Das einsame Strandhaus

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Allein lebt Rachel in einem Haus am Meer, da wird eines Tages ein bewusstloser Mann mit Schusswunden angespült. Wem rettet sie das Leben? Einem Schmuggler? Einem Agenten? Oder dem Mann, der ihr bestimmt ist?


  • Erscheinungstag 15.03.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783955766023
  • Seitenanzahl 220
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Die strahlende, goldene Sonne brannte ihm immer noch heiß auf der Haut, auf seiner nackten Brust und den langen Beinen, obwohl es schon auf den Abend zuging. Er starrte gebannt auf die in den länger werdenden Strahlen aufblitzenden Wellenkronen. Es war weniger das schimmernde Wasser, das ihn so faszinierte, als vielmehr die Tatsache, nichts Wichtigeres zu tun zu haben, als bloß daraufzuschauen.

Einen wundervollen, ganzen Monat konnte er sich in der Einsamkeit entspannen und er selbst sein. Konnte fischen, wenn ihm der Sinn danach stand, oder in den warmen, faszinierenden Gewässern des Golfs herumfahren, falls die Ruhelosigkeit ihn überkam. Wasser übte eine ungeahnte Anziehungskraft auf ihn aus. Das Gewässer hier war mitternachtsblau, dort leuchtend türkis, weiter hinten schimmerte es in blassen, hellgrünen Tönen.

Er hatte genügend Geld für Benzin und Proviant, und nur zwei Menschen auf der Welt wussten, wo er sich befand und wie man ihn erreichen konnte. Am Ende dieses Ferienmonats würde er in die von ihm gewählte, graue Welt zurückkehren und wieder Teil ihrer Schatten werden. Jetzt jedoch konnte er in der Sonne liegen, und mehr wollte er nicht.

Kell Sabin war müde. Er hatte den endlosen Kampf, die Geheimnistuerei und die Machenschaften, die Gefahren und Täuschungen seiner Arbeit satt. Sein Job war von lebenswichtiger Bedeutung, doch in diesem Monat konnte ein anderer ihn ausführen. Dieser Monat gehörte ihm. Jetzt konnte er verstehen, was seinen alten Freund Grant Sullivan, den besten Agenten, den er je hatte, in die geheimnisvolle Stille von Tennessees Bergwelt gezogen hatte.

Kell selbst war ein Topagent gewesen, ein legendärer Name, zuerst im Goldenen Dreieck, später dann im Mittleren Osten und in Südamerika, an allen Krisenorten der Welt.

Jetzt war er als Abteilungsleiter tätig, die graue Eminenz hinter einer Gruppe von erstklassigen Agenten, die seinen Anweisungen und Befehlen gehorchten. Man wusste wenig über ihn. Die ihn umgebenen Sicherheitsmaßnahmen waren so gut wie undurchlässig. Kell hatte es lieber so. Er war ein Einzelgänger, ein verschlossener Mensch, der den Realitäten des Lebens mit Zynismus und Sachlichkeit gegenüberstand. Er kannte die Gefahren und Rückschläge, die seine von ihm eingeschlagene Laufbahn mit sich brachte. Er wusste, wie schmutzig und niederträchtig dies Geschäft sein konnte, aber er war Realist und hatte sich, als er sich für diese Arbeit entschied, damit abgefunden.

Und dennoch ging es ihm manchmal auf die Nerven, und er ergriff die Flucht, um eine Zeit lang wie ein normaler Sterblicher zu leben. Dann zog er sich auf seinen speziell für ihn gebauten Kabinenkreuzer zurück. Wie alles, was ihn betraf, standen auch seine Ferien unter höchster Geheimhaltungsstufe, doch die Tage und Nächte auf See gaben ihm wieder das Gefühl, ein Mensch zu sein, und waren die Momente, in denen er sich entspannen und nachdenken konnte, in denen er nackt in der Sonne lag und sich wieder auf sich selbst besann, in der Nacht zu den Sternen hochschaute und mit sich ins Reine kam.

Mit einem klagenden Schrei segelte eine Möwe über ihm dahin. Kell sah ihr nach, wie sie schrie und ungebunden im wolkenlosen Blau des Himmels davonflog. Der leichte, vom Meer kommende Wind strich sacht über seine nackte Haut, und vor Wohlbehagen trat ein seltener, lächelnder Ausdruck in seine Augen. Er hatte etwas Ungezähmtes und Wildes an sich, das er normalerweise sehr beherrscht zurückhielt, doch hier draußen, wo es nur die Sonne, den Wind und das Wasser gab, musste er diesen Teil seines Wesens nicht länger unterdrücken. Sich in dieser Umgebung etwas anzuziehen, war fast wie ein Sakrileg, und Kell widerstrebte es immer, in irgendwelche Kleidung schlüpfen zu müssen, sobald er einen Hafen für neues Benzin aufzusuchen hatte oder wenn ein anderes Boot längsseits kam, dessen Besatzung, wie es hier häufig der Fall war, gern ein Schwätzchen halten wollte.

Die Sonne stand jetzt noch tiefer und tauchte ihren goldenen Rand in das Wasser, als er plötzlich das Geräusch eines anderen Motors vernahm. Er drehte den Kopf und sah einen Kabinenkreuzer, der etwas größer als sein eigener war, gemächlich durch die Wellen auf sich zukommen.

Kell hielt den Blick auf das Boot gerichtet und bewunderte dessen schnittige Linie und das gleichmäßige, kraftvolle Geräusch des Motors. Er liebte Boote, und er liebte die See.

Sein eigenes Schiff war ein wohlbehüteter Schatz, und obendrein ein gut bewahrtes Geheimnis. Niemand wusste, dass es ihm gehörte. Es war auf den Namen eines Versicherungsvertreters aus New Orleans zugelassen, der von Kell Sabins Existenz nicht die geringste Ahnung hatte. Selbst der Name des Schiffes, Wanda, besaß keine Bedeutung. Kell kannte niemanden mit diesem Namen, er hatte ihn sich einfach so ausgedacht. Doch die ‚Wanda‘ war ganz sein Eigentum, mit ihren Geheimnissen und Überraschungen. Jeder, der ihn wirklich kannte, hätte auch nichts anderes von ihm erwartet, doch nur ein einziger Mensch auf der Welt hatte je den Mann hinter der Maske kennengelernt, und Grant Sullivan verriet kein Geheimnis.

Das Geräusch des anderen Schiffsmotors veränderte sich, als das Boot die Fahrt verlangsamte und die Richtung auf Kell einschlug. Verärgert schimpfte er los und sah sich nach den ausgeblichenen, abgeschnittenen Jeansshorts um, die er für solche Gelegenheiten gewöhnlich an Deck hatte.

Der Klang einer Stimme drang über das Wasser zu ihm, und wieder sah er zu dem anderen Boot hinüber. An der vorderen Reeling stand eine Frau, die mit erhobenem Arm gemächlich zu ihm herüberwinkte. Es wirkte nicht dringlich, wahrscheinlich hatte man dort kein Problem und war nur auf einen kleinen Schwatz aus. Die untergehende Sonne spiegelte sich auf dem roten Haar der Frau wider und ließ es wie eine flammende Lohe wirken. Dieser ungewöhnlich glühende, rote Ton erregte Kells Aufmerksamkeit, und er starrte ihn einen Moment lang gebannt an.

Während er schnell in seine Shorts schlüpfte und den Reißverschluss zuzog, runzelte er die Stirn. Das Boot war noch zu weit von ihm entfernt, um das Gesicht der Frau erkennen zu können, doch das rote Haar hatte eine verborgene Erinnerung ausgelöst, die erst noch deutlichere Formen annehmen musste. In seine schwarzbraunen Augen trat ein Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit, als er ihr und dem sich langsam nähernden Boot entgegenblickte. Irgendetwas war doch mit diesem Haar gewesen …

Plötzlich waren Kells sämtliche Sinne hellwach, und er warf sich flach auf das Deck, ohne lange über das eigenartige Gefühl nachzudenken, das ihn befallen hatte. Seine schnelle Reaktionsfähigkeit hatte ihm schon oft genug das Leben gerettet. Er presste sich eng an die von der Sonne erwärmten Planken. Vielleicht machte er jetzt einen Narren aus sich, aber er war lieber ein lebender Narr als ein toter weiser Mann. Das Geräusch des anderen Motors erstarb, so, als hätte das Schiff seine Fahrt noch mehr verlangsamt, und Kell fasste rasch einen anderen Entschluss. Immer noch auf dem Bauch liegend, kroch er, während ihm der Geruch des Firnis in die Nase stieg und das Holz ihm über die nackte Haut schrammte, zu seinem Lagerraum hinüber.

Er fuhr nie irgendwohin, ohne ein Mittel zu seiner Verteidigung bei sich zu haben. Jetzt zog er ein leistungsstarkes und zielgenaues Gewehr aus dem Lagerraum hervor, obwohl er wusste, es würde ihm nur kurzfristig als Abschreckungsmittel dienen können. Falls seine Instinkte ihn getäuscht haben sollten, dann hätte er gar keine Verwendung dafür. Falls er aber recht behielt, dann verfügten die Leute auf dem anderen Boot über ganz andere Schussmittel als nur ein Gewehr dieser Art, denn dann hätten sie sich auf diesen Zwischenfall vorbereitet.

Leise vor sich hinfluchend, kontrollierte Kell, ob das Gewehr automatisch schussbereit war, und kroch wieder zur Reeling zurück. Ruhig ging er in Deckung, brachte den Gewehrlauf in Sichtweite und hob gerade so weit den Kopf, um das andere Schiff sehen zu können. Es näherte sich ihm noch immer und war nur noch weniger als hundert Meter entfernt.

„Das ist nahe genug!“, schrie er, obwohl er nicht wusste, ob seine Stimme laut genug über den Motorenlärm dringen würde. Doch das war eigentlich auch unwichtig, solange man da drüben mitbekam, dass er etwas gerufen hatte.

Das Boot wurde noch langsamer und trieb jetzt nur etwa fünfundsiebzig Meter von ihm entfernt im Wasser. Plötzlich schienen aus allen Ecken Leute aufzutauchen, und keiner von ihnen machte den üblichen Eindruck eines Fischers aus dem Golf oder eines Vergnügungsfahrers, da jeder bewaffnet war, selbst die rothaarige Frau. Kell musterte sie schnell, und sein gutgeschulter Blick nahm alle Einzelheiten an Größen und Formen auf. Es war ihm möglich, die Waffentypen ohne großes Nachdenken zu identifizieren, weil er mit allen so lange vertraut war. So achtete er mehr auf die Menschen, und sein Blick glitt immer wieder zu einem Mann zurück. Selbst auf diese Entfernung und trotz des Umstandes, dass er hinter den anderen stand, kam Kell etwas an dieser Gestalt vertraut vor, ähnlich, wie es ihm bei der Frau gegangen war.

Es bestand kein Zweifel mehr. Wie immer in kritischen Situationen, überkam ihn eine eisige, tödliche Ruhe. Er verschwendete keine Zeit damit, darüber nachzudenken, wie groß die Übermacht war, sondern überlegte in Sekundenschnelle, welche Möglichkeiten ihm blieben.

Ein flacher Knall zerriss die Dämmerung – das Geräusch eines über das Wasser abgefeuerten Gewehrschusses. Kell nahm den schwachen, warmen Druck der über seinen Kopf durch die Luft fliegenden Kugel wahr, die gleich darauf hinter ihm in das Holz der Kabine einschlug. Mit kühler Routine zielte er und feuerte los, und zog im selben Augenblick rasch den Kopf ein. Es hätte des unwillkürlich scharfen Aufschreis, der zu ihm herüberdrang, nicht bedurft, um ihm zu sagen, dass er sein Ziel nicht verfehlt hatte. Im Gegenteil, er wäre überrascht und wütend auf sich gewesen, falls er danebengeschossen hätte.

„Sabin!“ Der Ruf einer durch einen Verstärker klingenden Stimme tönte blechern über die Meeresoberfläche. „Sie wissen. Sie haben keine Chance! Ergeben Sie sich!“

Mit diesem Angebot hatte Kell gerechnet. Seine größte Chance bestand darin, sich mit dem Boot auf und davon zu machen, denn die Geschwindigkeit der ‚Wanda‘ war eines ihrer herausstechendsten Merkmale. Aber um das tun zu können, hätte er an das Schaltbrett in der Führerkabine kommen müssen. Das hätte bedeutet, sich beim Hinaufsteigen über die Leiter dem gegnerischen Feuer auszusetzen.

Kell wog die Lage ab und fand, er habe eine Fünfzig-zu-fünfzigChance, den Führerstand zu erreichen, vielleicht sogar etwas weniger, je nachdem, wie überrascht die andere Seite auf seinen Schachzug reagieren würde. Andererseits hatte er überhaupt keine Chance, wenn er nur einfach da sitzen blieb und versuchte, die Meute mit einem einzigen Gewehr abzuhalten. Zwar verfügte er über genügend Munition, aber die anderen würden mehr davon haben.

Sich zu bewegen, war ein Risiko, das er eingehen musste. Also verschwendete er keinen weiteren Gedanken mehr an seine sich verschlechternden Chancen. Er holte tief Luft, hielt den Atem an, atmete sehr langsam aus und spannte jeden Muskel zum Sprung an. Mit dem ersten Satz musste er so weit wie möglich die Leiter hinaufkommen. Er schloss seine Finger fest um das Gewehr, holte noch einmal tief Luft und sprang ab.

Noch in der Bewegung zog er den Abzug. Das Automatikfeuer brachte die Waffe in seiner Hand zum Schwanken und zwang jeden auf dem anderen Boot, sofort in Deckung zu gehen. Mit der ausgestreckten rechten Hand griff er nach der obersten Leitersprosse, und seine nackten Füße berührten kaum die Stufen, als er sich hochschwang. Aus dem Augenwinkel nahm er im Moment, wo er sich auf das Oberdeck schwang, das Mündungsfeuer von Schüssen wahr, und zwei brennend heiße Einschläge trafen seinen Körper mit aller Wucht. Nur durch seinen Schwung und seine Willenskraft schaffte er es, auf dem Deck anzukommen und nicht wieder auf das Unterdeck herabzustürzen. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er verlor fast die Sicht. Das Geräusch seines eigenen Atems dröhnte ihm in den Ohren.

Kell ließ das Gewehr fallen. „Verdammt!“, stieß er wütend aus. Er holte tief Atem, zwang sich, einen klaren Blick zu bekommen, und riss alle Kraft zusammen, um den Kopf zu wenden. Er hielt das Gewehr noch immer fest mit der linken Hand umklammert, konnte es aber nicht mehr fühlen. Über seine linke Körperhälfte strömte das Blut, das im schwindenden Tageslicht fast schwarz wirkte. Schwer atmend griff er mit der rechten Hand zur Seite und nahm das Gewehr auf. Es wieder in der Hand zu halten, machte die Sache etwas besser für ihn, aber auch nicht allzu viel. Der Schweiß brach ihm aus, rann ihm in kleinen Bächen über den Körper und mischte sich mit seinem Blut. Er musste sofort etwas unternehmen, oder man würde ihn überwältigen.

Sein linker Arm und sein linkes Bein gehorchten seinem Willen nicht mehr. Er achtete nicht weiter darauf, sondern kroch nur mithilfe seines rechten Armes und Beines zur Seite. Dann stemmte er das Gewehr gegen seine rechte Schulter und feuerte wieder auf das andere Boot, damit man dort wusste, dass er noch am Leben und mit ihm zu rechnen sei und sich nicht einfallen ließ, ihn einfach zu überrumpeln.

Mit einem Blick erfasste er seine Verletzung. Eine Kugel hatte den äußeren Muskel seines linken Oberschenkels durchschlagen, und eine zweite war in seine linke Schulter gedrungen. Jede für sich war schon gefährlich genug. Nach dem ersten stechenden Schmerz hatte er im Arm und in der Schulter jedes Gefühl verloren, und seine Beine schienen sein Gewicht nicht mehr tragen zu können. Aus Erfahrung wusste Kell jedoch, dass die Betäubung bald aufhören und der erneut einsetzende Schmerz ihm bald wieder Gewalt über seine verletzten Muskeln geben würde, falls ihm so viel Zeit bliebe, darauf warten zu können.

Er riskierte einen weiteren Blick und bemerkte, dass das andere Boot hinter ihm kreiste. Das Oberdeck war nach hinten hin offen und brachte ihn so gut in ihr Schussfeld.

„Sabin! Wir wissen. Sie sind verletzt! Bringen Sie uns nicht dazu, Sie zu erschießen!“

Nein, am liebsten hätten sie ihn lebend gehabt, um ihn zu „befragen“, aber Kell wusste, man würde dort drüben kein Risiko eingehen.

Sie würden ihn eher erschießen, als ihn fliehen zu lassen.

Er biss die Zähne zusammen, schleppte sich zum Armaturenbrett hin und drehte den Zündschlüssel um, und der kraftvolle Motor sprang stotternd an. Kell konnte nicht sehen, wohin das Boot fahren würde, aber das spielte auch keine Rolle, selbst wenn er den anderen Kreuzer rammte.

Keuchend ließ er sich wieder auf die Planken fallen und versuchte, seine Kräfte zu sammeln. Er musste unbedingt an den Steuerknüppel heran, und dazu blieb ihm nur wenig Zeit. Ein wühlender Schmerz breitete sich über seine ganze linke Körperhälfte aus, aber sein Arm und sein Bein fingen an, ihm wieder zu gehorchen. Er hoffte, es würde gut gehen.

Kell ignorierte den wachsenden Schmerz, stützte sich auf seinem rechten Arm hoch und zwang sich, den linken Arm so lange hochzuheben und zu suchen, bis seine blutigen Finger den Steuerknüppel gefunden und ihn in den ersten Gang gelegt hatten. Langsam begann der Kreuzer, im Wasser an Fahrt zu gewinnen, und gleichzeitig hörte Kell die Schreie vom anderen Boot herüberdringen.

„So ist es gut, Mädchen“, keuchte er und streichelte die Planken. „Mach schnell, beeile dich.“ Er streckte sich wieder aus. Die Anstrengung ließ jeden Muskel in seinem Körper aufschreien. Aber es gelang ihm, nah genug nach vorn zu kommen, um den Steuerknüppel noch weiter herumzulegen. Das Boot unter ihm machte einen Satz, und sein Motor heulte unter dem plötzlichen Kraftansturm dunkel dröhnend auf.

Bei voller Geschwindigkeit musste Kell sehen, wohin das Schiff fuhr. Er musste ein neues Risiko eingehen, aber mit jedem Meter Entfernung, die er zwischen sich und das andere Boot brachte, wurden seine Chancen größer. Mit einem Schmerzensschrei quälte er sich auf die Beine. Salziger Schweiß stach ihm in die Augen. Kell musste das größte Gewicht auf sein rechtes Bein verlagern, aber wenigstens brach ihm das linke nicht weg, und mehr verlangte er gar nicht.

Er warf einen Blick über die Schulter auf den anderen Kreuzer zurück. Er blieb mehr und mehr hinter ihm, obgleich man dort die Jagd nach ihm aufgenommen hatte.

Auf dem Oberdeck des anderen Bootes konnte Kell eine Gestalt ausmachen, die eine unförmige Röhre gegen ihre Schulter stemmte.

Kell musste nicht erst lange darüber nachdenken, was das war. Er hatte zu oft transportable Raketen gesehen, um sie nicht mit einem Blick zu erkennen. Knapp eine Sekunde vor dem Aufblitzen des Anschussfeuers und kaum zwei Sekunden, ehe die Rakete in seinem Boot explodierte, ließ sich Kell rechts über die Seite seines Schiffes in das türkisfarbene Wasser des Golfes fallen.

Er tauchte, so tief er nur konnte. Aber er hatte nicht viel Zeit, und der Raketenaufschlag warf ihn wie ein Spielzeug durch die Wellen. Ein jagender Schmerz durchfuhr ihn, und alles um ihn wurde wieder schwarz. Es dauerte zwar nur eine oder zwei Sekunden, aber das genügte, um ihn vollkommen orientierungslos zu machen. Er würgte und wusste nicht mehr, wo die Wasseroberfläche war. Jetzt war das Meer nicht länger türkisgrün, und es drückte ihn nach unten.

Nur sein jahrelanges Training rettete ihn. