenn wir den Mörder kennen, warum haben wir dann nicht schon früher seine Identität preisgegeben? Ist es jemand, den wir decken wollen, weil wir mit ihm verwandt sind? Oder jemand, der blutige Rache schwören wird, wenn wir ihn ans Messer liefern? Oder sagen wir nichts, weil es einer von uns war?“
„Einer von Ihnen? Ich bitte Sie, welche Eltern tun so was dem eigenen Kind an?“
„Leider zu viele“, sagte Sarah. „Und wenn man dann vor einem Journalisten keine Hasstiraden auf den mutmaßlichen Täter loslässt, heißt es gleich, dass da doch irgendwas nicht stimmen kann.“
„Gegen solche Unterstellungen kann man sich aber zur Wehr setzen“, gab Michelle zu bedenken.
„Aber nicht, wenn die Unterstellungen so geschickt formuliert sind, dass sie im juristischen Sinn keine Unterstellungen sind, sondern allenfalls so etwas wie … na, sagen wir, so etwas wie Spekulationen … Denkmodelle … Hypothesen. Und darin sind die Leute gut.“
„Außerdem“, ergänzte Edwin, „war es damals schon zu spät, dagegen vorzugehen. Der Verdacht war ja schon geäußert worden, und was einmal ausgesprochen worden ist, kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden.“
Michelle nickte. „Okay. Dass Graeme nicht mehr in der Psychiatrie sitzt, wissen Sie damit. Das andere …“
„Wurde er denn nachträglich freigesprochen?“, fragte Sarah, der offenbar erst jetzt diese Frage in den Sinn gekommen war. „Von unserem Anwalt haben wir nämlich nichts in der Richtung gehört.“
„Soweit ich weiß, hat er in den zehn Jahren keinerlei Auffälligkeiten gezeigt, keine Aggressionen, keine Angriffe auf das Personal oder andere Insassen. Man hat ihn wohl entlassen, weil er keine Gefahr darstellt. Und wohl auch, weil die Budgets zusammengestrichen worden sind und man sich nur noch auf die Fälle konzentriert, die intensive Behandlung erfordern.“
Edwin stöhnte leise auf. „Theoretisch müssten wir jetzt unseren Anwalt losschicken, damit er sich vor Journalisten über die frühe Entlassung beschwert. Immerhin ist er ja als Mörder verurteilt worden …“
„Aber ich dachte, Sie wollen mit den Journalisten lieber gar nichts zu tun haben“, wunderte sich Michelle.
„Ja, ja, das ist richtig, aber wenn wir stillschweigend zur Kenntnis nehmen, dass der Mörder unserer Tochter von heute auf morgen auf freien Fuß gesetzt wurde, dann kann das irgendein spitzfindiger Reporter auch gegen uns auslegen. Wie kann uns das egal sein? Kümmert es uns nicht, dass er sich jetzt vielleicht sein nächstes Opfer sucht?“
„Ist das wirklich so extrem?“
„Sie haben Glück, über Ihren Garten kann man nichts Skandalträchtiges berichten“, erwiderte Edwin und schränkte sofort ein: „Außer natürlich gleich nach dem Mord. Aber da war ja schnell wieder Ruhe eingekehrt. Wenn irgendjemand einen völlig abgelegenen Winkel von Folsom Gardens benutzen würde, um dort Drogen zu deponieren, die später von anderen Leuten abgeholt und übers Land verteilt werden sollen, dann sähe das auch anders aus. Da würden sofort Verdächtigungen in die Welt gesetzt, wieso Sie denn davon nichts mitbekommen haben wollen. Und woher haben Sie denn bloß das Geld, um sich so einen schicken neuen Geländewagen zuzulegen?“
Michelle nickte. „Ja, verstehe schon, was Sie meinen.“
„Was ist das andere?“, meldete sich Sarah zu Wort.
„Wie bitte?“ Michelle sah die Frau verdutzt an.
