WIDMUNG
In liebender Erinnerung an Michael Marolt
Die Harley ist für dich, Mike.
1. KAPITEL
Sunset Boulevard – Los Angeles, Kalifornien
Sommer – nach Einbruch der Dunkelheit
Lucas Darby stolperte durch die wabernden Lichter von Neonreklamen und vorbeiziehende Schatten und versuchte verzweifelt, den Sinn des dumpfen Geflüsters zu erfassen, das er hörte. Die Medikamente hatten ihm eine endlose Stille aufgezwungen, die selbst die Musik in seinem Kopf zum Verstummen gebracht hatte. Doch jetzt waren die Stimmen aufgetaucht und stillten den gewaltigen Durst in seiner Seele. Er verstand zwar nicht, was sie ihm sagen wollten, doch sie zu hören reichte aus, um Licht in das Dunkel in seinem Inneren zu bringen.
Es gelang ihm nicht, seinen Blick zu fokussieren, und so ignorierte er die verschwommenen Bilder vor seinen Augen und konzentrierte sich auf das, was er in seinem Kopf hörte. Die meisten Worte waren zu verzerrt, um sie zu verstehen. Einige wenige Botschaften kamen aus einem tieferen Teil von ihm, Worte, die sich anfühlten, als wären sie seine eigenen Gedanken, doch sie wurden von Stimmen geflüstert, die ihm unbekannt waren.
Ich kann dich jetzt hören. Bleib nicht stehen.
Selbst wenn er seine Gedanken ausschickte, hatte er keine Ahnung, wer „die anderen“ waren oder ob sie ihn hörten. Jetzt, wo sein Gehirn nicht mehr von den Medikamenten umnebelt war, waren die Stimmen zurückgekehrt, und auch die Farben sah er nun mit neuen Augen. Wunderschöne Prismen aus fließendem Licht, die von gesichtslosen Geistern ausgingen. Körper, die vor ihm schwebten, in Farben, die wie Hitze über heißem Asphalt flimmerten.
„Pass doch auf, wo du hinläufst, Junge!“
Jemand schubste Lucas. Das Gesicht eines alten Mannes schälte sich aus dem Dunkel, dann wurde es wieder von dem schimmernden Nebel verschluckt, der die Welt durchdrang.
Entschuldigung.
Er wusste nicht, ob er das Wort laut gesagt hatte. Trotz seiner fünfzehn Jahre fiel ihm das Sprechen noch immer nicht leicht. Von seiner Mutter wusste, er, dass er noch vor seinem ersten Wort eine seltsame Melodie gesummt hatte. Eines Tages war die Musik dann verstummt, und er hatte sich gefühlt, als hätte er einen Arm verloren.
Er vermisste die Musik. Ohne sie fühlte sich nichts mehr richtig an.
Mit den Jahren hatten die Medikamente wie ein Gift jede Pore seines Körpers durchdrungen. Doch jetzt, wo sie nach und nach abgebaut wurden, lernte Lucas ganz neue Sinneseindrücke kennen. Starkes Parfüm, vermengt mit Körpergeruch und dem Gestank von Alkohol, Frittierfett und Hotdogs waberte durch die Nachtluft. Vor ihm verzerrten sich die Bilder zu einem spiralförmigen Farbrausch, aus dem sich die Umrisse von Menschen lösten, die zu schattenartigen Hindernissen wurden. Lucas lief durch sie hindurch immer weiter den nicht enden wollenden Gehweg entlang.
Bleib nicht stehen. Wenn du es tust, werden die Believers dich finden.
Lucas wusste nicht, ob diese Gedanken seine eigenen waren. Er wusste nur, dass er gehorchen musste.
The Copperhead Club – West Hollywood
Rayne Darby gönnte sich einen entspannten Abend in der Bar. Sie trank alleine, knabberte gefüllte Oliven und nippte an einer Ananasschorle mit extra Kirschen und einer Orangenscheibe. Sie schnorrte Essen, wann immer sie konnte. Nicht, weil sie es musste. Drei anständige Mahlzeiten am Tag und die Nahrungsmittelpyramide waren noch nie ihr Ding gewesen. Aber das kärgliche Mahl, das sie als Abendessen bezeichnete, weckte Erinnerungen an ihre Mutter. Ihre Eltern wären entsetzt darüber gewesen, wie sie lebte, besonders, wenn sie gewusst hätten, dass sich ihr siebzehnjähriger Hintern gerade in einer Bar befand.
Aber da sie beide tot waren – umgekommen bei einem Absturz ihres Privatjets vor fünf Jahren –, hatten sie niemals erfahren, was aus Rayne geworden war. Manche Leute in ihrem Alter waren vermutlich neidisch, dass zu Hause keiner auf sie wartete und ihre Entscheidungen kritisierte. Die letzten sechs Monate hatte sie allein gelebt, hatte getan, was sie wollte und wann sie wollte. Es gab Augenblicke, in denen sie den Geschmack der Freiheit genoss.
Das hier war keiner davon.
Grünes Scheinwerferlicht verfing sich in den Schnapsflaschen, die auf verspiegelten Regalen standen. Nur die Schatten der zwei Barkeeper verdunkelten hin und wieder das gespenstische Glühen. Rayne hatte ihren Barhocker in die Schatten neben einem Lagerraum verrückt. Solange sie das Licht mied, fühlte sie sich unsichtbar. Mit gesenktem Kopf kauerte sie über ihrem Drink. Sie trug noch immer dasselbe wie am Morgen, weil sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte, sich umzuziehen – ausgeblichene Jeans, ihr Lieblings-T-Shirt von Led Zeppelin und eine alte braune Lederjacke, die ihr zu groß war. Ein Erbstück von ihrem Vater.
Alles an ihr sagte: Leg dich bloß nicht mit mir an.
Sie war hier, weil sie mit der Band abhängen wollte, aber dann hatte sich plötzlich ein dunkler Nebel um ihre Stimmung gelegt, und sie hatte keine Lust mehr gehabt, einen auf freundlich zu machen. Also hatte sie sich die nächste dunkle Ecke gesucht und war mit den Schatten verschmolzen. Seit sie Sommerferien hatte und tagsüber Jobs nachging, die nicht weiter erwähnenswert waren, war das Copperhead zu einem Lichtblick geworden … jedenfalls an den meisten Abenden.
Sie hob einen Finger, um die Aufmerksamkeit ihres Lieblingsbarkeepers Sam zu erregen, und fischte einen Geldschein aus ihrer Jackentasche. Bis er sich letztes Jahr ihren Ausweis hatte zeigen lassen, hatte Sam sie immer mit diesem „Du erzählst doch nur Scheiße“-Blick bedacht. Jetzt hatte er sie akzeptiert. Ihr Ausweis sah ja auch wirklich echt aus. Im ersten Moment hatte sie befürchtet, dass er sich als totaler Vollidiot entpuppen und sie trotzdem per Arschtritt vor die Tür verfrachten würde. Aber nachdem er festgestellt hatte, dass sie ihr Privileg nicht missbrauchte, indem sie Alkohol bestellte, ließ er sie in Frieden.
Bier schmeckte sowieso nach Pferdepisse. Nicht, dass sie jemals welche probiert hätte. Sie wusste nur, dass sie kein Bier mochte. Seit sie in einer anderen Bar eine ganze Nacht lang die Toilette vollgekotzt hatte, war sie von dem Wunsch nach einer Wiederholung kuriert. Danach hatte sie ihr Kurzzeitvisum für die Hauptstadt von Würgistan wieder abgegeben und sich eine neue Location gesucht. Im Copperhead fühlte sie sich zu Hause, besonders, weil Sam auf sie aufpasste wie ein großer Bruder. Der Typ hatte sich als echt cool entpuppt.
„Bei all dem Obstsaft, den du in dich reinkippst, müsstest du langsam immun gegen Skorbut sein. Ganz schön praktisch. Jedenfalls, wenn du Piratin wärst.“ Sam warf ihr einen seiner typischen ausdruckslosen Blicke zu.
„Ich werd dran denken, wenn ich Johnny Depp über den Weg laufe.“
„Na, willst du’s mal so richtig krachen lassen und auf Orangensaft umsteigen?“, fragte Sam, während er den Tresen polierte und ihr eine neue Serviette hinlegte.
