Blue-Heron-Serie Teil 1-3

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LIEBER FÜR IMMER ALS LEBENSLÄNGLICH

Was kann demütigender sein, als vor dem Traualtar stehen gelassen zu werden?
Zum Beispiel, nur mit Push-up-BH und Bauch-weg-Unterhose bekleidet durchs Toilettenfenster einer Bar fliehen zu müssen und dabei von der Polizei überrascht zu werden. Faith würde vor Scham am liebsten im Boden versinken. Denn der Cop, der sie erwischt hat, ist ausgerechnet Levi Cooper. Der beste Freund ihres Ex, der dabei geholfen hat, ihre Hochzeit zu ruinieren. Allein dafür verdient Levi lebenslänglich, findet Faith. Da braucht er jetzt auch gar nicht den ritterlichen Freund und Helfer zu spielen. Allerdings sind seine grünen Augen geradezu kriminell sexy und seine Küsse verführerischer, als die Polizei erlaubt …

LIEBER LINKSVERKEHR ALS GAR KEIN SEX

Wenn man an seinem Geburtstag erfährt, dass man jetzt ein Alter erreicht hat, in dem die Qualität der Eizellen rapide abnimmt …
Wenn der Mann, mit dem man seit Jahren sporadisch Sex hat, einen sitzen lässt …
Und wenn selbst der Yorkshireterrier sich weigert, das Bett mit einem zu teilen …
… dann kann das offenbar zu Kurzschlusshandlungen führen!
Anders kann sich Honor nicht erklären, warum sie sich spontan bereit erklärt, einen Fremden zu heiraten, damit der die Greencard bekommt. Einen sehr britischen Fremden. Mit Tweedsakko und Cordhose. Der so gar nicht zu ihr passt. Aber vielleicht taugt dieser Alibimann wenigstens dazu, ihren Ex eifersüchtig zu machen? Doch je länger die Zweckbeziehung dauert, desto deutlicher merkt Honor: Abwarten und Tee trinken ist so gar nicht das, was ihr beim Anblick ihres sexy Verlobten in den Sinn kommt …

LIEBER MIT DEM EX ALS GAR KEIN SEX

Hat die erste Liebe eine zweite Chance verdient?

In Sachen Liebe weiß Colleen O’Rourke genau, wie der Hase läuft. Zumindest theoretisch. Ihre Drinks serviert die junge Barbesitzerin garniert mit Beziehungstipps, und ihr Geschick als Kupplerin ist legendär! Ihr eigenes Liebesleben hingegen liegt bedauernswert brach. Woran nur Lucas Campbell schuld ist, der vor zehn Jahren unbedingt seine Freiheit wollte. Also hat Colleen mit ihm Schluss gemacht, bevor er sie abservieren konnte. Seitdem hat sie ihrem Herzen strenge Gefühlsabstinenz verordnet! Doch nun ist Lucas wieder da, und noch immer knistert es zwischen ihnen. Gehören sie vielleicht doch zusammen wie Cocktailglas und Papierschirmchen? Oder droht Colleen der schlimmste Liebeskater aller Zeiten?


  • Erscheinungstag 19.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768959
  • Seitenanzahl 1196
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Kristan Higgins

Blue-Heron-Serie Teil 1-3

Kristan Higgins

Lieber für immer als lebenslänglich

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Elisabeth Hartmann

image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Best Man

Copyright © 2013 by Kristan Higgins

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; iStock

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz; Marie Curtis

ISBN eBook 978-3-95649-376-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

An einem wunderschönen Tag im Juni wurde Faith Elizabeth Holland in einem einer Prinzessin würdigen Hochzeitskleid und mit einem Strauß perfekter rosafarbener Rosen in den Händen buchstäblich unter den Augen der halben Stadt vor dem Altar verlassen.

Damit hatten wir nun wirklich nicht gerechnet.

Da saßen wir alle in der Trinity-Lutheran-Kirche, lächelnd, festlich gekleidet, kein Platz war mehr frei, die Menschen standen in Dreierreihen hinter den voll besetzten Bänken. Die Brautjungfern trugen Rosa, und Faiths Nichte, gerade dreizehn Jahre alt, sah hinreißend aus. Der Trauzeuge hatte sich in seine Ausgehuniform geworfen, und Faiths Bruder fungierte als Platzanweiser. Es war wunderschön!

Die Hochzeit dieser beiden jungen Leute – Faith und Jeremy, seit Schulzeiten ein Paar – hätte einer der glücklichsten Tage werden sollen, die unsere Stadt seit Jahren gesehen hat. Immerhin waren die Hollands eine der hiesigen Gründerfamilien, Leute vom Typ Salz der Erde. Sie besaßen mehr Land als jeder andere im Weinbaugebiet der Finger Lakes, Hektar um Hektar Weinberge und Wald bis hinunter zum Keuka, dem Krummen See, wie wir ihn nennen. Die Lyons, nun ja, die stammten zwar aus Kalifornien, aber wir mochten sie trotzdem. Sie waren eher Geldleute. Nette Menschen. Ihr Land grenzte an das der Hollands, demnach waren die Kinder Nachbarn. Ist das nicht süß? Und Jeremy, ach, er war ein prima Kerl! Er hätte Profi in der NFL werden können. Nein, wirklich, er war gut. Doch stattdessen zog er zurück in unsere Stadt, nachdem er Arzt geworden war. Er wollte genau hier praktizieren, sich hier mit seiner lieben Faith niederlassen und eine Familie gründen.

Die beiden hatten sich so romantisch kennengelernt, gewissermaßen auf medizinischem Wege. Faith, damals Oberstufenschülerin, erlitt einen epileptischen Anfall. Jeremy, der gerade auf unsere Schule gewechselt war, drängte sich unter massivem Einsatz seiner Ellenbogen zu ihr vor, hob sie auf seine kräftigen Footballer-Arme, was man genau genommen ja in solchen Fällen eher nicht tun sollte, aber er meinte es nur gut. Und was für ein Bild das abgab, als Jeremy, groß und dunkelhaarig, Faith durch die Gänge trug. Er brachte sie ins Büro der Schulschwester, wo er an ihrer Seite blieb, bis ihr Dad kam und sie abholte. Es war, so erzählt man sich, Liebe auf den ersten Blick.

Sie gingen zusammen zum Abschlussball. Faiths dunkelrote Locken umspielten ihre Schultern, das mitternachtsblaue Kleid ließ ihre Haut sahnig weiß wirken. Und Jeremy sah so gut aus wie die einen Meter sechsundachtzig große Skulptur eines Football-Gottes. Mit seinem schwarzen Haar und den dunklen Augen hätte man ihn glatt für einen heißblütigen italienischen Adeligen halten können.

Er ging aufs Boston College und spielte dort Football, Faith studierte Landschaftsgestaltung am Virginia Tech, und allein schon die Entfernung, dazu ihr Alter … Nun ja, kein Mensch rechnete damit, dass sie zusammenbleiben würden. Angesichts des Vermögens seiner Familie, seiner athletischen Fähigkeiten und dieses guten Aussehens konnten wir alle uns Jeremy mit einem Model oder sogar einem Hollywood-Sternchen vorstellen. Faith war durchaus niedlich, das nette Mädchen von nebenan, aber man weiß ja, wie diese Dinge so laufen. Das Mädchen bleibt zurück, der Junge kommt voran. Wir hätten das total verstanden.

Aber nein, wir lagen total falsch. Seine Eltern beschwerten sich dauernd über die enormen Handyrechnungen und die zahllosen SMS, die Jeremy an Faith schickte. Fast schien es so, als wollten Ted und Elaine mit diesen Bemerkungen einfach nur prahlen: Seht ihr, wie treu ergeben Jeremy ist? Wie beständig? Wie sehr er seine Freundin liebt?

Wenn beide in den Ferien zu Hause waren, schlenderten sie Hand in Hand durch die Stadt, wobei sie nie aufhörten zu lächeln. Manchmal pflückte er eine Blume aus einem der üppigen Fensterkästen vor der Bäckerei und schob sie ihr hinters Ohr. Häufig wurden sie am Strand gesichtet, sein Kopf in ihren Schoß gebettet, oder draußen auf dem See im Chris-Craft-Boot seiner Eltern. Dann stand Jeremy hinter Faith, die das Boot steuerte, hielt sie in seinen muskulösen Armen, und sie gaben ein Bild ab wie ein Plakat für Touristenwerbung. Es sah aus, als wäre Faith auf eine Goldader gestoßen. Schön für sie, dass sie sich einen Mann wie Jeremy geangelt hatte. Wir alle hatten ein Faible für sie, für das arme kleine Mädchen, das Mel Stoakes aus diesem schrecklichen Autowrack befreit hatte. Laura Boothby prahlte gern damit, wie viel Geld Jeremy für Blumen für Faith ausgab, zum Jahrestag ihres ersten Treffens, zu ihrem Geburtstag, zum Valentinstag oder „einfach so“. Manche von uns fanden, es wäre ein bisschen viel, hier draußen in der Gegend der Mennoniten-Höfe und der nordstaatentypischen Zurückhaltung, doch die Familie Lyon stammte aus Napa Valley, na bitte.

Manchmal traf man Faith mit ein paar Freundinnen bei O’Rourke’s an, und die eine oder andere machte ihrem Herzen Luft über ihren gleichgültigen, unreifen Freund, der sie betrog oder belog, der per Handy oder Statusänderung auf Facebook Schluss machte. Und wenn Faith sich mitfühlend dazu äußerte, sagte die Betreffende: „Du hast ja keine Ahnung, wovon wir reden, Faith! Du hast Jeremy, und es klang fast wie ein Vorwurf. Die bloße Nennung seines Namens zauberte ein verträumtes Lächeln auf ihr Gesicht und Zärtlichkeit in ihren Blick.

Hin und wieder hörte man Faith sagen, sie habe sich immer einen Mann gewünscht, der so gut sei wie ihr Vater, und so einen Mann hatte sie anscheinend tatsächlich gefunden. Trotz seiner Jugend war Jeremy ein wunderbarer Arzt, und in den ersten paar Monaten nach seiner Praxiseröffnung zog sich anscheinend jede Frau irgendein Wehwehchen zu. Er nahm sich Zeit zum Zuhören, hielt stets ein Lächeln bereit, vergaß nie, was ein Patient beim letzten Besuch gesagt hatte.

Drei Monate nach der Beendigung seines praktischen Jahrs ließ Jeremy sich an einem herrlichen Septembertag, als die Hügel rot und golden erstrahlten und der See silbrig schimmerte, auf die Knie nieder und schenkte Faith einen Verlobungsring mit einem dreikarätigen Diamanten. Faiths zwei Schwestern sollten Brautjungfern sein, und diese hübsche Colleen O’Rourke war Trauzeugin. Als Jeremys Trauzeuge war der Cooper-Junge vorgesehen, sofern er auf Heimaturlaub aus Afghanistan kommen konnte, und es wäre doch wirklich schön, einen dekorierten Kriegshelden vor dem Altar neben seinem alten Football-Kumpel stehen zu sehen. Es wäre so romantisch, so schön … Wirklich, allein der Gedanke daran entlockte uns allen ein verträumtes Lächeln.

Man stelle sich unsere Überraschung vor, als die beiden jungen Leute dann dort vor dem Altar der Trinity-Lutheran-Kirche standen und Jeremy Lyon die Katze aus dem Sack ließ.

1. KAPITEL

Dreieinhalb Jahre später

Faith Holland senkte das Fernglas, griff nach ihrem Klemmbrett und setzte ein Häkchen auf ihrer Liste, gleich neben den Punkt Lebt allein. Clint hatte gesagt, dass er allein lebte, und laut Hintergrundsprüfung stand auch nur sein Name im Mietvertrag, aber man konnte schließlich nicht vorsichtig genug sein. Sie trank einen Schluck Red Bull und trommelte im Auto ihrer Mitbewohnerin mit den Fingern aufs Lenkrad.

Vor gar nicht allzu langer Zeit wäre ihr eine solche Szene lächerlich vorgekommen. Doch angesichts ihrer Beziehungsvergangenheit empfahl sich ein bisschen Vorarbeit. Sie ersparte einem Zeit, Peinlichkeit, Ärger und Herzschmerz. Nur mal angenommen, der Mann war schwul, was sie nicht nur mit Jeremy, sondern auch mit Rafael Santos und Fred Beeker erlebt hatte. Zu Rafes Ehrenrettung musste man allerdings einräumen, dass er nicht gewusst hatte, dass Faith an eine Beziehung glaubte; er hatte gedacht, sie würden nur zusammen herumhängen.

Noch im selben Monat hatte Faith, fest entschlossen, nicht aufzugeben, reichlich unbeholfen Fred angebaggert, der ganz in der Nähe von ihrem und Lizas Apartment in derselben Straße wohnte. Er war jedoch entsetzt zurückgezuckt und hatte ihr dann schonend beigebracht, dass er ebenfalls auf Männer stand. (Nebenbei bemerkt, hatte sie ihn später mit Rafael verkuppelt, und seitdem waren die beiden ein Paar, sodass sich immerhin für eine der beteiligten Parteien ein Happy End ergab.)

Schwul zu sein war nicht das einzige Problem. Brandon, den sie auf einer Party kennengelernt hatte, schien zunächst vielversprechend, allerdings nur, bis während ihres zweiten Dates sein Handy klingelte. „Ich muss rangehen, das ist mein Dealer“, sagte er unbekümmert. Als Faith um nähere Erklärung bat – er konnte doch keinen Drogen-Dealer meinen, oder? –, erwiderte er, klar, was denn sonst? Er wirkte verblüfft, als Faith verärgert abdampfte.

Das Fernglas war ein altmodisches Mittel, ja. Doch wenn sie es damals bei Rafe benutzt hätte, wären ihr garantiert seine prachtvollen seidenen Fensterdekos und sein zwei Meter hohes gerahmtes Foto von Barbra Streisand aufgefallen. Und hätte sie Brandon ausgekundschaftet, dann hätte sie womöglich beobachten können, wie er sich zu unappetitlichen Leuten ins Autos setzte, deren Scheinwerfer kurz zuvor aufgeblitzt waren.

Seit ihrem Umzug nach San Francisco hatte sie versucht, sich mit zwei weiteren Männern zu treffen. Der eine hielt nicht viel vom Duschen – auch das hätte sie vielleicht durch eine Vorab-Überprüfung rechtzeitig mitgekriegt. Der andere Typ hatte sie versetzt.

Deshalb die Observierung.

Faith seufzte und rieb sich die Augen. Wenn es auch diesmal nicht klappte, sollte Clint für die nächste Zeit ihr letzter Vorstoß bleiben, denn die Sache schlauchte sie doch gehörig. Lange Nächte, überanstrengte Augen, Magenschmerzen durch zu viel Koffein … Es machte einen fertig.

Aber Clint war es vielleicht wert. Hetero, in Lohn und Brot, kein Vorstrafenregister, keine Alkoholfahrten. Die seltenste Spezies in San Francisco. Und wer weiß, vielleicht ergab sich aus dieser Aktion ja eine hübsche Anekdote für ihre Hochzeit. Sie konnte sich beinahe vorstellen, Clint sagen zu hören: „Woher sollte ich wissen, dass Faith in diesem Moment vor meinem Haus parkte, Red Bull in sich hineinschüttete und das Gesetz brach …“

Sie hatte Clint während eines Jobs kennengelernt – sie hatte den Auftrag erhalten, einen kleinen öffentlichen Park in Presidio zu gestalten, und er besaß einen Landschaftsbau-Betrieb. Sie hatten prima zusammengearbeitet; er war pünktlich, seine Leute erledigten ihre Aufgaben schnell und gründlich. Außerdem hatte Clint sich mit ihrem Golden Retriever angefreundet, und was konnte attraktiver sein als ein Kerl, der in die Knie geht, um sich von einem Hund das Gesicht abschlecken zu lassen? Blue schien ihn zu mögen (allerdings neigte Blue dazu, jeden zu mögen – er gehörte zu diesen überfreundlichen Hunden, die selbst einem Serienmörder das Bein rammeln würden).

Der Park war vor zwei Wochen eingeweiht worden, und gleich nach der Zeremonie hatte Clint sie eingeladen. Faith hatte Ja gesagt, war nach Hause gefahren und hatte sich an die Arbeit gemacht. Das gute alte Google gab keinen Hinweis auf eine Ehefrau (oder einen Ehemann). Seine Facebook-Seite war ausschließlich der Arbeit gewidmet. Zwar wurden ein paar gesellige Aktivitäten erwähnt („War bei Oma in der 19th Street; leckere Kartoffelpuffer!“), doch in den Posts des letzten halben Jahres trat keine Gattin in Erscheinung.

Für Date Nummer eins hatte Faith Vorkehrungen getroffen. Fred und Rafael sollten Clint abchecken, denn auf ihren eigenen Schwulenradar, sofern überhaupt einer vorhanden war, konnte sie sich eindeutig nicht verlassen. Clint und sie trafen sich an einem Dienstagabend auf ein paar Drinks, und die Jungs waren an der Bar aufgetaucht, hatten Clint dem Rempel-Test unterzogen und sich dann an einen Tisch gesetzt. Sauber, hatte Rafael getextet, und Fred bestätigte das Urteil mit Hetero.

Beim Date Nummer zwei (Mittagessen, Freitagnachmittag) zeigte Clint sich charmant und interessiert, als sie ihm von ihrer Familie erzählte, im Gegenzug berichtete Clint von einer Exverlobten; Faith behielt ihre eigene Geschichte für sich.

Beim Date Nummer drei (Abendessen, Mittwoch, gemäß dem philosophischen Grundsatz: „Lass ihn warten, um zu sehen, wie groß sein Interesse wirklich ist“) waren sie in einer süßen kleinen Bar in der Nähe des Piers verabredet, und Clint wurde all ihren Kriterien gerecht: Er rückte ihr den Stuhl zurecht und machte Komplimente, ohne dabei zu sehr ins Detail zu gehen (Hübsches Kleid, fand sie, ließ keine Alarmglocken schrillen, wohl aber: Ist das Badgley Mischka? Oh mein Gott! Ich liebe diese beiden!). Er streichelte ihren Handrücken und spähte immer wieder verstohlen in ihren Ausschnitt. Also war alles gut. Als Clint sie fragte, ob er sie nach Hause fahren dürfe, was natürlich der Code für Sex war, lehnte sie ab.

Er hatte die Augen zusammengekniffen, wie zum Zeichen, dass er die Herausforderung annahm. „Ich rufe dich an. Hast du dieses Wochenende Zeit?“

Noch ein Test bestanden: Steht an Wochenenden zur Verfügung. Faith verspürte ein leises Kribbeln im Bauch; seit sie achtzehn war, hatte sie keine Verabredung Nummer vier mehr erlebt. „Ich glaube, am Freitag habe ich noch nichts vor“, sagte sie leise.

Sie standen auf dem Gehsteig und warteten auf ein Taxi. Um sie herum drängten sich Touristen in die Souvenirläden, um Sweatshirts zu kaufen, nachdem sie sich zu dem Irrglauben hatten verleiten lassen, August in San Francisco bedeute Sommer. Clint beugte sich näher zu ihr und küsste sie, und Faith ließ es zu. Es war ein guter Kuss. Sehr gekonnt. Dieser Kuss hat Potenzial, dachte sie. Dann tauchte das Taxi aus der Düsternis des berühmten Nebels auf, und Clint winkte es heran.

Und nun saß sie hier, im vor seiner Wohnung geparkten Auto, in Vorbereitung des vierten Treffens – welches wahrscheinlich das Treffen sein würde, bei dem sie endlich mit jemand anderem als Jeremy schlief –, und hielt das Fernglas auf seine Fenster gerichtet. Sah ganz so aus, als würde er das Footballspiel gucken.

Es war an der Zeit, ihre Schwester anzurufen.

„Er besteht“, sagte Faith anstelle einer Begrüßung.

„Du hast ein Problem, Schätzchen“, erwiderte Pru. „Öffne endlich dein Herz und so weiter. Jeremy liegt eine Ewigkeit zurück.“

„Das hier hat nichts mit Jeremy zu tun“, beteuerte Faith und ignorierte das Schnauben, das als Antwort ertönte. „Allerdings macht mir sein Name ein bisschen zu schaffen. Clint Bundt. So abgehackt. Clint Eastwood, klar, das geht. Aber dieser Name für jemand anderen, ich weiß nicht. Clint und Faith. Faith und Clint. Faith Bundt.“ Es klang sehr viel weniger angenehm als zum Besipiel Faith und Jeremy oder Jeremy und Faith. Nicht, dass sie wegen der Vergangenheit einen Knacks hatte …

„Ich finde, das klingt okay“, versicherte Pru.

„Ja, du heißt ja auch Prudence Vanderbeek.“

„Und?“, fragte Pru in freundlichem Ton.

„Clint und Faith Bundt. Das ist … einfach daneben.“

„Okay, dann mach Schluss mit ihm. Oder zerr ihn vors Gericht und zwing ihn, seinen Namen zu ändern. Du, ich muss jetzt Schluss machen. Fürs Landvolk ist Bettzeit.“

„Okay. Gib den Kindern ein Küsschen von mir. Bestell Abby, ich schicke ihr diesen Link wegen der Schuhe, nach denen sie gefragt hat.“

„Mach’s gut, Kleine“, rief Pru. „Hey, kommst du zur Ernte nach Hause?“

„Ich glaube schon. Ich habe in der nächsten Zeit keine Ortstermine.“ Den größten Teil ihrer Arbeit als Landschaftsgestalterin erledigte Faith am Computer. Ihre Anwesenheit war nur in der Schlussphase eines Auftrags erforderlich. Außerdem war die Weinernte auf Blue Heron durchaus einen Besuch zu Hause wert.

„Prima!“, sagte Pru. „Hör mal, lass es langsam angehen mit dem Kerl, hab Spaß, lass uns bald wieder reden, hab dich lieb.“

„Hab dich auch lieb.“

Faith trank noch einen Schluck Red Bull. Pru hatte wohl nicht ganz Unrecht. Immerhin war ihre älteste Schwester seit dreiundzwanzig Jahren verheiratet. Und wer sonst hätte ihr Ratschläge in Liebesdingen geben können? Ihre andere Schwester, Honor, fand, dass man ihr die Zeit stahl, wenn man nicht gerade aus dem Krankenhaus anrief. Jack war als Bruder für solche Fragen ungeeignet. Und Dad … tja, Dad trauerte immer noch um Mom, die seit neunzehn Jahren tot war.

Die Welle von Schuldgefühlen war nur zu vertraut.

„Wir schaffen das“, sagte Faith zu sich selbst und wechselte im Geiste das Thema. „Wir können uns wieder verlieben.“

Das war eindeutig eine bessere Aussicht als die, dass Jeremy Lyon ihre erste und einzige Liebe blieb.

Sie sah ihr Gesicht flüchtig im Rückspiegel und erkannte diesen Hauch von Bestürzung und Kummer, der sie beim Gedanken an Jeremy immer befiel.

„Zum Teufel mit dir, Levi“, flüsterte sie. „Hättest du nicht einfach den Mund halten können?“

Zwei Abende später fing Faith allmählich an zu glauben, Clint könnte tatsächlich die zehn Minuten Beinrasur wert sein und sogar die sechs Minuten, die sie gebraucht hatte, um sich in das Mikrofaser-Bauchweg-Teil zu zwängen, das sie vorigen Monat bei QVC erstanden hatte. (Die Hoffnung stirbt zuletzt.)

Clint hatte ein exklusives Thai-Restaurant gewählt, mit einem Koi-Teich am Eingang und rotseidenen Wandbehängen, die den Raum in schmeichelhaftem Licht erglühen ließen. Sie saßen in einer U-förmigen Nische, schön kuschelig. Es war so romantisch. Zudem war das Essen wirklich gut, ganz zu schweigen von dem herrlichen Russian River Chardonnay.

Clints Blick versank immer wieder in ihrem Ausschnitt. „Tut mir leid“, sagte er, „aber du siehst einfach zum Anbeißen aus.“ Er grinste wie ein ungezogener Junge, und Faith spürte ein mächtiges Kribbeln in gewissen frauenspezifischen Körperregionen. „Schon als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, war mir, als hätte mir jemand eins mit einem Kantholz übergebraten“, fuhr er fort.

„Tatsache? Wie süß von dir!“ Faith nippte an ihrem Wein. Soweit sie sich erinnerte, trug sie damals schmutzige Jeans und Arbeitsstiefel und war durchnässt bis auf die Haut. Sie hatte im strömenden Regen ein paar Stauden umgepflanzt und versucht, den Stadtrat zu beruhigen, der sich um den Wasserabfluss aus dem Park sorgte (selbstverständlich völlig grundlos; sie war schließlich zertifizierte Landschaftsarchitektin, herzlichen Dank auch).

„Es hatte mir förmlich die Sprache verschlagen“, sagte Clint jetzt. „Vermutlich habe ich mich total bescheuert angestellt.“ Sein verlegener Blick deutete an, dass er ein ziemlich verliebter Verehrer war.

Und man stelle sich vor, sie hatte nicht mal bemerkt, wie … tja … geblendet er von ihr war! Genau so musste es aber sein, nicht wahr? Die Liebe kommt, wenn man am wenigsten damit rechnet, mal abgesehen von den Millionen Menschen, die ihre Partner bei Match.com finden, aber, hey. Es hörte sich gut an.

Der Ober kam, räumte ihre Teller ab und servierte Kaffee, Sahne und Zucker. „Möchten Sie noch ein Dessert?“ Er lächelte sie an. Kein Wunder, sie waren wirklich ein hinreißendes Paar.

„Wie wär’s mit der Mango Crème brulée?“, fragte Clint. „Ich weiß zwar nicht, wie ich es überleben soll, dir beim Essen zuzusehen, aber man kann wohl kaum schöner sterben.“

Hallo! 6.8 auf der Richter-Skala. „Crème brulée klingt gut“, sagte Faith, und der Ober eilte von dannen.

Clint rutschte ein bisschen näher heran und legte einen Arm um ihre Schultern. „Du siehst umwerfend aus in diesem Kleid“, flüsterte er und fuhr mit einem Finger an ihrem Halsausschnitt entlang. „Wie stehen die Chancen, dass ich es dir später ausziehen darf?“ Er küsste sie seitlich auf den Hals.

Oh, sie schmolz förmlich dahin! Und noch ein Kuss. „Die Chancen steigen“, hauchte sie.

„Ich mag dich wirklich, Faith“, raunte er und beschmuste ihr Ohr. Zumindest halbseitig stand sie schon völlig unter Strom.

„Ich mag dich auch.“ Sie schaute in seine schönen braunen Augen. Sein Finger glitt tiefer, und sie spürte, wie ihre Haut sich erhitzte und dabei zweifellos fleckig wurde, der Fluch der Rothaarigen. Ach, zum Teufel damit. Sie drehte ihm ihr Gesicht zu und küsste ihn auf den Mund, es war ein sanfter, süßer, sehr ausführlicher Kuss.

„Entschuldigt die Unterbrechung, ihr Turteltäubchen“, sagte der Ober. „Und lasst euch nicht stören.“ Er lächelte anzüglich und stellte das Dessert auf den Tisch.

„Das Kind hier!“

Der Schrei ließ alle drei zusammenfahren. Clints Ellenbogen stieß Faiths Glas um, und der Wein ergoss sich über das Tischtuch.

„Ach du Scheiße“, sagte Clint und rückte von ihr ab.

„Macht nichts“, beschwichtigte Faith. „Mir passiert so was auch ständig.“

Doch Clints Blick war nicht auf den Wein gerichtet.

Eine Frau hatte sich direkt vor ihrer Nische aufgebaut, an ihren anklagend ausgestreckten Armen baumelte ein hübscher kleiner Junge. „Dieses Kind hier vernachlässigt er deinetwegen, du Nutte!“

Faith schaute sich suchend nach der Nutte um, sah aber nur die Wand. Sie sah wieder die Frau an, die ungefähr in ihrem Alter war und sehr hübsch – blondes Haar und zornrote Wangen. „Meinen Sie … Reden Sie mit mir?“, erkundigte sie sich.

„Ja, ich rede mit dir, du Nutte! Schau dir gut an, was ihm daheim entgeht, wenn er mit dir vornehm essen geht. Das ist unser Sohn! Unser Baby!“ Sie schüttelte den Kleinen demonstrativ.

„Hey, nicht schütteln“, rief Faith.

„Sprich mich bloß nicht an, du Nutte!“

„Mommy, runter!“, quengelte der Kleine. Die Frau setzte ihn ab und stemmte die Hände in die (schmalen) Hüften. Der Ober fing Faiths Blick auf und zog eine Grimasse. Wahrscheinlich war er schwul und somit ihr Verbündeter.

„Aber ich habe …“, protestierte sie und sah dann zu ihrem Begleiter. „Clint, du bist doch nicht etwa verheiratet, oder?“

Clint hob beide Hände, als wollte er sich ergeben. „Baby, sei nicht böse“, sagte er zu der Frau. „Sie ist nur eine Kollegin …“

„Oh mein Gott, du bist tatsächlich verheiratet!“, platzte Faith heraus. „Woher kommst du? Aus Nebraska?“

„Und ob, du Nutte!“

„Clint!“, jaulte Faith auf. „Du verdammter Mist…“ Sie unterbrach sich, weil ihr das Kind wieder einfiel, das sie ernst anblickte, dann den Finger in die Crème brulée steckte und ihn anschließend abschleckte.

„Es tut mir schrecklich leid“, sagte Faith zu Mrs Clint Bundt (nun ja, zumindest würde sie nun nie diesen Namen mit sich rumschleppen müssen). Der Kleine spuckte den Nachtisch aus und griff nach den Zuckerwürfeln. „Aber ich hatte keine Ahnung …“

„Ach, halt die Klappe, Nutte. Wie kannst du es wagen, meinen Mann zu verführen! Wie kannst du es wagen!“

„Ich verfüh… Ich tue niemandem etwas, okay?“, gab Faith zurück. Sie war total entsetzt darüber, dass diese hässliche Auseinandersetzung vor einem Kleinkind stattfand (das aussah wie ein Hobbit-Baby; es war so verflixt niedlich, wie es den Zucker aus der Verpackung leckte).

„Du bist eine Schlampe, Nutte.“

„Genau genommen“, stieß sie mit gepresster Stimme hervor, „war Ihr Mann derjenige, der …“ Aber da war immer noch der Kleine. „Ach, fragen Sie doch einfach den Kellner.“ Ja, ja, lass dir deine Version von dem netten Ober bestätigen.

„Hm … wer zahlt denn die Rechnung?“, fragte der. So viel zu der Liebe, die sie angeblich in Schwulen weckte.

„Es war ein Geschäftsessen“, mischte Clint sich ein. „Sie hat mich angemacht, ich habe nicht damit gerechnet und wusste nicht, was ich tun sollte. Komm, Schatz, wir fahren nach Hause.“

„Und mit ‚nach Hause‘ meinst du vermutlich nicht deine Junggesellenbude in Noe Valley, stimmt’s?“, ätzte Faith.

Clint ignorierte sie. „Hi, Finn, wie geht’s denn so, Kumpel?“ Er zerstrubbelte seinem Kind das Haar, stand dann auf und bedachte Faith mit einem bekümmerten, würdevollen Blick. „Es tut mir leid, Faith“, sagte er ernst. „Ich bin ein glücklich verheirateter Mann mit einer tollen Familie. Ich fürchte, wir müssen unsere Zusammenarbeit beenden.“

„Kein Problem“, erwiderte sie steif.

„Geschieht dir recht, Nutte“, zischte Clints Frau. „Dafür, dass du versucht hast, meine Familie zu zerstören.“

„Hallo, Nutte“, johlte der kleine Junge und riss das nächste Zuckerpäckchen auf.

„Hallo“, sagte sie. Er war wirklich süß.

„Sprich nicht mit meinem Kind!“, schnauzte Mrs Bundt. „Dein Schandmaul hat nichts in der Nähe meines Sohns zu suchen.“

„Heuchlerin“, murmelte Faith.

Clint nahm den Jungen auf den Arm, aber nicht, bevor der Kleine noch ein paar Zuckerpäckchen gemopst hatte.

„Wenn du meinem Mann noch einmal zu nahe kommst, Nutte, wirst du es bereuen“, fauchte Mrs Bundt.

„Ich bin keine Nutte!“, fuhr Faith sie an.

„Und ob du eine bist!“ Clints Frau zeigte ihr den Mittelfinger. Dann kehrten die Bundts ihr den Rücken zu und marschierten davon.

„Bin ich nicht!“, rief Faith ihnen nach. „Ich habe seit drei Jahren mit niemandem geschlafen, okay? Ich bin keine Nutte!“ Der kleine Junge winkte ihr fröhlich über die Schulter seines Vaters hinweg zu, und Faith winkte verhalten zurück.

Dann waren die Bundts weg. Faith griff nach ihrem Wasserglas, trank es aus und hielt es an ihre glühende Wange. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass ihr übel wurde.

„Seit drei Jahren?“, hakte einer der Gäste nach.

Der Ober reichte ihr die Rechnung. „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, sagte er. Na toll. Zu allem Überfluss musste sie jetzt auch noch das Essen bezahlen.

„Ihr Trinkgeld wäre bedeutend höher ausgefallen, wenn Sie mir den Rücken gestärkt hätten“, knurrte sie und kramte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie.

„Sie sehen wirklich klasse aus in diesem Kleid.“

„Zu spät.“

Nachdem sie bezahlt hatte (wirklich, Clint, noch mal herzlichen Dank, dass du eine Flasche Wein für fünfundsiebzig Dollar bestellt hast), trat sie in die feuchte, kalte San-Francisco-Luft hinaus und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Sie trug High Heels, aber es war nicht allzu weit bis zu ihrer Wohnung. Außerdem waren die Straßen von San Francisco ein Klacks im Vergleich zu den steilen Hügeln ihrer Heimat. Sie konnte den unfreiwilligen Spaziergang unter Training verbuchen. Workout für vergrätzte Frauen. Der Marsch der Rechtschaffenen, Verschmähten. Hier unten am Wasser herrschte Lärm, die Möwen kreischten, Musik plärrte aus jeder Bar und jedem Restaurant, ein Dutzend verschiedene Sprachen flog ihr um die Ohren.