„Sie sagten vorhin, die Entlassung von Julian Graeme ist die eine Sache, und die andere … und dann haben Sie nicht weitergeredet. Was ist diese andere Sache?“
Insgeheim hatte Michelle ja gehofft, sich vielleicht doch noch davor drücken zu können, den Raynes das zu gestehen, aber das war nur ein trügerischer Gedanke gewesen. „Oh, das meinen Sie. Nun … Graeme hat mich gebeten, wieder als Gärtner in Folsom Gardens arbeiten zu dürfen …“
„Und Sie haben ihn wieder eingestellt?“, fragte Sarah und nickte lächelnd. „Das ist gut. Dann weiß er, dass Sie ihn nicht verdächtigen. So etwas braucht er jetzt. Geordnete Verhältnisse und Menschen, die an seine Unschuld glauben.“
„Er hat mehr als genug durchgemacht“, fand auch ihr Ehemann. „Wenn Sie ihn nicht zurückgeholt hätten, dann würde er nur ziellos durch die Gegend ziehen.“
Michelle machte eine zufriedene Miene, als sie das hörte. „Ich bin erleichtert, dass Sie so viel Verständnis aufbringen. Das gelingt nicht vielen Menschen, die etwas Ähnliches erlebt haben wie Sie beide.“ Nach einer kurzen Pause fragte sie: „Hatten Sie denn damals irgendjemanden im Verdacht, dass er etwas mit dem Verbrechen zu tun haben könnte?“
„Nein, wir hatten überhaupt keine Ahnung, aber wenn die Polizei uns die Namen von drei oder vier anderen Verdächtigen genannt hätte, wäre uns vielleicht irgendein Zusammenhang aufgefallen. Möglicherweise irgendeine Person, die Sheila mal erwähnt hatte oder die bei einem ihrer Telefonate mit ihren vielen Freundinnen zur Sprache kam. Aber es gab nur einen Mann, der als Mörder infrage kam: Julian Graeme.“
„Wir haben damals auch noch mit dem Chief Inspector gesprochen“, fügte Edwin hinzu, „weil wir wissen wollten, ob denn gar kein Zweifel daran besteht, dass Graeme der Mörder ist. Wir wollten keinen Prozess mitverfolgen, bei dem der Angeklagte auf einmal ein Alibi vorweisen kann und entlassen wird.“
„Und?“
„Der Chief Inspector reagierte zwar verständnisvoll und konnte unser Anliegen nachvollziehen, aber er war zugleich auch noch beleidigt, weil wir an seiner Kompetenz gezweifelt hatten“, sagte Sarah. „So gesehen haben wir das Gegenteil von dem erreicht, was wir eigentlich wollten.“
„Nein, so dürfen Sie nicht denken“, widersprach Michelle. „Sie haben schließlich weder den Richter noch die Geschworenen beeinflusst, damit sie Graeme verurteilen.“
„Wissen Sie, das ist auch so ein Punkt, den ich nicht verstehe“, redete die Frau weiter. „Wenn er doch am Ende für nicht schuldfähig erklärt wurde … warum hat man ihn nicht vor dem Prozess untersucht?“
„Na ja, auf diese Weise konnte die Polizei wenigstens einen Täter präsentieren und die Leute beruhigen, weil sie den brutalen Killer doch aus dem Verkehr gezogen hatten. Nur weil er nicht schuldfähig war, hat das nichts daran geändert, dass die Leute in ihm auch weiterhin den Mörder sehen wollten. Das erweckt den Eindruck, dass die Gerechtigkeit einmal mehr gesiegt hat. Und es lässt unsere Polizei in einem guten Licht dastehen.“ Nach einer Denkpause fügte sie dann noch hinzu: „Vielleicht war das mit der verminderten Schuldfähigkeit von Anfang an klar, und man hatte von vornherein vor, ihn nicht im Gefängnis unterzubringen, weil er dort nicht lange durchgehalten hätte.“
„Ein Grund mehr, in ihm ein Bauernopfer zu sehen“, fand Edwin. „Was wäre das für ein Skandal, wenn ein findiger Journalist den Fakten auf den Grund gehen und dabei tatsächlich herausfinden würde, dass das alles von langer Hand geplant war, um die Statistik zu frisieren, und dass alle Beteiligten wussten, dass sie gar nicht den wahren Mörder vor sich hatten.“
Michelle schüttelte den Kopf. „Werfen Sie Ihre Skepsis gegenüber der Presse lieber nicht so schnell über Bord. Je nachdem in wessen Auftrag sie die Sache untersucht, zieht sie nämlich noch Sie selbst mit hinein und stellt Sie als das satanische Duo hin, das ihn zu seinem Handeln angespornt hat. Irgendwo gibt es immer jemanden, der alle möglichen Dokumente fälschen kann, und dann stehen Sie mit einem Mal auf irgendeiner Verteilerliste mit ganz vielen zwielichtigen Namen.“
„Oh“, gab Sarah erschrocken von sich. „Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ist das nicht schrecklich, dass selbst die Dinge, die man mit den allerbesten Absichten verfolgt, nach hinten losgehen können?“
„Es stellt sich wie bei allen Dingen im Leben immer die Frage, wer am längeren Hebel sitzt“, stimmte Michelle ihr zu. „Gut, dann wissen Sie ja jetzt Bescheid. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Solange sich an keiner Front Ärger abzeichnet, bleibt Graeme in Folsom Gardens. Aber wenn das publik wird, dann könnten wieder Hunderttausende bei uns einfallen, von denen viele sicher nur mal gucken wollen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass dann auch einige Leute aufkreuzen, die Selbstjustiz als ein verbrieftes Menschenrecht ansehen und danach handeln. Wenn Graeme in Gefahr gerät, werde ich ihn von hier wegbringen müssen.“
„Es ist gut, dass er jemanden hat, der sich um ihn kümmert“, wurde sie von Sarah gelobt, die ihr ein auffallend breites Lächeln schenkte.
Michelle nickte nur und stand auf. „Gut, ich muss dann los. Die Arbeit erledigt sich leider nicht von selbst.“
Sie verabschiedete sich von Edwin, Sarah brachte sie zur Tür und kam noch mit raus, weil sie einen Beutel mit Küchenabfällen zur Biotonne im Garten bringen wollte.
Als sie einige Meter vom Haus entfernt waren, sagte Sarah auf einmal: „Nur damit Sie es wissen, ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Scheusal meine Tochter ermordet hat. Und ich finde es empörend, dass man ihn einfach so auf freien Fuß setzt, damit er sich das nächste unschuldige Opfer sucht. Und dass Sie ihn wieder bei eingestellt haben, das ist … das ist … ungeheuerlich!“
Verdutzt blieb Michelle stehen. „Ähm … aber Sie … Sie haben mir doch gerade eben noch genau das Gegenteil gesagt“, gab sie zurück. „Sie …“
„Das tue ich nur meinem Mann zuliebe“, zischte Michelle sie an. „Das ist der einzige Grund!“
„Dann glaubt Ihr Mann an Graemes Unschuld, und Sie nicht?“
„Mein Mann hat nach dem Mord einen Nervenzusammenbruch erlitten, sein Herz ist in Mitleidenschaft gezogen, und er darf sich nicht aufregen, sonst könnte das sein Ende bedeuten. Deshalb und nur deshalb kann ich ihm nicht widersprechen. Nur deshalb muss ich in seiner Gegenwart den Mund halten. Ich habe meine Tochter verloren, und der Täter wurde nur halbherzig bestraft, weil ihm das Gefängnis erspart blieb, wo er keine zwei Wochen überlebt hätte. Ich will nicht auch noch meinen Mann verlieren, deshalb spreche ich nicht offen darüber – wirklich nur deshalb. Aber ich schwöre Ihnen, wenn ich einen Weg finde, dieses Scheusal hinter Gitter zu bringen, ohne dass mein Mann damit belastet wird, dann werde ich keine Sekunde zögern.“
Mit diesen Worten machte sie kehrt und ging zurück zum Haus.
Erst jetzt wurde Michelle bewusst, dass Sarah die ganze Zeit über gelächelt hatte. Vermutlich hatte sie befürchtet, ihr Mann könnte sie vom Fenster aus beobachten und sie fragen, worüber sie geredet hatten, wenn ihr Mienenspiel zu ihren hasserfüllten Äußerungen gepasst hätte.
Verwundert über die zwei Gesichter, die diese Frau hatten erkennen lassen, stieg sie in ihrem alten Land Rover und ließ den Motor an. Was machte Sarah nur so sicher, dass Graeme der Mörder war? Suchte sie einfach einen Sündenbock, damit sie nicht mit dem Gedanken leben musste, dass der wahre Täter davongekommen war? Genügte es ihr, dass irgendjemand die Schuld übernommen hatte? Oder … Durfte sie so etwas überhaupt denken?
Ja, und sie sollte es auch. Es konnte viele Gründe geben, warum Sarah und Edwin so unterschiedlich dachten, aber dennoch war es möglich: Hatten die Raynes beim Mord an ihrer Tochter die Finger im Spiel gehabt? War ihr Hinweis darauf, die Journalisten hätten einen von ihnen für den Täter halten können, vielleicht nur ein geschickter Schachzug gewesen, um von sich abzulenken, gerade indem sie sich selbst verdächtigten?
Vielleicht war es gar nicht so absurd, wie es Michelle im ersten Moment vorkam, dass sie diese Möglichkeit zumindest in Erwägung zog. Schon viel zu oft hatten Eltern aus den unterschiedlichsten Motiven ihre eigenen Kinder umgebracht, warum sollte das nicht auch hier der Fall gewesen sein? Hatte die Polizei wenigstens die Alibis überprüft? Oder war nicht einmal das geschehen? Hatte man sich einfach auf Graeme festgelegt, weil genug gegen ihn sprach?
Oder waren die Raynes tatsächlich unschuldig und freuten sich in Wahrheit darüber, dass Graeme wieder auf freiem Fuß war, weil sie sich jetzt an ihm rächen und ihn für den Tod ihrer Tochter büßen lassen konnten? O Gott, warum musste sie bloß eine so rege Fantasie haben? Und warum las sie in der wenigen Freizeit, die der Garten ihr ließ, immer nur Krimis, wenn dabei doch nichts anderes herauskam, als dass sie allen Leuten irgendwelche finsteren Motive unterstellte?
Kopfschüttelnd legte sie den ersten Gang ein und fuhr los in Richtung Folsom Gardens.
3. KAPITEL
„Julian? Sind Sie hier irgendwo?“
Die Tür zum Cottage stand offen, und nachdem Michelle laut genug angeklopft hatte, um auch wirklich gehört zu werden, drückte sie die Tür etwas weiter auf, da von drinnen keine Reaktion kam. Die Sonnenstrahlen, die durch die kleinen Fenster ins spärlich eingerichtete Innere fielen, reichten aus, um zu erkennen, dass Graeme in der Zwischenzeit schon fleißig gewesen war. Der Boden war gewischt worden, die Fenster hatte er geputzt, und vom Staub, der sich auf den Möbeln angesammelt hatte, war nichts mehr zu sehen. Im alten Pfarrhaus war zwar regelmäßig sauber gemacht worden, aber eben in recht großen Abständen, da niemand das Haus nutzte. Jetzt, da Graeme zurück war, würde er wie früher dafür sorgen, dass alles in bestem Zustand blieb.
Die Türen zu den zwei Zimmern standen offen, von dem Mann war nichts zu sehen. Da Michelle davon überzeugt war, dass er sich irgendwo in der Nähe aufhielt, stellte sie die Plastikbox mit den Sandwiches und die Thermoskanne mit Kaffee auf den Tisch in der Wohnküche, dann ging sie wieder nach draußen. Die niedrigen Türrahmen machten es erforderlich, dass sie sich bücken musste.
Vom Pfarrhaus ging sie rüber zur Ruine der Kathedrale, vielleicht würde sie ihn ja dort antreffen. Ihr Weg führte vorbei an der Statue des gefallenen Engels, bei dessen Anblick sie jedes Mal erleichtert daran denken musste, dass sie nicht abergläubisch war. Ansonsten hätte sie das ganz sicher für ein böses Omen gehalten, das den nahenden Weltuntergang ankündigte. So war es für sie nichts weiter als eine vom Sockel gefallene Steinstatue, an der in diesem Teil des Gartens ganz gezielt der Zahn der Zeit nagen durfte. Immer, wenn sie an der Ruine vorbeikam, musste sie an die kleine Lizzy denken, die Tochter des Gärtners Jed Bidson. Als Lizzy zum ersten Mal ihren Vater auf seinem Weg durch Folsom Gardens begleitete und sie an der Ruine vorbeikamen, blieb die Kleine stehen, betrachtete die Überreste der Kathedrale und den Engel, und dann fragte sie: „Daddy, ist das ein Außerirdischer, der mit seinem Raumschiff abgestürzt ist?“
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