„Ich denke, ich mache gleich mit dem Hauptgang weiter. Eine Dosis Tomatensaft bitte, ohne Eis.“
„Auch wenn ich damit das Risiko eingehe, dass du mich für einen Stalker hältst: Möchtest du ein bisschen Sellerie extra?“ Sam verzog die Lippen zu einem Lächeln.
„Haha, ich lach mir gleich den Arsch ab“, erwiderte sie mit ernster Miene. „Aber okay, mach mich platt mit der vollen Gemüsedröhnung. Danke.“
„Schon unterwegs, Täubchen.“
Sam akzeptierte sie einfach und fragte nie, warum sie im Copperhead Vielfliegermeilen sammelte. Selbst während des Schuljahres hing sie ständig hier ab. Die Wahrheit lautete, dass sie es hasste, allein in ihrer Wohnung zu sein. Sie brauchte den Lärm der Bar – und heute Abend gab es einen ganz besonders guten Grund für ihren Besuch: Sie kannte die Band, die gerade spielte.
Archimedes, Watch Out war eine texanische Pop-Punk-Band, der Rayne schon länger auf MySpace und Twitter folgte. Austin, der Typ am Keyboard, hatte auf den Bildern im Netz einen wilden Blick, der ihn interessant machte, aber in Person war er sanft wie ein Lämmchen. Der Leadsänger Dalton hatte eine sensationelle Stimme, die die Band noch weit bringen würde, und Tommy spielte zuckersüße Gitarrenriffs, die zu seinem bildhübschen Aussehen passten. Die Jungs sahen allesamt total heiß aus, was Rayne ziemlich gelegen kam. Sie brauchte das Jungs-Buffet, bei dessen Anblick einem das Wasser im Mund zusammenlief, als Ablenkung. Außerdem gab es nichts Besseres als Typen, die wussten, wie man eine dicke Portion Dezibel auftischte.
Nachdem Sam den Tomatensaft und praktisch eine ganze Selleriestange vor ihr abgeladen hatte, warf Rayne als Trinkgeld einen Geldschein auf den Tresen. Dabei bemerkte sie, dass ihr Handy zu leuchten und zu summen begann. Die Nummer war ihr bekannt. Mit zusammengebissenen Zähnen überlegte sie, ob sie rangehen sollte oder nicht. Wider besseres Wissen bedeutete sie Sam mit einem Kopfnicken, dass sie in den Lagerraum gehen würde, den einzigen ruhigen Ort hier, an dem sie den Anruf entgegennehmen konnte. Als Stammgast hatte man Privilegien.
Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm sie die Musik nur noch als leises Wummern wahr. „Was gibt’s?“, fragte sie, nachdem sie abgehoben hatte.
Ihre ältere Schwester legte ohne weitere Umstände mit ihrem üblichen Gezicke los. „Was ist das für ein Lärm, Rayne? Wo bist du?“
„Das ist meine Stereoanlage. Ich hab sie auf Herzinfarktlautstärke hochgedreht.“ Rayne besaß gar keine Anlage. „Warum rufst du an, Mia?“
„Wo ist Lucas? Ist er bei dir?“ Mit der Hardcore-Elternmasche sicherte sich Mia ihre volle Aufmerksamkeit. In Sachen Hysterie hätte keine echte Mutter mit Raynes Schwester mithalten können.
„Wovon redest du? Warum sollte er bei mir sein? Du hast ihn doch sicher hinter Schloss und Riegel gebracht, liebstes Schwesterherz.“ Als aus dem Hörer nur ein tiefes Seufzen zu hören war, legte Rayne das Klugscheißergehabe ab und fragte: „Was ist los, Mia?“
„Ich habe einen Anruf aus Haven Hills bekommen. Er ist nicht auf dem Gelände. Sie können ihn nicht finden.“
„Was?“ Rayne ließ sich gegen das Metallregal sinken. „Das kann nicht sein.“
„Offensichtlich schon.“ Mias Stimme hatte einen rasiermesserscharfen Beiklang. Typisch. „Das kann er nicht machen. Ich bin für ihn verantwortlich. Wenn du ihn versteckst, finde ich es heraus, das schwöre ich.“
„Verdammt, Mia, warum musst du immer …“
Es hatte keinen Zweck zu streiten. Ihre Schwester war so flexibel wie Beton. Das hatte Rayne auf die harte Tour gelernt. Die Therapieeinrichtung Haven Hills auf dem Sunset Boulevard war die letzten drei Jahre lang das Zuhause ihres jüngeren Bruders Lucas gewesen. Was für ein Freudenfest für den armen Luke. Mia hatte nach dem Tod ihrer Eltern die ganze Verantwortung an sich gerissen, und die private Nervenklinik hatte Verbindungen zu Mias Arbeitgeber, einer Kirche, die sich „Church of Spiritual Freedom“ nannte.
Als Rayne ihren kleinen Bruder an die Typen in den weißen Kitteln verloren hatte, war etwas in ihr zerbrochen. Obwohl Lucas wirklich dringend Hilfe brauchte. Aber Mias übereilte Entscheidung, ihn einzuweisen, hatte das zerstört, was von ihrer Familie noch übrig gewesen war. Rayne hatte den Verrat ihrer Schwester damals nicht mal ansatzweise kommen sehen. Sie kam sich blöd vor, und, was noch schlimmer war: Sie hatte ihren Bruder im Stich gelassen. Und zwar in einem Ausmaß, das sie niemals wiedergutmachen konnte. Jedenfalls nicht, solange Mia weiter ihr Besuchsrecht bei Lucas beschränkte. Wobei sein Zustand sowieso so schlecht war, dass man kaum mit ihm sprechen konnte.
Das war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht und dazu geführt hatte, dass Rayne zu Hause ausgezogen war. Sie konnte nicht so tun, als hätte sie kein Problem damit, dass ihre Schwester Lucas als Schachfigur gegen sie einsetzte. Er war der Hauptgrund dafür, dass Rayne das Gefühl hatte, auf der Stelle zu treten. Wie konnte sie ihr Leben weiterleben, solange er in dieser beschissenen Anstalt festsaß? Luke hatte sonst niemanden, der sich wirklich um ihn kümmerte. Er konnte sich nicht um sich selbst kümmern.
Sie war die Einzige, die ihn so liebte, wie er war.
„Rufst du mich an, wenn sie ihn finden?“ Rayne verzog das Gesicht, weil sie nicht glauben konnte, dass sie diese Frage überhaupt stellen musste. Anstatt zu antworten, stellte Mia selbst eine Frage.
„Kontaktierst du mich, wenn er dich kontaktiert?“ Als Rayne schwieg, seufzte ihre Schwester. „Klar, hätte ich auch nicht gedacht.“
Die Stille zwischen ihnen wurde immer lauter, und Rayne schob störrisch das Kinn vor.
„Mia, er ist auch mein Bruder. Bitte.“
Diesmal hatte ihre Schwester etwas zu sagen.
„Wenn du festgenommen wirst, weil du Alkohol trinkst, brauchst du dir nicht einzubilden, dass ich die Kaution zahle.“
Als die Leitung tot war, musste Rayne den Drang unterdrücken, um sich zu schlagen. Nett, echt nett. Ihr einziger Anruf aus dem Kittchen würde garantiert sowieso nicht Schwester Spaßbremse gelten. Mia schaffte es zwar immer wieder, Rayne zur Weißglut zu bringen, aber Wut würde Luke auch nicht helfen. Sie stopfte ihr Handy in die Jackentasche und verließ den Lagerraum. Sie musste nach Hause, für den Fall, dass er anrief, aber was, wenn er es nicht tat?
Oh, Gott. Weiß er überhaupt, wie er mich erreichen kann? Hat er meine Nummer behalten?
Bei der Vorstellung, wie Lucas völlig verwirrt und alleine durch die Straßen von L.A. irrte, wurde ihr ganz anders. In ihrer Vorstellung war er immer noch ein Kind – ein Kind, das in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Wie hatte er es nur geschafft, in seinem Zustand aus Haven Hills zu entkommen? Doch es gab noch eine Frage, die ihr weitaus größere Sorgen bereitete.
Wo zum Teufel will er hin?
Sunset Boulevard
Als Lucas in einem Restaurantfenster sein Spiegelbild ansah, starrte das Gesicht eines Fremden zurück. Der Hunger hatte ihn dem Geruch von Hamburgern und Pommes frites folgen lassen, aber nachdem er einen Blick in die Fensterscheibe geworfen hatte, war er wie vom Blitz getroffen stehen geblieben. Blutunterlaufene dunkle Flecken untermalten seine grauen Augen, und sein Haar war völlig verklettet. Er erkannte sein eigenes Gesicht kaum wieder. Aber er entdeckte noch etwas anderes in seinem Spiegelbild. Bald würde er zum ersten Mal seit Jahren frei von Medikamenten sein, und das leuchtend blaue Schimmern, das von seinem Körper ausging, war zurückgekehrt – und es war kräftiger als zuvor.
Mächtiger.
Du bist der Eine, nicht wahr? Eine Mädchenstimme, die aus dem Nichts kam.
Bei ihrem Klang sträubten sich seine Nackenhaare, und ein eiskalter Schauer überlief seine Arme. Sie schien ihm direkt ins Ohr zu flüstern. Er fuhr herum, glaubte, das Mädchen neben sich stehen zu sehen. Die Stimme klang auf seiner Haut nach wie sanfter Atem – wie etwas Intimes und Reines –, aber neben ihm stand niemand.
Der Eine? Wovon redest du?
Er konzentrierte sich, lauschte, aber nichts kam. Beim Klang der Stimme des Mädchens hatte er sich noch stärker gefühlt, verbunden mit etwas Größerem. Das gedämpfte Gemurmel im Hintergrund erinnerte ihn an ein Orchester beim Stimmen der Instrumente. Doch das Mädchen war deutlicher zu hören gewesen als die anderen, wie ein eindringliches Geigensolo. Er spürte sie in seinem Kopf. In seinem Körper. Bis in seine Haarspitzen.
Warum kannst du mich nicht hören? Seine Gedanken streckten sich nach ihr aus, er bettelte um eine Antwort. Als alle Stimmen verstummten, war er sicher, dass sie ihn bestrafte.
Bitte hör nicht auf. Ich höre zu. Du kannst mit mir reden, sagte er.
Das tröstliche Gemurmel kehrte zurück, aber das Mädchen blieb stumm, obwohl er es noch bei sich spüren konnte. Lucas wandte sich wieder der Glasscheibe zu. Er musste sein Spiegelbild nicht sehen, um zu wissen, was passiert war.
Er konnte es fühlen.
Blendend weiße Lichtblitze schossen durch das Kobaltblau und verstärkten die Energie in Lucas. Als er das perlende Glimmen des pulsierenden Lichts sah, wollte er lächeln, doch er tat es nicht. Denn die immer stärker werdenden Farben waren nichts weiter als eine tickende Zeitbombe. Die Medikamente hatten dazu gedient, sie zu unterdrücken, um Lucas kontrollieren zu können.
Ein Countdown hatte eingesetzt – und das Mädchen spürte es genauso wie er.
Weil du bist, was du bist, werden dich die Believers jagen.
„Aber … was bin ich denn genau?“ Er sagte die Worte laut, diesmal nicht zu ihr.
Es würde nicht lange dauern, bis die Believers merkten, dass er verschwunden war. Sobald sie es herausgefunden hatten, würden sie ihn suchen. Wenn sie ihn fingen, würden sie ihn kein zweites Mal entkommen lassen. Seine Flucht war nicht mehr als ein dummer Zufall gewesen. Vor einigen Stunden hatte er die Augen geöffnet und sich versteckt in einem Lieferwagen wiedergefunden, der gerade das Klinikgelände verließ. Wegen der Medikamente konnte er sich nicht genau erinnern, wie er dorthin gekommen war. Er war ohne Plan aus Haven Hills getürmt, er hatte nur Slippers und den Kittel getragen, den man ihm im Krankenhaus gegeben hatte. Als der Lieferwagen an einer Ampel anhielt, war er ausgestiegen und hatte keinen Blick mehr zurück geworfen.
Nachdem er klar genug im Kopf geworden war, um nachzudenken, hatte er begriffen, dass er zunächst etwas anderes zum Anziehen finden musste. Als ein betrunkener obdachloser Typ kurz sein Lager aus den Augen ließ, stahl Lucas ein paar von seinen Klamotten und griff nach einer Handvoll Münzen, die der Mann erbettelt hatte und in einem Becher mit Deckel aufbewahrte. Alles, was Lucas jetzt trug, stank. Er hasste es, aber so fiel er nicht auf zwischen den Unsichtbaren, die durch die Straßen von L.A. geisterten.
Lucas wusste, dass er seine Flucht nur dem Glück der Dummen zu verdanken hatte oder einer günstigen Planetenkonstellation oder irgendeiner anderen abgefahrenen Anomalie. Es würde schwierig werden, seine Freiheit zu bewahren. Die Believers hatten Geld. Viel Geld.
Vertrau niemandem. Auch nicht den Cops. Die Stimme des Mädchens spiegelte seine eigenen Gedanken wider. Bis auf einen Punkt.
Lucas musste ein Telefon finden.
Vor einer 7-Eleven-Filiale fand er, wonach er suchte. Er fummelte in seinen Taschen nach Wechselgeld und dem verknitterten Papierfetzen, den er aus Haven Hills mitgenommen hatte – dem mit der Telefonnummer seiner Schwester Rayne darauf. Als er das Klingeln hörte, schloss er die Augen und versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen. Er gab sich Mühe, sie glücklich aussehen zu lassen, aber es funktionierte nicht.
Komm schon, Rayne, heb ab.
Während das Telefon klingelte, versuchte er sich zu erinnern, ob die Nummer, die sie ihm gegeben hatte, zu ihrem Handy oder ihrer Wohnung gehörte. Bald würde der Anrufbeantworter anspringen. Eine Nachricht. Er würde richtig sprechen, etwas sagen müssen. Aber was sollte er ihr nur sagen, so verkorkst, wie alles war? Verdammt.
Vertrau niemandem. Die Worte des Mädchens hallten in seinem Kopf nach, aber er musste diesen Anruf machen. Danach würde Rayne zwar die Nummer haben, von der aus er angerufen hatte, aber Lucas wusste, dass er nicht auf ihren Rückruf warten durfte. Die Believers kannten zu viele Wege, um ihn aufzuspüren. Sein Instinkt zwang ihn, in Bewegung zu bleiben. Er wollte Rayne nicht in Gefahr bringen, aber er konnte sie auch nicht aus seinem Leben löschen, ohne ihr wenigstens Auf Wiedersehen zu sagen.
Auf Wiedersehen. Auch wenn es für ihn kein Wiedersehen mit der einzigen Person, die er sehen wollte, geben würde.
Als er ihren Ansagetext hörte, traf ihn die Enttäuschung wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr es ihn berührte, die Stimme seiner Schwester zu hören, bis er eine Träne seine Wange herabrollen spürte. Als der Piepton erklang, wischte er sich mit dem Handrücken übers Gesicht und atmete tief durch.
„Rayne, ich bin’s. Es tut mir leid. Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Dieser Ort … irgendetwas stimmt dort nicht, und ich kann Mia nicht vertrauen. Sie wollte, dass sie mich auf Station 8 verlegen. Das konnte ich nicht zulassen. Du bist die Einzige, die jemals …“ Er unterbrach sich und umklammerte den Hörer fester, versuchte, nicht so erbärmlich zu klingen. „Ich will dich sehen, aber es ist zu gefährlich.“
Er stieß seine Stirn gegen das Münztelefon. Station 8. Warum hatte er das nur gesagt? Er konnte nicht beschreiben, was der Gedanke an seine Verlegung in ihm auslöste, nicht am Telefon. Seine Nachricht klang lahm, und die Uhr in seinem Kopf tickte unerbittlich weiter. Er fühlte sich ausgeliefert, besonders, nachdem er die Sicherheitskamera vor dem Laden entdeckt hatte, die direkt auf ihn gerichtet war.
„Ich muss jetzt auflegen, aber …“ Er schluckte schwer. „Du darfst nicht nach mir suchen. Versprich mir, dass du es nicht tust. Es ist nicht sicher. Du würdest alles nur noch schlimmer für uns beide machen, und …“
Als der Anrufbeantworter piepte und ihn abwürgte, schloss er die Augen und atmete tief durch, um den Medikamentennebel um sein Gehirn aufzulösen. Dann rief er ein zweites Mal bei Rayne an. Diesmal musste er schneller reden und sagen, worum es ihm wirklich ging.
„Hey, ich bin’s wieder. Eigentlich hab ich angerufen, um zu sagen … Ich liebe dich, Rayne. Ich werde dich immer lieben.“
Als er auflegte, fühlte er sich total beschissen. Er hatte geklungen wie ein Loser auf Drogen – und paranoid obendrein. Wenn Mia es geschafft hatte, Rayne davon zu überzeugen, dass er psychisch instabil war, hatte er mit seiner Nachricht Öl ins Feuer gegossen. Er würde niemals Rayne die Schuld dafür geben, wie die Dinge gelaufen waren. Dennoch senkte sich bei dem Gedanken ein Gewicht auf sein Herz. Er hatte die Bande zu der einzigen Person durchtrennt, auf die er zählen konnte, weil er sie liebte. Was auch immer als Nächstes kam – er war jetzt ganz auf sich gestellt.
Ihm blieb keine Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Eine Energiewelle durchdrang ihn wie ein übersinnlicher Stoß.
Sie kommen.
Sein Inneres begann zu vibrieren, dann verwandelte sich das Gefühl in schmerzhafte Nadelstiche. Gefahr drohte. Er musste ihre Schritte nicht hören, um zu wissen, dass die Believers kamen, um ihn zu holen. Er konnte es spüren. Nein. Es ist zu früh. Ich bin nicht … stark genug. Er stahl sich in die Schatten einer Seitengasse, um seine Gedanken und seinen Körper unter Kontrolle zu bringen. Als er einen erneuten Energieschub spürte, wusste er, dass sie ihm bedrohlich nahe gekommen waren. Diesmal machte er sich keine Gedanken darüber, ob er Aufmerksamkeit erregte.
Lucas rannte los.
West Hollywood
Dreißig Minuten später
Gleich als sie die Wohnungstür öffnete, sah Rayne das blinkende Licht, das ihr verriet, dass sie eine Nachricht erhalten hatte, und hastete zu ihrem Telefon. Sie betete, dass der Anruf von Lucas gekommen war. Doch nachdem sie seine Nachricht gehört hatte, war sie noch besorgter als vorher. Sie schaltete eine Lampe ein und ließ sich auf einen Barhocker an der Küchenanrichte sinken, um die Nachricht ihres Bruders ein zweites und drittes Mal anzuhören.
„Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Dieser Ort … irgendetwas stimmt dort nicht.“
Seine Stimme hatte zittrig geklungen, war kaum wiederzuerkennen gewesen, besonders mit dem Verkehrslärm im Hintergrund. Trotzdem, er hatte sie angerufen. Das war doch ein Anfang, oder? Aber was hatte ihn so sehr verängstigt, dass er trotz seines Zustands aus Haven Hills geflohen war?
„… ich kann Mia nicht vertrauen.“
Seine Worte machten ihr Angst. Rayne vertraute Mia auch nicht, aber Lucas hatte selbst unter Medikamentenfluss gespürt, dass ihre ältere Schwester ein Ziel verfolgte. Etwas in seiner Stimme gab ihr das Gefühl, dass er wirklich Angst vor Mia hatte.
Und was war Station 8?
Was an Mia und diesem Krankenhaus hat dich so erschreckt, Lucas?
Rayne wählte die Nummer, von der er angerufen hatte, und lauschte dem Läuten des Telefons. Als niemand dranging, wählte sie die Nummer erneut, dann noch mal und noch mal. Beim dritten Mal nahm jemand ab.
„Hallo?“ Die Stimme einer älteren Frau.
„Ich habe einen Anruf von dieser Nummer erhalten. Können Sie mir sagen, ob Sie irgendwo in Ihrer Nähe einen großen Jungen sehen? Er ist mein Bruder, und ich muss mit ihm sprechen.“
„Hier steht niemand, Schätzchen. Ich bin hier, weil ich Bier holen wollte, und da hab ich das Telefon klingeln hören. Dachte, ich geh mal ran.“
Rayne schloss die Augen. Sie hatte ihn verpasst.
„Okay, könnten Sie mir dann bitte sagen, wo Sie sind? Ich muss ihn finden.“
„Klar.“ Nachdem die Frau ihr die nächste größere Kreuzung genannt hatte, sagte sie: „Ich hoffe, du findest deinen Bruder, Schätzchen. Und nur, dass du’s weißt: Ich trinke nur in Maßen.“
„Ähm, klar. Danke, Ma’am. Für alles.“
Rayne kannte die Gegend, aus der ihr Bruder angerufen hatte. Sie legte auf und streifte ihre Jacke ab, dann spielte sie die Nachricht noch einmal ab. Als sie sich Lucas alleine auf der Straße vorstellte, brannten ihr Tränen in den Augen. Fast sein ganzes Leben lang hatte sich jemand um ihn gekümmert, hatte er unter ärztlicher Beobachtung gestanden. Was würde passieren, wenn er seine Medikamente nicht mehr bekam?
„Verdammt, Mia, was hast du ihm angetan?“
Lucas musste verzweifelt gewesen sein, wenn er sich Mias Kontrolle entzogen hatte und aus dem Krankenhaus und vor dieser ominösen Station 8 geflohen war. Rayne war sich sicher, dass ihre Schwester ganz genau wusste, wovor er Angst hatte. Aber das hätte Mia niemals zugegeben, jedenfalls nicht ihr gegenüber. Seit das juristische Chaos aus Vormundschaft und Treuhandfonds geordnet worden war, verhielt sich Mia distanziert und verließ sich auf die Ratschläge ihrer Anwälte. Sie hatte aufgehört, mit Rayne über Lucas zu sprechen, über alles. Die Distanz zwischen ihnen war immer größer geworden, sie hatten mehr und mehr gestritten, aber richtig hässlich war es erst geworden, als Mia die Besuche bei Lucas benutzt hatte, um ihre jüngeren Geschwister zu kontrollieren.
Das war der Augenblick gewesen, in dem Rayne klar geworden war, dass sie alles verloren hatte. Sie hatte keine Kontrolle. Keine Macht, etwas zu ändern. Und jetzt hatte sie auch Lucas verloren.
„Ich will dich sehen, aber es ist zu gefährlich … Du darfst nicht nach mir suchen. Es ist nicht sicher. Du würdest alles nur noch schlimmer für uns beide machen …“
Rayne wusste nicht, was sie denken sollte. Was konnte gefährlich daran sein, ihren Bruder zu sehen? Und was konnte so schlimm daran sein, dass sie sich um ihn kümmern wollte? Er klang verängstigt und total paranoid. Was, wenn Mia recht gehabt hatte, was seinen Zustand betraf? Dass er das Krankenhaus wirklich brauchte? Rayne wollte tun, was das Beste für ihn war, aber …
„Was ist das Beste für dich, Luke?“ Sie wischte sich über die Augen.
War Mia damals genauso unsicher gewesen? Und hatte sie Rayne nur deswegen nicht um Rat gefragt, weil sie noch ein Kind gewesen war? Hätte Rayne die Entscheidungen, die ihre Schwester für Lucas getroffen hatte, dann vielleicht akzeptiert? Sollte sie Mia jetzt helfen, ihn zu finden, weil es letztlich das Einzige war, das sie tun konnte?
Mit seiner Flucht aus der Nervenheilanstalt zwang Lucas sie zum Handeln. Er hatte angerufen, um ihr zu sagen, dass er sie liebte, aber sie konnte sich nicht einfach zurücklehnen und den Dingen ihren Lauf lassen. Vielleicht war das hier ihre letzte Chance, alles in Ordnung zu bringen – das zu tun, wofür sie beim letzten Mal zu jung gewesen war.
Alles ist völlig durcheinander. Sie wollte, dass sich ihre Schwester irrte. Es muss einfach so sein.
Immer, wenn Rayne nervös wurde oder Angst bekam, spielte sich schräges Zeug in ihrem Kopf ab, das meistens mit ihrer Schwester zu tun hatte. Manchmal tat es ihr gut, sich Miss Perfect mit einem dicken, zum Ausdrücken reifen Pickel mitten auf der Stirn vorzustellen.
Aber wenn sie sich in ihrer Schwester geirrt hatte, bedeutete das, dass ihr Bruder wirklich krank war.
Rayne wünschte sich von ganzem Herzen, dass er noch immer das niedliche, schüchterne Kind war, an das sie sich erinnerte – ein freundlicher Junge, der von Geburt an anders gewesen war als die anderen. Aber was, wenn er das gar nicht mehr war? Was, wenn die Stimmen in seinem Kopf bösartig geworden waren? Wenn Mia sie vor ihm hatte beschützen wollen? Sich auf Lukes Seite zu schlagen würde so oder so nicht leicht werden. Wenn sie ihm den Rücken deckte – gegen Mias Geld und die Ärzte und ihren schrägen Arbeitgeber, diese Church of Spiritual Freedom –, dann mussten sie zu zweit dem Krankenhaus, den Gerichten und Gott die Stirn bieten. Das Gesetz und Gott würden auf Mias Seite sein. Der reinste Klacks. So einen Krieg würden sie niemals gewinnen. Nicht, ohne ordentlich Federn zu lassen.
Sie wollte gerade auf Abspielen drücken, um seine Stimme noch einmal zu hören, da ließ sie ein hartes Klopfen an der Tür zusammenfahren. Als sie durch das Guckloch sah, zog sich ihr Magen zusammen und ihr wurde schlecht. Ihre Schwester starrte sie an, als hätte sie einen Röntgenblick und könne durch die Tür sehen.
Aber das Schlimmste war, dass sie einen Polizisten in Uniform bei sich hatte.
„Verdammt, Mia. Was jetzt?“
2. KAPITEL
Als Rayne die Wohnungstür öffnete, machte ihre Schwester sich nicht mal die Mühe, Hallo zu sagen, sondern drängte sich mit dem Officer im Schlepptau einfach an ihr vorbei. Der Bulle zeigte seinen Dienstausweis nicht vor. Er tat nur, was Mia ihm sagte.
„Los, durchsuchen Sie die Wohnung“, befahl Mia mit einem Winken ihrer gepflegten Hand. „Sie haben meine Erlaubnis.“
„Lucas ist nicht hier, Mia. Sieh dich doch mal um. Verdammt, du kannst von der Wohnungstür aus jeden Zentimeter dieser Wohnung sehen.“
Sehr nett. Prinzessin Mia trampelte auf ihrer Privatsphäre herum, und das auch noch mit polizeilicher Verstärkung.
„Hallo? Ich habe mich für mündig erklären lassen, als ich sechzehn war! Brauchst du ein Lexikon, um nachzuschlagen, was das bedeutet?“ Offenbar interessierte es weder Mia noch den Polizisten, dass Rayne das Sorgerecht für sich selbst übernommen hatte. Als der Cop sie nicht mal ansah, sondern weiter ihre Sachen durchstöberte, verschränkte Rayne die Arme und starrte ihre Schwester wütend an.
„Wann wird mein Leben jemals mir gehören, Mia?“ Als ihre Schwester nicht antwortete, wandte sie sich an den Polizisten. „Nur um es erwähnt zu haben: Ich erteile Ihnen nicht die Erlaubnis, meine Wohnung zu durchsuchen. Falls Sie das irgendwie interessiert.“
Tat es nicht.
Typisch. Mia trug einen schicken Hosenanzug und so hohe Absätze, dass man den Kopf in den Nacken legen musste, um ihr ins Gesicht zu sehen. Insgesamt sah sie ganz so aus wie America’s Next Top Model. Ihre Vorstellung von einem lässigen Freitagsoutfit. Der Blick, mit dem sie eine Bestandsaufnahme des Einzimmerapartments vornahm, sagte mehr als tausend Worte. Was auch immer Mia davon hielt, wie Rayne lebte – viel war es nicht.
Raynes ungemachtes Bett und das durchgesessene Sofa, das mit Klebeband geflickt war, gaben leichte Angriffsziele ab. Der gebrauchte Fernseher stand auf Betonblöcken und Holzplanken, in der Spüle stapelten sich Müslischalen, und in einer Zimmerecke türmte sich Schmutzwäsche. Rayne hätte gedacht, dass Mia sofort mit einer fiesen Attacke loslegen würde. Doch stattdessen ging ihre Schwester wortlos zu dem einzigen gepflegten Bereich von Raynes Existenz hinüber – dem einen neuen Gegenstand, für den sie wirklich Geld ausgegeben hatte. Rayne wappnete sich für Hassattacke 2.0.
„Oh, mein Gott. Was ist denn das?“ Mia spähte in das große Terrarium, das eine Ecke der kleinen Wohnung dominierte und von UVB- und Wärmelampen mit Zeitschaltung beleuchtet wurde. Als sie den schuppigen Leguan entdeckte, verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse reiner Abscheu.
„Das ist mein Mitbewohner Floyd Zilla. Komm nicht zu nahe, er hat noch nicht gegessen.“
Als wolle er ihre Worte unterstreichen, ließ der Leguan seine Zunge hervorschnellen und machte einen Satz in Mias Richtung, die entsetzt zurücksprang. Rayne lachte prustend.
„Das Vieh überträgt bestimmt Krankheiten“, sagte ihre Schwester.
„Du auch, aber hey, wenn du mich fragst …“ Rayne zwang sich ein Grinsen ab und log: „… Ich glaube, er mag dich.“
Mia warf ihr einen strengen Blick zu und verlor kein Wort mehr über Floyd. Als sie in die Küche weitermarschierte, verdrehte Rayne die Augen und ließ sich auf einen Barhocker sinken, von dem aus sie beobachten konnte, wie ihre Schwester Kühlschrank und Küchenschränke durchsuchte. Mia hielt mit gehobenen Brauen eine Packung Fertig-Käsemakkaroni hoch und sah Rayne an, als würde sie eine Erklärung erwarten.
Verdammte Axt, erwischt.
„Die sind für Floyd“, log Rayne. „Er braucht eine extrem kohlehydratreiche Ernährung.“
Mia rollte mit den Augen und sagte: „Na ja, immerhin hast du frisches Obst da, aber was hat es mit der Pastinake auf sich?“
„Ähm, das Obst und die Pastinaken gehören auch zu Floyds Vorrat. Er ist Veganer. Ich mache ihm immer Brei aus Salat und Obst, weil er doch keine Zähne hat. Willst du mal probieren?“
„Das war ja wieder mal klar. Die Echse isst besser als du.“ Mia seufzte und schüttelte den Kopf über Raynes übrige Vorräte. „Fertiggerichte, Ramennudeln, Ben & Jerry’s. Ist das deine Vorstellung von Ernährung?“
„Das ist doch nur mein Frühstückskram.“
Mia schnappte sich eine Familienpackung Skittles und hielt sie ihr vor die Nase. „Frühstück?“
„Die kommen in meine Cornflakes. Gott.“ Rayne nahm ihr die Skittles weg. „Außerdem hole ich mir meine Nährstoffe so wie der Großteil Amerikas bei McDreck. Mein Beitrag zur Rettung der Wirtschaft – Big Mac für Big Mac.“
„Du findest das vielleicht lustig, aber ich sehe den Witz nicht. Du bist fast achtzehn. Ich hätte … mehr von dir erwartet.“
„Was bildest du dir eigentlich ein, überhaupt irgendwas von mir zu erwarten? Ich bin ausgezogen. Warum, ist kein Geheimnis, jedenfalls nicht zwischen uns. Du hast kein Recht, mir Vorwürfe darüber zu machen, wie ich lebe.“
Mia warf dem Bullen einen Seitenblick zu und schob das Kinn vor. Rayne wusste, was das zu bedeuten hatte. Ihre Schwester hasste es, in Gegenwart Dritter über Privatangelegenheiten zu streiten. Sie hatte kein Problem, ordentlich auszuteilen und ihr Gift zu verspritzen, aber sobald Rayne zurückschoss, rastete Mia aus, weil sie die Kontrolle verlor. Rayne hätte vor dem Cop für ordentlich Feuer sorgen können, aber sie entschied sich dagegen. Irgendjemand hier musste sich schließlich erwachsen verhalten – und wenn sie Mia Informationen über Station 8 entlocken wollte, verbesserten sich ihre Chancen deutlich, wenn sie alleine waren.
Der Bulle brauchte nicht lange, um die Wohnung zu durchwühlen. Er sagte nicht viel und schüttelte nur den Kopf, als er fertig war. Hä? Kein Lucas? Echt jetzt? Menno.
„Warten Sie im Wagen auf mich“, sagte Mia. „Ich muss unter vier Augen mit meiner Schwester sprechen.“
Nachdem die Wohnungstür hinter dem Cop ins Schloss gefallen war und sie alleine waren, gab Rayne ihrer Schwester gar nicht erst die Gelegenheit, ihr die Lektion des Tages zu verpassen. Denn sie hatte selbst eine Menge zu sagen.
„War das jetzt eine offizielle Angelegenheit? Hast du das Verschwinden von Lucas überhaupt bei der Polizei gemeldet? Oder steht der Cop auf der Gehaltsliste deiner wunderbaren Kirche?“ Als Mia nicht gleich antwortete, schob sie nach: „Dachte ich mir schon.“
„Sieh mal, Rayne, unterm Strich geht es doch darum, dass wir eine Familie sind.“
Klar, die Liebe ist fast greifbar.
„Hattest du vor, mich jemals einzuladen und mir deine Wohnung zu zeigen?“, sagte Mia und machte dabei einen auf verletzt. „Es ist schon sechs Monate her, dass du ausgezogen bist.“
Das kam aus heiterem Himmel, und fast wäre Rayne ins Schleudern geraten. Na klar. Wenn Schweine fliegen lernen, Schwesterherz.
„Die Post muss deine Einladung zu meiner Einweihungsparty verschlampt haben.“
„Ich weiß, dass Lucas dich angerufen hat.“ Mia stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Küchentresen ab und sprach in so vertraulichem Ton, als wären sie beste Freundinnen. „Du hast doch keine Ahnung, was da vor sich geht, Rayne.“
„Dann klär mich auf! Das kann ja wohl nicht so ein großes Problem sein! Er ist auch mein Bruder. Ich will doch nur helfen.“
„Aber das kannst du nicht. Ich kümmere mich um alles, was Lucas braucht. Es geht einfach nicht, dass du mir in die Quere kommst.“
In die Quere? Was Mia sagte, tat weh – sehr sogar –, aber Rayne ließ sich nichts anmerken.
„Nur das Krankenhaus kann ihm helfen. Lucas wirkt auf den ersten Blick vielleicht normal, aber er ist wirklich krank, Rayne. Nachdem ich mich für ihn eingesetzt habe, hat eine neue Ärztin Interesse an seinem Fall gezeigt.“
Na toll, noch eine mehr. Was diese neue Ärztin wohl mit Lucas’ Verlegung zu tun hatte? Mia glaubte an ihre verrückte Kirche und deren „System“, und sie glaubte alles, was ihr die Ärzte sagten. Aber Rayne hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie hatte genug von den Theorien der Ärzte, doch sie hielt den Mund und hörte zu.
„Ihr Name ist Dr. Fiona Haugstad. Sie leitet die psychiatrische Abteilung in Haven Hills. Dr. Haugstad war an der Neubewertung von Lucas’ Zustand beteiligt, hatte aber niemals die Gelegenheit, sie abzuschließen. Wenn er seine Medikamente nicht mehr nimmt, könnte er ihrer Meinung nach jedoch eine Gefahr für …“
„Jetzt warte mal“, unterbrach Rayne sie. „Noch mal von vorne. Du hast gesagt, dass du weißt, dass Lucas mich angerufen hat. Woher? Spionierst du mir etwa nach?“
„Du verstehst das alles nicht. Das hast du noch nie.“ Mia wich ihrem Blick aus und antwortete auch nicht auf ihre Frage.
„Weil du mich außen vor hältst! Du behandelst mich ständig wie ein dummes kleines Kind!“
„Du bist nicht dumm, aber ein Kind bist du tatsächlich noch! Was ist so verkehrt daran, dass ich die Rolle der Erwachsenen übernehme?“ Mia zuckte mit den Achseln. „Sieh mal, keiner von uns hatte das Glück, eine richtige Kindheit zu erleben. Das ist scheiße, und Lucas hatte das größte Pech von uns allen. Ich will euch beide doch nur vor Schlimmerem bewahren!“
„Schwer zu glauben, dass es etwas Schlimmeres gibt als tote Eltern und ein Leben in der Psychiatrie ohne Aussicht auf Entlassung. Aber hey, wenn du Lucas erklärst, dass irgendwo da draußen ein viel größerer böser schwarzer Mann herumläuft, glaubt er dir ja vielleicht, dass sein Leben in der Klinik gar kein Riesenhaufen Scheiße ist! Dank dir sabbert er rund um die Uhr.“
Rayne nahm Mia die ganze „Fürsorgliche-große-Schwester“-Masche nicht ab. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte Mia sofort die gesamte Verantwortung an sich gerissen und eigenmächtig alle Entscheidungen getroffen. Anfangs war das ein Trost gewesen, doch dann hatten Männer in Anzügen mit ihren offiziellen Dokumenten die Kontrolle über ihr Leben übernommen. Rayne hasste Anwälte, und Richter waren kein Stück besser. Die Typen interessierten sich nur für den Papierkram und dafür, dass sie ihre Unterschriften bekamen, ob es nun um das Sorgerecht oder um juristische Anträge ging.
Mia war achtzehn gewesen, als sie ihre Eltern verloren, und sie hatte Rayne damals überredet, ihr einfach zu vertrauen. Rayne hatte es nicht besser gewusst, und außerdem hatte sie daran glauben wollen, dass ihre Schwester alles im Griff hatte. Auf Mias Bitte hin hatte sie ihre Unterschrift auf eine gepunktete Linie gesetzt und damit allen Plänen ihrer Schwester für Lucas’ und ihre eigene Zukunft zugestimmt.
Danach war alles ganz schnell gegangen, und dank des Richters waren alle Entscheidungen, die Mia getroffen hatte, sogar legal. Sie gründete Treuhandfonds und riss die Kontrolle über alles an sich, inklusive die Betreuung von Lucas und seinen Anteil am Erbe. Damals hatte Rayne noch geglaubt, Mia würde wollen, dass sie alle zusammenblieben. Dass sie alle unter einem Dach lebten, damit sie gemeinsam den Verlust ihrer Eltern verarbeiten und weiter eine Familie bleiben konnten.
Doch als Lucas mehr brauchte als nur ein Dach über dem Kopf, hatte Mia ihn in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einliefern lassen, als würde sie sich für ihn schämen. Sie hatte ihn so emotionslos in Haven Hills eingesperrt, wie man von dem Rückgaberecht für ein defektes Gerät Gebrauch macht.
„Wie gesagt, du hast es noch nie verstanden.“ Endlich sah Mia ihr in die Augen. „Hast du selbst mit ihm gesprochen, oder hat er dir nur eine Nachricht hinterlassen?“
Mia spielte nur aus einem Grund die besorgte Schwester: Sie wollte Rayne Informationen entlocken und hoffte, dass sie die Nachricht von Lucas hören durfte. Tja, Pech gehabt.
„Du hast das Recht auf eine Antwort verspielt, Mia. Tut mir leid.“
Ihre Schwester wirkte aufrichtig traurig. Ein Teil von Rayne wünschte sich, dass zwischen ihnen alles anders gelaufen wäre, aber der Teil, der sie zurückhielt, war einfach stärker. Wie immer vertraute ihre Schwester ihr nicht genug, um mit der Wahrheit herauszurücken, nicht einmal, was Lucas betraf. Sie beide trugen einen riesigen Haufen an Enttäuschungen mit sich herum, und es sah nicht so aus, als ob eine von ihnen nachgeben würde.
„Was ist Station 8? Du hattest Lucas dorthin verlegen lassen wollen. Wollte diese neue Wunderärztin Lucas vor der Verlegung schützen oder war das auf ihrem Mist gewachsen?“
Rayne fiel kein schlauerer Weg ein, die Verlegung zu thematisieren. Ihr Bruder hatte nicht erklärt, warum er solche Angst vor Station 8 hatte. Jetzt konnte Mia sich denken, dass Rayne nicht persönlich mit ihm gesprochen, sondern nur eine Nachricht von ihm bekommen hatte – und Fragen ohne Antworten.
„Woher …?“ Mia biss die Zähne zusammen. „Bitte … halt dich da raus. Tu nur ein einziges Mal, worum ich dich bitte. Lucas zuliebe.“
Rayne starrte sie ungläubig an.
„Klar, tue ich das nicht immer, Schwesterherz?“
Sie konnte Mia ansehen, dass sie ganz genau wusste, was ihre Antwort wirklich bedeutete. „Klar“ hieß „auf keinen Fall“. Das zunehmende Misstrauen zwischen ihnen hatte mit dem Schock über den Verlust ihrer Eltern eingesetzt. Und seitdem war alles, was ihnen geblieben war, den Bach runtergegangen.
Mia ging ohne ein weiteres Wort. Rayne hatte nicht wirklich erwartet, dass ihre Schwester ihr in Bezug auf Lucas, seine fragwürdige medizinische Versorgung und Station 8 plötzlich Vertrauen schenken würde. Und die leisen Zweifel darüber, was sie tun sollte, waren nach dem Gespräch mit ihrer Schwester wie weggewischt. Wenn die Kirche auch Cops auf der Gehaltsliste hatte, war es sinnlos, Lucas bei der Polizei als vermisst zu melden. Dank Mia wäre das reine Zeitverschwendung gewesen.
Rayne stellte Floyd etwas Salatbrei aus dem Kühlschrank zum Fressen hin und füllte seine Tränke neu auf – das würde eine ganze Weile reichen. Nachdem sie den Leguan versorgt hatte, suchte sie auf ihrem Handy nach einem aktuellen Foto von Luke, einem, das sie an einem seiner besseren Tage in Haven Hills gemacht hatte, an dem er sie fast erkannt hätte.
Auf seinen hübschen Zügen lag ein schiefes Lächeln, und seine schönen grauen Augen wirkten schläfrig, als ob er gerade aus einem langen Nickerchen aufgewacht sei. Es war eins ihrer Lieblingsbilder von ihm, weil sie darin den kleinen Jungen erkennen konnte, der er einmal gewesen war. Sie schlüpfte wieder in ihre Lederjacke, schnappte sich den Schlüssel zu ihrem Motorrad und schloss die Wohnung ab. Sie würde Lucas selbst suchen, und anfangen würde sie in dem 24-Stunden-Supermarkt, von dem aus er angerufen hatte.
Anders als ihre Schwester hatte Lucas weder die Polizei auf seiner Seite noch eine Kirche, auf deren Geld er bauen konnte. Luke hatte niemanden – bis auf sie. Und in einem Punkt war sich Rayne absolut sicher.
Mia verschwieg ihr etwas über Lucas. Hundertprozentig.
Wenige Minuten später
Bevor Mia zum Wagen ging, in dem Officer Preston auf sie wartete, musste sie noch einen Anruf hinter sich bringen. Sie war nicht sonderlich erfreut darüber, mitteilen zu müssen, dass Lucas sich nicht bei Rayne versteckte. Wie hatte das alles nur so ein Schlamassel werden können? Es beunruhigte sie, dass ihre Schwester von Station 8 wusste. Wie konnte Lucas davon erfahren haben? Wie konnte er bei all den Medikamenten, die man ihm verabreicht hatte, von diesem streng geheimen Teil der Klinik wissen, der in direkter Verbindung mit der Kirche und ihren Überzeugungen stand? Nicht einmal Mia wusste genau, was dort vor sich ging. Sie wusste nur, dass auf Station 8 unter ausschließlicher Verantwortung der Kirche mit recht unkonventionellen Methoden an harten Fällen gearbeitet wurde – die letzte Hoffnung für Patienten, die auf traditionelle medizinische Behandlungen nicht reagierten. Sie hatte gehofft, dass Dr. Haugstad die Verlegung von Lucas würde verhindern können, doch jetzt würde sie wahrscheinlich niemals erfahren, was für Pläne die Ärztin mit ihrem Bruder gehabt hatte. Und im Augenblick hatte sie auch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Beim zweiten Klingeln meldete sich am anderen Ende der Leitung eine heisere Stimme.
„Ich bin’s. Er war nicht da.“
„Er ist Ihr Bruder, Mia. Wo könnte er stecken?“
Sie kannte den Mann nur bei seinem Nachnamen: O’Dell. Beim Klang seiner tiefen, kehligen Stimme bekam sie jedes Mal eine Gänsehaut – als würde er viel zu dicht neben ihr stehen und ihr ins Ohr flüstern. Aber es war wichtig, dass er ihr vertraute. Die Church of Spiritual Freedom hatte den Mann damit beauftragt, unauffällig nach Lucas zu suchen und dafür zu sorgen, dass nur Beamte, die unter dem weitreichenden Einfluss der Kirche standen, in den Fall involviert wurden. Mia hatte keine andere Wahl als zu kooperieren. Die Kirche musste unbedingt die Kontrolle über diese Angelegenheit bewahren, um eine öffentliche Bloßstellung zu verhindern. O’Dell war der Schlüssel zu allem. Wenn er fand, dass Mia versagt hatte, würde sie niemals in den inneren Vertrauenskreis der Kirche aufsteigen. Und das kam gar nicht infrage.
„Ich werde mit Officer Preston zu unserem alten Haus fahren. Es ist der letzte Ort, an dem wir eine Familie waren. Vielleicht versteckt er sich dort.“
In Wahrheit hatte Mia keine Ahnung, wohin Lucas sich wenden würde. Da er zu Fuß unterwegs war, war es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie ihn in ihrem alten Haus finden würde. Aber so konnte sie Zeit schinden und in Ruhe darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Sie musste Luke finden, und dafür brauchte sie O’Dells Hilfe.
Alles hing davon ab.
„Rufen Sie mich an, wenn Sie dort waren“, sagte O’Dell. Er legte auf, ohne ihre Antwort abzuwarten. Kein gutes Zeichen.
Wo konnte Luke nur sein?
Die Rennerei hatte Lucas seine letzte Kraft gekostet. Seine Brust hob und senkte sich schwer, seine Beine brannten und ihm war schlecht. In den Schatten einer dunklen Seitengasse beugte er sich vor und würgte, doch es kam nichts hoch. Sein Magen war leer, er gab nichts, was er erbrechen konnte. Der Aufenthalt in der Nervenheilanstalt und die Medikamente hatten ihn völlig ausgelaugt. Er fühlte sich schwach, und er wusste nicht mehr, wer er war.
Fürs Erste war er seinen Verfolgern entkommen, doch er konnte sie immer noch spüren. In der finstersten Ecke der Gasse ließ er sich keuchend an einer Ziegelwand hinabgleiten und schloss die Augen. Er musste sich ausruhen. Es war verlockend, einfach einzuschlafen und den Rest dem Schicksal zu überlassen. Die Medikamente, die sich noch in seinem Körper befanden, verwirrten ihn. Er war aus Haven Hills getürmt, weil er deutlich gespürt hatte, dass etwas auf ihn zukam. Die Albträume waren immer häufiger geworden und hatten ihn in die Flucht getrieben, aber aufhalten konnte er sie auch außerhalb der Klinik nicht.
Seine düsteren Träume über Station 8 holten ihn wieder ein.
Egal, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt, seine Erschöpfung und die Schatten in der Gasse ließen den immer gleichen Albtraum in blendenden Abfolgen aus Klängen und Bildern erneut vor ihm ablaufen. Sein Herz begann zu rasen. Er war nachts so oft schweißgebadet aus diesem Traum aufgewacht, dass er nicht mehr wusste, ob es sich um wirkliche, durch die Medikamente verfremdete Erinnerungen handelte oder um paranoide Vorstellungen davon, was ihm widerfahren würde, wenn man ihn tatsächlich auf Station 8 verlegte. Mit den Jahren hatten die Medikamente die Kontrolle über seinen Körper übernommen und ihn praktisch zu einem Gefängnis gemacht – zu einem Käfig, aus dem es für Lucas nicht einmal jetzt ein Entkommen gab. Er wusste nicht mehr, was real war. Er wollte all das einfach nur hinter sich lassen, wollte, dass es aufhörte.
Doch etwas gab es, das sich greifbar anfühlte und ihn davon abhielt, der Angst nachzugeben und sich von den Believers finden zu lassen.
Die Stimme des Mädchens in seinem Kopf.
Du hast keine Ahnung, wie mächtig du bist.
Ihre Stimme bewegte ihn dazu, die Augen aufzuschlagen. Mühsam kam er auf die Beine und suchte Halt an der Ziegelmauer.
Komm zu mir. Ich kann dir helfen.
Die Stimme half ihm, den ersten Schritt zu tun und dann den nächsten. Er musste das Mädchen finden. Es hatte ihm ein großes Geschenk gemacht: Nun interessierte ihn wieder, was mit ihm geschah.
Burbank
O’Dell lief durch die Schatten eines schwach beleuchteten Raums seiner bunkerartigen Kommandozentrale in Burbank und ließ den Energieschub von dem Eiweißdrink, den er gerade getrunken hatte, seine Wirkung entfalten. Er nahm den Powerdrink, den er nach seinem eigenen Rezept zusammenbraute, immer nach dem Training ein, da er das Muskelwachstum steigerte. Zur Stärkung seiner Hand- und Unterarmmuskulatur drückte er auf einem Gummiball herum. Er nannte diese Übung den „Schlangentanz“. Die meisten Frauen warfen ihm skeptische Blicke zu, wenn sie das hörten, doch der Name hatte seinen Grund. Um O’Dells Unterarme wickelten sich zwei Schlangentattoos, und wenn er den Gummiball drückte und sich seine Muskeln anspannten, sah es so aus, als würden sich die Schlangen bewegen.
Die Zwillingsschlangen verschafften ihm Aufmerksamkeit und Respekt. O’Dell war kein Herdentier. Er arbeitete nicht nach der Stechuhr. Normale Jobs waren für Idioten. Hier hatte er die Verantwortung. Die auf langen Tischen nebeneinander aufgereihten Computermonitore tauchten die Gesichter seiner Leute in bunte Farben. Im Dunkeln war es leichter, sich auf die Überwachung zu konzentrieren. An jeder Arbeitsstation wurde ein anderer Abschnitt von L.A. beobachtet.
O’Dell und seine Leute hatten sich in die Straßenkameras der Stadt eingehackt und suchten mithilfe eines Gesichtserkennungsprogramms, das sie „Tracker“ nannten, nach Lucas Darby und anderen wie ihm.
Sie hatten ihre Augen überall.
O’Dell ging in sein Büro, das auf einer erhöhten Plattform hinter den Reihen seiner Computer-Administratoren lag. Ein riesiges Fenster hielt ihn über alles auf dem Laufenden, was unten geschah. Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und spielte noch einmal das Video von dem kleinen Darby in der Telefonzelle ab. Selbst im Dämmerlicht konnte er erkennen, wie der Junge weinte und sich die Augen rieb. O’Dell hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, was der Grund dafür war. Als Darby in die Überwachungskamera blickte, wirkte es so, als würde er wissen, dass er beobachtet wurde. O’Dell musste lächeln.
Verdammter Freak!
Er dachte an die Akte über Darby, die man ihm hatte zukommen lassen. Sie war kurz gewesen. Nur das Wichtigste, keine nähere Erklärung. O’Dell erhielt seine Aufträge in Form digitaler Dateien, die online zugänglich waren. Die Dossiers über seine Zielpersonen enthielten unter anderem Überwachungsfotos, die er in Tracker hochladen konnte, und Informationen, die eine diskrete Entführung erleichterten. Er jagte die Gesichter aus den Akten durch ein Suchraster, und sobald er einen Treffer gelandet und die Zielperson beschafft hatte, sperrte er sie in einen Haftraum in seinem Bunker, bis er über die Statusverfolgungsseite im Internet eine sichere Übergabe arrangieren konnte.
Die Typen, die die Zielpersonen, immer Kinder und Jugendliche, abholten, trugen Weiß, kamen in einem Krankenwagen und stellten die Kinder immer mit Medikamenten ruhig. Natürlich war es möglich, dass die Krankenhausausrüstung nur Theater war, aber für O’Dell spielte es keine Rolle, wohin man die Zielpersonen brachte, und er wusste es auch nicht. Wenn sein Team den Auftrag erhielt, ausgediente Körper zu entsorgen, wurden sie zu einem sicheren Treffpunkt geordert und hatten strikte Anweisung, nicht in die schwarzen Leichensäcke zu sehen. Aber einmal hatte O’Dell die Regeln gebrochen und einen Blick riskiert. Eins der toten Kinder hatte er wiedererkannt, einen Jungen, den er gejagt hatte. Danach hatte er niemals wieder in die Säcke geguckt, nicht bei dem Zustand, in dem sich die Leiche befunden hatte. Diese Kinder bedeuteten für ihn und sein Team nichts weiter als einen Lohnscheck und eine Bonuszahlung.
Er wusste nicht, wie und warum seine Zielpersonen ausgewählt wurden. Die Geheimorganisation, für die er arbeitete, hatte eine kleinteilige Struktur. Er ging davon aus, dass sie über ein globales Netzwerk verfügte, aber das war reine Mutmaßung. Wenn Kinder wie diese in L.A. existierten, musste es sie auch an anderen Orten auf der Welt geben. O’Dell erledigte seine Arbeit, ohne viel über die Organisation zu wissen, die ihn beauftragte. Manche Leute mochte es stören, nicht zu wissen, wer in der Hackordnung über ihnen stand, doch O’Dell wusste es zu schätzen, dass im Gegenzug auch niemand über seinen Betrieb Bescheid wusste. Es wurden nur Informationen ausgetauscht, die unverzichtbar waren. Falls jemand in Konflikt mit den Behörden geriet, konnte er so nichts verraten, was die Gruppe in Gefahr brachte, und der Online-Informationsaustausch konnte im Handumdrehen stillgelegt werden.
O’Dell war zufrieden damit, wie es war, und es verschaffte ihm einen Kick, diese kleinen Intelligenzbestien aufzuspüren. Angeblich hatten die Indigokinder einen außergewöhnlich hohen IQ und galten dank ihrer „besonderen“ Begabungen als die nächste evolutionäre Stufe der Menschheit. Besonders, na klar. Wenn sie so hoch entwickelt waren, wie konnte es dann sein, dass sie so verdammt leicht zu schnappen waren?
Mit einem selbstgefälligen Grinsen schüttelte er den Kopf. Die Vorstellung, die heiße Schwester des Jungen für seine Zwecke zu benutzen, machte ihn echt an. Diese Mia musste ihren eigenen Bruder aufspüren und ausliefern, um der Kirche ihre Loyalität zu beweisen. Die Kleine musste ziemlich gierig sein. Mit der richtigen Einstellung würde sie es zu einer Menge Geld bringen können. Aber damit sie ordentlich absahnte, musste sie ihren Bruder betrügen und gegen ihre kleine Schwester arbeiten – die, die der Junge angerufen und wegen der er geheult hatte. O’Dells Bauchgefühl sagte ihm, dass sie es war, auf die er ein Auge haben musste.
O’Dell suchte den Blick seines besten Mannes und bedeutete ihm, hoch in sein Büro zu kommen.
„Ich will einen Mann an dem Münztelefon, von dem aus der Junge telefoniert hat“, befahl er. „Er könnte zurückkommen. Und setzt ein Überwachungsteam auf die andere Schwester an, Rayne. Wenn es sein muss, könnt ihr die Jungs von der Gang benutzen, diese MS-13-Crew, aber gebt keine Informationen an sie weiter.“
Die Gang Mara Salvatrucha 13 war in Los Angeles entstanden, aber ihr Einflussbereich erstreckte sich mittlerweile über die USA, Kanada, Mexiko und bis nach Mittelamerika. O’Dell fand sie nützlich, und da sie sich auf seinem Terrain befanden, zahlte es sich aus, ein paar Gangmitglieder auf seiner ...
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