Daheim im Norden würde man jetzt nur das Zirpen der spätsommerlichen Grillen hören und die Rufe der Eulenfamilie, die in einem alten Ahornbaum am Rand des Friedhofs lebte. Der süße Duft der Trauben würde schon in der Luft hängen, vermischt mit Holzrauch, denn in den Nächten wurde es bereits kälter. Aus dem Fenster ihres alten Schlafzimmers würde sie bis zum Keuka blicken können. Ihre gesamte Kindheit hindurch hatte sie in Wäldern und auf Wiesen gespielt, saubere Luft geatmet und war in Gletscherseen geschwommen. Ihre Liebe zur Natur war der Hauptgrund für ihre Berufswahl gewesen.

Vielleicht war es an der Zeit, ernsthaft über eine Rückkehr nachzudenken. Das hatte sie ohnehin von Anfang an vorgehabt. Sie wollte in Manningsport leben, eine Familie gründen, ihre Geschwister und ihren Vater um sich haben.

Clint Bundt. Verheiratet, ein Kind. So ein Arsch. Tja. Aber gleich wäre sie zu Hause bei ihrem Hund. Liza war vermutlich mit ihrem Kerl unterwegs, mit Michael, dem Wunderbaren. Faith konnte sich also in Ruhe mit Real Housewives und einer Packung Ben & Jerry’s trösten.

Warum war es bloß so schwer, den richtigen Kerl zu finden? Faith fand nicht, dass sie übertrieben wählerisch war; sie wollte einfach jemanden, der weder schwul noch verheiratet, unfreundlich, unmoralisch oder zu klein war. Jemanden, der sie ansah … nun, so wie Jeremy sie angesehen hatte, aus dunklen, schimmernden Augen, in deren Tiefen ein Lächeln leuchtete, das ihr sagte, sie sei das Beste, was ihm je passiert war. Nicht ein einziges Mal hatte sie daran gezweifelt, dass er sie von ganzem Herzen liebte.

Ihr Handy klingelte, und sie kramte es aus ihrer Handtasche. Honor. „Hey.“ In ihr stieg die leise Angst auf, die sie immer überkam, wenn ihre Schwester anrief. „Wie geht’s dir?“

„Hast du in letzter Zeit mal mit Dad gesprochen?“, fragte Honor.

„Hm … ja. Wir reden beinahe täglich miteinander.“

„Dann hast du vermutlich auch von Lorena gehört.“

Faith wich einem süßen Typ aus, der ein Derek-Jeter-T-Shirt trug. „Ich bin auch Yankees-Fan“, ließ sie ihn lächelnd wissen. Er runzelte die Stirn und griff hastig nach der Hand der reizbar aussehenden Frau an seiner Seite. Schon kapiert, Junge! Meine Güte, war nur nett gemeint. „Wer ist Lorena?“, fragte sie ihre Schwester.

Honor seufzte. „Faith, vielleicht solltest du nach Hause kommen, bevor Dad heiratet.“

2. KAPITEL

Levi Cooper, Chef der mit zweieinhalb Personen besetzten Polizeibehörde von Manningsport, gab sich alle Mühe, Nachsicht walten zu lassen. Wirklich. Selbst gegenüber Touristen mit Bleifuß-Syndrom, denen Geschwindigkeitsbegrenzungen total egal waren. Er stellte seinen Streifenwagen gut sichtbar auf, mit unübersehbarer Radarpistole. Hallo, willkommen in Manningsport, Sie fahren entschieden zu schnell, und hier stehe ich, im Begriff, Sie anzuhalten, also Fuß vom Gas, Freundchen. Die Stadt war auf Besucher angewiesen, und der September, wenn die Blätter anfingen sich zu verfärben, war Hauptsaison für Touristen. Die ganze Woche hindurch waren Busse angekommen und abgefahren, und jedes Weingut in der Gegend hatte ein besonderes Event zu bieten.

Aber Gesetz ist Gesetz.

Außerdem hatte er gerade Colleen O’Rourke mit einer strengen Verwarnung vom Haken gelassen, während sie sich um eine zerknirschte Miene bemühte.

Aber jetzt war Schluss. Einen weiteren Raser würde er heute nicht mehr davonkommen lassen. Da kam doch gerade wieder einer. Siebzehn Meilen zu schnell, das war mehr als genug. Zudem noch ein Stadtfremder; er erkannte am Kennzeichen, dass es ein Mietwagen war. Der quietschgelbe Honda Civic bretterte mit zweiundvierzig Meilen in eine Fünfundzwanzig-Meilen-Zone. Und wenn nun Carol Robinson gerade mit ihrem fröhlichen Trupp geriatrischer Power Walker unterwegs war? Oder der kleine Nebbins auf seinem Rädchen auf die Straße fuhr? Seit Levi Polizeichef war, hatte es in Manningsport keinen tödlichen Unfall gegeben, und so sollte es bleiben.

Das gelbe Auto sauste an ihm vorbei, ohne auch nur andeutungsweise zu bremsen. Der Fahrer trug eine Baseballkappe und eine Sonnenbrille. Eine Frau. Seufzend schaltete Levi das Rotlicht ein, ließ kurz die Sirene ertönen und lenkte den Streifenwagen auf die Straße. Die Fahrerin nahm keine Notiz von ihm. Noch einmal schaltete er die Sirene ein, und jetzt schien die Frau zu begreifen, dass tatsächlich sie gemeint war, und fuhr rechts ran. Levi schnappte sich den Strafzettelblock und stieg aus. Nachdem er das Kennzeichen notiert hatte, ging er zur Fahrerseite. Die Frau öffnete das Fenster. „Willkommen in Manningsport“, sagte er ohne ein Lächeln.

Scheiße.

Es war Faith Holland. Ein riesiger Golden Retriever schob den Kopf aus dem Fenster, bellte einmal und wedelte glücklich mit dem Schwanz.

„Levi“, sagte Faith, als hätten sie sich erst letzte Woche bei O’Rourke getroffen.

„Holland. Kommst du zu Besuch?“

„Wow. Wie hast du das bloß erraten?“

Er starrte sie ungerührt und gänzlich unamüsiert an und wartete ein paar Wimpernschläge. Es funktionierte; ihre Wangen röteten sich, und sie wandte den Blick ab. „Also. Zweiundvierzig in einer Fünfundzwanzig-Meilen-Zone“, ließ er sie wissen.

„Ich dachte, hier dürfte man fünfunddreißig fahren“, verteidigte sie sich.

„Das hat sich letztes Jahr geändert.“

Der Hund winselte, und Levi streichelte ihn, woraufhin das Tier versuchte, über Faiths Kopf hinweg ins Freie zu klettern.

„Blue, zurück“, befahl Faith.

Blue. Tatsächlich noch derselbe Hund wie damals.

„Levi, wie wär’s mit einer Verwarnung? Ich muss zu einem, äh, Notfall in der Familie, da wäre es super, wenn du davon absehen könntest, den gnadenlosen Bullen zu mimen.“ Sie lächelte angestrengt, sah ihm beinahe in die Augen und strich sich das Haar hinter ein Ohr.

„Was ist das denn für ein Notfall?“, erkundigte er sich.

„Mein Großvater … äh … Er fühlt sich nicht so gut. Goggy macht sich Sorgen.“

„Wie kannst du bei so was bloß lügen?“, ereiferte er sich. Levi kannte die alten Hollands gut, da sie ungefähr zehn Prozent seiner Arbeitszeit für sich in Anspruch nahmen. Und wenn Mr Holland tatsächlich nicht auf dem Damm wäre, würde Mrs Holland jetzt mit Sicherheit seinen Beerdigungsanzug bereitlegen und eine Kreuzfahrt planen.

Faith seufzte. „Hör mal, Levi. Ich habe den Nachtflug von San Francisco genommen. Kannst du nicht Nachsicht üben? Tut mir leid, dass ich zu schnell gefahren bin.“ Sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. „Eine Verwarnung reicht doch. Darf ich jetzt weiterfahren?“

„Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte.“

„Oh, verstehe, du sitzt immer noch auf deinem hohen Ross.“

„Führerschein und Fahrzeugpapiere, und steig bitte aus.“

Sie knurrte etwas Unverständliches und kramte im Handschuhfach. Dabei rutschte das Hemd aus ihrer Jeans und legte einen Streifen zarter Haut frei. Die Fitness-Welle war offenbar an ihr vorbeigerollt; andererseits war Faith immer ein bisschen mollig, ähm, füllig, nein, proper gewesen, und das schon, so lange er denken konnte. Blue nutzte die Gelegenheit und steckte wieder den Kopf aus dem Fenster. Levi kraulte ihn hinterm Ohr.

Faith knallte das Handschuhfach zu, drückte Levi ein paar Dokumente in die Hand und stieg so schwungvoll aus, dass sie Levi beinahe eins mit der Tür verpasst hätte. „Du bleibst drin, Blue.“ Sie sah Levi nicht an.

Er warf einen Blick auf ihren Führerschein, dann auf sie.

„Ja, das ist ein schlechtes Foto“, fuhr sie ihn an. „Willst du vielleicht ’ne Gewebeprobe?“

„Das wird wohl nicht nötig sein. Aber dein Führerschein ist abgelaufen. Auch dafür ist ein Bußgeld fällig.“

Faith kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme unter der Brust. Sie hatte immer noch diesen unglaublichen Vorbau.

„Wie war’s in Afghanistan?“ Sie schaute über seine Schulter hinweg.

„Richtig toll. Ich spiele mit dem Gedanken, mir dort ein Ferienhaus zu kaufen.“

„Weißt du, was ich gern wüsste, Levi? Warum sind manche Menschen immer solche Arschlöcher? Fragst du dich das auch manchmal?“

„Ja. Ist dir bewusst, dass die Beleidigung eines Polizisten eine Straftat ist?“

„Echt? Faszinierend. Kannst du bitte endlich in die Gänge kommen? Ich will meine Familie sehen.“

Er unterschrieb das Strafmandat und reichte es ihr. Sie zerknüllte den Zettel und warf ihn ins Auto. „Darf ich jetzt weiterfahren, Officer?“

„Ich bin inzwischen Polizeichef. Die korrekte Anrede ist also Chief.“

„Unternimm mal was gegen dieses verdammt hohe Ross.“ Sie stieg wieder ein und fuhr los. Nicht zu schnell, aber auch nicht gerade langsam.

Levi blickte ihr nach und atmete tief durch. Sie fuhr hinauf zum Weingut Blue Heron, das ihrer Familie schon gehört hatte, als die Vereinigten Staaten von Amerika noch kaum geboren waren, zu dem großen weißen Haus auf dem Hügel, wie man diese Wohngegend hier allgemein nannte.

Er kannte Faith Holland schon so lange, wie er sich selbst kannte. Sie war eins dieser Mädchen gewesen, die ihrer Freundin sechsmal an einem Schultag um den Hals fallen, als hätten sie sich nicht erst vor zwei Stunden, sondern vor Wochen das letzte Mal gesehen. Sie erinnerte ihn an ein Hündchen im Tierheim, das potenzielle Besitzer für sich einnehmen will … Hab mich lieb! Hab mich lieb! Ich bin wirklich brav! Jessica, Levis frühere Nachbarin in der Wohnwagensiedlung und zu High-School-Zeiten immer mal wieder seine Freundin, hatte sie nur Prinzessin Supersüß genannt, weil sie immer in Rüschenkleidchen und Pastelltönen herumlief. Und als Faith dann anfing, mit Jeremy zu gehen … Das war, als würde man ein Schüsselchen sirupgetränkte Schokopops essen, so süß, dass man Zahnschmerzen bekam. Fehlte nur noch, dass ein paar schnäbelnde Rotkehlchen um ihren Kopf herumflatterten.

Komisch, ihr war nie aufgefallen, dass ihr Freund schwul war.

Levi wusste, dass sie im Lauf der Jahre öfter wieder in der Stadt gewesen war – zu Weihnachten und Thanksgiving, hier und da mal auf ein Wochenende, doch ihre Besuche waren kurz und schmerzlos. Sie schaute nie in der Polizeiwache vorbei, obwohl Levi mit ihrer Familie befreundet war. Manchmal luden ihre Großeltern ihn zum Abendessen ein, nachdem sie seine Dienste angefordert hatten, und hin und wieder trank er bei O’Rourke ein Bier mit ihrem Vater oder Bruder. Doch Faith kam nie auf die Idee, mal bei ihm vorbeizukommen und Hallo zu sagen.

Und doch war sie einmal, als sie sich bis zur Erschöpfung ausgeweint hatte, mit dem Kopf auf seinem Schoß eingeschlafen.

Levi ging zurück zum Streifenwagen. Es gab noch viel zu tun. Es brachte nichts, sich mit Erinnerungen an die Vergangenheit aufzuhalten.

Faith klopfte an die Hintertür ihres Elternhauses und wappnete sich innerlich für die stürmische Begrüßung.

„Faith! Ach Schätzchen, endlich!“, rief Goggy, die die Stampede anführte. „Du kommst spät! Hab ich dir nicht gesagt, dass wir pünktlich zu Mittag essen wollen?“

„Ich bin kurz aufgehalten worden“, erwiderte Faith. Die Arschgeige Levi Cooper wollte sie nicht erwähnen.

Abby, inzwischen sechzehn und superhübsch, klebte regelrecht an Faith und überschüttete sie mit überschwänglichen Komplimenten. „Ich finde deine Ohrringe toll, du riechst so gut, kann ich bei dir wohnen?“

Pops gab ihr je einen Kuss auf beide Wangen und sagte, sie wäre sein hübschestes Mädchen, und Faith atmete den tröstenden Duft nach Trauben und Bengay-Salbe ein. Ned umarmte sie trotz seiner einundzwanzig Jahre begeistert und duldete sogar, dass sie ihm das Haar zauste, und Pru schloss sie ebenfalls fest in die Arme.

Aber noch immer war es das Fehlen ihrer Mutter, das sich am stärksten bemerkbar machte.

Und schließlich war da noch Dad, der darauf wartete, dass er mit einer Solo-Umarmung drankam. Als er sich wieder von ihr löste, waren seine Augen feucht. „Hallo, Liebling“, sagte er, und es schnitt Faith ins Herz.

„Du hast mir gefehlt, Daddy.“

„Du siehst großartig aus, Schatz.“ Er strich ihr mit der Hand übers Haar und lächelte.

„Ist Mrs Johnson nicht hier?“, fragte Faith.

„Sie hat heute ihren freien Tag“, erklärte Dad.

„Ach, stimmt ja. Aber ich habe sie seit Juni nicht gesehen.“

„Sie mag Grandpas Freundin nicht“, raunte Abby ihr zu, während sie Blue kraulte.

„Hallo, Schwesterchen.“ Jack reichte ihr ein Glas Wein. „Hallo, Lieblingsbruder.“ Sie nahm einen herzhaften Schluck. „Trink das nicht wie Wasser, Liebling“, schimpfte ihr Vater.

„Wir haben schließlich unsere Winzerehre.“

„Entschuldige, Dad. Ein angenehmes Aroma von frisch gemähtem Gras, satte, buttrige Struktur, und ich ahne einen Beigeschmack von Aprikose mit einem Hauch Zitrone. Herrlich.“

„Braves Mädchen“, sagte er. „Schmeckst du auch Vanille? Honor sprach von Vanille.“

„Eindeutig.“ Es lag Faith fern, Honor zu widersprechen, die auf Blue Heron alles managte. „Wo steckt Honor eigentlich?“

„Telefoniert“, sagte Goggy düster. Sie neigte dazu, jeder Erfindung nach 1957 zu misstrauen. „Komm ins Esszimmer, bevor alles kalt wird.“

„Meine Frage, ob ich zu dir ziehen kann, war durchaus ernst gemeint“, murmelte Abby. Prudence seufzte und trank einen Schluck von ihrem Wein. „Außerdem“, fuhr ihre Tochter fort, „hätte ich dann meinen Wohnsitz in Kalifornien und könnte dort zum halben Preis irgendeine tolle Schule besuchen. Siehst du, Mom? Ich will dir und Dad nur Kosten sparen.“

„Und da wir gerade von meinem Lieblingsschwager sprechen: Wo ist Carl?“, erkundigte sich Faith.

„Er versteckt sich“, antwortete Pru.

„Sieh an, sieh an! Du bist sicher Faith!“, dröhnte eine Frauenstimme. Die Tür zum Gästeklo öffnete sich, und im Hintergrund hörte man das Rauschen der Wasserspülung.

Faith öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. „Oh. J…ja, ich bin Faith“, stammelte sie dann. „Und Sie sind wohl Lorena?“

Die Frau, vor der Honor sie gewarnt hatte, war wirklich ein Bild für die Götter. Stumpfes schwarzes Haar, offensichtlich gefärbt, dazu so dick aufgetragenes Make-up, dass es wie Putz abzublättern drohte, und eine plumpe Figur, die sich unter einem hautengen Shirt mit Leopardenmuster in allen grausigen Einzelheiten abzeichnete.

Die Frau schob sich einen Edding-Stift ins Dekolleté, wo er zitternd wie eine Spritze stecken blieb. „Hab nur schnell meinen Haaransatz nachgefärbt!“, verkündete sie. „Wollte doch einen guten Eindruck auf die kleine Prinzessin machen! Hallooo, du! Komm, gib Küsschen!“

Lorena umschlang sie wie ein Python, und aus Faiths Lungen entwich zischend alle Luft. „Schön, dich kennenzulernen“, keuchte sie. Pru warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

„Können wir bitte vor meinem Tod noch was essen!“, bat Pops. „Die Alte hier hat mir meinen Käse nicht gegönnt. Ich sterbe vor Hunger.“

„Dann stirb doch“, konterte Goggy. „Niemand hindert dich daran. Mir würde es kaum auffallen.“

„Nun, Phyllis Nebbins würde es auffallen. Sie hat vor zwei Monaten ein künstliches Hüftgelenk bekommen, Faithie, und sieht aus, als wäre sie wieder fünfundsiebzig, wenn sie mit ihrem Enkel draußen ist, immer ein Lächeln auf den Lippen. Schön, zur Abwechslung mal eine glückliche Frau zu sehen.“

Goggy stellte mit Nachdruck eine mächtige Schüssel mit Salzkartoffen auf den Tisch. „Glücklich bin ich, wenn du tot bist.“

„Wie reizend, Goggy“, gab Ned zurück.

„Ihr zwei seid wirklich zum Brüllen!“, posaunte Lorena. „Herrlich!“

Faith setzte sich und genoss das Aroma von Goggys Schinken, Salzkartoffeln und ihrem Zuhause.

Auf dem Weingut Blue Heron gab es zwei Häuser: das Alte Haus, in dem Goggy und Pops lebten, war 1781 im Kolonialstil errichtet und seitdem zweimal modernisiert worden – einmal, um eine Innentoilette einzubauen, und dann noch einmal im Jahr 1932.

Faith und ihre Geschwister waren hier im Neuen Haus aufgewachsen, einem eleganten, wenn auch knarzenden Gebäude im Föderationsstil aus dem Jahr 1873. Hier lebte Dad mit Honor und Mrs Johnson, der Hauswirtschafterin, die seit Moms Tod bei ihnen war.

Apropos Honor … Ihre Schwester eilte ins Zimmer „Entschuldigt bitte“, sagte sie, hielt inne und gab Faith einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Endlich bist du da.“

„Hallo, Honor.“ Sie überging die leise Zurechtweisung.

Pru und Jack waren sechzehn beziehungsweise acht Jahre älter als Faith und fanden ihre kleine Schwester im Prinzip hinreißend, wenn auch ein bisschen vertrottelt (was Faith nie gestört hatte, da es sie in früheren Zeiten von zahlreichen lästigen Pflichten entbunden hatte). Honor allerdings … Sie war nur vier Jahre älter; Faith war ein überraschender Nachzügler gewesen. Vielleicht hatte Honor ihr nie verziehen, dass sie ihr den Titel des Nesthäkchens abspenstig gemacht hatte.

Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie nicht darüber hinwegkam, dass Faith den Tod ihrer Mutter verursacht hatte.

Faith litt an Epilepsie. Die Diagnose wurde gestellt, als sie ungefähr fünf Jahre alt war. Jack hatte einmal einen Krampfanfall gefilmt (typisch Junge), und Faith hatte mit Entsetzen gesehen, wie ihre Muskeln zuckten und krampften und ihr Blick so leer war wie der einer toten Kuh, während sie selbst überhaupt nichts wahrnahm. Allgemein wurde vermutet, dass Constance Holland durch einen solchen Anfall abgelenkt worden war und deshalb das entgegenkommende Fahrzeug übersehen hatte, das in sie hineinraste. Mom war bei dem Unfall ums Leben gekommen. Honor hatte Faith nie vergeben … was Faith ihr nicht verübeln konnte.

„Was sitzt du so still da, Faith?“, wollte Goggy wissen. „Iss was, Süße. Wer weiß, wovon du in Kalifornien so gelebt hast.“ Ihre Großmutter reichte ihr einen Teller voller Räucherschinken, Salzkartoffeln mit Butter, grünen Bohnen mit Butter und Zitrone und gedünsteten Möhren (mit Butter). Faith fürchtete, schon vom bloßen Anblick ein Pfund zuzunehmen.

„Also, Lorena, du und mein Dad, ihr seid …?“, erkundigte sich Faith über die Geräuschkulisse hinweg, während ihre Großeltern darüber stritten, wie viel Salz Pops auf sein ohnehin schon stark gesalzenes Fleisch gegeben hatte.

„Besonders vertraute Freunde, Süße, ganz besonders vertraute Freude.“ Die Frau rückte ihre ziemlich massiven Brüste zurecht. „Stimmt’s, Johnny?“

„Ja, sicher“, bestätigte er liebenswürdig. „Sie konnte es kaum erwarten, dich kennenzulernen, Faith.“

Laut Honor hatte Lorena Creech ihren Dad vor etwa einem Monat während einer Führung über das Weingut kennengelernt. Jeder in der Gegend wusste, dass John Holland nach dem Tod seiner Frau am Boden zerstört war und nie mehr den Wunsch verspürt hatte, eine Beziehung zu führen. Er lebte zufrieden im Kreise seiner Kinder, Eltern und Weinstöcke. Alle Annäherungsversuche weiblicherseits hatte er so lange behutsam abgewehrt, bis man allgemein akzeptierte, dass John Holland junior für den Rest seines Lebens Witwer zu bleiben gedachte.

Dann erschien Lorena Creech auf der Bildfläche, von Arizona in den Staat New York verpflanzt, eindeutig scharf auf sein Geld und ganz bestimmt keine Stiefmutter-Kandidatin. Alle drei ortsansässigen Holland-Sprösslinge hatten darüber mit ihrem Dad gesprochen, doch der hatte nur gelacht und ihre Sorge mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan. Und Dad hatte gewiss viele Fähigkeiten, dachte Faith und sah zu, wie Lorena prüfend das Silberbesteck ans Licht hielt, aber eine besonders scharfe Beobachtungsgabe gehörte nun mal nicht dazu. Natürlich hatte keiner etwas dagegen, dass er sich eine nette Frau zum Heiraten suchte, doch gleichzeitig wollte auch niemand, dass Lorena oben in Moms altem Bett schlief.

„Wie viele Hektar habt ihr hier eigentlich?“ Lorena nahm einen mächtigen Bissen Schinken. Wie dezent.

„Ach, so einige“, erwiderte Honor eisig.

„Mit Teilungsgenehmigung?“

„Selbstverständlich nicht.“

„Na ja, für einen Teil des Landes besteht die schon, Honor, Schatz“, stellte Dad richtig. „Aber aufgeteilt wird natürlich nur über meine Leiche. Möchtest du noch grüne Bohnen, Lorena?“

„Wie nett ihr es hier habt“, sagte Lorena. „Die ganze Familie zusammen! Mein verstorbener Mann war zeugungsunfähig, Faith. Hatte als Junge eine Leistenverletzung. Ein Traktor fuhr rückwärts und quetschte seine Weichteile; deshalb konnten wir keine Kinder haben, aber, Teufel auch, wir haben es trotzdem toll getrieben!“

Goggy starrte Lorena an, als wäre sie eine Schlange in der Kloschüssel. Jack trank seinen Wein aus.

„Wie schön für dich!“, kommentierte Pops. „Nimm noch ein bisschen Schinken, meine Liebe.“ Er schob Lorena, deren Appetit sich anscheinend nicht auf Vorgänge im Schlafzimmer beschränkte, die Platte zu.

Jack wechselte das Thema. „Dad meinte, du bleibst jetzt eine Weile hier, Faith.“

Sie nickte und wischte sich den Mund ab. „Ja. Ich will endlich die alte Scheune auf Rose Ridge instand setzen. Ich bleibe etwa zwei Monate.“ Das wäre dann ihr längster Besuch seit ihrem Hochzeitsdebakel. Und sie blieb nicht nur, um die Scheune zu renovieren. Beim Gedanken an ihre eigentliche Mission und das Zeitfenster, das sie sich dafür eingeräumt hatte, verspürte sie einen leichten Anflug von Panik.

„Yay!“, sagte Abby.

„Yay“, echote Ned und blinzelte Faith zu.

„Was hast du denn mit dem alten Ding vor?“, wollte Pops wissen.

„Ich möchte sie zu einem Ort für besondere Ereignisse ausbauen, Hochzeiten, Jubiläen und dergleichen. Die Leute können sie mieten, das bringt zusätzliche Einnahmen für das Weingut.“ Diese Idee war ihr bereits während des Studiums gekommen: Sie wollte die alte, aus Stein gemauerte Scheune so umwandeln, dass sie sich mühelos in die Landschaft einfügte, modern und gleichzeitig alt.

„Oh! Hochzeiten! Ich würde liebend gern wieder heiraten“, sagte Lorena und zwinkerte Dad zu, der einfach nur grinste.

„Das ist doch viel zu viel Arbeit für dich allein, Schatz“, sorgte sich Goggy.

Faith lächelte. „Aber nein. Die Lage ist einfach super, und ich habe schon ein paar Pläne entworfen. Ich zeige sie euch, bin gespannt, was ihr davon haltet.“

„Und das kannst du in zwei Monaten schaffen?“, fragte Lorena, den Mund voller Kartoffeln.

„Klar“, versicherte Faith. „Falls es keine unvorhergesehenen Komplikationen gibt.“ Es wäre ihr bisher größtes Projekt, noch dazu mit Heimvorteil.

„Was machst du noch mal beruflich? Dein Vater hat’s mir natürlich erzählt, du liebe Zeit, er kann ja über nichts anderes reden als über euch Kinder, aber ich hab’s vergessen.“ Lorena lächelte sie an. Sie hatte einen Goldzahn.

„Ich bin Landschaftsarchitektin.“

„Du müsstest ihre Arbeiten sehen, Lorena“, schwärmte Dad. „Umwerfend.“

„Danke, Daddy. Ich gestalte Gärten, Parks, Industrieflächen und so.“

„Dann bist du also Gärtnerin?“

„Nein. Aber ich stelle Gärtner und Landschaftsgestalter ein. Ich entwerfe die Pläne und sorge dafür, dass sie richtig umgesetzt werden.“

„Mit anderen Worten: Du bist die Chefin“, sagte Lorena. „Alle Achtung, Schätzchen! Hey, sind diese Hummel-Figürchen da echt? Wisst ihr eigentlich, dass die bei eBay eine schöne Stange Geld einbringen?“

„Sie haben meiner Mutter gehört“, entgegnete Honor scharf.

„Ach ja? Eine sehr schöne Stange Geld. Kann ich noch was von dem Schinken haben, Ma?“ Sie streckte Goggy auffordernd ihren Teller entgegen.

Lorena war … der Horror, das ließ sich nicht leugnen. Faith hatte heimlich gehofft, Honor hätte übertrieben.

Plötzlich kribbelte ihre Haut vor nervöser Energie. Bevor sie aus San Francisco abgereist war, hatte sie sich per Konferenzschaltung mit ihren Geschwistern abgesprochen. Dad war ein wenig unbedarft, da waren sich alle einig – er war schon mal von einem Auto angefahren worden, als er auf der Straße stand und zum Himmel aufblickte, um herauszufinden, ob mit Regen zu rechnen war. Wenn er also nun bereit war, sich wieder mit Frauen einzulassen, kamen sie überein, dann sollten sie ihm dringend eine passendere Gefährtin suchen. Ohne zu zögern, hatte Faith diese Aufgabe übernommen. Sie würde heimkommen, die Scheune umbauen und eine tolle Frau für Dad finden. Eine wunderbare Person, die ihn verstand und seine loyale, arbeitsame, freundliche Art zu schätzen wusste. Und die die gähnende Leere zu füllen vermochte, die Moms Tod hinterlassen hatte.

Endlich bekam Faith Gelegenheit zur Wiedergutmachung.

Und wenn sie schon dabei war, konnte sie auch mal etwas für das Familienunternehmen tun. Schließlich arbeiteten alle außer ihr auf Blue Heron.

Das Mittagessen verging mit Lorenas Kommentaren, Zankereien zwischen Ned und Abby, die für so etwas eigentlich zu alt waren, und gelegentlichen Todesdrohungen zwischen Goggy und Pops.

„Bleibt alle sitzen. Ich übernehme den Abwasch“, verkündete Goggy mit einem Anflug von Tragik in der Stimme.

„Kinder!“, schnauzte Pru, und Ned und Abby sprangen auf und begannen, den Tisch abzuräumen.

Honor schenkte sich Wein nach. „Faith, hat Dad dir schon gesagt, dass du bei Goggy und Pops wohnst?“

„Wie bitte?“, rief Faith und warf Pops ein rasches Lächeln zu, als Entschädigung für ihren entsetzten Ton. Klar, sie liebte ihre Großeltern, aber bei ihnen wohnen?

„Pops lässt allmählich nach“, flüsterte Pru. Beide Großeltern waren ein bisschen schwerhörig.

„Ich lasse nicht nach“, wehrte sich Pops. „Wer will gegen mich im Armdrücken antreten? Jack, mein Sohn, traust du dich?“

„Heute nicht, Pops.“

„Seht ihr?“

„Ich finde, du siehst prima aus, Dad!“, beteuerte Lorena. „Richtig gut!“

„Er ist nicht dein Vater“, knurrte Goggy.

„Du hast doch nichts dagegen, dass Faith bei euch wohnt, oder?“, fragte Dad. „Du weißt doch, in letzter Zeit bist du ein bisschen …“

„Ein bisschen was?“, fiel Goggy ihm ins Wort.

„Mordlustig?“, schlug Jack vor.

Goggy funkelte ihren Enkel böse an und bedachte dann Faith mit einem etwas milderen Blick. „Wir hätten dich liebend gern bei uns, Schätzchen. Aber als Gast, nicht als Babysitter.“ Nach einem weiteren giftigen Blick, der sämtliche Anwesenden einschloss, stand sie auf und marschierte in die Küche, um den Kindern Anweisungen zu geben.

„Pops, ich wollte dich bitten, die Merlot-Trauben zu prüfen“, sagte Dad.

„Ich bin dabei!“, brüllte Lorena fröhlich, und alle drei machten sich davon.

Da Abby und Ned in der Küche beschäftigt waren, saßen nur noch die vier Holland-Kinder am Tisch. „Ich soll tatsächlich bei ihnen wohnen?“, hakte Faith nach.

„Es ist am besten so“, sagte Honor. „Außerdem habe ich einen Teil von meinem Kram in deinem Zimmer untergebracht.“

„Stellt euch vor“, Pru zupfte den Kragen ihrer Flanellbluse zurecht. „Carl hat mir neulich ein Bikini-Waxing empfohlen.“

„Oh Gott“, platzte Jack heraus.

„Was ist? Bist du plötzlich prüde geworden? Wer hat dich denn von diesem Strip-Club nach Hause gefahren, als du betrunken warst, hm?“

„Das war vor siebzehn Jahren“, protestierte Jack.

„Na und? Carl will unser Liebesleben ‚aufpeppen‘.“ Pru zeichnete mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. „Ich finde, der Mann kann froh sein, dass er überhaupt was kriegt. Was ist denn los mit dir, Jack?“, rief sie ihrem Bruder nach, der fluchtartig das Zimmer verließ.

„Ich will ebenfalls nichts über dein Sexleben hören“, bemerkte Honor. „Und im Gegenzug erzähle ich dir auch nichts über meins.“

„Als ob du überhaupt eins hättest“, gab Pru zurück.

„Du würdest dich vielleicht wundern“, erwiderte Honor.

„Wenn ich mit euch nicht reden kann, an wen soll ich mich dann wenden? An die Kids? An Dad? Ihr seid meine Schwestern. Ihr müsst mir zuhören.“

„Erzähl es uns ruhig“, beschwichtigte Faith. „Wenn ich dich richtig verstehe, kommt ein Bikini-Waxing also nicht infrage?“

„Danke, Faithie.“ Pru lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, er sagt zu mir, warum versuchst du’s nicht mal? Wie die Playboy-Models? Und ich so: ‚Carl, wenn du einen Playboy im Haus haben solltest, bring ich dich um. Wir haben eine halbwüchsige Tochter, und ich will nicht, dass sie sich künstliche Brüste und schlampige Frisuren anguckt.‘“ Sie setzte sich bequemer hin. „Ein Bikini-Waxing! In meinem Alter! Ich habe genug damit zu tun, meine Gesichtshaare unter Kontrolle zu behalten.“

„Apropos gruselige ältere Frauen“, sagte Faith und wich aus, als Pru nach ihr schlug. „Lorena Creech. Du liebe Zeit.“

„Neulich hat sie Jack aufgefordert, sich auf ihren Schoß zu setzen.“ Pru schüttelte sich. „Du hättest sein Gesicht sehen sollen.“

Faith lachte. Honor sah sie eisig an. „Sehr witzig. Warte nur, bis Dad plötzlich mit einer Frau verheiratet ist, die es nur auf sein Geld abgesehen hat.“

„Dad hat Geld?“, witzelte Pru. „Das ist mir neu.“

„Und er wird nicht heiraten, es sei denn, er findet eine ganz tolle Frau“, ergänzte Faith.

„Kann sein. Aber Lorena ist immerhin die Erste, die er als ‚besonders vertraute Freundin‘ betrachtet. Warum allerdings ausgerechnet sie, ist mir ein Rätsel.“ Honor zupfte ihr Haarband zurecht. „Neulich hat sie sich bei Sharon Wiles nach den hiesigen Grundstückspreisen erkundigt. Also, Faith, verlier keine Zeit, okay? Ich komme nicht dazu, sämtliche Singlebörsen im Netz zu durchforsten. Du schon.“

Damit ging sie – zweifellos zurück in ihr Büro. Honor tat nichts anderes, als zu arbeiten.

An diesem Abend schlüpfte Faith, nachdem sie ihre Sachen ins Alte Haus getragen und den Mietwagen zurückgebracht hatte (Dad sagte, sie könne für die Zeit ihres Besuchs Brown Betty benutzen, den alternden Subaru Kombi), im Gästezimmer ihrer Großeltern zwischen die frischen Laken und wartete auf den Schlaf.

Mom war nicht der einzige Mensch, dessen Abwesenheit sie heute gespürt hatte. Faith hatte immer noch halb damit gerechnet, auch Jeremy anzutreffen. Er hatte das Essen im Kreis ihrer Familie immer sehr genossen.

Und in diesem Augenblick war er vermutlich ganz nah, nur ein Stück weit die Straße hinunter.

Seit ihrer Hochzeit war sie sieben Mal zu Hause gewesen, aber sie hatte ihn nie gesehen. Nicht ein einziges Mal. Klar, ihr Besuch hatte immer nur ein paar Tage gedauert. Aber sie war immer auch in der Stadt gewesen und in der Bar, die ihren besten Freunden, Colleen und Connor O’Rourke, gehörte, doch Jeremy hatte sich nicht blicken lassen. Und anders als sonst, wenn sie nicht da war, schaute er auch nicht bei ihrer Familie vorbei. Die Hollands hatten, wie alle anderen hier, den Schock seines Coming-outs überwunden (irgendwann). Jeremy war schließlich auch Teil ihres Lebens gewesen, außerdem war er ihr Arzt und nächster Nachbar, wenn auch in einer Meile Entfernung.

Doch wenn Faith da war, hielt er sich bedeckt.

Die ersten sechs Wochen nach ihrer geplatzten Hochzeit hatten sie täglich miteinander telefoniert, manchmal sogar zwei- oder dreimal. Trotz seines schockierenden Bekenntnisses fiel es ihr schwer zu glauben, dass sie nicht mehr zusammen waren. Seit dem Augenblick, als sie ihn im Sanitätsraum der Schule an ihrem Bett gesehen hatte, immerhin acht lange Jahre, hatte sie ihn geliebt, es gab nicht eine Sekunde des Zweifels. Sie hätten heiraten, Kinder bekommen, ein wunderbares langes Leben miteinander verbringen sollen, und dass all diese zukünftigen Jahrzehnte nun einfach schlagartig ausgelöscht waren … konnte ihr Herz nur schwer begreifen.

Er versuchte zu erklären, warum er es so weit hatte kommen lassen. Das war das Schlimmste von allem. Sie hatte ihn so sehr geliebt, sie waren beste Freunde gewesen … und er hatte nie auch nur den Versuch unternommen, das Thema anzuschneiden.

Er liebte sie, sagte er immer wieder, und Faith wusste, dass das stimmte. Jeden Tag, bei jedem Gespräch entschuldigte er sich, manchmal weinte er. Es tat ihm so furchtbar leid, dass er ihr wehgetan hatte, dass er es ihr nicht gesagt hatte, dass er nicht hatte akzeptieren wollen, was er doch im Herzen längst wusste.

Eines Abends, sechs Wochen nach ihrem verunglückten Hochzeitstag, nachdem sie eine Stunde lang mit sanfter Stimme aufeinander eingeredet hatten, sprach Faith schließlich aus, was im Grunde beiden klar war: Sie mussten richtig Schluss machen. Keine E-Mails mehr, keine Anrufe, keine SMS.

„Ich verstehe“, hatte Jeremy geflüstert.

„Ich werde dich immer lieben“, hatte Faith beteuert, und ihre Stimme brach.

„Ich werde dich auch immer lieben.“

Und dann, nach einem endlos langen Augenblick, hatte Faith die Taste gedrückt, die den Anruf beendete. War auf der Bettkante sitzen geblieben und hatte ins Leere gestarrt. Am nächsten Tag bot ein bekannter Landschaftsarchitekt ihr eine freie Mitarbeit bei seinem neuen Yachthafen-Projekt an, und damit begann ihr Leben nach Jeremy. In jenem Jahr hatte ihr Vater sie dreimal besucht – beispiellos für einen Weinbauern –, und auch Pru und die Kinder waren einmal gekommen. Und alle hatten angerufen und Briefe und SMS geschrieben.

Aber es schien unmöglich, die Liebe einfach so abzuschalten. Manchmal vergaß sie sich. Jemand fragte, ob sie Kinder wollte, und sie antwortete unwillkürlich: „Wir wollen unbedingt welche“, und dann traf sie die Erinnerung, dass niemals hübsche, fröhliche, dunkelhaarige Kinder über die Wiesen der beiden Weingüter hüpfen würden, wie eine Ohrfeige.

Und jetzt, hier im Alten Haus, ließen sich die Gedanken an Jeremy gar nicht mehr unterdrücken. Überall lauerten Erinnerungen. Wie er vorne auf der Veranda saß und ihrem Vater versprach, gut für sie zu sorgen. Wie er die kleine Abby auf der Schaukel anschubste. Wie er mit Ned Spritztouren in seinem Cabrio unternahm, mit Pru und Honor flirtete, mit Jack Bier trank. Er hatte ihr geholfen, genau dieses Zimmer in genau dieser zarten Fliederfarbe zu streichen. In dieser Ecke dort hatten sie sich geküsst (es waren süße, keusche Küsse, vielleicht nicht unbedingt das, was man von seinem sechsundzwanzigjährigen Verlobten erwartete), bis Goggy ins Zimmer kam und sie darüber informierte, dass es in ihrem Haus keine Küsserei gebe – und ob sie verlobt seien oder nicht, sei ihr völlig egal.

Faith hatte ein einziges Foto von sich und Jeremy behalten. Es war während eines Wochenendausflugs zu den Outer Banks entstanden. Sie trugen Sweatshirts, lagen sich in den Armen, der Wind spielte mit ihren Haaren, Jeremy lächelte breit. Täglich zwang sie sich dazu, dieses Bild anzusehen, und ein kleiner, grausamer Teil ihres Verstands riet ihr, die Sache endlich hinter sich zu lassen.

Sie hatte ihn ohnehin nicht verdient.

Doch in diesen acht Jahren ihres Zusammenseins … Da sah es doch so aus, als hätte das Universum ihr das dunkle Geheimnis vergeben – und ihr als Zeichen der Absolution Jeremy geschenkt.

Aber dann hatte das Universum doch zuletzt gelacht, und Levi Cooper war sein Bote gewesen. Levi, für den sie schon immer eine Witzfigur gewesen war.

Levi, der es gewusst und nie ein Wort gesagt hatte.

3. KAPITEL

Levi Cooper lernte Jeremy Lyon kurz vor dem Eintritt in die Oberstufe kennen. Er hatte nie damit gerechnet, dass sie mal Freunde sein würden. Ökonomisch gesehen funktionierte die Welt so nicht.

Manningsport lag am Ufer des Keuka Lake. Der Marktplatz war umringt von malerischen Geschäften: Antiquitätenläden, Brautmoden, O’Rourke’s Tavern, ein kleiner Buchladen und Hugo’s, das französische Restaurant, in dem Jessica Dunn als Servierkraft arbeitete. Dann war da der „Hügel“, der sich über der Ortschaft erhob, dort lebten die reichen Kinder, deren Eltern Banker und Anwälte und Ärzte waren oder eben die Besitzer der Weingüter: die Kleins, die Smithingtons, die Hollands. Von April bis Oktober karrten Busse Touristenhorden heran, die den schönen See und die Landschaft bewundern, den Wein probieren und eine Kiste oder zwei davon mitnehmen wollten.

Die makellosen Höfe der Mennoniten erstreckten sich weiter weg vom See, über Hügel voller schwarzweißer Kühe und dunkel gekleideter Männer, die Traktoren mit Eisenrädern lenkten. Die Frauen trugen Hauben und lange Röcke und verkauften am Wochenende auf dem Bauernmarkt Käse und Konfitüre.

Levi wohnte auf der falschen Seite der Weinberge, dort, wo es im Schatten des „Hügels“ ein bisschen früher Nacht wurde. In seinem Teil der Stadt gab es die Müllhalde, einen schmuddeligen Lebensmittelladen und einem SB-Waschsalon, in dem Gerüchten zufolge mit Drogen gehandelt wurde.

Während der Grundschulzeit luden wohlmeinende reiche Eltern die ganze Klasse zu den Geburtstagspartys ihrer Kinder ein, und Levi ging hin, zusammen mit Jessica Dunn und Tiffy Ames. Sie benahmen sich gut, vergaßen nie, sich bei der Mutter für die Einladung zu bedanken und das Geschenk abzugeben, das das Wochenbudget der Familie belastet hatte. Aber Gegeneinladungen, nein. Man lud die Klasse nicht zum Geburtstag ein, wenn man in einer Wohnwagensiedlung lebte. Solange man jung war, hing man in der Schule zusammen rum, und im Sommer traf man sich vielleicht, um den Wasserfall runterzuspringen, doch nur allzu bald machte sich die soziale Kluft bemerkbar. Die reichen Kids fingen an, über Designerklamotten zu reden oder über das neue Auto der Eltern und ihr nächstes Urlaubsziel, und das gemeinsame Angeln an Henley’s Dock war plötzlich nicht mehr so wichtig.

Und deshalb hing Levi eben mehr mit Jessica und Tiffy und Arschwisch Jones herum, der in Wirklichkeit Ashwick hieß (die Mutter des Jungen war süchtig nach irgendeiner britischen Fernsehserie und hatte eindeutig null Ahnung von Kindern und Namen). Er und seine Halbschwester wuchsen in Wests Wohnwagensiedlung auf, ihr Zuhause war ein billiges doppelbreites Wohnmobil, das immer an zwei Stellen leckte, egal, wie oft Levi das Dach flickte. Sarah wurde geboren, als Levi zehn (und ein weiterer Mann von der Bühne abgetreten) war, und danach war die Wohnsituation zwar etwas beengt, aber sauber und glücklich. Es war nicht grauenhaft, ganz und gar nicht, aber es war eben nicht der „Hügel“ oder der idyllische Ortskern. Jeder begriff den Unterschied, und wer ihn nicht begriff, wusste entweder nichts vom wirklichen Leben oder gehörte nicht zur Stadt.

Am ersten Tag des Footballtrainings, einen Monat vor dem Eintritt in die Oberstufe, stellte der Coach einen neuen Mitschüler vor, und zwar mit den Worten „Jeremy Lyon bringt euch faulen Schlappschwänzen bei, wie man Football spielt.“ Jeremy ging reihum und schüttelte jedem verdammten Team-Mitglied die Hand. „Hey, ich bin Jeremy, schön, dich kennenzulernen. Jeremy Lyon, nett, dich kennenzulernen, Alter.“

Schwul, das war das erste Wort, das Levi in den Sinn kam.

Doch niemand sonst schien etwas zu bemerken – vielleicht weil Jeremy wirklich spielen konnte. Nach einer Stunde stand fest, dass er ein wahnsinnig guter Footballer war. Er sah aus und spielte, als wäre er seit Jahren in der NFL, der wichtigsten Profiliga der USA.

Levis Aufgabe bestand darin, möglichst schnell in das gegnerische Territorium vorzudringen und Jeremys wunderbare Pässe zu fangen. Er war selbst ein ziemlich guter Footballer, auch wenn sich das nicht in einem Stipendium auszahlte, sosehr seine Mom auch darauf hoffte, aber Jeremy war schlicht genial. Nach vier Stunden wurde im Team bereits spekuliert, dass ihnen vielleicht die erste siegreiche Saison seit neun Jahren bevorstehen könnte.

Am Freitag dieser ersten Woche lud Jeremy alle auf eine Pizza zu sich nach Hause ein. Und was war das für ein Zuhause, alles hochmodern und mit allem Pipapo, überall Fenster, und der Küchenboden glänzte dermaßen, dass Levi seine Schuhe auszog. Das Wohnzimmer war ganz in Weiß gehalten und sah aus wie ein Filmset. In Jeremys Zimmer standen ein Doppelbett, ein brandneuer Mac und ein riesiger Fernseher mit Play-Station (und etwa fünfzig Spielen). Seine Eltern stellten sich als Ted und Elaine vor und taten so, als gäbe es für sie keinen größeren Spaß als den Besuch von vierunddreißig Schuljungen. Die Pizza war selbst gebacken (im Pizzaofen, einem von vier Öfen in der Küche), außerdem waren noch leckere Sandwichs aus diesem teuren Brot mit dem italienischen Namen im Angebot. Dazu alle Sorten Limo – die noblen, nicht etwa die No-Name-Produkte, die Levis Mom kaufte. Sie hatten einen Weinkeller und einen speziellen Weinkühlschrank und Biere sämtlicher Mikrobrauereien der Gegend. Als Arschwisch Jones um ein Bier bat, zerstrubbelte Mrs Lyon ihm einfach nur das Haar und sagte, sie hätte heute keine Lust, in den Knast zu gehen, und Arschwisch schien es überhaupt nichts auszumachen.

Levi wanderte durchs Haus, gab sorgfältig auf seine Flasche Virgil’s Rootbeer Acht und versuchte, nicht zu gaffen. Es gab moderne Gemälde und abstrakte Skulpturen, einen Kamin, der eine ganze Wand einnahm, einen Kamin auf der Veranda und einen Kamin im Partyraum im Untergeschoss, wo auch noch ein Billardtisch, ein Kicker, noch ein Riesenfernseher mit Play-Station und eine gut bestückte Bar zur Verfügung standen.

Dann stand plötzlich Jeremy neben ihm. „Danke, dass du heute gekommen bist, Levi.“

„Ja, klar doch“, sagte Levi. „Tolles Haus.“

„Danke. Ich glaube, meine Eltern sind beim Einrichten ein bisschen durchgedreht. Ich meine, brauchen wir wirklich eine Zeus-Statue?“ Er grinste und verdrehte die Augen.

„Tja“, murmelte Levi.

„Hey, hast du Lust, morgen was zu unternehmen? Vielleicht Kino oder einfach nur hier abhängen?“

Levi trank ausgiebig von seiner Limo, dann musterte er Jeremy prüfend. Ja. Schwul, er war sich fast sicher. „Hm, sieh mal, Alter“, sagte er. „Ich habe eine Freundin.“ Na ja, er schlief hin und wieder mit Jessica, falls das zählte. Trotzdem. Die Botschaft war: Ich bin hetero.

„Cool. Dann kommt doch beide her, falls ihr nichts Besseres zu tun habt.“ Jeremy hielt inne. „Es ist nur, ich kenne hier noch niemanden“, fügte er hinzu.

Es war eine offene Bitte, aber Levi hatte keinen Schimmer, warum sie ausgerechnet an ihn gerichtet wurde. Nun ja, irgendwann würde Jeremy vermutlich von irgendeinem anderen reichen Typen erfahren, dass die Coopers praktisch zum Prekariat gehörten, dass Levi kein Auto besaß und neben der Schule zwei Jobs hatte. Aber für den Moment hatte er die Chance, hier in diesem Palast abzuhängen und einen kleinen Eindruck davon zu bekommen, wie die andere Hälfte so lebte … „Klar. Danke. Ich frag sie, ob sie Zeit hat. Sie heißt Jessica.“

„Cool. Um sieben? Meine Mom kann prima kochen.“

„Danke, Schatz“, sagte seine Mutter, die in diesem Augenblick mit einem Tablett voller Sandwichs ins Zimmer kam. Als sie die beiden Jungs beieinanderstehen sah, erstarrte sie. Plötzlich bestand ihr Lächeln nur noch aus einer Überdehnung der Lippen.

„Aber es stimmt, Mom.“ Jeremy legte den Arm um die zierliche Frau, gab ihr einen Kuss aufs Haar, mopste sich ein Sandwich und grinste. „Sie haut mich, wenn ich was anderes sage“, fügte er dann hinzu.

Mrs Lyon sah Levi an; zwischen ihren Brauen zeigte sich eine kleine Falte. „Wie war noch gleich dein Name?“

„Levi“, antwortete Jeremy an Levis Stelle. „Er ist ein Topspieler. Wir wollen morgen zusammen was unternehmen, wenn du nichts dagegen hast. Seine Freundin kommt auch.“Die Mutter wurde sofort wieder locker. „Ach, du hast eine Freundin! Wie schön! Aber klar! Ja, ja, kommt nur, ihr beiden. Das wäre doch nett.“

„Kann sein, dass sie arbeiten muss“, sagte Levi. „Ich frag sie. Aber vielen Dank.“

„Hat dein Mädchen vielleicht eine gute Freundin?“, erkundigte sich Mrs Lyon.

„Da haben wir’s wieder. Sie ist auf der Suche nach ihrer zukünftigen Schwiegertochter.“ Jeremys Lächeln war unbeschwert. Von oben war Poltern zu hören, gefolgt von einem Fluch. „Das hört sich nach Cola auf weißen Polstern an. Ich hab dir doch gesagt, dass es Schwachsinn ist, dieses Sofa zu kaufen.“

„Ach, hör auf. Ihr seid schließlich keine Horde wilder Tiere.“

„Ich sag’s nur ungern, aber so was Ähnliches sind wir schon“, bekannte Levi. Jeremy grinste noch breiter und begleitete seine Mom hinaus, vermutlich um ihr beim Aufwischen zu helfen.

Also, ja. Jeremy war schwul. Oder einfach … aus Kalifornien. Oder beides.

Am nächsten Abend kam Levi wieder; er musste nach seiner Schicht im Yachthafen von zu Hause aus per Anhalter fahren. Sechs Stunden lang hatte er Boote im Trockendock gereinigt, was zwar anstrengend war, ihm aber die Möglichkeit bot, mit freiem Oberkörper zu schuften und sich dabei von Amber Wie-auch-immer-sie-hieß beäugen zu lassen, die übers Wochenende zu Besuch war. Jess wollte nicht auf die sonntagabendlichen Trinkgelder verzichten, deshalb ging Levi allein.

Bei Jeremy aßen sie mit den Eltern (es gab unglaublicherweise Ente!), dann trieben sie den üblichen Jungskram: futterten noch mehr und spielten Soldier of Fortune auf der Playstation im Untergeschoss. Als Jeremy fragte, auf welches College Levi gehen wollte, zögerte der, weil er nicht wollte, dass Jeremy jetzt schon erfuhr, dass das College für ihn absolut unerreichbar war und er sich deshalb nicht einmal bewerben würde. „Weiß noch nicht“, sagte er.

„Ich auch nicht“, antwortete Jeremy unbekümmert, doch Levi wusste, dass er sehr gefragt war und die Wahl zwischen den besten Colleges haben würde. „Gut. Dann verrate mir mal, wer die tollsten Mädchen an der Schule sind. Ich will dieses Jahr eine Freundin haben.“

Es war so peinlich, dass Levi beinahe das Gesicht verzog. Aber irgendetwas hatte Jeremy an sich, er strahlte eine gewisse Unschuld aus. „Hattest du zu Hause eine Freundin?“, stellte er ihn auf die Probe.

„Nicht so richtig. Keine feste. Du weißt schon.“ Jeremy wandte den Blick ab. „Wegen Football und Schule und so weiter findet man nicht viel Zeit.“

Levi hatte da völlig andere Erfahrungen gemacht; er konnte sich vor Angeboten kaum retten. Sofern man kein vorpubertärer Neuntklässler war, warf sich einem mit Sicherheit irgendeine Tussi an den Hals, solange man am Freitagabend das Football-Trikot trug, ganz gleich, wie schlecht die Mannschaft abgeschnitten hatte. Spätabends sagte Levi, dass er die sieben Meilen zu Fuß hach Hause gehen würde, aber Jeremy bestand darauf, ihn zu fahren. Meine Güte, der Typ besaß ein Cabrio und benahm sich trotzdem überhaupt nicht wie ein Arschloch. „Toller Abend für eine Spritztour, wie?“, fragte er fröhlich und sprang ins Auto, ohne die Tür zu öffnen. Levi folgte seinem Beispiel. So macht man’s wohl, wenn man ein Cabrio hat, dachte er.

Jeremy redete die ganze Zeit, erzählte Levi vom Leben im Napa Valley (ziemlich toll), warum seine Eltern trotzdem wegzogen (sein Dad hatte ein Magengeschwür, und sie dachten sich, in Upstate New York wäre die Konkurrenz unter den Winzern wohl nicht so hart), stellte ihm Fragen über den Coach und die Teams, gegen die sie antreten würden.

„Hier rechts. Zur Wohnwagensiedlung.“ Er wartete darauf, dass bei Jeremy der Groschen fiel und kapierte, dass er sich wohl den falschen Mitspieler als Freund ausgesucht hatte.

„Geht klar. Welches Wohnmobil?“, fragte Jeremy und bog in die Zufahrt ein.

„Das letzte links. Danke fürs Fahren, Alter. Und bestell deiner Mom meinen Dank fürs Essen.“

„Keine Ursache, war toll, dass du gekommen bist. Wir sehen uns beim Training.“

Dann winkte er, wendete geschickt und fuhr ab. Das Motorengeräusch summte noch leise in einiger Entfernung.

Das war der Beginn ihrer Freundschaft. Im Lauf des nächsten Monats wurde Levi so oft von Jeremy zum Abendessen eingeladen, dass seine Mutter eines Tages die Geduld verlor: „Warum lädst du ihn nicht zu uns ein? Schämst du dich unseretwegen, oder was?“ Als Jeremy kam, brachte er Levis Mom Blumen mit, sagte zu Sarah, sie sähe umwerfend aus und schien weder den Wasserflecken an der Decke zu bemerken noch den einfachen Wein im Kühlschrank, noch die Tatsache, dass sie zu viert kaum in der Küche Platz fanden.

„Ist das Thunfisch-Auflauf?“, fragte er, als Mrs Cooper die feuerfeste Form auf den Tisch stellte. „Oh Mann, das ist mein Leibgericht! Das habe ich seit einer Ewigkeit nicht gegessen. Meine Mom ist so eigen, was Essen angeht. Aber das hier ist toll. So lässt sich’s leben.“ Er grinste, als wäre ihnen gerade ein Banküberfall gelungen, und aß drei Portionen, während Mom förmlich dahinschmolz.

„Das ist ein sehr netter Junge“, verkündete sie, als Jeremy gegangen war, und es klang beinahe ehrfürchtig.

„Ja“, stimmte Levi ihr zu.

„Hat er eine Freundin?“

„Ich finde, du bist ein bisschen zu alt für ihn.“ Er grinste sie an, und sie wurde tatsächlich rot.

Ich will seine Freundin sein“, bekannte Sarah voller Inbrunst.

„Und du bist ein bisschen zu jung.“ Levi zog sie an den Haaren. „Geh, putz dir die Zähne, Kleine.“ Seine Schwester gehorchte.

Ihre Mutter fuhr sich mit der Hand durchs blond gefärbte Haar, das an den Wurzeln schwarz nachwuchs. „Ach, ich meinte ja nur, ein so hübscher Junge mit so viel Charme und so guten Manieren. Da könntest du dir eine Scheibe abschneiden.“

„Danke, Ma.“

„Möchte wetten, er ist nicht der Typ, der sich mit kleinen Schlampen abgibt.“

„Nein, ganz bestimmt nicht.“ Levi sah seine Mutter an und hob vielsagend die Brauen, aber sie kapierte nicht, was er meinte.

„Was du an dieser Jessica Dunn findest, ist mir ein Rätsel.“

„Sie ist leicht zu haben.“ Seine Mom schlug spielerisch nach ihm, und Levi duckte sich grinsend. „Und sie hat natürlich einen tollen Charakter“, fügte er hinzu.

„Du Scheusal. Jetzt hilf mir gefälligst beim Aufräumen. Ich wette, dein Freund hilft seiner Mutter.“

Ein paar Wochen später, nachdem die Schule wieder angefangen hatte, wollten Levi und Jeremy zusammen in die Cafeteria gehen, doch jemand blockierte den Durchgang: Prinzessin Supersüß, das rote Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Ständig wollte sie einen dazu überreden, irgendetwas zur Altglassammlung oder zur Rettung der Seehunde zu unterschreiben. Ihre Lebensaufgabe bestand offenbar darin, sich bei aller Welt beliebt zu machen. Jetzt stand sie allerdings einfach da und schien die Menschenmenge gar nicht zu bemerken, der sie den Weg zum Essen versperrte.

„Verpiss dich, Holland“, sagte Levi.

Sie antwortete nicht. Ach du Scheiße, es war wieder so weit, sie zupfte an ihrem Rüschenblüschen und wirkte verwirrt. Levi machte einen Schritt auf sie zu, doch bevor er sie auffangen konnte, sank sie zu Boden und fing an zu zucken.

„Oh mein Gott!“, platzte Jeremy heraus, warf seinen Rucksack zur Seite und kniete sich neben sie. „Hey, hey, ist alles in Ordnung?“

„Sie ist Epileptikerin“, erklärte Levi. Er zog sein Sweatshirt aus und schob es ihr unter den Kopf. Eine kleine Schar Schaulustiger sammelte sich. Faiths Anfälle waren immer ein Ereignis. Zwölf gemeinsame Schuljahre … Man sollte meinen, sie hätten sich inzwischen daran gewöhnt. Jahr für Jahr kam die Schulschwester in die Klasse und hielt ihren Vortrag über Epilepsie, als müssten sie ständig daran erinnert werden und als ob die Sache für Faith nicht schon peinlich genug war. Bei diesen Gelegenheiten tat sie Levi tatsächlich leid. Na ja, und damals, als ihre Mutter ums Leben kam, natürlich auch.

Jeremy hielt sie bereits in den Armen. „Man soll sie nicht bewegen“, informierte Levi ihn, doch Jeremy hob sie auf und bahnte sich seinen Weg durch den Flur.

Und das war’s dann. Die ganze Schule sprach tagelang davon, dass Jeremy eine Art Ritter war oder so was Ähnliches und dass Faith gar nicht anders konnte, als sich in ihn zu verlieben; es war so romantisch, die anderen Mädchen wünschten sich beinahe, selbst Epileptikerin zu sein oder wenigstens hin und wieder in Ohnmacht zu fallen. Levi verdrehte entnervt die Augen, bis sie ihm fast aus dem Kopf fielen.

„Ich bin verliebt, mein Freund“, bekannte Jeremy ein paar Wochen später. „Sie ist einfach umwerfend.“

„Ja.“

„Wirklich. Sie ist schön. Wie ein Engel.“

Levi sah ihn fest an. „Klar.“

Obwohl er keinen Vater hatte, war Levi das, was sein Boss als einen echten Kerl bezeichnete. Seit der vierten Klasse spielte er Football, er war handwerklich begabt, hatte seine erste Freundin mit zwölf und den ersten Sex mit fünfzehn. Er hatte ein Schuljahr wiederholen müssen, nachdem sein Vater die Familie verlassen hatte, und war deshalb älter als seine Klassenkameraden. In der Siebten hatte er angefangen, Gewichte zu stemmen, als Zehntklässler durfte er als Einziger schon Auto fahren, und all das brachte ihm Respekt ein. Er hatte immer eine Schar von Jungs um sich.

Daher wusste er, dass ein Junge nicht damit prahlt, dass seine Freundin schön ist wie ein Engel. Ein Junge redet von Titten, von Ärschen und darüber, ob und wann ein Mädchen sich vögeln lässt. Und wenn ein Junge wirklich verliebt ist, dann hält er den Mund und haut demjenigen (oft genug Levi), der über die Titten und den Arsch des betreffenden Mädchens spekuliert, eine rein.

Levi war kein Experte auf dem Gebiet, aber er vermutete, dass Jeremy vielleicht gar nicht wusste, dass er schwul war. Oder wenn doch, dass er es sich vielleicht nicht eingestehen wollte. Jeremy war schrecklich vorsichtig im Umkleideraum, was merkwürdig war für einen Jungen, der seit einem Jahrzehnt Football spielte. Die meisten Jungs dachten gar nicht darüber nach, aber ein paar stolzierten gern nackt umher. Natürlich gab es Schwulenwitze, und Jeremy lachte verhalten, warf manchmal einen verstohlenen Blick in Levis Richtung, um sich zu vergewissern, ob der Kalauer wirklich witzig war (das war er praktisch nie). Nein, Jeremy hielt einfach den Blick gesenkt, bis er angezogen war.

Als Big Frankie Pepitone sich ein Tattoo auf die Schulter stechen ließ, wollten es alle bewundern, und natürlich fühlte sich jeder dazu berufen, Frankie einen Schlag auf die frisch tätowierte und noch wund aussehende Haut zu geben (Footballspieler taten einander schließlich gern weh), doch Jeremy schaffte es kaum, den Blick auf das Tattoo zu richten. „Cool“, sagte er nur, und Levi dachte, dass er vielleicht Angst vor dem hatte, was in seinem Gesicht zu lesen wäre, wenn er Big Frankie ansehen würde.

Wie auch immer. Jeremy war ein feiner Kerl, und Levi war es ziemlich egal, ob Faith Holland die Liebe oder die Lüge seines Lebens war. Er ging inzwischen in die Abschlussklasse; vermutlich würde er sich danach verpflichten, und deshalb wollte er vorher noch möglichst viel Spaß haben. Und in Jeremys Gesellschaft hatte er Spaß. Der Typ war witzig, klug, relaxed und anständig ohne Ende. Levi und Jess und Jeremy und Faith gingen manchmal zusammen ins Kino oder trafen sich bei den Lyons, denn Faith hatte zu viele Geschwister, und warum sollte man in die Wohnwagensiedlung gehen, wenn Jeremys Elternhaus doch ein verdammtes Spielparadies war? Aber Jess mochte Faith nicht sonderlich (und konnte sie großartig nachmachen), und deshalb waren sie oft nur zu dritt, Jeremy, Levi und Faith.

Faith Holland … sie war ein bisschen schwer zu ertragen, ja. Irgendwie niedlich und lebhaft und ermüdend. Sie war total verknallt in Jeremy und schien ständig ihre Rolle als seine zukünftige Frau zu üben. Dauernd klimperte sie mit den Wimpern und kuschelte sich an ihn, und Jeremy schien es nicht zu stören. Sie schleimte sich bei Mr und Mrs Lyon ein, sprang auf, um den Tisch abzuräumen und so weiter, und natürlich fanden die Lyons sie wunderbar.

Eines Abends, als Levi sich gerade für die Einladung bedanken wollte, hörte er, wie Mrs Lyon zu ihrem Mann sagte: „Gott sei Dank, dass er endlich jemanden gefunden hat.“

„Wurde auch Zeit“, antwortete Mr Lyon. „Ich habe fast schon nicht mehr daran geglaubt.“ Sie sahen einander merkwürdig an und wandten sich dann wieder den Nachrichten auf CNN zu.

Levi war also womöglich nicht der Einzige, der glaubte, dass Jeremy vom anderen Ufer war.

Das Abschlussjahr war das beste Jahr in Levis Leben. Die Manningsport Mountain Lions hatten ihre beste Saison in der Geschichte der Schule, und Levi, der keinen Bruder und keinen Vater und keinen Onkel hatte, besaß zum ersten Mal einen wahren Freund, das war etwas anderes als Arschwisch und Tommy und Big Frankie. Jeremy war in vielerlei Hinsicht reifer, er fühlte sich in Levis Wohnmobil offenbar genauso wohl wie im glamourösen Haus seiner Eltern, lachte gern, schoss sich nicht einfach so zum Spaß ab, und es kümmerte ihn nicht die Bohne, dass die Kids vom „Hügel“ eigentlich nicht mit den Schmuddelkindern aus der Wohnwagensiedlung verkehren sollten.

Allerdings überdrehte er diese Sache mit Faith, mühte sich regelrecht damit ab. Wenn er sie küsste – was hin und wieder vorkam –, dann war das so schrecklich, dass Levi sich jedes Mal innerlich wand. Jeremy legte diese altmodischen, schrägen Verhaltensweisen an den Tag, die einem Hetero nicht mal im Traum einfielen. Er steckte Faith Blumen ins Haar und ähnlichen Mist. Und Faith, Herrgott, sie genoss es. Manchmal setzte sie sich auf seinen Schoß und schlug beispielsweise vor, dass alle sich freiwillig zum Müllsammeln melden oder dass Levi und Jess in den Schulchor eintreten und im Altenheim singen sollten. Gelegentlich wies Levi sie darauf hin, dass es Medikamente für ihre Krankheit gab. Faith lachte dann ein bisschen verunsichert, und er fühlte sich, als hätte er einen jungen Hund getreten. Jeremy sagte dann: „Alter, sei nett. Ich liebe sie“, und Faith wedelte, um im Bild zu bleiben, sofort wieder mit dem Schwanz.

Eines Frühlingsabends ließ Faith die Jungs allein bei den Lyons zurück – Ted und Elaine waren nicht da, und Levi vermutete, dass sie sich unbehaglich fühlte, weil er und Jeremy sich zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank im Untergeschoss genehmigten. Dass sie etwas derart Illegales duldete, da sei Gott vor! Levi schaute ihr von seinem Platz auf der Terrasse aus nach. Ihr schönes Haar glänzte in der Sonne, der große Hund der Hollands hüpfte an ihrer Seite. „Vögelst du mit Faith?“, fragte er aus reiner Neugier.

„Nein, nein“, antwortete Jeremy. „Wir sind … altmodisch. Du weißt schon. Mag sein, dass wir warten, bis wir verheiratet sind.“

Levi verschluckte sich an seinem Bier. „Oh“, keuchte er. Jeremy zuckte nur mit den Schultern, und allein der Gedanke an Prinzesschen Supersüß zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.

Dann, aus heiterem Himmel, kam jene Woche, in der Jeremy und Faith „sich eine Beziehungsauszeit nahmen“. Die gesamte Schule stand unter Schock. Jeremy war ungewohnt mürrisch und wollte nicht darüber reden. Levi nahm an, dass Faith endlich kapiert hatte, dass mit ihrem Freund irgendetwas nicht stimmte.

Er hatte gerade seine eigenen Probleme – ein College in Pennsylvania bot ihm ein anständiges Football-Stipendium an (dank Jeremy, der ihn die ganze Saison hindurch so gut hatte aussehen lassen). Wenn er seine eigenen Ersparnisse dazunahm, fehlten ihm nur noch fünf Riesen, dann könnte es klappen.

Seine Mom fragte er nicht; fünf Riesen waren immer noch viel zu viel. Er hätte Jeremy oder die Lyons darum bitten können; sie hätten sich förmlich überschlagen, um ihm das Geld zu geben, aber er fühlte sich nicht wohl dabei. Er wollte niemandem etwas schuldig sein.

Deshalb wollte er seinen Vater fragen, denn er fand, dass Rob Cooper ihm etwas schuldig war. Aber dazu musste er ihn erst aufspüren. Schließlich fand er heraus, dass der Typ zwei Städte weiter lebte. Levi hatte ihn seit elf Jahren nicht gesehen. Kein einziger Anruf, keine einzige Geburtstagskarte, aber der Kerl wohnte gerade mal zwanzig Meilen entfernt in einem hübschen, dunkelblau gestrichenen Ranchhaus, und auf der Zufahrt stand ein Auto neuester Bauart.

Rob Cooper mochte ein Versager sein, der seiner Unterhaltspflicht nicht nachkam, doch er erkannte Levi auf Anhieb. Schüttelte ihm die Hand, schlug ihm auf die Schulter und nahm ihn mit in die Garage.

„Also, hm, ich komme am besten gleich auf den Punkt“, sagte Levi. „Ich brauche fünf Riesen, um aufs College gehen zu können. Ich bekomme ein Stipendium, aber das deckt nur einen Teil der Kosten.“ Er unterbrach sich. „Ich habe gehofft, du könntest mir helfen.“

Sein Vater – Scheiße, sein Vater hatte die gleichen grünen Augen wie Levi, die gleichen kräftigen Arme –, sein Vater nickte, und eine idiotische Sekunde lang spürte Levi sein Herz hüpfen.

„Ja, ich würde dir gern helfen, Mann. Wie alt bist du jetzt? Achtzehn?“

„Neunzehn. Ich habe die dritte Klasse wiederholt.“ Das Jahr, in dem du uns verlassen hast.

„Gut, gut.“ Sein Vater nickte wieder. „Tja, es ist allerdings so, ähm, ich habe gerade geheiratet. Neubeginn und so weiter.“ Er zögerte. „Meine Frau ist bei der Arbeit. Sonst würde ich sie dir vorstellen.“ Nein, würde er nicht. „Ich wollte, ich könnte dir helfen, mein Sohn. Aber ich habe das Geld einfach nicht.“

Dazu hätte Levi eine ganze Menge sagen mögen. Zum Beispiel, dass der unterschlagene Unterhalt sich auf viel mehr als fünftausend Dollar belief. Oder dass Rob Cooper schon vor elf Jahren das Recht verwirkt hatte, ihn Sohn zu nennen. Dass er die dritte Klasse hatte wiederholen müssen, weil er nach der Schule täglich Stunden damit verbracht hatte, auf den verdammten Stufen zu sitzen und darauf zu warten, dass ein senfgelber El Camino in die Wohnwagensiedlung einbog. Denn er wusste, wusste ganz sicher, dass sein Vater nicht einfach für immer fortgehen würde.

Doch seine Lippen blieben versiegelt, und in seinem Bauch brannte die Scham darüber, dass er sich zu einer Art Hoffnung hatte hinreißen lassen.

„Ich habe auch Football gespielt, weißt du das?“, fragte sein Vater.

„Nein“, sagte Levi. „Cool. Aber ich muss jetzt los.“

„Klar. Tut mir echt leid, Levi.“

Es gab ihm den Rest, diese Stimme, die er so gut in Erinnerung hatte, seinen Namen sagen zu hören. Vorsichtig, als hätte er das Laufen verlernt, ging er die Zufahrt hinunter und stieg in Arschwischs zerbeulten Pick-up. Sah sich nicht noch einmal nach seinem Vater um, sondern fuhr auf direktem Weg nach Geneva, um sich zu verpflichten. Er würde sich von seinem Vater nicht noch mehr verletzen lassen als bereits geschehen. Nie mehr. Gut, an dem Abend betrank er sich ein bisschen mit seinen alten Kumpels, und Jess musste ihn ins Bett bringen, aber sonst war nichts passiert.

Am Ende der Woche waren Faith und Jeremy wieder zusammen. Was auch immer hinter ihrer „Pause“ gesteckt haben mochte, hatte sich wohl erledigt.

Und dann war die Schule vorbei. Levi bestand die Army-Tests. Ab August erwarteten ihn sechzehn Wochen Grundausbildung. Urplötzlich bedeutete sein Zuhause ihm … alles.

Der Sommer nahm eine bittersüße Qualität an. Levi ertappte sich dabei, wie er auf der Bettkante seiner Schwester hockte und sie im Schlaf betrachtete, hoffend, dass sie ohne ihn zurechtkommen würde. Er ging mit ihr schwimmen, besuchte ihre Pfadfinder-Truppe und nahm all den kleinen Mädchen das Versprechen ab, dass sie ihm Briefe und Kekse schickten. Eines Tages brachte er seiner Mom Blumen mit, woraufhin sie in Tränen ausbrach.

Alles war auf einmal kostbar: die dicht begrünten Hügel, die Reihen von Weinstöcken, die frisch duftende Luft. Die Erkenntnis, dass nichts jemals wieder dasselbe sein würde, dass er sich verändern und sein altes Leben hinter sich lassen, dass dieses perfekte letzte Jahr sich nie wiederholen würde, war schwer zu ertragen.

Am Abend vor seiner Abreise nach Fort Benning schmissen Mr und Mrs Lyon eine Party für ihn, sie versicherten seiner Mom, dass sie einen großartigen Mann herangezogen hatte, und die drei Elternteile weinten ein bisschen zusammen. Jess machte während der Party Schluss mit ihm, keine großen Worte, nur: „Hey, irgendwie hat es keinen Sinn mehr weiterzumachen, meinst du nicht auch?“ Levi stimmte ihr zu, nein, eigentlich hatte es wohl keinen Sinn. Sie küsste ihn auf die Wange, ermahnte ihn, auf sich aufzupassen, und versprach, ihm hin und wieder zu schreiben.

Jeremy holte ihn am nächsten Morgen ab. Levi gab seiner Mom einen Abschiedskuss, drückte Sarah fest an sich und befahl beiden, nicht mehr zu weinen. Vielleicht wischte er sich selbst ein, zwei Mal über die Augen. Dann fragte Jeremy ihn, ob er den BMW steuern wollte, und, ja, zum Teufel, ob er das wollte.

Sie schwiegen den ganzen Weg bis nach Hornell, von wo aus er den Bus zur Pennsylvania Station nehmen würde. Von dort aus ging es dann weiter nach Fort Benning. Jeremy fing schon nächste Woche mit dem Football-Training am Boston College an, er war Ersatz-Quarterback für den Stammspieler. Plötzlich gähnte zwischen ihnen jene soziale Kluft, die Jeremy bislang immer ignoriert hatte. Doch nun würde er Football-Gott an einem behüteten College sein, vielleicht sogar für die Profi-Liga entdeckt werden und auf jeden Fall ein angenehmes, privilegiertes Leben führen. Levi hingegen war drauf und dran, seinem Vaterland zu dienen – in einem Krieg, der in den Augen der meisten Menschen nicht viel Gutes einbrachte –, und konnte nur hoffen, dabei nicht zu sterben.

Jeremy besorgte Kaffee und wartete mit Levi, bis der Greyhound-Bus in einer Wolke von Abgasen vorfuhr und der Fahrer ausstieg, um eine zu rauchen.

„Das war’s dann wohl.“ Levi hievte seine Reisetasche auf die Schulter.

„Such dir einen Fensterplatz“, riet Jeremy, als hätte er Erfahrung mit Busreisen.

„Mach ich. Pass auf dich auf, Alter.“ Levi schüttelte ihm die Hand. „Vielen Dank für alles.“

Das war eine kleine beschissene Floskel, die nichts aussagte. Danke dafür, dass dich nie gestört hat, wo ich lebe, danke, dass du versucht hast, die Anwerber auf mich aufmerksam zu machen, danke für diesen tollen Pass, den du mir zugespielt hast, danke für deine Eltern, danke, dass du mich als Freund gewählt hast.

„Ich danke dir auch.“ Dann umarmte Jeremy ihn heftig und lange, schlug ihm auf den Rücken, und als er ihn wieder losließ, sah Levi, dass seine Augen feucht waren. „Du bist der beste Freund, den ich je hatte.“ Jeremys Stimme zitterte.

„Gleichfalls, Alter“, murmelte Levi. „Gleichfalls.“ Eine lange Minute verstrich, und keine Ahnung, warum, jedenfalls kam er plötzlich auf die Idee, dass er vielleicht die Tür einen Spaltbreit aufstoßen könnte, jetzt, da er fortging. „Daran würde sich auch nichts ändern“, fügte er hinzu.

„Wie meinst du das?“, fragte Jeremy.

Falls du dich outest. Aber er brachte die Worte nicht über die Lippen. Stattdessen zuckte er leicht mit den Schultern. „Ich wollte nur … Ich bin immer für dich da, Mann. Ganz egal, was passiert. Und du weißt ja … Du kannst mir alles sagen. Ruf mich an. Schick mir E-Mails. All diesen tollen Scheiß.“

„Danke“, sagte Jeremy. Sie umarmten einander noch einmal, und Levi stieg in den Bus.

Es dauerte fast fünf Jahre, bis er wieder zurück nach Manningsport kam.

4. KAPITEL

Danke für die Einladung“, sagte Faith drei Tage nach ihrer Ankunft in der Stadt. „Ich weiß nicht, wieso meine Großeltern einander noch nicht umgebracht haben. Wenn ich abends schlafen will, höre ich immer noch ihre Stimmen in meinem Kopf. ‚Du willst Senf. Du nimmst doch immer Senf. Wie kannst du ein Sandwich ohne Senf machen? Nimm Senf.‘ Ich könnte vor ihren Augen in Flammen stehen, und sie würden immer noch über den Senf streiten.“ Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Martini, der zu den besten Dingen gehörte, die Hugo’s Restaurant zu bieten hatte. „Allmählich glaube ich, dass sie mich zum Wahnsinn treiben. Oder zum Selbstmord.“

Colleen O’Rourke grinste. „Diese Hollands. Eine schrecklich goldige Familie.“

Colleen und Faith waren Freundinnen, seit Faith in der zweiten Klasse einen Anfall gehabt hatte und Colleen, neidisch auf die Aufmerksamkeit, die Faith bekam, einen vortäuschte. Wie es hieß, war ihrer sogar deutlich heftiger, jedenfalls schlug sie mit dem Kopf an eine Tischkante und musste zu ihrer großen Freude mit vier Stichen genäht werden.

„Und wie ist es sonst, wieder hier zu sein, mal abgesehen von deinen Großeltern?“, wollte sie wissen.

„Wirklich toll“, schwärmte Faith. „Mein Dad hat mich gestern Abend zum Essen eingeladen, und es war großartig. Im Red Salamander. Die Pizza dort ist zum Sterben gut.“

„Ich würde deinen Vater sofort heiraten, aber du lässt mich ja nicht.“ Colleen hob eine Braue. „Also ehrlich, wenn er diese Horror-Tante erträgt, stell dir nur mal vor, was er für mich und all das hier empfinden würde.“ Sie deutete auf ihr Gesicht und ihre Figur, beides zugegebenermaßen wunderschön.

„Wehe, du guckst meinen Dad auch nur an“, warnte Faith. „Und hilf mir um Gottes willen doch bitte, jemanden für ihn zu finden. Wir haben Angst, dass Lorena ihn ins Bett zerrt und Dad sie dann heiratet, ohne es richtig mitzubekommen, denn schließlich ist ja Erntezeit.“ Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Drink.

„Ich halte die Augen offen“, versprach Colleen. „Aber mir fällt im Moment keine ein, die gut genug wäre.“

Das war das Problem. Gut genug für Dad hieß: eine Mischung aus Mutter Teresa und Meryl Streep. So was fand man, gelinde gesagt, selten. Faith hatte am Vorabend drei Stunden in den Partnerbörsen für Senioren zugebracht und nur eine mögliche Kandidatin aufgetan.

„Und wie steht’s mit deinem Projekt?“, fragte Colleen. „Dem Dingens? Der Scheune?“

„Na ja, ich stapfe jetzt seit zwei Tagen auf unserem Land herum, schieße Fotos, erforsche die Planierungs- und Dränagemöglichkeiten. Guck nicht so. Das ist total faszinierend.“

„Es soll also ein Raum für Hochzeiten und dergleichen werden?“

„Ja. Aber hier in der Gegend gibt es massenweise tolle Plätze zum Heiraten oder Partymachen, deshalb muss die Scheune etwas Besonderes sein. So soll das Ganze übrigens auch heißen. Die Scheune auf Blue Heron. Wie findest du das?“

„Klasse! Sehr stilvoll.“ Colleen lächelte. „Du bist wieder hier, Faith! Du bist hier! Wie schön. Du hast mir gefehlt. Und du bleibst ganze zwei Monate lang?“

„Vielleicht sogar ein bisschen länger. Ich habe gestern Abend mit Liza telefoniert und irgendwie den Eindruck gewonnen, dass ihr wundervoller Mike bei uns eingezogen ist.“

„Lass dich von ihm bloß nicht rauswerfen. Ich finde es großartig, eine Anlaufstelle in Frisco zu haben.“

„In San Francisco. Nur Touristen sagen Frisco.“

„Wieder was gelernt, du Snob.“ Sie winkte dem Service. An der Bar hatte Jessica Dunn sie bedient und kaum gegrüßt, aber dieser Kellner war ein Mann und überschlug sich daher geradezu, um zu ihrem Tisch zu eilen.

„Hi, Colleen“, sagte er in erfreutem Ton. „Hab dich lange nicht gesehen. Du siehst unglaublich gut aus.“ Er ignorierte Faith völlig, während er sich an den Tisch lehnte, den Hintern auf ihrem Brotteller. Das war das Problem, wenn man eine bildschöne Nymphe als Freundin hatte. Die Kerle umschwärmten Colleen wie Moskitos einen Bluter. „In einer Stunde habe ich Feierabend“, fügte der Kellner hoffnungsvoll hinzu.

„Prima!“, sagte Colleen und warf ihr dunkles Haar zurück, damit er ihre Brüste ein bisschen besser sehen konnte. „Kenne ich dich? Du bist richtig süß.“

Er schnaubte und stellte sich aufrechter hin. Mit der stumpfen Seite ihres Messers schob Faith den Teller von sich. „Soll das heißen, du erinnerst dich nicht an mich?“, fragte er fassungslos.

„Wieso? Haben wir ein Kind miteinander? Sind wir heimlich verheiratet? Moment, habe ich dir vielleicht eine Niere gespendet?“ Colleen lächelte, und Faith spürte, wie die Stimmung des Kellners sich wieder aufhellte.

„Du bist so ein Flittchen“, verkündete er, aber es klang herzlich.

„Hass mich nicht, nur weil ich schön bin“, schnurrte Colleen und klimperte mit den Wimpern. „Können wir noch eine Runde bekommen?“

„Und ich brauche einen frischen Brotteller“, mischte Faith sich ein.

Der Kellner beachtete sie nicht. „Greg. Ich heiße Greg.“

„Greg.“ Colleen ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. „Können wir noch eine Runde bekommen, Greg? Die Luft hier wird immer trockener. In meiner Bar lasse ich keinen Kunden warten.“

O’Rourke’s war tatsächlich das angesagteste Lokal mit der besten Weinkarte in der Stadt, obendrein gab’s siebzehn verschiedene Craft-Biere und fantastische Nachos. Sie hatten sich für das Hugo’s entschieden, weil Colleen in ihrer eigenen Bar keine Gelegenheit gefunden hätte, sich mit Faith zu unterhalten.

Außerdem ließ Faith sich gerade gewissermaßen wieder auf Manningsport ein. Und versteckte sich, ehrlich gesagt, vor Jeremy, der Stammgast bei O’Rourke’s war. Wie sie erfahren hatte, war er nicht nur der hiesige Arzt, er spendete auch für jeden Wohlfahrtsverein, der an seine Tür klopfte, sponserte vier Little-League-Baseball-Teams und besaß ein Weingut, das etwa ein Dutzend Leute beschäftigte. Er war offenbar der beliebteste Mann in der Stadt, wenn nicht sogar auf der ganzen Welt.

„Gut, noch eine Runde“, sagte Greg und strich über Colleens Handrücken. „Die geht aufs Haus, als Entschädigung fürs Warten.“ Oh ja, sie war wirklich so schön, dass sie ihm ihre Gabel ins Auge stechen könnte, und er wäre trotzdem weiter scharf darauf, sie nach Hause zu bringen.

„Du bist eine Hexe oder so was Ähnliches“, kommentierte Faith, als er endlich weg war. „Meine Bewunderung kennt keine Grenzen.“

„Kann schon sein, dass ich diesen Sommer mit ihm geschlafen habe. Vor meinem geistigen Auge tauchen gewisse Bilder auf. Eine weißer Flokati, ein frischer, trockener Riesling, von Blue Heron, versteht sich … Übrigens, sind dir schon irgendwelche alten Freunde oder Feinde über den Weg gelaufen?“

„Jessica Dunn versucht gerade, mich mit Blicken zu erdolchen. Ist sie immer noch so nuttig?“

„Nicht dass ich wüsste. Sonst noch jemand?“

„Theresa DeFilio. Sie ist wieder schwanger. Ist das nicht toll?“

„Ganz toll. Und wen noch?“ Colleen kniff die hübschen Augen zusammen. „Ein gewisses männliches Wesen vielleicht, das mal mit dir verlobt war und dessen Name mit einem, ach, ich weiß nicht … J anfängt?“

Faith seufzte. „Ich habe ihm eine E-Mail geschickt, okay? Bist du stolz auf mich? Wir treffen uns nächste Woche.“

Colleen seufzte ebenfalls. „Sprichst du noch mit seinen Eltern?“

Faith nickte. „Ja. Letzten Monat haben wir zusammen in Pacific Grove zu Mittag gegessen.“

„Du bist eine Heilige.“

„Stimmt. Aber wenn mich irgendwer noch mal ‚armes Ding‘ nennt, laufe ich womöglich Amok und bringe jeden um, der gerade in der Nähe ist. Kinder und Hunde ausgenommen. Und alte Leute. Und dich. Und Connor. Schön, ich bringe niemanden um. Aber es treibt mich in den Wahnsinn!“

„Ich weiß!“, bestätigte Colleen fröhlich. „Ich bin plötzlich auch überaus beliebt. Will sagen: noch beliebter. Die Leute kommen rein, setzen sich und fragen: ‚Coll, ist sie …‘, dramatische Pause, ‚… okay?‘ Und ich sage: ‚Klar! Wieso? Ach, du meinst, weil Dr. Perfekt sie vor dem Altar hat stehen lassen? Schnee von gestern, mein Freund! Sie erinnert sich kaum noch daran.‘“

„Danke!“, sagte Faith. „Jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse, sieht man mich so komisch an. Hast du mitgekriegt, wie Hugo rauskam, um mit mir zu reden? Das war das allererste Mal.“ Sie trank einen Schluck Martini. „Ich bin schon mein Leben lang Gast in diesem Lokal, und heute hat der Besitzer mich das erste Mal angesprochen.“

„Keine Angst, Süße. Die Klatschtanten finden bald ein neues Thema. Irgendwer wird von seiner Frau betrogen, oder jemand unterschlägt Geld vom Bibliotheksausschuss, und dann interessiert sich keiner mehr für dich und Jeremy.“

„Hoffentlich“, murmelte Faith.

Greg brachte ihnen die Drinks und ein paar niedliche kleine Frühlingsrollen, lächelte Colleen an und ignorierte Faith, die sich einen Brotteller von einem der unbesetzten Tische mopste.

„Hey, apropos Bibliothek“, sagte sie, „Julianne Kammer, weißt du noch? Dünn, braunes Haar, sehr nett, das Mädchen, das in der siebten Klasse beim Mathe-Test gekotzt hat?“

„Ja, ich erinnere mich. Schließlich bin nicht ich diejenige, die an der anderen Küste lebt.“

„Na ja, sie hat mir einen Auftrag erteilt, da ich schon mal in der Stadt bin. Ich entwerfe für den kleinen Hof hinter der Kinderabteilung einen Irrgarten. Kinder lieben so was. Und stell dir vor, ich habe gesagt, das mache ich umsonst. Weil ich so nett bin.“

„Und ein bisschen beschwipst, stimmt’s? Wie kann es sein, dass eine Holland nichts verträgt?“

„Ich habe die Gene meiner puritanischen Ahnen.“ Hm. Ja. Mochte sein, dass sie ein wenig lallte.

„Ist jetzt vielleicht der richtige Zeitpunkt für die Heimkehr der verlorenen Tochter? Frisco sollte doch nie dein endgültiges Zuhause werden.“

„San Francisco!“

„Schon gut, schon gut, ich hoffe, du kannst mir noch mal verzeihen. Merk dir, wo wir waren; ich muss mal.“ Colleen stand auf und ließ Faith allein zurück.

Faith nippte trotz ihrer immer schwerer werdenden Zunge noch einmal am Martini und schaute sich um. Hugo’s war eine gute Wahl gewesen; hier war es ruhiger als bei O’Rourke’s. Das Lokal war eher auf Touristen ausgerichtet, nicht auf hiesige Stammgäste. Der Blick auf den See war herrlich, die Tischtücher waren blütenweiß und gestärkt, in kleinen Vasen standen Orchideenzweiglein. Gerade kam eine Gästegruppe herein, Besucher, die früher am Tag eine Führung über Blue Heron gemacht hatten. Faith war im Souvenirladen eingesprungen und erkannte nun das pinkfarbene Teddybär-Sweatshirt einer der Frauen wieder. Ansonsten sah sie hier niemanden, den sie kannte, außer Jessica Dunn, die aber eine fiese Zicke war.

Faith und Jeremy waren hier oft eingekehrt. Sie hatten ihren speziellen Tisch direkt am Fenster, wo sie redeten und Händchen hielten und sich hin und wieder küssten. Manchmal kam auch Levi, um sich mit Jessica zu treffen. Es war immer ein bisschen peinlich, wenn sie zu viert (oder zu dritt) abhingen. Jessica hatte Faith noch nie leiden können … und Levi hatte genau genommen auch nicht viel für sie übrig.

Faith glaubte wirklich von ganzem Herzen daran, dass Jeremy Lyon der perfekte Freund für sie – und jedes andere Mädchen auf der Welt – war. Trotzdem lag eine merkwürdige Spannung in der Luft, wenn Levi dabei war, und wenn Jessica sich ihnen anschloss, knisterte es noch mehr. Jeremy war zwar viel attraktiver (für Faith sah er mit seinem dunklen Teint und den unglaublich dunklen Augen wie ein exotischer Prinz aus), doch Levi hatte etwas, das Jeremy fehlte. Nämlich eine sexuelle Vorliebe für Frauen, wie ihr dann später klar wurde.

Doch damals in der Highschool machte er sie einfach nur nervös. Er blickte Jessica mit diesen schläfrigen grünen Augen an, sein glattes blondes Haar war immer ein bisschen zerzaust, und man wusste einfach, dass diese beiden es taten – im Gegensatz zu ihr und Jeremy, die viel, viel, nun ja, anständiger waren.

Einmal hatte Faith Levi und Jessica beim Knutschen in Hugo’s Garderobe erwischt, und sie war wie vom Donner gerührt angesichts der trägen Sinnlichkeit dieses Kusses, langsam und tief, hungrig und ohne Eile. Levi hatte damals schon wie ein Mann ausgesehen, Jahre früher als die anderen Jungen, mit muskelbepackten Armen und großen Händen, über deren Fähigkeiten damals jedes weibliche Wesen an der Manningsport High spekulierte. Und nun strichen diese großen Hände über Jessicas Rücken, zogen mit einer unübersehbar erotischen Geste ihre Hüften fest an seine, und sein Mund ließ ihren nicht eine Sekunde los, während sein Körper sich an ihren drängte.

Heilige Hormone.

Faith wirbelte auf dem Absatz herum und rannte praktisch zu ihrem Tisch und ihrem Freund zurück, zu ihrem perfekten, liebevollen, fürsorglichen Jeremy. Ihr Gesicht hatte geglüht, ihre Hände zitterten. Herrgott, sie hoffte, dass Levi sie nicht gesehen hatte. Die kleine Vorführung war so … krass gewesen. Ja. Krass.

Damals dachte sie, dass Jeremy sie nie auf diese Weise küsste, weil er sie aufrichtig liebte. Das war etwas Besonderes, etwas Reines, anders als die animalische Lust, als dieses … dieses Rammeln, was Levi und Jessica da miteinander trieben.

Alles klar!

„Ich hasse dieses Klo!“ Colleens Bemerkung rettete Faith aus dem Sumpf ihrer Erinnerungen. „Es ist dort eiskalt, und diese automatischen Spülungen sind gefährlich, die könnten glatt ein kleines Kind mit sich reißen.“ Sie setzte sich wieder. „Hey, hast du gemerkt, dass ich einen Push-up-BH trage? Extra für dich, Holland. Connor sagt immer, dass Frauen sich viel eher für andere Frauen aufbrezeln als für Männer.“

„Das stimmt. Ich habe für dich extra mein Bauchweg-Dings aus Mikrofaser angezogen.“

„Ehrlich? Nur für mich? Kein Wunder, dass du meine beste Freundin bist.“

„Gern geschehen. Aber du trägst doch immer einen Push-up-BH.“

„Stimmt. Aber ich habe auch noch glitzernden Lidschatten aufgelegt, siehst du?“ Colleen klimperte Bewunderung heischend mit ihren langen schwarzen, völlig natürlichen und total unfairen Wimpern.

Plötzlich spürte Faith ein Kribbeln im Nacken. Und dann fühlte sie seine Stimme erst im Bauch, bevor sie sie hörte.

Jeremys Stimme.

Oh Gott, er hatte die schönste Stimme, tief und warm und stets mit einem Lachen unterlegt, als fände er alles und jeden einfach wunderbar.

„Jetzt hat dein Stündlein geschlagen“, bestätigte Colleen.

„Nein! Nein, nein, nein. Ich bin … Ich bin noch nicht bereit. Dieser Pullover ist abscheulich.“ Faith schluckte. „Coll, was soll ich tun? Was mache ich bloß?“

„Hm … Zu ihm gehen und Hallo sagen?“

„Das kann ich nicht! Ich muss erst fünfzehn Pfund abnehmen! Außerdem bin ich noch nicht so weit. Ich muss … mich vorbereiten.“

Colleen lachte. „Du wirst wohl in den sauren Apfel beißen müssen. Du siehst toll aus.“

„Nein. Wirklich. Jetzt noch nicht.“ Sie riskierte einen Blick in seine Richtung – breite Schultern, dieses schöne schwarze Haar, und jetzt lachte er, oh Mist! Er brauchte sich nur um fünfundvierzig Grad zu drehen, dann würde er sie sehen.

„Ich gehe aufs Klo“, sagte sie und stürzte davon.

Sie schaffte es. Niemand sonst war da, Gott sei Dank. Ihr Herz raste wie verrückt, und es war gut möglich, dass sie sich gleich übergeben musste.

Faith sah ihr Gesicht flüchtig im Spiegel. Sie war eindeutig nicht bereit. Da waren besagte fünfzehn Pfund. Ihr Haar sah grauenhaft aus. Außerdem sollte sie vielleicht glitzernden Lidschatten auflegen und etwas anziehen, das sexier war als ein schwarzer Wickelpullover, den ein Mennonit höchstens zur Beerdigung tragen würde. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, als sie das Teil kaufte? Es hatte nicht mal einen tiefen Ausschnitt.

Nein. Sie musste sich auf die erste Begegnung mit dem Mann, der sie vorm Altar hatte stehen lassen, gründlich vorbereiten. Sie wollte umwerfend aussehen und ein paar passende Bemerkungen parat haben. Und sie wollte ganz bestimmt keine zwei Martinis intus haben, und … auch das noch! Ein Klecks Frühlingsrolle auf ihrer Brust, und Colleen hatte kein Wort gesagt! Tolle Freundin.

Okay. Sie würde Colleen einfach anrufen, sie bitten, zu bezahlen und einen Moment abzupassen, in dem Jeremy nicht hinsah, damit sie hinaus in die Freiheit flüchten konnte.

Verdammter Mist. Sie hatte ihre Handtasche (samt Handy) am Tisch zurückgelassen.

Na gut. Sie musste sowieso mal. Das passierte immer, wenn sie Angst hatte. Sie betrat die Kabine, wickelte sich aus dem Pullover – wegen des verflixten Bauchweg-Teils aus Mikrofaser musste sie sich praktisch nackt ausziehen, wenn sie zur Toilette wollte – und zerrte schließlich das Bauchweg-Dings hoch. Die Martinis waren zwar lecker, beflügelten aber nicht gerade ihre Feinmotorik, und die nuttigen hochhackigen Stiefel, die sie eigens für Colleen angezogen hatte, waren auch nicht gerade hilfreich.

Mit solchen Dingen müssen Männer sich nie herumschlagen, dachte Faith. Männer verstecken sich nicht auf dem Klo und kämpfen mit Mikrofaser und Strumpfhose. Wie unglaublich unfair! Männer haben es einfach leichter. Brauchen sie ein Bikini-Waxing, müssen sie unbequeme Wäsche tragen? Nein, müssen sie nicht. Faith hätte ihr Leben darauf verwettet, dass ein Mann den String-Tanga erfunden hat. Männer waren zum Kotzen.

Nachdem sie ihr Bauchweg-Mieder aus Mikrofaser wieder zurechtgezerrt hatte, war der Pullover dran – eine hochkomplizierte Angelegenheit! Sie hatte einen Ärmel übergestreift, konnte den zweiten nicht finden, tastete, griff daneben … und hörte plötzlich das Rauschen der kinderverschlingenden Toilette. Etwas zog an ihrem Arm, Faith taumelte zurück und sah entsetzt zu, wie ihr der Pullover ausgezogen wurde und zur Hälfte in der Toilette verschwand. Ein Ärmel hing über dem Schüsselrand wie eine tote Schlange.

Colleen hatte recht. Diese Toilette stand unter dem Einfluss von Anabolika.

„Mist, Mist, Mist!“, fluchte sie, und ihre Stimme hallte durch den leeren Raum. Ihr Pullover steckte in der Kloschüssel, und sie würde ihn bestimmt nicht mehr anziehen. Sie griff nach dem trockenen Ärmel und zupfte vorsichtig daran. Ein Rauschen – das war schon wieder der verdammte Sensor, und hast du nicht gesehen war der Pullover futsch.

Und Faith stand allein in der Kabine, in einem roten Rock, nuttigen Stiefeln, einem schwarzen Push-up-BH in Größe fünfundsiebzig D und einem fleischfarbenen Bauchweg-Mieder aus Mikrofaser, das bis unter ihre Brust reichte – der einzige Grund, warum sie sich überhaupt noch in dieses Outfit hineinzwängen konnte.

Sie saß in der Falle. Warte, warte … In Colleens Auto lag ihr Regenmantel; Colleen war an diesem Abend gefahren, und es hatte nach Regen ausgesehen, dann aber doch nicht geregnet, deshalb hatte sie den Mantel im Auto gelassen. Da. Ein Plan. Sie würde Colleen einfach anrufen, sie bitten, den Regenmantel zu holen, ihn ihr zu bringen, und dann konnten sie in Windeseile flüchten. Außerdem sollte sie aufhören, Martinis zu trinken.

Sie sah sich nach ihrer Handtasche um. Verdammt. Stimmte ja, die hatte sie am Tisch zurückgelassen.

Faith biss sich ein paar Sekunden lang auf die Unterlippe, senkte dann den Blick und rückte ihre rechte Brust zurecht. Okay. Zeit, die Hilfstruppen einzufliegen.

Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür – auf Zehenspitzen? Warum? – und spähte hinaus. Um direkt in den Speiseraum blicken zu können, musste sie es riskieren, ein paar Schritte den Flur hinunterzugehen. Aber es sollte ihr doch wohl gelingen, Colleen herbeizuwinken, die sich ja womöglich daran erinnerte, dass ihre älteste und beste Freundin in der Patsche saß.

Sie öffnete die Tür. Weit und breit war niemand zu sehen. Ein Schritt nach draußen. Noch ein Schritt. Sie verschränkte die Arme erst vor der Brust, dann über ihrem Bauchweg-Mieder aus Mikrofaser. Was wollte sie dringender verbergen, ihren Busen oder das Mieder? Das Bauchweg-Mieder aus Mikrofaser, um genau zu sein. Noch ein Schritt. Sie konnte drei leere Tische sehen, doch der Lärmpegel hatte sich erhöht. Höchstwahrscheinlich war wieder mal ein Reisebus eingetroffen. Noch ein Schritt, und, ja, jetzt konnte sie ihre Handtasche sehen. Faith beugte sich noch ein bisschen weiter vor, bereit, ihrer Freundin einen Hilferuf zuzuzischeln.

Aber nein.

Colleen war nicht da. Wo, zum Teufel … Oh, toll! Sie stand an der Bar und flirtete mit Greg, dem Kellner.

Und da kam eine kleine alte Dame mit einem Gehstock. Ohne weiter nachzudenken, huschte Faith zurück in die Toilette und sprang in die Kabine, die am weitesten von der Tür entfernt war. Da stand sie nun und wartete darauf, dass die Frau ihr Geschäft erledigte. Die Sekunden verstrichen. Außerdem wurde ihr kalt.

Endlich! Die Spülung rauschte, die Frau verließ die Kabine und wusch sich die Hände (sehr gründlich, wie Faith ungeduldig registrierte). Ein Papierhandtuch. Und noch eines. Und noch eines. Dann ertönte das segensreiche Quietschen der sich öffnenden und wieder schließenden Tür.

Unvermittelt fiel Faith ein, dass sie die alte Dame hätte bitten können, Colleen zu holen. Sie stürzte aus der Kabine, setzte damit die Spülung wieder in Gang, aber die Frau war fort … Wie flink sie war, trotz ihres Gehstocks. Faith schlich, so schnell sie konnte, auf Zehenspitzen den kleinen Flur entlang, in der Hoffnung, das agile kleine Weiblein einzuholen. Aber nein. Diese Seniorenausgabe von Speedy Gonzalez war nirgends zu sehen. Und weit und breit keine Colleen.

Und Jeremy setzte sich gerade an den Tisch, der dem Flur am nächsten war.

Faith fluchte lautlos vor sich hin, wirbelte herum und flitzte, bevor er sie entdecken konnte, zurück in den Schutz der Toilette.

Mal im Ernst? Es war Zeit zu gehen. Es gab hier keinen Hinterausgang, wohl aber ein Fenster in der letzten Kabine. Da würde sie rausklettern; der Abstand zum Boden konnte auf der Rückseite des Restaurants nicht allzu groß sein. Sie würde hinunterspringen, ihren verdammten Regenmantel aus Colleens Auto holen, ein paar Münzen zusammensuchen, in der Hoffnung, dass das Telefon beim Postamt noch funktionierte, Colleen anrufen und sie auffordern, ihren flirtversessenen Hintern gefälligst in Bewegung zu setzen und rauszukommen.

Der Plan war gut, fand Faith, zumindest unter den aktuellen suboptimalen Umständen. Vorsichtig erklomm sie den Toilettensitz (wieder setzte sich die Spülung in Gang, dieses hungrige Monster). Das Fenster war nicht sonderlich groß, und Faith schätzte hastig ihren Brustumfang im Verhältnis zur Breite des Schlupflochs ab. Das konnte ziemlich knapp werden, war aber machbar. Sie musste sich eben hindurchzwängen, statt rauszuklettern. Aber, hey, warum nicht? Wer wusste schließlich, wann das Maß der Demütigung wirklich voll war? Bauchweg-Mieder aus Mikrofaser und Pullover fressende Toiletten waren immer noch besser als wütende Ehefrauen und niedliche Kleinkinder, die einen als Nutte bezeichneten, oder?

Sie steckte den Kopf aus dem Fenster. Fünf oder sechs Fahrzeuge, Colleens eingeschlossen, und keine Menschen. Es wäre so unaussprechlich schön, wenn ihr Dad in diesem Moment zufällig vorfahren und sie retten würde. Aber nein, sie sah nur einen Hund beim Müllcontainer. Verwildert? Bissig? Verwildert und bissig? „Hey, Süßer“, sagte sie, um den Grad seiner Bösartigkeit zu checken. Das Tier wedelte mit dem Schwanz. „Braves Hündchen“, rief sie. Er wedelte wieder. Ein gelber Labrador. Nicht verwildert.

Zum Glück war es fast dunkel. Perfekt. Zeit für ihren Spiderman-Auftritt.

Faith stemmte die Handballen auf die Fensterbank, sprang hoch und schob sich unter Einsatz der Hebelkraft ihrer Arme aus dem Fenster. Der Kopf war draußen, Schultern, Brust und Bauch folgten. Dann wurde ihr Schwung abrupt gestoppt.

Der Hintern war noch drin.

Sie wand sich. Ohne Erfolg.

Der Hund bellte entzückt, als ahnte er, dass es gleich lustig werden würde.

„Schsch“, machte Faith. „Leise, Süßer.“ Sie hörte auf zu zappeln und versuchte es stattdessen mit Gewalt. Presste die Hüften nach unten und stemmte sich mit den Armen hoch. Strampelte mit den Beinen ins Leere. Sie drehte sich und schob gleichzeitig ihren Körper vorwärts.

Nada. Njet. Nichts.

Okay, das hatte also nicht geklappt. Sie musste zurück in die Toilette und sich etwas anderes überlegen.

Wie sich herausstellte, war ihr auch diese Möglichkeit verwehrt. Faith steckte fest wie ein Korken in der Flasche.

„Okay, Scheiße“, sagte sie laut. Ihr war ein bisschen schwummerig im Kopf, von den Martinis oder weil der Fensterrahmen ihr die Blutzufuhr zum Gehirn abschnürte oder wegen beidem.

Dann doch wieder nach draußen. Sie zog den Bauch ein und stemmte sich erneut von der Fensterbank ab, diesmal mit noch mehr Nachdruck. Immerhin war das Bauchweg-Mieder aus Mikrofaser einigermaßen glatt. Oh, toll, sie hatte einen Zentimeter gewonnen. Sie warf einen Blick hinter sich auf ihren Po. Fast geschafft. Andererseits würde sie, wenn ihr Hintern unvermutet freikam, durchs Fenster schießen wie ein Korken aus der Flasche, auf den Kopf fallen und sich den Hals brechen. Frau, die nicht wusste, dass ihr Verlobter schwul ist, stürzt in einem Bauchweg-Mieder aus Mikrofaser in den Tod.

„Komm schon!“, munterte sie sich auf. Der Hund bellte wieder, sprang dann auf und stemmte sich mit den Vorderpfoten gegen die Außenwand von Hugo’s Restaurant. „Hilf mir, Lassie“, flüsterte Faith. Sie drehte und wand sich noch einmal, aber vergebens.

Plötzlich wurde sie in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Ein Streifenwagen der Polizei von Manningsport bog auf den Parkplatz ein.

5. KAPITEL

Als Polizist kriegte Levi Cooper viel Merkwürdiges zu Gesicht. Victor Iskin ließ beispielsweise all seine Haustiere nach ihrem Tod ausstopfen. Manchmal lud er Levi ein, und der hockte dann zwischen lauter reglosen Katzen, Hunden und ein paar Hamstern.

Methalia Lewis zeigte ihm öfter, wie dick sie geworden war, indem sie ihre Bluse hochschob und ihr Bauchfett mit beiden Händen packte. Aber Methalia war zweiundachtzig und lachte dabei fröhlich, und dann bot sie ihm jedes Mal Kuchen an.

Joey Kilpatrick bewahrte seine Gallensteine, insgesamt sechs, in einem Glasschälchen auf dem Küchentisch auf und erzählte immer wieder gern, wie entsetzt der Chirurg damals über den Zustand seiner entzündeten Gallenblase gewesen war.

Doch Faith Hollands Kopf und ihren spärlich bekleideten Oberkörper – noch dazu mit einem schwarzen BH – aus einem Fenster ragen zu sehen, das war ein Anblick, der selbst ihn noch umhauen konnte. Er schaltete die Beleuchtung aus und blieb noch eine Weile im Auto sitzen, während sie sich im schwindenden Abendlicht krümmte und wand.

Er sollte wohl besser aussteigen. Andererseits war es schon ziemlich sensationell, sich das anzuschauen.

Er war kein Mensch, der oft lächelte, woran Emmaline, die Verwaltungsassistentin, deren Einstellung er bis auf den heutigen Tag bedauerte, ihn praktisch täglich erinnerte. Aber das hier … oh ja. Er spürte, wie sich seine Lippen zu einem fiesen Grinsen verzogen. Er stieg endlich aus und ging auf das Fenster zu, das sich etwa drei Meter über dem Boden befand. Wie gut, dass Faith keine dieser zarten Elfen war, sie hätte sich beim Sturz echt was brechen können, wenn sie nicht im Fenster stecken geblieben wäre.

„Haben Sie ein Problem, Ma’am?“, fragte er.

„Nein. Ich genieße nur die Aussicht“, gab Faith zurück, ohne ihn anzusehen.

„Ich auch.“ Und wie! Er grinste niederträchtig. „Schöner Abend, nicht wahr?“

„Ja. Wunderschön.“

Er nickte. „Wo ist dein Pulli?“

Prompt legte sie einen Arm über ihren atemberaubenden Vorbau, als würde ihr jetzt erst bewusst, dass sie Levi tiefste Einblicke gewährte. „Ich, hm … ich hatte eine Outfit-Panne.“

„Verstehe.“ Sie würde den Arm, der ihm die Sicht versperrte, bald anderweitig brauchen; sie musste sich beidhändig abstützen, um den Oberkörper halbwegs aufrecht halten zu können. Er wartete. Sie funkelte ihn böse an, und im nächsten Moment nahm der Arm seine Stützfunktion wieder auf. Und Levi kam wieder in den Genuss herrlichster Aussichten. Sehr hübsch, diese prallen, sahnig-weißen Kurven in dem knappen BH. Er mochte Faith Holland zwar nicht besonders, aber er mochte Möpse, und es war schon eine Weile her, dass er solche Prachtexemplare gesehen hatte. „Geht’s ein bisschen genauer?“

Faith wurde rot. „Ich habe meinen Pullover die Toilette runtergespült.“

„Das passiert mir auch ständig.“ Die Bemerkung trug ihm einen weiteren bösen Blick ein. „Und deshalb wolltest du aus dem Fenster klettern?“

„Mhmmm.“

„Und jetzt steckst du fest.“

„Wow. Deine analytischen Fähigkeiten hauen mich einfach um, Levi. Kein Wunder, dass du Bulle bist.“

Na warte! Dafür würde er sie ein paar Sekunden länger im Fenster schmoren lassen. „Tja, wenn du nichts brauchst, dann geh ich halt wieder. Einen schönen Abend noch, Ma’am.“

Er schickte sich an, wieder ins Auto zu steigen.

„Levi! Geh nicht weg! Und sag nicht Ma’am zu mir. Ich bin immer noch Miss. Hilf mir hier raus. Schließlich bist du doch jedermanns Freund und Helfer, oder nicht?“

„Doch.“ Er zog die Brauen hoch und wartete.

„Und? Dann hilf mir gefälligst, und hör auf, so ein Arschloch zu sein.“

„Findest du wirklich, dass halb bekleidete, in Fenstern feststeckende Bürger einen Ordnungshüter beleidigen sollten?“

Sie schnaubte gereizt. „Officer Cooper, würden Sie mir bitte helfen?“

„Es heißt ‚Chief Cooper‘, und selbstverständlich helfe ich Ihnen.“

Er setzte sich ans Steuer, fuhr den Wagen so nah ans Fenster, dass die Stoßstange fast die Wand berührte, nahm den Gang heraus, stieg wieder aus und kletterte auf die Motorhaube. „Aber ich frage mich schon, was, zum Teufel, dich auf die Schnapsidee gebracht hat, aus dem Fenster zu klettern. Ist Jeremy etwa im Restaurant?“

„Hilf mir einfach“, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Das hieß dann wohl „Ja“.

Sie befanden sich jetzt auf Augenhöhe – nun ja, in Faiths Fall auf Augen- und Oberkörperhöhe. Sie sah aus, als hätte man sie durch die Mauer geschossen. Oh ja, sie steckte fest – und wie. Wenn er sie nicht komplett mit Butter einschmieren wollte (Denk nicht mal dran, rief er sich zur Ordnung), würde er sie da kaum rauskriegen, ohne sie zu berühren. Und das war immer heikel, wenn man Polizeichef war. Da hatte man ganz schnell ein Verfahren wegen sexueller Belästigung am Hals.

„Okay“, sagte er. „Gleich, ich muss nur vorher noch … Faith, bist du damit einverstanden, dass ich dich an deinen Armen da herausziehe?“

„Ja! Was denn sonst? Wolltest du stattdessen den ganzen Polizeiapparat bemühen?“

Er zog eine Braue hoch. „An deiner Stelle wäre ich ein bisschen freundlicher, Holland, in Anbetracht der Tatsache, dass ich auch einfach die Feuerwehr rufen könnte. Gerard Chartier lebt für solche Einsätze. Und ist dein Neffe nicht als Freiwilliger dabei?“

„Ich kastriere dich, wenn du die Feuerwehr rufst. Du allein bist schon schlimm genug. Hilf mir einfach.“

Er packte Faith bei den Oberarmen und hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Die Nacht war kalt und Faiths Haut geradezu eisig. „Ich zähle bis drei“, sagte er und stemmte einen Fuß gegen das Gebäude. „Eins … zwei … drei.“

Er zog, und sie schoss aus dem Fenster und fiel praktisch auf ihn drauf, weich und mollig im Dämmerlicht. Sobald es irgend menschenmöglich war, wich Levi einen Schritt zurück, um den Körperkontakt zu beenden, und sprang von der Kühlerhaube des Streifenwagens. Dann schaute er zu Faith hoch.

„Was ist denn das?“, fragte er entgeistert. Sie trug ein merkwürdiges beigefarbenes, glänzendes Tank-Top, das allerdings unter ihrem BH endete.

„Das ist ein Mieder. Guck weg, und halt am besten den Mund.“

Er reichte ihr die Hand, als sie vom Streifenwagen stieg. Schließlich würde es ziemlich blöd klingen, wenn in seinem Bericht stand: Und dann stürzte die halb nackte Frau von meinem Streifenwagen, weil ich sie nicht anfassen wollte. Auch ihre Hand war kalt. „Willst du meine Jacke?“ Er zog sie aus.

Faith ignorierte das ritterliche Angebot, ging zu Colleen O’Rourkes rotem Mini und versuchte, die Tür zu öffnen. Doch sie war verschlossen; das war auch gut so, denn in letzter Zeit hatte es ein paar Fälle von aufgebrochenen Autos gegeben. Faith seufzte tief, dann wandte sie sich wieder zu ihm um. Er streckte ihr die Jacke entgegen. „Danke.“ Sie schlüpfte hinein, ohne Levi anzusehen. „Kann ich mal dein Handy benutzen?“

„Klar.“ Er gab es ihr und sah zu, wie sie eine Nummer eintippte.

In diesem Augenblick tauchte Colleens Gesicht im Toilettenfenster auf. „Was, zum Teufel, treibst du da draußen, Faith?“ Sie fing an zu lachen. „Bist du tatsächlich aus dem Fenster geklettert? Hey, Levi.“

„Colleen.“

„Warum warst du nicht vor fünf Minuten da, als ich dich wirklich gebraucht hätte“, jammerte Faith. „Würdest du bitte meine Handtasche holen, damit wir schnellstens von hier verschwinden können? Bitte, bitte?“

Colleen tat ihr den Gefallen, und kurz darauf gab Faith Levi seine Jacke zurück und zog ihren Regenmantel über. Die beiden Frauen schnatterten drauflos, und Faith konnte jetzt über den Zwischenfall lachen. „Bis demnächst, Chief“, verabschiedete Colleen sich lächelnd.

Er nickte. Faith winkte ihm zu, vermied aber seinen Blick. Dann fuhren sie davon, und obwohl Levis Schicht eigentlich zu Ende war, ging er hinüber zur Wache. Wenn er schon hier war, konnte er noch ein bisschen Papierkram erledigen.

Seine Jacke roch nach Faith Hollands Parfüm. Vanille oder so.

Jedenfalls etwas, das man zum Nachtisch isst.

6. KAPITEL

Als Faith und Jeremy drei Wochen vor dem Abschlussball Schluss machten, rollten Schockwellen durch die Highschool von Manningsport. Wer sollte Ballkönigin und Ballkönig werden, wenn nicht dieses goldene Pärchen? Hatte Jeremy etwa eine andere? Und wenn ja, wer war die Glückliche?

Als Jeremy Levi mürrisch darüber informierte, dass er und Faith „eine Auszeit nahmen“, fragte Levi, ob er darüber reden wollte, und war erleichtert, als Jeremy Nein sagte.

Es war eine seltsame Zeit. Alle sprachen nur noch davon, wo sie im Herbst sein würden. Ein paar seiner Mitschüler würden aufs Community College gehen, ein paar würden gleich ins Berufsleben einsteigen, doch die meisten würden fortziehen, und wenn man sich mit ihnen unterhielt, ging es einzig darum, dass sie Sachen kaufen mussten, Kleidung, einen neuen Computer.

Levi war der einzige Rekrut in seiner Klasse und hatte diese Sorgen nicht. Nach der enttäuschenden Begegnung mit seinem Vater (und dem Ende seiner möglichen College-Karriere) kam ihm die Army gut zupass. Doch der Stolz über seine Entscheidung, dem Vaterland zu dienen, wurde von der Melancholie des nahen Abschieds überschattet. Jede Woche verbrachte er einen oder zwei Abende mit seiner Mutter vorm Fernseher, er wusste, dass sie sich größere Sorgen machte, als sie zugab. Er ging mit Sarah angeln und las ihr Harry Potter vor, damit sie sich an ihn erinnern würde, falls ihm etwas zustieß. Sie war erst acht.

Er war bereit für seine neue Aufgabe, und er glaubte an seine Befähigung. Er hatte alle Prüfungen bestanden, und sein Musterungsoffizier war der Meinung, er könne auf Grund seines psychologischen Profils und seines intuitiven Geschicks mit der Waffe ein guter Scharfschütze werden. Wie auch immer, die Chancen standen gut, dass Levi sich auf der Überholspur nach Afghanistan befand.

Von daher waren Dinge wie Faiths und Jeremys Beziehungsstatus nicht so wichtig, mal abgesehen davon, dass Levis Freund ungewohnt deprimiert war.

Ted und Elaine Lyon hatten Levi im Frühling eingestellt, um in ihrem Weinberg zu arbeiten. Jeremy musste dasselbe machen wie er, allerdings unentgeltlich, denn, so sagten seine Eltern, er war schließlich der Erbe, auch wenn er dauernd betonte, er wolle kein Winzer, sondern lieber Arzt werden (was gewöhnlich ein Rückenklopfen oder eine Umarmung nach sich zog). Doch in jener Woche waren Jeremy und Elaine nach Kalifornien gereist, um Verwandte zu besuchen. „Falls es dir nichts ausmacht, allein zu arbeiten“, sagte Ted, „wäre es toll, wenn du die Merlot-Spaliere checken könntest. Binde einfach die Trauben hoch, damit sie nicht runterfallen oder den Boden berühren. Das hast du doch schon mal gemacht, oder?“

„Ja, Sir. Haben Jeremy und ich letzte Woche beim Riesling gemacht.“ Es handelte sich ja nicht gerade um Astrophysik.

„Prima! Danke, mein Junge.“ Die Dame vom Verkostungsraum gab ihm ein Lunchpaket und eine große Flasche Wasser, und Levi machte sich auf den Weg zum westlichen Ende des Weinguts, nahe der Grenze zu Blue Heron, nicht weit entfernt vom Wald, wo das Land ziemlich abschüssig war.

Er arbeitete von der Hügelkuppe an abwärts, nahm sich eine Reihe nach der anderen vor. Die Sonne brannte auf seinem Rücken, und nach einer Viertelstunde zog er sein T-Shirt aus. Es war heiß für Anfang Mai, und er war froh, dass er Shorts trug. Später würde er vielleicht noch im See schwimmen, egal, wie kalt das Wasser war.

Er hatte eine gute Stunde gearbeitet und war schon schweißgebadet, als er das Rumpeln eines Pick-ups hörte. Es war John Hollands roter Wagen, der so alt und lehmverkrustet war, dass man ihn überall erkannte. Der Pick-up hielt an, und ein riesiger Golden Retriever sprang heraus, gefolgt von Prinzesschen Supersüß.

Sie trug abgeschnittene Jeans, eine ärmellose weiße Bluse, die sie unter der Brust verknotet hatte, und ein blaues Tuch um den Kopf. Sie turnte Levi an, aber eher aus Prinzip. Nichts Persönliches, Holland, dachte er. Seit er vierzehn war, starrte er immer wieder verstohlen auf ihre Brust.

Der Hund rannte schwanzwedelnd auf ihn zu und bellte einmal, dann ließ er sich fallen und wälzte sich auf den Rücken. „Hey, Alter“, sagte Levi und kraulte ihm den Bauch.

Faith beschattete ihre Augen mit einer Hand und sah ihn an. „Hi“, rief sie zaghaft. „Was machst du da?“

„Binde die Trauben hoch. Und du?“

Sie lächelte. „Dasselbe.“ Sie hielt erklärend eine Schürze hoch, band sie sich dann um. „Meine Schwester schwingt mal wieder die Peitsche.“ Sie sagte eine Weile nichts und fügte dann hinzu: „Smiley mag dich offenbar.“

Smiley. Typisch Faith Holland, einen Hund Smiley zu nennen. Apropos, der Hund hatte jetzt anscheinend genug von dem Gekraule, denn er sprang auf und tobte schwanzwedelnd durch den Weinberg.

Faith hingegen näherte sich ihm bis auf einen Abstand von zwei Reihen, und er wappnete sich gegen Fragen nach Jeremy oder eine Erklärung oder eine Diskussion. Mädchen, das wusste er nur zu gut, redeten gern so lange über ihre Gefühle, bis ihnen nichts mehr dazu einfiel, nur um dann wieder von vorn anzufangen.

Doch stattdessen beugte sie sich vor und machte denselben Job wie er. Nur dass sie besser war. In ihrer Schürze hatte sie Pflanzenbinder, und sie musste nicht wie er jeden Trieb erst genau betrachten. Sie war eindeutig ein Profi.

Und wann immer sie sich bückte, bot sich ihm der Anblick ihres prachtvollen Vorbaus. Er konnte mit Faith Holland nicht viel anfangen, aber, Mann, was für ein hübsches Paar Möpse sie da hatte.

Sie hob den Blick. Erwischt. „Ich dachte, du wärst eher der Prinzessinen-Typ“, redete er sich heraus, um sein Interesse zu erklären. „Findet ihr im Ort keine Leute mehr für die Routinearbeiten?“

Sie lachte nur. „Jeder Holland ist ein Bauer“, sagte sie. „Und ein Bauer arbeitet. Er sitzt nicht nur da, nippt am Weinglas und lässt den Blick über die Felder schweifen.“ Sie warf ihm einen wissenden Blick zu und band mit flinken, geschickten Fingern eine weitere Rebe hoch.

„Dann hab ich mich wohl getäuscht.“

„Das hast du dann wohl.“

Sie bückte sich wieder, und plötzlich war er nicht mehr nur aus Prinzip angeturnt. „Und hier verläuft dann also wohl die Grenze zwischen den Weingütern, hm?“

„Ja. Siehst du den Grenzstein da? Er trennt Blue Heron von Lyon’s Den.“ Während sie sprach, band sie drei Reben hoch, was ihn dazu anspornte, den Blick von ihren Brüsten zu lösen und sich wieder an die Arbeit zu machen.

Ihre Bewegungen waren sicher, sie bückte sich, kniete manchmal, nahm gelegentlich eine dunkle, schwere Traube in die Hand, und irgendwie wirkte hier draußen auf dem Feld alles, was sie tat, unverschämt erotisch. Sie war weich, wohlgeformt und inzwischen völlig verschwitzt, trug das rote Haar zu Zöpfen gebunden und war insgesamt die vollkommene Verkörperung der männlichen Fantasie von einem drallen Bauernmädchen.

Das ist Jeremys Freundin, Alter, mahnte sein Gewissen.

Nur dass sie nicht mehr zusammen waren.

„Wie geht’s dir denn so, Holland?“ Er war selbst überrascht von der Frage.

Sie sah zu ihm hin, stand dann auf, nahm das Kopftuch ab, wischte damit ihr Gesicht ab und band es wieder um. Oh Mann. Alles, was sie tat, sah aus, als wäre sie bei einem Fotoshooting für Penthouse. Bis auf die Kleidung. Wenn sie sich ausziehen würde, wäre alles perfekt.

Verdammt.

„Mir geht’s gut. Danke der Nachfrage.“

Was hatte er doch gleich gefragt? Ach ja, richtig. Jeremy. Vielleicht hatte er sich endlich geoutet. Oder vielleicht hatte sie es erraten.

„Wann musst du zur Grundausbildung?“ Sie legte die Hände ins Kreuz und streckte sich, wobei ihre Brüste beinahe die Bluse sprengten.

„Ähm, am zwanzigsten Juli.“

„Bist du aufgeregt?“

Er wollte es abstreiten und sich so ungerührt zeigen, wie es von ihm erwartet wurde. „Ein bisschen“, hörte er sich sagen. „Ich bin eigentlich noch nie so richtig von zu Hause weg gewesen.“

„Ich auch nicht.“

„Du gehst nach Virginia, stimmt’s?“

„Aufs Virginia Tech. Scheint ein tolles Institut zu sein, aber im Moment kann ich nur daran denken, wie weit weg es von zu Hause ist.“ Ihr Lächeln war seltsam, halb traurig, halb verlegen.

„Du packst das schon. Dich mögen doch alle.“ Autsch. War er nicht supernett?

„Nicht alle.“ Sie fing wieder an, mit erstaunlichem Tempo diese kleinen Pflanzenbinder zu befestigen.

„Nein?“

„Du magst mich nicht.“

Tja, Scheiße. „Warum sagst du das?“

Sie lachte. „Es ist ziemlich offensichtlich, Levi“, antwortete sie. „Du findest mich verwöhnt und lästig und albern. Habe ich recht?“

Im Moment finde ich dich eher zum Vernaschen süß. Aber, ja, ich finde, du solltest imstande sein, den Unterschied zwischen einem Hetero und einem Schwulen zu erkennen. „So ziemlich.“

„Nun ja, du bist halt schon immer ein Snob gewesen.“

„Ich?“

„Ja, du“, bekräftigte sie.

„Du bist doch diejenige mit dem großen Haus auf dem Hügel.“ Er band eine Traube hoch.

„Deshalb bin ich noch lange kein Snob.“ Sie warf einen der Zöpfe über ihre Schulter.

„Aber ich bin einer?“

„Ja.“ Ihr Tonfall war sachlich. „Du hast früher nie mit mir geredet. Das tust du erst seit diesem Jahr und auch nur wegen Jeremy. Und auch nur dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

Er band eine weitere Traube hoch. „Und das stört dich, weil du findest, dass alle dich anhimmeln sollten. Stimmt’s?“

„Nein. Aber wir kennen uns seit der dritten Klasse. Wir waren beide in diesem besonderen Leseclub von Mrs Spritz, weißt du noch? Und ich habe dich zu unserer Halloween-Party eingeladen.“

Ach ja. Kürbisschnitzen und Äpfel angeln und eine Spukfahrt im Heuwagen. Das war ein lustiger Abend gewesen, auch wenn es ein komisches Gefühl war, im berühmten Haus der Hollands zu sein. „Das ist wahr.“

„Aber du fandest mich nicht cool genug, um mit mir zu reden. Und als meine Mutter gestorben war, warst du der Einzige in der Klasse, der mir keinen Brief geschrieben hat.“

Levi spürte, wie er rot wurde. „Du hast ein verflixt gutes Gedächtnis, Holland“, brummte er und band ein paar weitere Triebe hoch.

„Na ja, Leute, die einen kränken, vergisst man nicht so schnell.“

Oh weh, die arme kleine Drama-Queen. „Ach, dann wärst du also gern zum Spielen in die Wohnwagensiedlung gekommen?“

„Einmal habe ich beim Mittagessen den Platz neben dir gewählt“, fuhr sie fort, „nicht etwa, weil ich unbedingt in deiner Nähe sein wollte, sondern nur, weil es der freie Platz neben Colleen war. Und du bist aufgestanden und weggegangen, als könntest du es nicht ertragen, neben mir zu sitzen.“ Sie richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften, und wieder regte sich die Lust, obwohl sie seine Missetaten aufzählte. „So.“ Ihre Stimme klang ruhig und ein kleines bisschen spitz. „Wer ist hier also der wahre Snob, Levi?“

Mädchen. Viel zu kompliziert. Er vermisste Jess, die ihn mehr oder weniger für Sex benutzte. Sie war wenigstens offen. Er bückte sich, hob behutsam eine Traube an und band den Trieb fest. „Du hast keinen Schimmer, wie die Welt wirklich funktioniert, stimmt’s, reiches Mädchen?“, fragte er.

„Das würde ich so nicht sagen.“

Er sah sie an. „Ich aber.“

„Warum?“

Er erinnerte sich daran, wie sie und ihre Mutter manchmal mit einem Sack voller Kleider für Jessica zur Wohnwagensiedlung kamen. Die gute Fee und ihr Engelchen auf Besuch bei den Armen. Irgendwann, ungefähr in der fünften Klasse, entdeckte er Jessica in der kleinen Höhle im Gestrüpp, die sie ihre „Festung“ nannte. Sie hatte sich dort versteckt und wartete darauf, dass die Hollands wieder gingen. Und sie hatte geweint. Schon damals hatte er sie verstanden. Arm zu sein war das eine, aber die Tatsache, dass die Leute vom „Hügel“ einen zum Almosenempfänger machten, noch mal etwas ganz anderes. Levis Mom schuftete zwar in zwei Jobs, und Geldsorgen waren an der Tagesordnung, aber sie kamen über die Runden. Mut zur Lücke, sagte seine Mom gern.

Doch die Dunns waren wirklich arm. So arm, dass Essensmarken und abgeschalteter Strom ein Thema waren. Einen Sack voll schöner Kleider und Mäntel konnten sie unmöglich ablehnen. Kein Wunder, dass Jessica einen Hass auf Faith hatte.

Sein Schweigen machte Faith anscheinend wütend. Sie schnappte sich eine Traube, ihre Bewegungen waren jetzt nicht mehr fließend, sondern abgehackt. „Komisch, dass du uns für reich hältst. Sind wir nämlich nicht, bei Weitem nicht.“

„Ich bin in einem Wohnwagen aufgewachsen, Faith. Deine und meine Vorstellung von Reichtum gehen weit auseinander.“

„Und deshalb ist es in Ordnung, dass du mich seit Jahren verabscheust.“

„Ich verabscheue dich nicht, verdammt noch mal.“

„Oh nein. Du hast mich nur immer ignoriert und mir das Gefühl gegeben, ein Trampel zu sein – und dass wir auf gar keinen Fall Freunde sein könnten.“

„Du willst, dass wir Freunde sind? Na gut. Dann sind wir halt Freunde. Lass uns mit Barbiepuppen spielen und ins Kino gehen.“

Sie verdrehte entnervt die Augen und bückte sich nach der nächsten Traube. „Ich habe nie verstanden, wieso Jeremy denkt, dass du der Größte bist. Für mich bist du einfach nur ein Blödmann.“

„Siehst du? Da biete ich dir die Freundschaft an, und du beschimpfst mich.“

„Blödmann.“

„Heißt das, ich darf nicht zum Kaffeeklatsch kommen?“

Sie funkelte ihn böse an. Er grinste.

Und dann wurde sie plötzlich rot, die Farbe stieg ihr rosig über Brust und Hals in die Wangen. Ihr Blick wanderte über Levis nackten Oberkörper. Dann wandte sie sich abrupt wieder den Weinstöcken zu und kramte nach einem Binder. Den sie fallen ließ.

Sieh an, sieh an. Levis Grinsen wurde bereiter.

„Du machst das zu schlampig.“ Sie schaute an den Weinstöcken seiner Reihe entlang. „Du musst mehr Binder benutzen, sonst sind die Trauben zu schwer und vergammeln.“

„Ach ja?“, brummte er. Bevor sie hier auftauchte, hatte er eigentlich ganz ordentlich gearbeitet.

Sie kam in seine Reihe und zeigte ihm, was sie meinte. „Die hier, siehst du, im Augenblick hängt sie zwar nicht am Boden, aber wenn die Weinbeeren reif werden, sind sie zu schwer. Siehst du das?“

„Ja.“ Sie roch nach Trauben und Vanille und Erde und Sonne und Schweiß. Das lustvolle Zucken wurde zum fordernden Pochen.

„Du musst sie höher binden.“ Sie kniete sich hin und führte ihre Technik vor. Faith Holland, vor ihm auf den Knien. Er musste sich einfach ausmalen, was er sich jetzt gerade ausmalte. Wie hätte er es vermeiden sollen? „Geh deine Reihe noch einmal durch, und gib Acht, dass du nichts übersiehst.“

„Ja, Frau Lehrerin“, sagte er. Sie stand auf, um zu ihrer Reihe zurückzugehen, und ihre Bluse streifte seine Rippen.

Hör auf, sie anszustarren. Und mach dich an die Arbeit. Dafür bezahlen die Lyons dich schließlich. Du kannst dir später immer noch einen runterholen.

Er befolgte seinen inneren Rat eine Stunde lang.

Sie arbeitete viel schneller und effizienter als er, das musste er ihr lassen. Er blickte zum Himmel, der makellos und endlos blau war, und beschloss, dass es Zeit zum Essen war.

„Willst du Mittag essen, reiches Mädchen?“, rief er. Sie war schon rund zwanzig Meter weiter als er.

„Ich hab mir was mitgebracht“, antwortete sie.

„Wollen wir vielleicht zusammen essen? Nachdem wir jetzt ja allerbeste Freunde sind?“

„Blödmann!“

„Heißt das Ja?“ Er senkte das Kinn und warf ihr einen geduldig wartenden Blick zu, das kam bei den Mädchen immer gut an.

„Klar“, knurrte sie.

Hey, du Idiot, schimpfte sein Verstand. Vor ein paar Tagen war sie noch mit deinem besten Freund zusammen. Was soll das? Aber erstens sollte Jeremy überhaupt keine Beziehung mit einem Mädchen haben. Apropos Jeremy, er hielt sich zurzeit nicht einmal im Staate New York auf. Und zweitens hatten die beiden Schluss gemacht – oder wie immer man das nennen wollte.

Und dann war da auch noch der Anblick einer verschwitzten und dreckigen Faith Holland in abgeschnittenen Jeans und einer unter ihrer üppigen Brust verknoteten Bluse. Nicht zu vergessen, dass sie sich über ihn, Levi, ärgerte. Was im Allgemeinen darauf hindeutete, dass ein Mädchen Interesse hatte, das wusste er aus Erfahrung.

Sie kam zu ihm herüber, löste ihre Zöpfe und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz. „Etwa fünf Minuten von hier kenne ich eine hübsche Stelle. Bei den Wasserfällen. Kennst du die?“

Er schüttelte den Kopf und sah sie an. Sie hatte blaue Augen. Das war ihm vorher nie so richtig aufgefallen. Und Sommersprossen.

Sie schluckte.

Oh ja. Faith Holland war keinesfalls immun gegen seine Reize.

„Dann komm“, sagte sie. Sie gingen zum Pick-up ihres Vaters; der Hund lief ihnen voran. Levi hob sein Hemd vom Boden auf und zog es an.

John Hollands Pick-up roch angenehm nach altem Kaffee und Öl und war drinnen genauso verdreckt wie außen. Armaturenbrett und Sitze waren mit trockenem Schlamm und Staub bedeckt. Smiley sprang hinein, und sein buschiger Schwanz traf Levis Gesicht. „Sitz, Köter“, befahl er, und der Hund gehorchte und schmiegte seine fellige Flanke an Levis Arm. Anscheinend hielten die Hollands dauernd den einen oder anderen Golden Retriever. In ihren Werbebroschüren war jedenfalls immer einer abgebildet.

„Züchtet ihr diese Monster?“, fragte er Faith. Sie ließ den Motor an und legte den ersten Gang ein. Dass sie einen Pick-up amerikanischer Machart mit Standard-Getriebeschaltung fahren konnte, machte sie in seinen Augen noch heißer.

„Wir sind in der Golden-Retriever-Rettungsliga.“ Smiley schleckte ihr Gesicht ab, als wollte er sich bedanken.

„Noch so ein Gnadenakt der großartigen Familie Holland“, kommentierte Levi.

„Du meine Güte! Wenn du dich weiterhin so aufspielst, schmeiß ich dich aus dem Wagen und esse dein Mittagessen.“

Der Pick-up rumpelte und schaukelte derart über die grasbewachsenen zerfurchten Wege zwischen den Feldern, dass sich Levi beinahe am Wagendach den Schädel einschlug (gleichzeitig aber großartige Aussichten auf Faiths hüpfende Brüste hatte). Nach etwa fünf Minuten hielten sie am Rand eines brachliegenden Feldes. An einer Seite war es von dichtem Wald begrenzt.

Faith holte eine Decke und eine Lunchbox (die verdächtig nach „Hello Kitty“ aussah) hinter ihrem Sitz hervor. Der Hund rannte sofort in den Wald, und sie folgte ihm über einen schmalen Weg, ohne auf Levi zu warten.

Vögel zwitscherten und flatterten in den Zweigen. In nicht allzu großer Entfernung rauschte und plätscherte ein Bach. Levi versuchte sich vorstellen, wie es wäre, über Hektar um Hektar Feld und Wald hinwegzublicken, bis hinunter zum See, und zu wissen, dass das alles ihm gehörte und seit Jahrhunderten in Familienbesitz war. Levis Mutter stammte auch aus Manningsport, aber viele andere waren eben schon länger da, und dann gab es natürlich die Gründerfamilien.

Zur linken Seite sah er die Ruine einer alten gemauerten Scheune. Die Steine waren mit Flechten überzogen. Mitten drin wuchs ein Baum; das Dach existierte längst nicht mehr.

„Kommst du?“, rief Faith.

Dicke Moospolster bedeckten den Boden, und die Blätter waren so grün, dass sie die Luft zu färben schienen. Sie kamen an einem Hain riesiger Birken vorbei, deren Rinde weiß schimmerte, und die Spitzen von Tannenzweigen streiften Levis Wange. Er schlug nach einer Mücke und sah ein Streifenhörnchen über den Pfad laufen.

Das Wasserrauschen war jetzt lauter. Faith hatte die Decke über einen Felsbrocken gebreitet und saß jetzt da, saftig wie ein reifer Pfirsich. Levi stellte sich vor, wie sie unter ihm lag und ihn mit den Beinen umschlang, und diese Fantasie brachte ihn buchstäblich ins Taumeln.

Er musste wirklich aufhören, an solche Dinge zu denken.

Sie befanden sich am Rande einer tiefen Schlucht; ein Wasserfall ergoss sich von hier in einen runden See in etwa fünf Metern Tiefe. Levi wünschte, er hätte eine Kamera, damit er später, wenn er in der Sonne des Iraks oder Afghanistans schmorte – oder wo auch immer die Army ihn hinschicken mochte –, dieses Bild betrachten könnte. Er würde es herumzeigen. Da komme ich her. Auf diesem Felsen hier habe ich mit einem hübschen Mädchen Mittagspause gemacht.

„Schön hier“, sagte er und setzte sich neben Faith.

„Der Teich ist ziemlich tief.“ Sie nahm ein Sandwich aus ihrer Lunchbox. „An die sechs, sieben Meter. Jack sagt, unterhalb des Wasserspiegels wird er größer. Wie eine Glocke. Er ist immer gern von dem Felsen da runtergesprungen.“

„Du auch?“

Sie sah ihn kurz an und biss in ihr Sandwich. „Nein. Ich hatte zu viel Angst. Honor ist auch nie gesprungen. Sie sagte, wir wären schon … egal. Ich finde, man sollte sein Leben nicht einfach so für nichts riskieren.“

„Klar.“

Sie aßen schweigend. Der Hund kam an und bettelte um Häppchen. Vögel zwitscherten, der Wasserfall brüllte. Faith aß ihr Sandwich und schien zufrieden damit, nur aufs Wasser zu blicken. Die Gischt der Fälle hatte winzige Perlen in ihr Haar gezaubert, und sie sah aus wie eine pornomäßig angehauchte Waldfee.

„Tja“, sagte Levi, dem plötzlich bewusst wurde, dass er Faith schon viel zu lange angestarrt hatte, während alle möglichen heißen, unanständigen Ideen in ihm pulsierten. „Ich gehe schwimmen. Von welchem Felsbrocken soll ich springen?“

„Nein, Levi, nicht.“ Faith schreckte aus ihrer Versunkenheit auf. „Mein Handy liegt im Pick-up. Wenn du dir nun den Schädel einschlägst oder so? Vor ein paar Jahren hat sich ein Tourist hier eine Gehirnerschütterung geholt. Mein Bruder hat sich den Arm gebrochen, als er fünfzehn war. Es ist zu gefährlich. Bitte lass es.“

Es war irgendwie nett, wie sie sich um sein Wohlergehen sorgte. Andererseits war der See verdammt verlockend. Er zuckte mit den Achseln. „Ich geb mir Mühe, mir nichts zu brechen.“ Er zog sein Hemd aus, wobei ihm durchaus klar war, dass er sich ziemlich gut sehen lassen konnte. Faiths Wangen färbten sich rosig, und sie blickte starr geradeaus. „Kommst du, Holland?“ Es hörte sich an wie eine Anmache.

Es war auch eine.

„Auf gar keinen Fall“, sagte sie spröde. „Tu’s nicht. Ich muss sowieso wieder an die Arbeit. Du auch, oder? Und wirklich, es ist gefährlich zu springen.“

„In zwei Monaten bin ich Soldat, Faith. Von diesem Felsen zu springen ist vermutlich nicht halb so gefährlich wie Nagelbomben oder Selbstmordattentäter.“ Er zwinkerte ihr zu, stieg auf den Felsbrocken und schaute nach unten. Der Teich war grün und klar und schäumte, wo der Wasserfall auf seine Oberfläche traf. Er schrie „Geronimo“, das war der Schlachtruf der U.S.-Fallschirmspringer, und stieß sich ab.

Er tauchte mit den Füßen zuerst ein, schoss in die Tiefe, das Wasser, kalt und seidig und wunderschön, verschlang ihn. Als er die Augen öffnete, sah er, dass Faith recht hatte: Der Teich verbreiterte sich unter Wasser um etwa drei Meter. Die Steinwände erinnerten an eine Kirche. Levi konnte ziemlich gut schwimmen und war im Frühling stets einer der Ersten im See. Doch das hier … Es war unglaublich, so weich und tief und geheim. Er strich mit der Hand über den Stein, verblüfft und von leichtem Bedauern erfasst, weil er nie zuvor hier gewesen war.

Ihm schoss durch den Kopf, dass er diesen Ort wohl schon vor Jahren gesehen hätte, wenn er Faiths Freund gewesen wäre.

Dann schoss er hinauf an die Wasseroberfläche, blickte nach oben und sah Faiths besorgtes Gesicht über dem Rand des Abgrunds. „Komm schon, Holland“, rief er. „Zeig mal ein bisschen Leben.“

Leben ist das Stichwort“, gab sie zurück. Smileys Kopf tauchte neben ihrem auf, und der Hund sah viel fröhlicher aus als Faith.

„Ich lebe ja noch. Komm schon. Ich fang dich auf.“

„Du fängst mich nicht auf. Ich bin kein kleines Kind, und es geht sechs Meter in die Tiefe.“

„Ich bin doch hier. Hab keine Angst.“

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie wollte gern, das sah er wohl. „Reiches Mädchen.“ Er schwamm zu einem schmalen Felsvorsprung, der über den Teich ragte wie ein natürliches Sprungbrett. Er hielt sich daran fest, wohl wissend, dass er dadurch sehr wirkungsvoll seine äußerst kräftigen Muskeln spannte. „Wie langweilig.“

„Ich bin nicht reich“, sagte sie.

„Mag sein, aber langweilig bist du, wenn du nur dasitzt und zusiehst, statt hier unten Spaß mit mir zu haben“, erwiderte er.

Sie zögerte. „Ich habe keinen Badeanzug an.“

„Na und?“ Oh ja, er machte Fortschritte. Faith in einer nassen weißen Bluse und mit offenem roten Haar, das sich über ihren Rücken ergoss … Nicht einmal das kalte Wasser konnte verhindern, dass sein Körper mit Begeisterung auf diese Vorstellung reagierte. „Komm schon, Holland. Tu’s für mich, einen jungen Soldaten, der schon bald die Heimat verlässt, um deine Freiheit zu verteidigen.“ Er grinste zu ihr hoch, und eine Sekunde später verwandelte sich ihre ängstliche Miene in etwas ganz anderes.

„Gut. Aber wenn ich dabei umkomme, musst du es persönlich meinem Vater mitteilen, okay? Und du musst dich um Smiley kümmern, denn er wird mich vermissen. Er schläft auf meinem Bett.“

„Dein Hund kann bei mir schlafen, falls du stirbst, versprochen. Komm jetzt rein.“

Sie trat vor bis an die Kante des Felsbrockens, und trotz der Entfernung sah Levi, wie sie ihre nackten Zehen krümmte. Sie knotete die Blusenzipfel fester und zog die Shorts hoch. „Okay, Gefreiter Cooper. Ich komme.“

Dann sprang sie, mit flatterndem Haar, fest geschlossenen Augen und geballten Fäusten. Sie tauchte etwa drei Meter von Levi entfernt ein und kam fast sofort wieder an die Oberfläche, das Haar im Gesicht, prustend und keuchend.

Levi schwamm zu ihr, und instinktiv hielt sie sich an seinen Schultern fest, sehr fest, und ihre Brüste drängten sich an seinen nackten Oberkörper. Er legte den Arm um ihre Taille und schwamm mit ihr zu dem Felsvorsprung, wo sie sich mit einer Hand anklammerte.

Ihr anderer Arm blieb um seine Schultern liegen, und ihre Beine strampelten zwischen seinen, ihre glatten Schenkel streiften seine. Sie brauchte sich nicht an ihm festzuhalten, tat es aber trotzdem. Ihr Herz klopfte schnell und heftig an seinem, und er erkannte, dass sie Angst hatte. Wegen des Sprungs vielleicht. Und vielleicht hatte sie auch Angst vor ihm … ja, das auch, vielleicht.

„Ich halte dich“, flüsterte er.

Das hier war’s doch! Ein Augenblick, den er mitnehmen konnte, das Gefühl ihres süßen, nassen, weichen Körpers, ihre Wange an seiner, während sie das klare, reine Wasser trat und der Wasserfall rauschte und das Laub raschelte und säuselte.

Faith rückte ein wenig von ihm ab. Ihre Wimpern waren verklebt von Wasser. Er hätte sie küssen können. Er brauchte sich nur einen oder zwei Zentimeter vorzubeugen, dann würden sich ihre Lippen berühren, und er war sicher, dass sie süß schmecken würde. Er strich mit einer Hand an ihren Rippen entlang, so dicht an ihre Brust heran, dass sie zitternd den Atem einsog, und heiße, schwere Lust strömte durch seine Adern.

Er küsste sie so sanft, wie er nur konnte, wollte nicht, dass sie ihn von sich stieß, wollte nur dies, nur einen einzigen Kuss. Ihre Lippen waren weich und kühl und nass vom Wasser, und er konnte nicht anders, er fuhr mit der Zunge über ihre Unterlippe, weil sie so gut schmeckte. Als sie den Mund öffnete, wollte er viel, viel mehr, war plötzlich hungrig nach ihr und steinhart. Er zog ihre Hüften an seine heran, sodass sie seine Erregung spüren konnte, und ihre Finger gruben sich in seine Schultern, ein zarter, kleiner Laut löste sich aus ihrer Kehle, und es war so unglaublich schön, dass er nicht mehr denken konnte. Er hätte auf der Stelle ertrinken mögen und hätte nichts dagegen, wenn dies sein letzter Tag auf Erden wäre.

Dann löste sie sich von ihm, stieß sich ab und kletterte auf den Felsen.

„Ich … ich … ich kann nicht“, sagte sie in das Wasserrauschen hinein.

Seine Arme fühlten sich leer an ohne sie. Leer und kalt. „Verstehst du, ähm, Jeremy und ich, also, wir … Wir haben uns nicht wirklich … Es ist eine Auszeit. Wir haben uns nicht offiziell … Deshalb kann ich das nicht. Ich kann keinen anderen küssen.“

„Dann nicht“, sagte er leichthin. Aber urplötzlich war er wütend. Und nicht nur auf sie. Auch auf Jeremy, den Idioten, der sie vermutlich noch nie so geküsst hatte, der keine Ahnung hatte, wie sie geküsst werden wollte. Und auf sich selbst, weil er das Mädchen seines besten Freundes geküsst hatte. Aber, ja, in erster Linie auf sie. Denn wenn sie ihn nicht küssen wollte, dann hätte sie sich bitte schön auch nicht wie ein Klammeräffchen an ihn hängen sollen. Sie hatte diesen Kuss gewollt, und er hatte ihn ihr gegeben, und jetzt spielte sie wieder das keusche Fräulein Rührmichnichtan.

Ach, Mist. Er hatte gerade Jeremys Freundin geküsst.

„Wir müssen zurück.“ Ihre Stimme klang gepresst und irgendwie spitz. Sie kehrte Levi den Rücken zu und wrang ihre Bluse aus. Genauso verfuhr sie mit ihrem Haar. Ihm fiel auf, dass ihre Hände zitterten. Sie drehte sich um; die Bluse klebte an ihrem Körper. Wenn sie keinen BH getragen hätte, wäre das womöglich sein Tod gewesen. Doch unter den gegebenen Umständen wirkte das kalte Wasser (und die Abweisung) doch ernüchternd genug. „Levi, ich hoffe, du bist nicht …“

„Sauer?“

Sie zögerte, dann nickte sie.

„Mach dir keine Gedanken“, sagte er lässig.

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Hm, ich glaube nicht, dass ich Jeremy davon erzähle. Es würde ihn nur kränken, oder? Deshalb sage ich nichts.“ Die Bitte in ihrem Ton war nicht zu überhören: Und du sagst auch nichts, oder?

Er schwamm zu den Steinen, stemmte sich aus dem Wasser, sah, wie sie ihn mit Blicken abtastete. Tja, reiches Mädchen. Ein heterosexueller Mann. Genieß den Anblick, solange du kannst. Er ging zu ihr, schob sich sehr nahe an sie heran. „Weißt du, ich habe dich tatsächlich immer für albern und verwöhnt und lästig gehalten“, flüsterte er. „Aber bis heute hätte ich nie gedacht, dass du es darauf anlegst, Männer erst aufzugeilen und dann eiskalt abzuservieren.“

Er drehte sich um und kletterte wieder zu der bezaubernden Picknickstelle. Der Hund begrüßte ihn mit freudigem Winseln und bot ihm wieder seinen Bauch, doch diesmal schenkte Levi ihm keine Beachtung. Er griff nach seinem Hemd und zog es an, hob seine braune Lunchtüte auf und machte sich auf den Weg, um weiter für die Lyons zu arbeiten. Unter der gleißend hellen, gnadenlos brennenden Sonne stapfte er über das Land der Hollands.

Faith kam nicht zurück zum Weinberg.

Am nächsten Wochenende rief Jeremy ihn an, und seine Stimme klang vergnügt wie immer. „Wie geht’s, Alter?“, fragte er. „Hast du Lust, ein bisschen abzuhängen?“

„Klar“, sagte Levi. Es gelang ihm, etwaige Gewissensbisse, weil er Jeremys Freundin geküsste hatte, zusammenzuknüllen und in den Schmutzwäschebereich seines Bewusstseins zu verbannen. Zum Teufel, sagte er sich, in der Situation hätte er so ziemlich jedes weibliche Wesen geküsst. Es war nichts weiter als ein schlimmer Fall von … was auch immer. „Wie war’s in Kalifornien?“, erkundigte er sich.

„Super“, antwortete Jeremy. „Und ich habe gute Nachrichten. Faith und ich sind wieder zusammen.“

„Das überrascht mich nicht.“ Als ob sie ihren Goldjungen fallen lassen würde. Den Star-Footballer. Den künftigen Arzt. Den Erben des Lyonschen Weinbergs.

Levi begegnete Faith natürlich in der Schule. Jeremys engelsgleicher Freundin, die absolut kein Gespür dafür hatte, ob ein Junge sie nach allen Regeln der Kunst vögeln wollte. Oder nicht.

7. KAPITEL

Die meisten Anrufe, auf die Levi reagieren musste, waren nicht weiter dramatisch, was ihm durchaus entgegenkam.

Dieser Notruf jedoch zählte zu den aufregenderen der laufenden Woche. Am Dienstag saß er um 14:20 Uhr, als die Highschool-Kids Schulschluss hatten, mit einer Radarpistole an der Straße, weil Carol Robinson sich über Raser beschwert hatte. Gestern hatte er in der dritten Klasse erklärt, warum Drogen nicht gut sind. Später rief Laura Boothby ihn an, weil sie in ihrem Blumenladen nicht an eine Vase in einem hohen Regal heranreichte. Sie wollte einen Sturz von ihrem Tritthocker vermeiden, den ihr Taugenichts von Sohn trotz seines Versprechens nicht repariert hatte, und ob Levi wohl bitte kommen und ihr die Vase herunterholen würde? (Er war hingefahren. Das war wohl besser, als Laura drei Tage später mit gebrochener Hüfte vorzufinden.)

Am Vorabend gegen elf Uhr kam wieder einmal ein Anruf von Suzette Minor – der dritte diesen Monat –, die verdächtige Geräusche gehört hatte und wollte, dass er ihr Haus (insbesondere ihr Schlafzimmer) durchsuchte. Das tat er, allerdings nicht mit dem von Suzette erhofften Ergebnis. Das raschelnde rote Nachthemd und diese „Officer, bitte helfen Sie mir/Ich habe Angst/Mein Gott, sind Sie stark“-Masche verfingen bei ihm nicht. Seine Aufgabe war es, zu schützen und zu dienen, und „dienen“ bedeutete keineswegs „zu Diensten sein“.

Die Arbeit der Polizei von Manningsport war eher Nachbarschaftshilfe als Verbrechensbekämpfung. Es schadete auch nicht, dass er ein Einheimischer und als hochdekorierter Veteran bei allen ziemlich beliebt war. Orden hatten die Eigenschaft, manchen Konflikt im Nebel der Vergangenheit versinken zu lassen … Ellis Mitchum hatte offenbar vergessen, dass er ihn mal als Abschaum aus der Wohnwagensiedlung beschimpft hatte, der nur ja nicht wagen sollte, seine kostbare Angela zu schwängern. Inzwischen gehörte es zu Ellis Lieblingsbeschäftigungen, ihm ein Bier auszugeben und in Erinnerungen an Vietnam zu schwelgen. (Angela, nur damit das klar ist, ließ sich dann im letzten Schuljahr von einem Jungen aus Corning schwängern.)

Nein, Levi war kein Abschaum aus der Wohnwagensiedlung mehr. Als es darum ging, zur Entlastung von Chief Griggs einen Polizisten einzustellen, hatte der Stadtrat, den alten Mr Holland eingeschlossen, sich förmlich überschlagen, um Levis Bewerbung anzunehmen. Ein Jahr später ging der Polizeichef in den Ruhestand, und Levi bekam obendrein noch dessen Stelle. Damit war er nun Vorgesetzter seines Stellvertreters Everett Field und seiner Verwaltungsassistentin Emmaline Neal, die ihn so gern analysierte. Außerdem verdiente er zehn Riesen mehr im Jahr, und da seine Schwester das College besuchte, konnte ihm das nur recht sein.

Doch als Polizeichef musste er eben auch auf fast jeden Anruf reagieren.

„Ach Chief, bitte!“, heulte Nancy Knox. „Er bringt mein Herzchen um! Bitte helfen Sie!“

„Okay, okay, ich schau es mir mal an.“ Er kauerte sich hin und schaute. Nein, bisher noch kein Mordfall. Alle Beteiligten wirkten ganz ruhig. Sogar ein bisschen verschlafen. „Everett, du beziehst Posten auf der anderen Seite der Veranda, für den Fall, dass er durchgehen will.“

„Ja, Sir, Chief. Klar doch. Sofort auf der anderen Seite der Veranda Posten beziehen. Roger.“ Everett hielt inne. „Äh, auf der Nord- oder auf der Südseite, Sir?“

„Geh einfach um die Veranda herum, Ev“, sagte Levi, um Geduld bemüht. „Lass ihn nicht entkommen.“

„Roger, Chief. Auf die andere Seite gehen, nicht entkommen lassen.“ Levi hörte ein Klicken, als Levi sein Holster öffnete.

„Steck die Waffe ein!“, brüllte er. „Everett, um Gottes willen. Irgendwann verletzt du noch mal jemanden damit.“

„Ach, mein armes Herzchen. Lebt sie noch?“, fragte Mrs Knox. „Ich kann nicht hinsehen. Ich kann’s einfach nicht!“

Levi blickte noch einmal unter die Veranda, wo ein Hund und ein Huhn einander beäugten. „Sie lebt, Mrs Knox. Keine Angst. Komm her, Köter. Komm schon, Bürschchen.“

Der Hund wedelte mit dem Schwanz und grinste, rührte sich aber nicht. Falls Levi nicht alles täuschte, war es Faith Hollands Töle, jedenfalls kamen ihm der riesige Kopf und das neongrünkarierte Halsband bekannt vor. Die Knoxes wohnten etwa eine Meile hügelabwärts von den Hollands, und sie hielten Hühner, die für etwa siebzig Prozent von Levis Einsätzen verantwortlich waren … Es waren freilaufende Hühner, was bedeutete, dass sie sich dauernd auf der Straße herumtrieben, was einmal sogar dazu führte, dass ein Jugendlicher in den Graben fuhr. Die Leute riefen ständig an, um sich zu beschweren.

Dem Huhn schien es gut zu gehen – der Hund war augenscheinlich total entzückt von diesem Federvieh, das den Kopf so eigenartig auf die Seite neigte und so komische surrende Laute von sich gab. Er wedelte mit dem Schwanz und hechelte, verdreckt von oben bis unten.

„Komm schon, Blue“, sagte Levi. „Komm schon, Freundchen.“

Der Hund grinste wieder. Er war auffallend schön und dumm wie Brot. Das Huhn war ebenfalls kein zweiter Stephen Hawking. Es hätte schließlich jederzeit unter der Veranda hervorkommen können.

„Bitte, Chief. Bitte, retten Sie mein Herzchen.“

Levi seufzte. Die Knoxes hätten Kinder oder Katzen oder Affen oder Ähnliches haben sollen. „Okay, ich krieche da drunter.“

„Dieser Hund ist böse.“ Mrs Knox weinte.

„Soll ich Verstärkung anfordern?“, fragte Everett.

„Nein, Ev. Der Hund ist schon in Ordnung.“ Levi musste robben – was nichts anderes bedeutete, als sich mithilfe der Ellbogen bäuchlings vorwärtszuschieben. Sein Unteroffizier in der Grundausbildung hatte seine Schützlinge mit Vorliebe zu dieser Übung verdonnert. Vier Einsätze in Afghanistan, und Levi hatte nicht ein einziges Mal robben müssen. Doch jetzt kam das damalige Training ihm gelegen.

Sein Handy klingelte. Sämtliche Anrufe auf der Polizeiwache wurden auf sein Handy umgeleitet, wenn er im Einsatz war. „Chief Cooper“, meldete er sich.

„Ich bin’s“, sagte seine Schwester. „Ich bin zu Hause. Ich hab’s keine Sekunde länger ausgehalten.“

„Soll das ein Witz sein?“

„Mein Herzchen! Ist sie tot?“, kreischte Mrs Knox.

„Sie ist nicht tot“, rief Levi zurück.

„Wo bist du?“, wollte Sarah wissen.

„Ich arbeite. Warum bist du zu Hause? Die Schule hat erst vor drei Wochen angefangen, Sarah, und du warst schon sechs Mal zu Hause.“

„Ich habe Heimweh, okay? Tut mir leid, dass ich dir so sehr auf die Nerven falle, aber ich hasse das College. Ich will ein Jahr aussetzen.“

„Du wirst kein Jahr aussetzen. Du gehst weiter aufs College, und du führst es zügig zu Ende. Und jetzt habe ich zu tun. Wir reden, wenn ich zu Hause bin.“

„Was machst du denn?“

„Ich rette ein Huhn.“

„Das muss ich unbedingt twittern. Mein Bruder, der Held.“

Er drückte das Gespräch weg. Aussetzen, von wegen. Sie würde zurück aufs College gehen, er würde sie noch am Abend zurückbringen … Okay, vielleicht morgen früh. Und sie würde auf dem College bleiben, tolle Leistungen bringen, und später würde sie ihm dafür danken.

Noch etwa anderthalb Meter musste er durch den Dreck kriechen – den die Hühner der Knoxens offenbar hingebungsvoll anreicherten, was hieß, dass er im Moment buchstäblich einen Scheißjob hatte –, dann hatte er den Hund erreicht. Das Huhn war mittlerweile wohl zu dem Schluss gelangt, dass es nichts zu befürchten hatte, denn es kuschelte sich vertrauensvoll an Blues Brust. Blue schien sich darüber zu freuen und legte die Schnauze zärtlich auf den Rücken des Huhns. „Sie schmusen“, rief Levi.

„Was?“, kreischte Nancy. „Sagten Sie abmurksen?“

„Schmusen!“, brüllte Levi zurück.

„Chief!“, rief Everett. „Sind Sie in Gefahr? Ich habe meine Waffe parat! Brauchen Sie Unterstützung?“

„Everett! Steck die Waffe ein!“

„Roger, Chief.“

Levi seufzte. Er war fast sicher, dass Officer Everett Fields grenzenlose Unfähigkeit eines Tages sein, Levis, Tod sein würde. Unglücklicherweise war Everett das einzige Kind von Marian Field, dem Bürgermeister von Manningsport, und hatte damit im Grunde eine Stellung auf Lebenszeit. Er war kein schlechter Kerl, auch wenn er an einem schweren Fall von Heldenverehrung litt (Levi war praktisch sein Gott), aber grob geschätzt zückte er wohl sechsmal am Tag die Waffe.

„Pass mal auf, Blue“, sagte er. „Ich befreie dich jetzt von diesem Federvieh, falls du nichts dagegen hast.“ Blue wedelte zustimmend mit dem Schwanz, und Levi nahm das schlafende Huhn in beide Hände, dann robbte er im Rückwärtsgang ins Freie. Er war unglaublich schmutzig. Wenigstens war seine Schicht gleich zu Ende. Was nicht hieß, dass er dann aufhörte zu arbeiten; irgendwas gab es immer zu tun, was Levi derzeit sehr zupasskam.

„Bitte schön“, sagte er und reichte Mrs Knox ihr Huhn. „Denken Sie mal über eine Einzäunung nach, okay?“

„Ach Chief, vielen herzlichen Dank!“ Sie strahlte ihn an. „Sie sind ein wunderbarer Mensch! Aber was ist mit dem Hund? Er ist böse! Er sollte eingesperrt werden!“

Der Hund winselte unter der Veranda. Wahrscheinlich fehlte ihm seine kleine Freundin. „Ich rede mit den Besitzern“, versprach Levi.

„Das war eine tolle Rettungsaktion, Chief.“ Everett kam näher, während Levi sich, so gut es ging, den Dreck abklopfte. „Sie haben Erstaunliches geleistet. Wow.“

Levi musste sich bremsen, um nicht die Augen zu verdrehen. „Danke, Ev. Wenn du noch mal deine Waffe ziehst, nehme ich sie dir weg.“

„Verstanden, Chief.“

Levi bückte sich und sah den Hund an, der recht verdrießlich dreinblickte. „Na, wollen wir Auto fahren?“

Blue flog geradezu unter der Veranda hervor, stürmte zum Streifenwagen und tänzelte begeistert herum.

„Vielleicht hätten Sie das gleich sagen sollen“, bemerkte Everett. „Dann hätten Sie nicht da drunterkriechen müssen. Sie haben sich richtig schmutzig gemacht.“

„Danke für den Hinweis. Wie wär’s, wenn du heute Abend die Wache schließt, Ev?“

Everetts Gesicht leuchtete auf. „Wirklich?“

„Klar doch.“ Levi würde später noch mal zurückgehen und nachsehen, denn irgendetwas vergaß Everett immer. Außerdem lag die Polizeiwache nur fünfundvierzig Sekunden von seiner Wohnung entfernt. Und er wäre sowieso auf dem Marktplatz, weil wieder mal ein Weinfest stattfand. An jedem Wochenende war irgendetwas los, und das war gut so. Gut für die Stadt, gut für die Arbeitsplatzsicherung.

Doch zunächst einmal war eine Dusche fällig. Er musterte den Hund. Irgendwie scheute er sich davor, ein riesiges, schmutziges Tier zu Mr und Mrs Holland zu bringen, bei denen Faith, wie er gehört hatte, derzeit wohnte. Also Hundewäsche. Eine weitere Ergänzung seiner Arbeitsplatzbeschreibung.

Seit seine Frau ihn vor anderthalb Jahren verlassen hatte, wohnte Levi im Opera-House-Wohnblock. Sharon und Jim Wiles hatten jeweils erst ein Vermögen für den Umbau des Gebäudes zum einzigen Apartmenthaus der Stadt ausgegeben und dann ein Vermögen damit gemacht. Einen Monat nachdem Nina ihn beiläufig darüber informiert hatte, dass die Ehe doch nicht die richtige Lebensform für sie sei, und sich neu verpflichtete, wurde bei Levis Mutter ein aggressiver bösartiger Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Sechs Wochen später starb sie. Sarah, damals kurz vorm Ende der Mittelstufe, zog bei Levi ein.

Er hatte seine Großer-Bruder-Masche abgezogen, hatte Sarah in den Arm genommen und sie weinen lassen, hatte ihr mit Käse überbackene Tomaten-Sandwichs gemacht, so wie früher seine Mom. Natürlich fehlte ihm seine Mutter auch, doch er war acht Jahre fort gewesen. Eines hatte er im Einsatz gelernt, nämlich dass er seine Gefühle praktisch in Ketten legen musste, um manches von dem Scheiß, mit dem sie klarkommen mussten, verkraften zu können. Oh ja, er hatte an Moms Bett ein paar Tränen vergossen, doch als dann die eigentlichen Erinnerungen hochkamen – wie sie mit ihm zu den Niagarafällen fuhr, als er in der fünften Klasse und sie schwanger mit Sarah war, damit sie einen letzten Tag nur für sich allein hatten … Wie sie geschluchzt hatte, als er endgültig nach Hause kam … na ja, da versuchte Levi, an etwas anderes zu denken.

Er hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, für seine Schwester zu sorgen, sie auf eine gute Schule zu schicken, all diese verdammten Formulare auszufüllen und ihr zu kaufen, was sie benötigte. Er hatte alles getan, ihr den Weg zu ebnen, und verlangte gute Leistungen, damit sie vielleicht sogar den Doktor machen konnte. Sie wäre die Erste in ihrer Familie mit einem College-Abschluss, und sie würde das jetzt durchziehen, und wenn es sein Tod sein sollte.

Was durchaus der Fall sein könnte.

„Du stinkst.“ Seine kleine Schwester rümpfte die Nase, als er, dicht gefolgt von Blue, in die Wohnung kam. „Und wem gehört der Hund? Uns? Dürfen wir ihn behalten?“ Sie musterte Levi von oben bis unten. „Also ehrlich. Geh duschen! Und zwar ausgiebig. Herrgott, Lev, das ist supereklig!“

Er bedachte sie mit einem kalten Blick (der wie immer keinerlei Wirkung zeigte). „Der Hund gehört nicht uns. Ich weiß, dass ich schmutzig bin. Warum bist du hier?“

Sie seufzte abgrundtief. „Ich … ich halte es dort einfach nicht aus.“

„Warum nicht?“ Sarah besuchte ein tolles College am nördlichen Ende des Seneca Lake. Es hatte ein eigenes Kino, ein riesiges Sportzentrum, überall blühten Blumen, die Unterkünfte waren nett. Worüber, um alles in der Welt, konnte sie sich da beschweren?

„Ich weiß nicht. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich nicht mitbekommen habe, wie das alles laufen soll. Alle haben längst Freunde, und ich kann mich irgendwie nicht einfügen. Gestern habe ich das Abendessen ausfallen lassen, weil ich nicht allein in den Speisesaal gehen wollte. Ich komme mir vor wie eine Versagerin.“

„Sarah.“ Levi kniete sich neben ihren Sessel. „Du bist keine Versagerin. Setz dich einfach zu irgendwem, und fang ein Gespräch an.“

„Seit wann bist du denn Experte auf dem Gebiet? Soviel ich weiß, hast du genau einen einzigen Freund.“

Er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Du bist intelligent, du bist hübsch, und du bist witzig. Und du hast hier im Augenblick nichts zu suchen. Ich dachte, darauf hätten wir uns beim letzten Mal geeinigt.“

„Geh duschen, Alter. Im Ernst jetzt.“

„Ich meine es auch ernst. Es kann mit dem College nicht funktionieren, wenn du alle drei Tage nach Hause kommst. Du musst durchhalten.“

Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich habe es satt, immer durchhalten zu müssen. Ich habe durchgehalten, als Mom gestorben ist, ich habe die Abschlussklasse durchgehalten, und jetzt will ich nicht mehr durchhalten. Ich will … auch mal mit Nachsicht behandelt werden.“

Levi zog eine Braue hoch. „Was hast du denn auf dem College auszustehen, Kleine? Von Durchhalten kann da wohl keine Rede sein. Dein Zimmer dort ist dreimal so groß wie …“

„Oh Gott, bitte nicht schon wieder so eine Geschichte über die Schrecken und Nöte der Army, okay? Komm schon, Levi, sei nicht so ein sturer Hund. Heute ist Donnerstag. Ich habe morgen Nachmittag nur ein Seminar. Das kann ich schwänzen.“

„Nein, kannst du nicht. Ich fahre dich heute Abend zurück.“

„Levi! Ich habe Heimweh! Bitte lass mich hier schlafen!“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und warf einen kritischen Blick auf die Spinnweben, die er sich unter der Veranda eingefangen hatte. „Na schön. Ich bringe dich morgen früh zurück. Zeig mir deinen Stundenplan, damit ich weiß, dass du nicht lügst.“

Sie lächelte. Diese Runde ging an sie. „Klar. Aber geh jetzt endlich duschen, sonst muss ich kotzen.“

Er stand auf. „Willst du mir helfen, den Hund zu baden?“

„Nein. Aber nett, dass du an mich gedacht hast.“

Er wollte ihr durchs Haar strubbeln, doch sie wich zurück. „Levi. Wasch dich.“

Seine Schwester liebte ihn, das wusste er. Sie hatte sogar den Nachnamen Cooper angenommen, als sie sechzehn war („Damit jeder weiß, wer ich bin“, sagt sie damals). Trotzdem hätte Levi sie manchmal erwürgen mögen.

Er nahm den Köter mit ins Badezimmer – zum Glück hatte er sein eigenes Bad – und drehte die Dusche auf. Blue senkte tief beschämt den Kopf. „Ja, komm mir jetzt nicht so, du Hühnerjäger. Wessen Idee war es denn, unter die Veranda zu kriechen?“ Er zückte sein Handy und tippte eine Nummer ein. „Hi, Mrs Holland, hier ist Levi Cooper.“

„Mein Lieber! Wie geht’s dir? Hast du eine Ahnung, wie man Flughörnchen vom Dachboden vertreibt? Faith will nicht, dass wir Fallen aufstellen, und ich will nicht, dass sie mit ansehen muss, wie ihr Großvater in den Tod stürzt, auch wenn der Witwenstand mir, ehrlich gesagt, von Tag zu Tag verlockender erscheint. Übrigens, erinnerst du dich an diesen Rohrbruch im letzten Winter? Weißt du noch, wie der Klempner heißt, den du uns empfohlen hast? Seit Virgil Ames nach Florida gezogen ist, weiß ich mir nicht mehr zu helfen! Ausgerechnet Florida! Wer will denn da leben? All dieses Ungeziefer und die Eidechsen und Alligatoren und Touristen.“

„Bobby Prete kann das Rohr bestimmt reparieren, Mrs H.“, sagte er. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Faiths Hund bei mir ist.“

„Ach ja, er ist Ned ausgebüxt.“

„Soll ich ihn zu Ihnen raufbringen?“

„Bring ihn einfach zu Faith, mein Lieber. Sie ist sowieso schon unten auf dem Marktplatz. Dabei fällt mir ein, ich muss mich beeilen. War schön, mal wieder mit dir zu reden.“

Levi zog sein Hemd aus, warf es in die Badewanne und spülte es gründlich aus, bevor er es in die Schmutzwäsche gab. „Komm schon, Hund“, sagte er zu Blue, der sich fest zusammengerollt hatte und so tat, als würde er schlafen. „Strafe muss sein.“

8. KAPITEL

Rund fünfhundert Menschen drängelten sich auf dem Marktplatz und in den Straßen drum herum. Die Stadt feierte ihr siebzehntes „Wein-und-Schwein-Fest“, was ziemlich pervers klang, aber am Ende wurden doch nur Spanferkel und Weinproben geboten. Fünfhundert Leute, dachte Faith, und mindestens die Hälfte davon schien ganz versessen darauf, sie zu trösten – immer noch –, weil sie am Tag ihrer Hochzeit sitzengelassen worden war.

„Du warst eine wunderschöne Braut“, versicherte Mrs Bancroft. „Wirklich. Wir waren ja alle so schockiert. Unglaublich schockiert.“

„Danke.“

„Hast du ihn gesehen? Ist er hier?“

„Ich habe ihn noch nicht gesehen, Mrs Bancroft. Aber wir treffen uns nächste Woche.“

Mrs Bancroft starrte sie an und schüttelte den Kopf. „Du armes, armes Ding.“

„Oh, da ist ja mein Bruder. Ich muss los.“ Sie ließ Mrs Bancroft stehen, hastete hinüber zum Probierstand von Blue Heron und hakte sich bei Jack unter. „Du brauchtest doch dringend meine Hilfe, stimmt’s, Lieblingsbruder?“

„Nein.“ Er schenkte einer Frau, deren T-Shirt sie als Texanerin und schwanger auswies, eine Weinprobe ein. „Zumal ich nicht mal sicher bin, dass wir überhaupt verwandt sind. Wie viele Schwestern habe ich eigentlich? Ihr scheint euch dauernd zu vervielfachen.“

„Mrs Bancroft ist heute schon die achte Person, die mich ‚armes Ding‘ genannt und gefragt hat, ob es schwer für mich ist, Jeremy wiederzusehen.“

„Du bist wirklich zu bedauern“, pflichtete er ihr bei. „Wie heißt du noch mal?“

„Warum steht ihr mir alle dauernd im Weg?“, fragte Mrs Johnson. Irgendwie bekam die langjährige Haushälterin der Hollands es hin, mit ihrem schönen, singenden jamaikanischen Akzent Angst und Schrecken zu verbreiten. „Husch, Kinder. Wenn ihr nicht verschwindet, liegen hier gleich überall Leichenteile herum, und ich habe dieses Tischtuch heute Morgen erst gewaschen und gestärkt. Haut ab, wenn euch euer Leben lieb ist.“ Sie rückte die Flaschen zurecht, bis sie einwandfrei in Reih und Glied standen.

„Das hier ist eine Weinprobe, Mrs J.“, wandte Jack ein. „Wir können nicht abhauen.“ Er wandte sich wieder der Texanerin zu. „Wie finden Sie den? Darf ich Ihnen noch etwas anderes einschenken?“

„Ich hätte gern noch mal diesen weißen Zinfandel“, sagte sie. „Das ist ein Rosé“, stellte Jack richtig und gab sich große Mühe, ob der Fehlbenennung seines geliebten Weins nicht in Tränen auszubrechen. Die Dame trank aus, lächelte und schlenderte von dannen.

„Jackie“, sagte Mrs Johnson, „hast du heute Morgen was gegessen? Ich habe dir ein Sandwich mitgebracht. Ich will nicht, dass du von dem Fraß isst, der hier angeboten wird.“ Das trug ihr einen vernichtenden Blick von Cathy Kennedy ein, die nebenan für die Würstchenbude der Trinity-Lutheran-Kirche zuständig war. Mrs Johnson starrte so lange mit blitzenden Augen zurück, bis Cathy aufgab. Das taten die meisten Leute.

Mrs J. wickelte das Sandwich aus und drückte es Jack in die Hand.

„Ja, kleiner Prinz“, säuselte Faith. „Iss schön brav auf. Vielleicht kaut Mrs J. dir das Essen auch noch vor, damit du nicht so viel Mühe damit hast.“

„Sei nicht so abscheulich und undamenhaft, Faith, und du isst jetzt, Jackie. Los.“

Pru gesellte sich zu ihnen. „Wo ist denn mein Sandwich?“

„Habe ich dir nicht erst heute Morgen Pfannkuchen gebacken?“, gab Mrs J. zurück.

„Oh Gott, ich höre Lorena.“ Jack stöhnte. „Pru, komm schnell mit und hilf mir bei etwas, ähm, überaus Wichtigem. Faith kann die Weinprobe übernehmen.“

„Ihr bleibt hier“, zischte Faith. Doch ihre Geschwister nahmen Reißaus und ließen sie am Probierstand zurück, zusammen mit der Haushälterin, die missbilligend mit der Zunge schnalzte. „Mrs J., warum heiraten Sie nicht unseren Dad und machen uns alle glücklich?“, fragte Faith. Sie war zwar nicht ganz sicher, glaubte jedoch, dass Mrs Johnson Witwe war. Andererseits redete die Frau nicht über ihr Privatleben. Nie.

„Lass mich gar nicht erst damit anfangen, dir die zahlreichen Schwächen deines Vaters aufzuzählen. Da ist sein neuerdings so schrecklicher Geschmack bei Frauen noch der geringste Fehler.“ Mrs Johnson starrte zu Lorena hinüber, und ihr Gesicht schwoll förmlich an vor aufrichtiger Abscheu. „Es ist gerade mal fünf Uhr nachmittags, und sie hat ein Kleid an, aus dem ihre Hängebrüste halb rausfallen. Ach du Schande.“

„Ich arbeite daran, Ersatz zu finden“, flüsterte Faith. Sie konnte den Blick nicht von Lorena losreißen, deren trägerloses Sommerkleid mit Tigermuster mehrere Nummern zu klein war. Das gesmokte Oberteil drohte, aus allen Nähten zu platzen. Dad dagegen trug sein gewohntes altes Blue-Heron-Hemd, eine fleckige Blue-Heron-Kappe und speckige Jeans. Er fachsimpelte mit Joe Whiting, der seinen Weinberg weiter oben am Keuka Lake hatte, und vermutlich war ihm gar nicht bewusst, dass Lorena (wie alle anderen auch) der Meinung war, er hätte ein Rendezvous.

„Dann solltest du dich wohl besser beeilen, meine Liebe“, sagte Mrs Johnson. „Dein Vater ist nicht gerade ein Meister der Geistesgegenwart.“

„Ich weiß.“ Dad neigte dazu, alles schleifen zu lassen, was nicht in irgendeiner Weise mit Trauben zu tun hatte. Daher war es durchaus möglich, dass Lorena, bevor er überhaupt merkte, was geschah, bei ihm einzog, sein Testament änderte und zehn Hektar von seinem Land an einen Freizeitbad-Unternehmer verkaufte. Doch die richtige Frau für ihn zu finden war eine echte Herausforderung. Für Dad war die Erinnerung an St. Mom heilig.

„Kann ich den Gewürztraminer probieren?“, fragte ein Mann.

„Aber klar.“ Faith nahm Haltung an. „Dieser hier hat 91 Punkte vom Wine Spectator bekommen, und wir sind sehr stolz darauf. Er ist achtzehn Monate gereift, das heißt, er fängt gerade erst an zu sprechen. Die Nase ist lieblich, finden Sie nicht? Passionsfrucht, Pfeffer, ein bisschen Geißblatt, nur ein Hauch von nassem Schiefer im Korpus und eine Ahnung von Litschi im Abgang.“

Mrs Johnson schnaubte, und Faith verbiss sich ein Lächeln. Ja, ja, sie hatte sich das alles gerade ausgedacht, denn sie hatte diesen Wein noch nicht gekostet. Sie wusste nicht mal so genau, ob Litschi überhaupt eine Frucht war. Diese Beschreibungen gerieten ohnehin oft ziemlich albern, aber je alberner die Lyrik, desto besser die Verkäufe, zumindest sah es manchmal so aus. Trotzdem, Honor würde sie umbringen, wenn sie das hörte. Sie nahm die Weinbeschreibungen sehr ernst.

„Oh ja!“, sagte der Mann. „Nasser Schiefer. Herrlich!“

In diesem Moment tobte Blue auf sie zu. „Hallo, Baby!“ Sie beugte sich zu ihm runter und kraulte das nasse Fell. „Wo warst du denn? Ist Ned mit dir schwimmen gegangen?“

„Mein Bruder und dein Hund haben gerade zusammen geduscht“, verkündete eine Stimme. „Irgendwie pervers, wenn du mich fragst.“

Faith hob den Blick. „Sarah! Ich habe dich so lange nicht gesehen. Wo hast du gesteckt?“

Sie hatte Levi schon immer um seine kleine Schwester beneidet. Und wie gern er immer ihren Beschützer gespielt hatte! Das war eine seiner wenigen guten Eigenschaften (oder die einzige gute Eigenschaft?). Sarahs Augen waren genau so grün wie Levis, aber nicht so abweisend. Ja. Das war’s. Levi konnte eine Person mit einem einzigen Blick vernichten. Wie zum Beispiel gerade jetzt.

Immerhin ließ er sich dazu herab, mit ihr zu sprechen. „Pass besser auf deinen Hund auf, Faith. Er hat die Hühner der Knoxes terrorisiert.“

Ganz bestimmt. Als ob Blue irgendwen oder irgendwas terrorisieren würde. Lautlos formten ihre Lippen das Wort Arsch.

„Chief Cooper. Wie schön, Sie zu sehen“, sagte Mrs Johnson, und Levi küsste sie auf die Wange. Es war komisch, ihm dabei zuzusehen, wie er sich gut benahm.

Faith wandte sich wieder zu Sarah. „Du gehst jetzt aufs College, stimmt’s?“

„Ja, ich habe gerade in Hobart angefangen.“

„Toll! Gefällt’s dir?“

„Ehrlich gesagt finde ich’s grauenhaft.“

Ned kam zu ihnen. „Hallo, Sarah.“ Er legte einen Arm um Faiths Schultern. „Faith, ich übernehme jetzt hier, denn Honor sagt, du weißt nicht, was du tust.“

„Hi, Ned.“ Sarah errötete. Ned war aber auch süß.

„Wie ist das Schulleben so?“, erkundigte er sich, und die beiden fingen an, sich eifrig über Seminare und Clubs auszutauschen. Sie sahen gut zusammen aus, Sarah mit ihrem blonden Haar, Ned so groß und dunkel. Er hatte das College zwar bereits abgeschlossen, aber das war nicht weiter wichtig. Soviel Faith wusste, hatte er keine Freundin, und sie fragte ihn häufig zu diesem Thema aus.

Levi beobachtete die beiden. Kein Lächeln. Er schaute kurz zu Faith, runzelte unmutig die Stirn und widmete sich dann wieder seinen Betrachtungen. Faith unterdrückte einen Seufzer. Es war ja nicht so, dass sie die Kupplerin spielte; sie stand einfach nur da. Wie ein Trampel, wenn sie es sich recht überlegte.

Dad kam zu ihr und reichte ihr eine Flasche Wasser. „Gib Acht, dass du genug trinkst, Süße.“ Er lächelte, und um seine freundlichen blauen Augen bildeten sich Fältchen. „Im Vergleich zu dem, was du so gewohnt bist, ist es hier ziemlich heiß.“

Leider tauchte Lorena an seiner Seite auf. „Endlich!“, dröhnte sie. „Was Anständiges zu trinken! Blue Heron hat die besten Weine aller Zeiten! Den ganzen Tag habe ich nichts anderes als Plörre bekommen!“ Sie zwinkerte Dad übertrieben zu, und Faith musste sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Die Weinbauern der Region hielten fest zusammen; natürlich standen sie in stiller Konkurrenz zueinander, und jeder wollte eine Medaille gewinnen oder eine gute Kritik einheimsen. Doch was für das eine Weingut galt, hatte gewöhnlich auch Gültigkeit für alle anderen. Da konnte Lorena mit ihrer Art von Werbung nicht punkten.

„Hallo, Sarah“, sagte Dad. „Wie geht’s dir, Schätzchen?“

„Gut, danke, Mr Holland.“

„Levi, du hast Faith seit ihrer Rückkehr schon getroffen, oder?“

Unvermittelt wurde ihr bewusst, dass Levi sehr dicht neben ihr stand. Er roch nach Seife, sein Haar war feucht. Was hatte Sarah gesagt? Er hatte Blue gebadet?

Der Blick, mit dem er sie jetzt bedachte, tendierte auf der Gelangweilt-Skala gegen acht. Diese Skala hatte sie in der Oberstufe erfunden, nachdem sie ihn einmal gefragt hatte, ob er Lust hatte, sich mit ihr zusammen als Nachhilfelehrer für die jüngeren Jahrgänge zu melden. Eins auf dieser Skala bedeutete: Ach, du bist’s. Zehn hieß: Du bist unsichtbar. Und die Acht besagte: Ups, du bist noch hier?

„Ja, Sir“, antwortete er ihrem Vater. „Ich hab ihr neulich einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung verpasst.“

Ärgerlich. Andererseits hatte er nicht erwähnt, dass sie in einem Klofenster festgesteckt hatte. Punkte für Diskretion.

Dad sah sie erstaunt an. „Du, Schätzchen? Du fährst doch sonst so besonnen.“

„Ich wusste nicht, dass das Tempolimit herabgesetzt worden war, das ist alles.“

„Na gut, aber lass mich das bezahlen.“

Goggy löste sich aus der Menge. „Faith, nun sieh dir bloß an, was dein Großvater da trägt. Er weiß doch, dass ich dieses Hemd nicht ausstehen kann. Es ist aus Polyester! Und von 1972.“

„Ein Klassiker“, behauptete Pops, obwohl er in dem luftundurchlässigen Material bereits schwitzte.

„Levi.“ Goggy legte eine Hand auf seinen Unterarm. Auf seinen braunen, glatten, muskulösen Unterarm. Im Licht schimmerten feine goldene Härchen. Faith räusperte sich und richtete den Blick auf irgendetwas anderes. „Diese Flughörnchen auf unserem Dachboden. Jede Nacht machen sie Lärm! Faith kann kaum schlafen.“

Das brachte ihr einen weiteren angewiderten Blick von Levi ein.

„Goggy, schon gut. Ich stelle ein paar Lebendfallen auf.“

„Ich kümmere mich darum“, versprach Levi.

„Oh, danke, Schätzchen“, sagte Goggy. „Ich möchte nicht, dass Faith stürzt.“

Jetzt kam auch Pru zum Blue-Heron-Stand zurück, Abby im Schlepptau, und schlug Levi kameradschaftlich auf die Schulter. „Da ist er ja. Viagra für Frauen.“

„Mom, bitte! Wir sind in der Öffentlichkeit!“, zischte Abby.

„Aber Pru hat recht!“, antwortete Lorena. „Dem können wir uns nur anschließen. Stimmt’s, Faith?“

„Ähm, nein, das sehe ich nicht so“, murmelte sie.

„Entschuldige, Sarah, hab dich nicht gesehen“, sagte Pru.

„Es war nicht meine Absicht, deinen Bruder vor deinen Augen zu begaffen. Aber was soll ich sagen? Er ist nun mal schnuckelig. Levi, du bist schnuckelig.“

Abby verdrehte die Augen. „Sarah, wollen wir uns mal umsehen? Ohne diese schauderhaften Erwachsenen?“

„Klar“, sagte Sarah. „Bis später, Großer.“ Sie gab Levi einen Knutscher auf die Wange, und er ließ es mannhaft über sich ergehen. Lächelte sogar.

Es war nur ein ganz kleines Lächeln, aber es haute Faith um. Klar, im Lauf der Jahre hatte sie ihn schon öfter lächeln sehen. All diese heißen, aufreizenden Blicke, die er Jessica zuwarf … Ehrlich, die übte er garantiert vor dem Spiegel. Aber für sie hatte er immer nur die Gelangweilt-Skala übriggehabt.

Abgesehen von jenem einen Tag, als er sie erst in Schockstarre versetzt und dann geküsst hatte. Konnte gut sein, dass er da gelächelt hatte. Und, ja, den einen oder anderen heißen, aufreizenden Blick hatte es auch gegeben. Und da war noch etwas gewesen. Etwas … Beschützendes.

Oder auch nicht. Jedenfalls sah er sie nun an, und das Lächeln war erloschen, stattdessen zeigte er wieder diese deutlich vertrautere Miene … eine Sechs auf der Gelangweilt-Skala … jetzt eine Sieben … eine Annäherung an die Acht. Er runzelte die Stirn, als wollte er sagen: Wie jetzt, Holland?

„Johnny!“, brüllte Lorena. „Was muss ein Mädchen machen, um hier etwas zu essen zu bekommen? Spendier mir ein Würstchen, wie wär’s damit? Ich liebe Würstchen! Nicht wahr, Faith? Wir Mädchen sind verrückt nach Würstchen!“

„Die hat Nerven, sich als Mädchen zu bezeichnen“, murmelte Mrs Johnson finster.

„Was möchtest du, Lorena?“, fragte Dad. „Du auch was, Faith? Nein? Mrs Johnson, was ist mit Ihnen? Hmm? Vielleicht einen dieser Maiskolben, die Sie so mögen? Dieses Schweigen verstehe ich mal als Ja.“ Er zwinkerte ihr zu, dann ging er, und Lorena und ihre Riesenbrüste hüpften neben ihm her.

„Glaubt ihr, er weiß überhaupt, dass sie an ihm interessiert ist?“, fragte Ned.

„Dein Großvater hat ein viel zu gutes Herz“, erklärte Mrs Johnson. „Dieses Weib!“

Nächster Kunde an der Weinprobe war eine alte Bekannte. „Hi, Mrs McPhales!“, sagte Faith. „Wie schön, Sie zu sehen!“ Aber ihr schnürte sich die Kehle zu. Mrs McPhales war ein Jahr lang Faiths Pfadfinderleiterin gewesen, eine von diesen hartgesottenen Typen, die die Mädchen zwangen, sich ihre Abzeichen zu verdienen. Ned, der Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr von Manningsport war, sagte, dass sie neuerdings ziemlich oft Einsätze zu ihrem Haus fahren mussten. Offenbar befand sie sich auf dem traurigen Weg in die Demenz … Heute trug sie Pantoffeln anstelle von Schuhen. Faith ging um ihren Serviertisch herum und küsste die alte Dame. „Was kann ich für Sie tun, Mrs McPhales? Möchten Sie Wein?“

„Ich nehme lieber einen Kaffee“, erwiderte Mrs McPhales.

„Kommt sofort, meine Liebe. Milch und Zucker?“, fragte Mrs Johnson. Sie war im Grunde ein Schatz, sobald man ihre Allmachtsallüren à la Darth Vader verwunden hatte. Mrs McPhales nickte, dann schien sie Faith zu erkennen.

„Faith! Wie geht es dir? Heiratest du nicht bald diesen netten Jeremy?“

„Nein“, erwiderte Faith. „Wir heiraten nicht.“

„Ach! Stimmt ja! Wie ich hörte, ist er ein überzeugter Junggeselle.“

„Mag sein“, sagte Faith.

„Du armes Ding. Kopf hoch, Faith, meine Liebe. Du bist so tapfer.“

Faith glaubte, ein Schnauben zu hören. Na toll. Levi war immer noch da. Mrs McPhales’ Sohn Brian kam hinzu, nahm seine Mom beim Arm und lächelte Faith zu, als er sie fortführte.

In diesem Moment war außer Levi niemand mehr in der Nähe. Sie versuchte, freundlich zu sein. „Danke, dass du Blue gebadet hast. Das war wirklich nett von dir. Und überflüssig, aber trotzdem danke.“

„Nimm ihn an die Leine.“ Eine Fünf auf der Skala. „Ich muss dir ein Bußgeld abknöpfen, wenn er ständig frei herumläuft.“

Seufz. „Es ist nur ein einziges Mal passiert, Levi.“

„Sieh zu, dass es dabei bleibt.“ Er schaute sie nicht mal mehr an, hielt stattdessen Ausschau nach einem interessanteren Gesprächspartner.

Faith spürte, wie ihr Kiefer sich verkrampfte. „Ich habe gehört, dass du dich hast scheiden lassen, Chief.“

Er sah sie wieder an. Eine Acht. „Ja.“

„Wie lange warst du verheiratet?“ Colleen hatte sie natürlich über die Einzelheiten auf dem Laufenden gehalten, aber warum sollte sie ihn nicht ein bisschen quälen?

Er ließ sich Zeit mit der Antwort, und seine grünen Augen waren voller Geringschätzung. „Drei Monate“, sagte er schließlich.

„Tatsächlich! Wow. So kurz.“

„Ja, Holland. Drei Monate, das ist kurz.“

„Da hast du dir im Nachhinein doch sicher gewünscht, dass jemand deine Hochzeit verhindert hätte.“ Sie lächelte zuckersüß. „Das wäre nur fair gewesen, da du ja so gut darin bist, es für andere zu erledigen.“

Levi runzelte die Stirn. „Wann fliegst du zurück nach San Francisco?“

„Mal sehen.“

„Ach ja? Hast du keinen Job?“

„Tatsächlich bin ich sogar sehr erfolgreich. Und ich arbeite hier an zwei Projekten, eines oben auf Blue Heron, das andere bei der Bibliothek, deshalb bleibe ich mindestens sechs Wochen. Ist das nicht toll?“ Er antwortete nicht. „Oh, da kommt Julianne Kammer. Die muss ich mir schnappen.“

„Wann triffst du dich mit Jeremy?“, fragte er.

„Herrgott noch mal. Geht dich das wirklich etwas an? Ach, Moment mal, das hab ich ja ganz vergessen: Du bist Jeremys Wachhund.“ Ja, sie würde sich wirklich mit Jeremy treffen. Was konnte sie dafür, dass er gerade auf einer Konferenz in Boston war?

Levi beugte sich näher zu ihr, und sie roch sein Shampoo, spürte die Wärme seiner Wange, und in ihrem Bauch stellte sich eine merkwürdige Spannung ein. „Werd endlich erwachsen, Faith“, flüsterte er.

Der Mann … war … so ein verdammtes Arschloch!

Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging zu Julianne, um mit ihr über den Hof der Bibliothek zu sprechen. Dabei gab sie sich alle Mühe, Levis Blick in ihrem Rücken zu ignorieren.

Auf seinem ersten Einsatz stellte Levi fest, dass der Krieg genauso war, wie er ihn sich vorgestellt hatte: manchmal verblüffend langweilig … Tagelang gab es nichts zu tun, außer das Gewehr zu reinigen. Dann wieder kehrte man ins Lager zurück, und ein Junge, dem man am Tag vorher etwas zu essen gegeben hatte, warf eine Granate auf den Jeep. Einmal explodierte ein mit Sprengstoff beladener Wagen direkt vor dem Lager und tötete drei Soldaten, einer davon hatte Levi am Vorabend beim Spielen noch fünfzig Dollar abgeknöpft.

Doch es gab auch Gutes. Levi mochte den strukturierten Tagesablauf, er mochte seine Kameraden, mochte das Gefühl, dass sie, so beschissen Krieg im Allgemeinen auch war, vielleicht doch etwas Wichtiges leisteten. Manchmal war es besser, nicht darüber nachzudenken, was sie tatsächlich bewirkten, aber er war Soldat, ein Glied in der Befehlskette, und er machte seinen Job. Als der Einsatz vorbei war, meldete er sich für den nächsten. Er wurde befördert, verlängerte noch einmal und schickte die Gratifikation seiner Mutter.

Als sie eines Tages auf Patrouille in einer furchtbaren kleinen Stadt waren, wo die Menschen in Baracken lebten und alle sie aus toten Augen anzustarren schienen, zischte eine Kugel knapp an seinem Kopf vorbei und ließ Felsstückchen aufspritzen. Ein weiterer Knall, und noch bevor Levi sich umdrehen konnte, sackte Scotty Stokes in sich zusammen, ein Rekrut, der gerade erst zu seiner Einheit gestoßen war. Levi packte ihn bei seiner Weste und zerrte ihn in eine schützende Senke. Sie waren vom Rest der Patrouille abgeschnitten, und das Bein des Jungen blutete stark, womöglich aus einer Arterie. Levi band die Wunde ab, so gut er konnte. Dann erwiderte er das Feuer, tötete einen der Schützen, legte sich den Jungen über die Schulter, rannte los und betete, dass keiner von ihnen getroffen wurde.

Sie schafften es. Der Sanitäter dachte, Scotty würde sein Bein verlieren, doch irgendein eisenharter Chirurg mit einem gesegneten Paar Hände konnte es retten. Für den Rest seines Lebens würde Scotty zwar sämtliche Metalldetektoren auslösen, aber er konnte immerhin weiter auf den zwei Beinen laufen, die Gott ihm gegeben hatte. Und Levi bekam den Silver Star für Tapferkeit vor dem Feind, obwohl er selbst seine Tat eher als puren Glücksfall wertete. Aber seine Mom und Sarah waren schrecklich stolz auf ihn, und auch die Lyons führten sich auf, als hätte er die Welt gerettet. Sie luden Mom und Sarah zum Essen ein, und alle vier telefonierten via Skype mit ihm, und das war schon ziemlich klasse.

Seit Levi mit jenem Greyhound-Bus abgefahren war und bis zu seiner Rückkehr nach Manningsport hatte Jeremy den Kontakt zu ihm gehalten. Schrieb ihm andauernd E-Mails, hin und wieder skypten sie, Jeremy immer lächelnd, immer mit irgendwelchen lustigen Neuigkeiten. Geschichten übers College, Football, das Leben im Wohnheim. Levi fiel es nicht immer leicht, diese Anekdoten nachzuvollziehen, er war nie in Boston gewesen, konnte sich nicht vorstellen, wie es war, in einem derart riesigen Stadion zu spielen. Als er die Sandstürme in der Wüste schilderte, schickte Jeremy ihm eine hervorragende Skibrille und sechs Packungen Visine-Augentropfen. Elaine und Ted schickten ihm Süßigkeiten und Bio-Kartoffelchips, und natürlich schickten auch Mom und Sarah ihm ständig irgendetwas. Sarahs Schulzeugnisse, Moms lange, besorgte Briefe.

Alle schickten ihm Bilder per E-Mail, doch Jeremy ging einen Schritt weiter und ließ die Fotos entwickeln. Levi pinnte sie bei seinem Schlafplatz an die Wand: Sarah an Weihnachten, als die Lyons sie und Mom zum Abendessen eingeladen hatten, die üppigen Trauben an den Weinstöcken im Herbst, die schneebedeckten Hügel im Dezember, das Wasser des Sees, schwarz und tief.

Sein Zuhause.

Wenn ein Fahrzeug mit quietschenden Reifen auf den Außenposten zuraste und man sich darauf gefasst machte, von einem Sprengsatz in Stücke gerissen zu werden, oder wenn Kugeln durch die Nachtluft pfiffen, dann war der Gedanke an zu Hause das Einzige, was einen aufrecht hielt. Und wenn die Temperaturen auf beinahe fünfundfünfzig Grad stiegen und das Gewehr so heiß war, dass man es nur mit Handschuhen anfassen konnte, wenn das Trinkwasser die Temperatur von Kaffee bei McDonalds hatte und der Mund so ausgetrocknet war, dass er sich anfühlte wie Leder, dann waren diese Fotos kleine Stückchen vom Paradies.

Faiths Name, der zu Anfang ziemlich häufig erwähnt wurde, tauchte nicht mehr auf, nachdem Jeremy seinen Abschluss gemacht hatte und sein Medizinstudium aufnahm (er hatte die NFL abgelehnt, verdammt noch mal!). Hin und wieder fiel der Name eines Kommilitonen, Steve, und Levi fragte sich, ob da vielleicht etwas lief. Aber ehrlich gesagt dachte er nicht viel darüber nach. Wenn sein Freund sich geoutet hatte, würde Levi davon erfahren, sobald Jeremy es wünschte.

Fünf Jahre nach seinem ersten Einsatz in Afghanistan bekam Levi endlich lange genug Urlaub, um nach Hause fahren zu können. Seit seiner Abreise hatte er seine Mom und Sarah nur zweimal gesehen, einmal an einem langen Wochenende in New York City und einmal, als er sie mit einem Ausflug nach Disney World überraschte. Doch dieses Mal wollte er nach Hause. In einem dieser CNN-typischen Tränendrüsenmomente besuchte er Sarah in ihrer Schule und erduldete eine improvisierte Versammlung, auf der der Direktor verkündete, wie stolz sie alle seien (obwohl man ihn vor gar nicht so langer Zeit öfter als jeden anderen hatte nachsitzen lassen). Seine Mom kochte sein Leibgericht – Frikadellen mit Kartoffelbrei – und weinte während der Mahlzeit ununterbrochen Freudentränen.

Und schließlich rief Levi Jeremy an. Es war Oktober, und Jeremy war übers Wochenende nach Hause gekommen. „Hey, Alter, hast du Lust auf ein Bier?“, fragte er und grinste, als sein Freund ihn beschimpfte, weil er sich nicht früher gemeldet hatte.

Ein paar Stunden später war Levi leicht angetrunken, weil ihm so viel Bier spendiert worden war. Connor O’Rourke hatte eine Runde aufs Haus ausgegeben, und alle hatten auf Levi angestoßen. Er wurde von praktisch jedem weiblichen Wesen im Lokal umarmt, und Sheila Varkas (völlig ausgeflippt, die Frau) rieb sich an ihm praktisch bis zum Orgasmus. Immer wieder dankte man ihm für seine Dienste am Vaterland, klopfte ihm auf den Rücken, schüttelte ihm die Hand und beteuerte, wie stolz die Stadt auf ihn sei. Es war … nett. Ach was, es war großartig. Die Geschichte vom Jungen aus der Wohnwagensiedlung, der zum amerikanischen Nationalhelden wurde, mit allem Drum und Dran.

Und dann endlich konnten Jeremy und er sich zusammensetzen und reden.

„Also, wie geht’s dir wirklich, Alter?“, fragte Jeremy, und seine Augen waren so freundlich wie immer.

Levis Blick folgte einem Tropfen Kondenswasser, der an seiner Flasche herabsickerte. „Ganz gut“, sagte er, ohne aufzusehen.

Jeremy schwieg eine Weile. „Brauchst du etwas?“

Gesunden Schlaf. Den hatte der Krieg ihm weiß Gott geraubt. Eine Gehirnwäsche, um ein paar von den grausigeren Bildern aus dem Kopf zu bekommen. „Nein“, sagte er. „Aber danke für all die Päckchen und so. Ganz besonders für die Fotos.“

Jeremy beugte sich vor. „Jetzt pass mal auf. Ich weiß nicht, wie das ist, ich bin ja bloß ein bescheuerter Medizinstudent, der sich mit Darmerkrankungen herumschlägt.“ Levi lächelte schief. „Aber wenn du jemals etwas brauchst oder dich ausquatschen willst oder was auch immer, ich bin für dich da. Und ich bin immer für dich da, auch wenn du wieder zurückgehst. Okay? Du bist mein bester Freund. Das weißt du.“

Levi nickte und knibbelte ein Stückchen vom Bieretikett ab. Vielleicht würde der Tag kommen, an dem er Jeremy etwas von dem erzählte, was er gesehen … und getan hatte. Aber nicht heute. Er blickte auf und nickte wieder. „Danke.“

Jeremy lehnte sich in der Nische zurück und lächelte dieses breite, unbeschwerte Lächeln, an das Levi sich so gut erinnerte. „Gut. Was meinst du, kannst du im Juni ein paar Tage freikriegen?“

Levi zuckte die Achseln. „Schon möglich. Warum?“

„Ich brauche dich als Trauzeugen. Am achten Juni. Faith und ich wollen heiraten.“

Levi zuckte nicht mit der Wimper. „Heilige Scheiße.“

„Ja.“ Jeremy grinste verlegen. „Sie hat Ja gesagt. Ich war ein nervliches Wrack, aber sie hat Ja gesagt.“

Ja, klar. Faith Holland plante die Hochzeit wahrscheinlich seit dem Tag, an dem sie Jeremy kennengelernt hatte.

Sein Freund laberte weiter über die Familie der Braut, und plötzlich hob Levi die Hand. „Jeremy“, sagte er. „Warte mal einen Moment, ja?“

„Klar doch.“

Fragen oder nicht fragen? Das war die Frage. Levi schaute sich um. O’Rourke’s war fast leer; zwei Leute hockten an der Bar, zwei weitere an einem Tisch. Connor stand hinterm Tresen und zählte Rechnungen zusammen.

„Was ist denn?“, drängte Jeremy.

„Du willst heiraten“, fasste Levi sicherheitshalber noch mal zusammen.

Jeremy nickte. Levi sagte nichts, sah ihn nur an. Zog vielleicht eine Braue hoch. Jeremy schluckte, dann lächelte er gezwungen. „Ja. Und?“ Er wischte sich die plötzlich schweißnasse Stirn, ein deutliches Indiz. Wenn er dermaßen nervös war, dann wartete er vielleicht nur darauf, dass irgendwer das Thema mal aufs Tapet brachte.

„Ich hatte irgendwie immer den Eindruck, dass du …“ Levi wartete und hoffte darauf, dass Jeremy den Satz vollenden würde.

„Dass ich was?“

Scheiße. Levi holte tief Luft und hielt den Atem an. „Dass du schwul bist, Jeremy“, murmelte er dann sehr, sehr leise.

Eine endlose Sekunde lang regte sich nichts in Jeremys Miene. Dann holte er ebenfalls tief Luft. „Nein! Äh … das glaube ich nicht. Ich meine, jeder macht sich mal so … Gedanken. Aber nur, weil …“ Er wandte den Blick ab. „Nein. Bin ich nicht. Ich bin nicht schwul.“ Seine Stimme klang hohl.

Levi sagte lange nichts. Was sollte man schließlich dazu sagen? „Mich würde es nicht stören, wenn du schwul wärst.“

Jeremy sah ihn wieder an, und irgendetwas zeigte sich flüchtig in seiner Miene. Die Wahrheit vielleicht. Dann schüttelte er leicht den Kopf, zog die Brauen zusammen und senkte den Blick auf den Tisch. „Ich liebe Faith.“

Keine Frage. Prinzessin Supersüß hatte Jeremy erfolgreich um ihren kleinen Finger gewickelt. Levi sah seinen Freund an, der so loyal und anständig und verlässlich war. Er atmete aus und nickte. „Okay. Mein Fehler.“

Wieder flackerte dieses Etwas in Jeremys Blick auf, doch dann lächelte er einlenkend. „Ach, was soll’s? Wäre toll, wenn du mein Trauzeuge sein willst.“

„Klar. Wenn ich freibekomme, bin ich dabei.“

„Klasse! Faith wird sich freuen.“

Wohl eher nicht. „Ist sie hier?“

„Nein, tut mir leid. Sie und ihre Schwestern sind in der Stadt, um Hochzeitskleider und so weiter zu kaufen. Mädels-Wochenende. Übrigens, meine Eltern geben uns nach der Hochzeit das Haus; sie überlassen mich meinem Schicksal, um nach San Diego zu ziehen. Das ist aber nur gut für uns, denn ich glaube nicht, dass Faith ihre Schwiegereltern immer um sich haben will.“ Jeremy redete und redete, offenbar wieder völlig zu Hause in seiner Rolle als hingebungsvoller Verlobter.

Es geht mich nichts an, dachte Levi. Wenn Jeremy Faith unbedingt heiraten wollte, bitte schön. Aber die Frage nagte doch weiter an ihm: Wie, zum Teufel, konnte Jeremy eine Frau heiraten, wenn er nicht mal wusste, wie er sie küssen sollte?

Und wie, zum Teufel, konnte es sein, dass Faith nicht begriff, was los war?

Du hast gesagt, was gesagt werden musste, und jetzt hältst du die Klappe, riet ihm sein Verstand. Sei einfach ein guter Freund. Sei ein guter Trauzeuge.

Beinahe hätte er es durchgezogen.

9. KAPITEL

Faith stand auf Rose Ridge und blickte über den Wald. Früher einmal war das hier alles Wiese gewesen. Ihre Vorfahren hatten hier oben ihr Vieh geweidet. Doch das war hundert Jahre her, und inzwischen hatten Ahornbäume und Eichen, Farne und Moose das Terrain erobert. Heute war eine Kaltfront durchgezogen und hatte dicke Wolken und einen frischen Wind mit sich gebracht. Bald würde es regnen.

Weiter unten lenkte Ned den Traubenernter durch die Chardonnay-Weinstöcke. Wenn der Wind nachließ, konnte sie den Motor brummen hören. Der typisch spätsommerliche süße Duft der Trauben lag in der Luft, doch gleichzeitig auch ein Hauch von Melancholie. Das Laub schickte sich an, seinen wunderschönen Tod zu sterben, und die Erde stellte sich auf den Winter ein.

Wie jedes Mal, wenn sie zu Hause war, fragte Faith sich, wie sie je hatte fortgehen können. San Francisco schien ihr dann wie ein ferner Traum.

Für die Hollands war Blue Heron dasselbe wie Tara für Scarlett O’Hara. Von hier stammte man, und hierher gehörte man.

Als jüngstes der Holland-Kinder hatte Faith oft das Gefühl, für sie gäbe es keinen Platz im Unternehmen. Jack war der geniale Winzer und Chemiker und konnte so lange über Hefe- und Zuckerfermentation reden, bis die Leute ihn anflehten aufzuhören. Pru war die Bäuerin, die kraftvoll über die Felder stapfte. Honor … nun, alle wussten, dass Honor hier alles am Laufen hielt. Mit jeder Angelegenheit kam man zu ihr, ob es sich nun um die Bestückung des Souvenirladens, Verkaufsbesuche mit den Lieferanten oder um eine Wohltätigkeitsveranstaltung handelte. Sie kümmerte sich um Vermarktung und Verkäufe des Weinguts und leistete Großartiges. Vor lauter Arbeit kam sie kaum zum Durchatmen.

Und dann war da noch Faith, auf die kein fester Platz im Gefüge wartete, die Einzige, die ihre Ausbildung nicht auf den Weinbau ausgerichtet hatte. Schließlich konnten nur so und so viele Leute im Haus herrschen, bevor sie anfingen, sich gegenseitig zu fressen.

Hier oben hatte Faith als Kind gespielt und dabei so getan, als wäre die Scheune ihr Haus. Sie hielt Kaffeeklatsch mit unsichtbaren Freunden, baute Feenhäuschen und lag im Schutz der Felsbrocken im Gras, blickte hinauf in den blauen Himmel und fragte sich, ob sie wohl einen Falken oder ein Rehkitz zähmen könnte. Damals erschien ihr alles so verzaubert, dass sie sich nicht gewundert hätte, wenn ein Einhorn oder ein Hobbit aufgetaucht wäre. Von allen Orten auf dem Holland-Anwesen mit seinen Weinbergen, Wiesen, Wäldern und Wasserfällen war ihr dieser am liebsten.

Und jetzt konnte sie endlich ihren Beitrag zum Familienbetrieb leisten. Das war ein gutes Gefühl. Denn nur weil sie die Jüngste war und nicht hier lebte, hieß das ja nicht, dass dieses Land nicht auch Teil ihrer Seele war.

Blue stupste gegen ihre Hand und ließ seinen Tennisball fallen. „Noch einmal?“, fragte Faith. Er schaute schwanzwedelnd und auffordernd zu ihr hoch. „Na schön, mein Großer.“ Sie schleuderte den Ball in den Wald.

Den Vormittag hatte sie in der Bibliothek verbracht, Fotos von dem Hof vor der Kinderabteilung geschossen, Entfernungen gemessen, Notizen gemacht. Es war ein hübsches Plätzchen, und sie wollte etwas Großartiges daraus machen. Blühende Bäume (jetzt schon versuchte sie, der Baumschule ein paar Spenden abzuschmeicheln), ein verschlungener Pfad, Wasserspiele, denn sie liebte Wasserrauschen (wer tat das nicht?). Und dann, als Herzstück, etwas ganz Besonderes, allerdings wusste sie noch nicht genau, was. Sie musste den Ort noch ein bisschen länger auf sich wirken lassen, bevor sie eine Entscheidung traf. Einer ihrer Klienten in San Francisco hatte sie immer ausgelacht, wenn sie sich während der Arbeit an einem Projekt auf den Boden legte, aber, hey, er hatte sie trotzdem immer wieder angeheuert, also funktionierte es wohl doch.

Unterwegs hatte sie ungefähr ein Dutzend Bekannte getroffen: Lorelei aus der Bäckerei am Marktplatz, ihre alte Klassenkameradin Theresa DeFilio mit ihren Kindern, die wie hübsche dunkelhaarige Entlein hinter ihr herliefen. Faiths alte Sonntagsschullehrerin, Mrs Linqvest, die ihr immer noch ein schlechtes Gewissen machen konnte. Die Frau des Footballtrainers. Die Sprechstundenhilfe aus Jeremys Praxis.

Apropos Jeremy, den würde sie morgen Abend sehen. Faith holte noch einmal tief Luft, und wie immer empfand sie den einzigartigen Duft der Finger Lakes – Weintrauben und Gras – als beruhigend. Es roch nach Heimat.

Blue war zurück, doch er rannte fröhlich kläffend an ihr vorbei.

„Hey, Faith.“

„Hey, Pru! Was treibt dich denn her?“

„Ich wollte nur mal sehen, was du hier oben anstellst.“ Sie warf Blues Tennisball in den Wald. „Höchste Zeit, dass Dad grünes Licht für dein Projekt gibt. Alle anderen Weingüter richten schon seit Jahren Hochzeiten aus.“ Sie setzte ihren Hut ab und fuhr sich mit einer Hand durchs graumelierte Haar.

Sie schwiegen einen Moment; die Schönheit des grauen Tages stimmte irgendwie feierlich.

„Wie geht’s dir, Pru? Du wirkst ein bisschen niedergeschlagen.“

Ihre Schwester seufzte. „Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich nur müde, immerhin ist es eine frühe Ernte. Dad treibt mich in den Wahnsinn, wie üblich.“ Sie warf Faith einen Seitenblick zu. „Außerdem habe ich das Gefühl, dass Carl und ich neuerdings einen Porno leben. Immer nur Sex, Sex und noch mal Sex.“

„Ach! Wie aufregend!“ Faith schaute ihrer Schwester ins Gesicht. „Ups! Doch nicht so aufregend?“

„Anfangs waren es nur Andeutungen, verstehst du? Zum Beispiel, ob ich ein Bikini-Waxing möchte oder ob wir Schweinereien erzählen könnten. Dann …“ Zu Faiths Entsetzen füllten Prus Augen sich mit Tränen. „Scheiße, Faith. Ich weiß nicht. Dieses ewige ‚Bring Sexy Back‘ … Kennst du den Song? Von diesem süßen Typen?“

„Ja, den kenne ich“, murmelte Faith düster.

„Wie heißt er gleich?“

„Justin Timberlake.“

„Genau. ‚Bring Sexy Back‘ oder so. Tja, ich wusste gar nicht, dass ‚Sexy‘ nicht mehr da war. Jetzt verlangt Carl plötzlich, dass ich total kreativ bin. Weißt du, was er letzte Woche aus dem Costco mitgebracht hat? Acht Dosen Schlagsahne, Faith. Acht.“

„Das ist eine ganze Menge.“ Faith beschloss, Milchprodukten bis auf Weiteres zu entsagen.

„Und es hat genau den gegenteiligen Effekt, verstehst du? So ungefähr, als habe der Sturm meiner Liebe sich zu einem Nebel verflüchtigt, weil die gute alte eheliche Pflichtübung plötzlich nicht mehr genug ist. Ach ja, und neulich ist Abby in unser Zimmer reingeplatzt, jetzt redet sie nicht mit mir. Weißt du, letzte Woche war ich bei der Mammografie …

Faith hob ruckartig den Kopf. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, klar! Aber ich habe mich darauf gefreut! Das war eine Pause, endlich mal Zeit für mich allein, nur für mich und den Busenquetscher. Ich brauchte Carl keine Schweinereien zu erzählen, musste keine Vulkanier-Ohren aufsetzen …“

„Junge, Junge.“

„… oder mich um die Kinder kümmern, Dad stellte mir keine Fragen, und Honor saß mir nicht im Nacken. Ich musste auf meinen Termin warten, konnte im Bademantel dasitzen und eine Zeitschrift lesen, und es war die schönste Zeit, die ich seit Langem erlebt habe! Als meine Brust dann in dem Apparat steckte, habe ich sogar noch zu der Frau gesagt: ‚Nein, nein, lassen Sie sich ruhig Zeit‘, und es war mein Ernst!“

„Pru!“ Faith zog ihre Schwester an sich, und Blue spielte hechelnd ebenfalls den Tröster, stupste die beiden mit der Nase an und winselte. „Ach Schätzchen. Vielleicht brauchst du einfach mal räumlichen Abstand.“

„Das weiß ich selbst, Faith“, schnauzte sie. „Aber es geht nicht. Wir stecken in der Ernte, und bis die eingebracht ist, müssen wir sieben Tage pro Woche arbeiten, und dann kommt die Eisweinernte, dann folgen die blöden Feiertage, und wirklich, warum musste das Jesuskind im Dezember geboren werden? Der März wäre doch völlig frei! Ich meine ja bloß.“

„Ich glaube, Jesus wurde tatsächlich im … Ach, egal. Du solltest wirklich für ein paar Tage vereisen. Allein. Ich chauffiere Abby, wohin sie will, mache Abendessen für alle oder was immer nötig ist. Ehrlich, Pru.“

Ihre Schwester straffte sich und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Augen, dann kraulte sie Blue hinter den Ohren. „Klingt toll“, sagte sie. „Aber ich kann nicht.“

„Doch, du kannst. Du willst nur nicht. Spiel nicht den Märtyrer, Pru.“

„Du bist gut! Den Märtyrer spielen, das ist der Wahlspruch unserer Familie.“ Wieder wischte Pru sich über die Augen. „Themenwechsel. Zeig mir mal, was du hier oben geplant hast. Komm schon. Hopp, hopp. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Gern.“ Faith führte ihre Schwester in den Wald. Der Weg war überwuchert, aber noch erkennbar. Ein Eichhörnchen beschimpfte sie von einer Baumkrone aus, und der Geruch nach Regen hatte sich verstärkt. Blue lief schwanzwedelnd voraus.

„Hier oben bin ich seit Jahren nicht mehr gewesen“, sagte Prudence. „War wohl immer zu beschäftigt.“

„Erinnerst du dich an die Scheune?“, Faith hielt einen Zweig zurück, damit er ihrer Schwester nicht ins Gesicht peitschte.

„Nicht so richtig.“

„Nun, da sind wir.“

Sie standen vor der Ruine, die zurzeit nicht viel hermachte: Die Scheune war um 1800 errichtet worden und brannte ab, als Teddy Roosevelt Präsident war. Das Feuer zerstörte das Dach und das Innere, ebenso die Holztüren, an deren Stelle eine breite Lücke in den Mauern klaffte.

Faith trat ein, Pru folgte ihr. „Huch“, sagte sie nur.

Sie waren umgeben von drei Mauern aus groben Steinen.

Der Boden war mit Gras und Moos bedeckt, über die steinernen Mauern zogen sich Flechten. Doch das Beste war – zumindest in Faiths Augen –, dass die Mauer zum See hin eingestürzt war, wodurch sich ein umwerfender Ausblick bot, über Baumwipfel, Weinberge, die weißen Gebäude von Blue Heron, Wiesen und Wälder – bis hin zum Keuka Lake.

„Und warum soll das hier für Hochzeiten und dergleichen taugen?“

„Weil ausreichend Platz ist. Man kriegt hier etwa fünfundsiebzig Personen unter. Ich will den Boden einebnen, das Gras aber vielleicht stehen lassen. Dann bauen wir eine freischwebende Veranda, sodass man hier steht wie am Bug eines Schiffes, drei, vier, fünf Meter über dem festen Boden, je nachdem, wie weit die Plattform herausragt. Vielleicht müssen noch zwei, drei Bäume gefällt werden, die die Sicht behindern.

„Und wenn es regnet?“, fragte Pru.

„Da beginnt dann die Zauberei. Es gibt durchsichtiges Dachmaterial, und wenn Dad Lust auf etwas wirklich Schickes hat, könnten wir ein solches Dach je nach Jahreszeit oder Wetterbericht anbringen oder abnehmen. Hier drüben plane ich einen offenen Kamin für die Stimmung, da draußen eine kleine Steinterrasse zum Cocktailschlürfen. Wäre das nicht toll? Man könnte unterm Sternenhimmel in der Luft tanzen, umgeben von all dieser Schönheit.“ Sie sah ihre Schwester an. „Was meinst du?“

„Fantastisch“, rief Prudence. „Wow, Faith! So was kannst du?“

„Klar! Da drüben auf dem Hügelkamm richte ich einen Parkplatz ein, dann verbreitere ich den Weg hierher, baue neue Türen ein. Man kommt rein … und bumm – magisch.“

„Parkplätze? Küche? Stromversorgung?“

„Ich habe auf dem Bauamt wegen der Zulassung vorgesprochen, und die Frau sieht darin kein Problem. Wir müssen nur einen Graben ausheben, PVC verlegen und Stromleitungen von der Straße da oben ziehen. Der alte Brunnen ist vielleicht noch intakt. Da drüben, siehst du? Da war der Melkstall. Dort könnten sich die Caterer einrichten.“

Und wenn das Ganze tatsächlich so wurde, wie Faith es sich vorstellte, wäre es nicht nur unglaublich schön, sondern auch eines ihrer kompliziertesten landschaftsarchitektonischen Projekte bisher … Ihr kleines Spielhaus aus Stein, völlig verwandelt zum Besten des Familienunternehmens. „Meinst du, es könnte Dad gefallen?“

„Dad würde auch der Superdome gefallen, wenn er dich damit hier zu Hause halten könnte, Faithie. Und ich finde es jetzt schon toll.“ Pru legte den Arm um sie. „Mom wäre stolz auf dich.“

Der Tag würde kommen, an dem diese Worte ihr nicht mehr ins Herz schneiden würden. Irgendwann.

Der Regen, der schon eine Weile drohte, begann jetzt mit sanftem Prasseln zu fallen. „Komm, ich nehme dich im Auto mit“, sagte Pru. „Mein Pick-up steht beim Friedhof.“

Auf halbem Weg zwischen der alten Scheune und den Weingutsgebäuden lag der familieneigene Friedhof. Sieben Generationen von Hollands, vom Soldaten, der mit George Washington in der Schlacht von Trenton gekämpft hatte, bis zum jüngsten Begräbnis – Mom.

Prudence sammelte ein paar verwelkte Blumen von Moms Grabplatte. Constance Verling Holland, 49 Jahre alt. Geliebte Tochter, Ehefrau und Mutter. Sie trug stets ein Lächeln im Herzen.

„Kommst du manchmal her, um mit Mom zu reden?“, wollte Pru wissen.

Faith blinzelte. „Ja, klar“, schwindelte sie.

„Ich auch. Dad ist natürlich sehr oft hier.“ Sie richtete sich auf. „Hey, danke fürs Zuhören.“

„Keine Ursache. Dafür sind Schwestern doch da.“

In diesem Moment summte Prus Handy. Sie blickte aufs Display und drückte eine Taste. „Hi, Levi, was gibt’s?“, fragte sie.

Als sein Name fiel, begann es auf Faiths Haut zu kribbeln. Sie musste sich wohl oder übel daran gewöhnen. Der Typ war allgegenwärtig.

„Was hat sie? Wo? Fehlt ihr was? Gut. Gut. Okay, in zehn Minuten bin ich da.“ Prus Gesicht war kreideweiß.

„Was ist passiert?“, fragte Faith, und ihr Herz begann vor Angst zu rasen.

„Abby. Sie ist von den Wasserfällen gesprungen. Betrunken. Mit zwei Jungs.“ Pru sah Faith bittend an. „Ihr fehlt nichts, aber Levi hat die drei auf die Wache mitgenommen. Würdest du fahren?“

Kurz darauf hatten sie die winzige Polizeiwache erreicht. Abby saß mit nassen Augen und trotzigem Blick vor Levis Schreibtisch. Gott sei Dank war sie unverletzt. Levi war ebenfalls da, ebenso Everett Field, den Faith seinerzeit als Baby gehütet hatte. Keine Spur von den beiden Jungs.

„Schätzchen, bist du ok? Bist du bescheuert? Wie kann man nur so einen Scheiß machen!“, schnauzte Prudence.

„Ach ja, Mom? Ich bin also bescheuert? Wer fährt denn hier auf Dr. Spock ab? Du und Dad! Das nenne ich bescheuert.“

„Er heißt Mr Spock, okay?“ Von Emmaline, die die Klasse über Faith besucht hatte, kam ein unterdrücktes Prusten. „Und das hier ist was ganz anderes: eine Minderjährige, die sich besäuft und mit Jungs dumme, lebensgefährliche Sachen macht. Ich hätte dich wirklich für klüger gehalten, Abby!“

Faith schaute zu Levi, der ziemlich furchteinflößend aussah, die Stirn leicht gerunzelt, die Arme vor der Brust verschränkt. Wenn er seinen Bizeps anspannte, würde das Hemd reißen, was ihr vermutlich nicht ausgerechnet jetzt hätte auffallen sollen. Hinter ihm imitierte Everett Levis Haltung, erzielte damit allerdings nicht dieselbe Wirkung. Er lächelte ihr zu und winkte verhalten, bis ihm wieder einfiel, dass er ein strenger Polizist war, und er angelegentlich die Stirn in Falten legte.

Laut Levi hatte Abby sich überreden lassen, Adam Berkeley und Josh Deiner die Wasserfälle auf dem Besitz der Hollands zu zeigen. Josh hatte ein Sixpack mitgebracht. Sie hatten ein paar Biere getrunken, waren dann vom Felsen ins Wasser gesprungen, wo sie schwammen und herumalberten, bis ein verirrter Wanderer sie entdeckte und richtig vermutete, dass sie minderjährig waren. Levis Ankunft hatte ihnen einen Heidenschrecken eingejagt.

„Kann sein, dass ich kotzen muss“, murmelte Abby und schluckte. Ohne eine Miene zu verziehen, schob Levi mit dem Fuß den Abfallkorb zu ihr herüber.

„Du weißt doch, dass dein Onkel Jack sich da draußen den Arm gebrochen hat“, fuhr Pru fort. „Und ich habe wirklich keine Ahnung, was du mit diesen Jungs vorhattest.“

„Wir wollten keinen Sex!“, jammerte Abby. „Wenn sie irgendwas versucht hätten, dann hätte ich um mich gebissen.“

„Du bist betrunken. Ich kann es nicht fassen; mein kleines Mädchen ist betrunken“, sagte Pru ratlos.

„Und du bist sexsüchtig“, hielt Abby ihr vor.

„Minderjährige verstoßen gegen das Gesetz, wenn sie Alkohol trinken“, erklärte Levi in mildem Tonfall. „Was du getan hast, war dumm, Abby. Deine Mutter hat recht. Zwei Jungs, ein Mädchen, das ist dumm. Und der Wasserfall ist gefährlich. Letztes Jahr hat sich ein Wanderer dort das Genick gebrochen, und wir haben vier Stunden gebraucht, um ihn da rauszuholen. Er ist für den Rest seines Lebens gelähmt.“

Abbys Augen füllten sich mit Tränen. „Alle hassen mich“, sagte sie und kotzte in den Abfalleimer. Everett würgte aus Solidarität mit.

„Levi, kann ich sie mit nach Hause nehmen?“, fragte Prudence, und Faith spürte einen Stich im Herzen. Die arme Pru sah um Jahre älter aus.

„Unbedingt“, sagte Levi. „Ich schaue morgen bei euch rein.“

„Okay, Schätzchen“, sagte Pru und hielt Abby das Haar aus dem Gesicht. „Lass uns nach Hause fahren. Wir kümmern uns um die Sache, wenn du nüchtern bist.“

„Als ob du immer perfekt wärst“, schluchzte Abby. „Faith, hast du nie Dummheiten gemacht, als du so alt warst wie ich?“

Aber ja, Liebling, durchaus. Faith räusperte sich und mied Levis Blick. Ihr Gesicht glühte. „Ja, schon. Aber es gibt Dummheiten, und es gibt lebensgefährliche Dummheiten. Fahren wir nach Hause, da kannst du dich dann waschen und deinen allerersten Kater genießen.“

„Werde ich verhaftet oder so?“ Abby sah Levi an.

„Geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus, Abby“, sagte er. „Ihr drei werdet ein bisschen gemeinnützige Arbeit aufgebrummt kriegen. Aber tu so etwas nie wieder, verstanden? Josh Deiner ist kein Umgang für dich.“

„Okay“, sagte sie leise. Tränen liefen über ihre Wangen. „Es tut mir leid. Entschuldige, Mommy.“

„Lass uns nach Hause fahren. Dein Vater kriegt einen Anfall.“

Diese Prognose führte zu noch mehr Tränen und Schniefen. Faith seufzte und griff nach Abbys Rucksack.

„Ich fand es sehr schön, dich mal wiederzusehen“, flüsterte Everett. „Wollen wir irgendwann mal was trinken gehen?“

„Nein! Oder klar, gern, aber nur, um zu hören, wie’s dir geht. Kein Date, ok? Ich war schließlich dein Babysitter“, sagte sie in bestimmtem Ton.

„Weißt du, ich habe immer an dich gedacht, wenn ich …“

„Das reicht, Everett.“ Levis Stimme klang ruhig.

„Schon gut, schon gut! Entschuldigen Sie, Sir!“ Ev sah Faith noch einmal an. „Du siehst klasse aus.“ Er wurde rot, und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Faith.“

„Ja?“

„Sprich mit ihr. Du bist ja offenbar ihre Heldin.“

Zum ersten Mal seit langer Zeit schien Levi sie mit etwas anderem als Verachtung im Blick anzusehen. Und, nun ja, man kennt das ja. Ein Typ in Uniform … mit solch kräftigen, muskulösen Armen … Unvermittelt wurden ihr die Knie weich. „Okay. Danke, Levi.“

Und sie vergaß, zumindest für ein Weilchen, dass Levi derjenige war, der ihre Hochzeit ruiniert und den Mann, den sie liebte, geoutet hatte.

10. KAPITEL

Am Morgen von Faiths und Jeremys Hochzeit hatte die Natur alle Register gezogen. Die Sonne schien über dem See und polierte die tiefblaue Oberfläche auf Hochglanz, und wie es aussah, zeigte sich jede Blume und jeder Baum von der allerschönsten Seite, als die Limousine vom „Hügel“ hinunter zum Marktplatz fuhr. Faith trug ein Cinderella-Kleid; im Perlenbesatz des engen Mieders fing sich das Sonnenlicht, sodass Regenbögen durch das Auto blitzten, und der Tüllrock war so bauschig, dass die aufgeregt plappernde Abby fast darin verschwand. Prudence sah in etwas anderem als ihrer Arbeitskleidung ungewohnt und schön aus; in ihren Augenwinkeln zeigten sich Lachfältchen. Beide Schwestern trugen Pink, die Lieblingsfarbe der Braut, und Colleen als Ehrendame glänzte in einem etwas kräftigeren Ton. Ihr war diese Rolle zugefallen, weil Faith sich nicht zwischen Prudence und Honor hatte entscheiden wollen.

„Ihr Mädchen“, sagte John Holland, und seine Augen wurden feucht. „Wie schön ihr seid.“

Faith fiel auf, dass sie ihren Brautstrauß quetschte. Sie war nicht nervös. Nun ja, ein bisschen vielleicht. Aber nicht, weil sie Jeremy heiratete, natürlich nicht. Nein, es war wahrscheinlich nur Lampenfieber. Schließlich erwarteten sie dreihundert Personen in der Kirche. Ja, vermutlich war es nur das. Sobald sie Jeremy sah, würde ihre Nervosität verfliegen.

Er hatte sie am Vorabend angerufen, um ihr mitzuteilen, dass Levi in Atlanta aufgehalten worden war und erst vor der Kirche zu ihnen stoßen würde; aber keine Angst, er wäre rechtzeitig da.

„Das ist gut“, hatte Faith gesagt. In Wahrheit konnte Levi ihretwegen gern die ganze Hochzeit verpassen; sie hatte ihn seit der Highschool nicht mehr gesehen und freute sich nicht unbedingt auf diese gelangweilte, herablassende Art, die er ihr gegenüber stets an den Tag legte. Andererseits lag dieser Kinderkram jetzt bestimmt hinter ihnen. Sie wurde schließlich die Frau seines besten Freundes. Außerdem waren am Vorabend ihrer Hochzeit keine negativen Grübeleien erlaubt. „Es ist bestimmt toll, ihn wiederzusehen“, fügte sie hinzu. Pluspunkte für positives Denken.

Jeremy hatte nichts gesagt.

„Schatz? Bist du noch da?“, flüsterte sie.

„Ich wollte dir noch sagen: Dein Mann zu sein ist alles, was ich mir je gewünscht habe.“ Seine Stimme klang heiser.

„Ach Jeremy“, hauchte sie. „Ich liebe dich so sehr.“

Daran sollte sie an diesem schönen Junimorgen denken. Nicht an das Flattern in ihrem Magen. Vielleicht fehlte ihr einfach nur ihre Mom, denn welches Mädchen wollte am Hochzeitstag nicht eine Mutter um sich haben, die jubelte und ein paar Tränen vergoss … und, falls nötig, beruhigende Worte fand.

An einem dunklen Ort tief in ihrem Inneren brüllte etwas auf.

Nein. Nein. Ausgeschlossen. Es war nur Lampenfieber. Sie war die bei Weitem glücklichste Frau auf der Welt. Dein Mann zu sein ist alles, was ich mir je gewünscht habe. Also wirklich! Auf diese Worte konnte sie bauen! Nichts konnte schiefgehen, wenn ein Mann solche Worte aussprach. Das Eheglück war praktisch garantiert.

Die Limousine fuhr vor der Trinity-Lutheran-Kirche vor, die schon Generationen von Hollands besucht hatten, und die Touristen auf dem Marktplatz blieben stehen, um zu sehen, wie die Hochzeitsgesellschaft ausstieg. „Sie sind wunderschön!“, rief eine Frau. Der Fotograf machte einen Schnappschuss, als sie sich herabbeugte, um Abby auf die Wange zu küssen. Mit dem Bild würde er später im Jahr bei einem nationalen Wettbewerb einen Preis gewinnen.

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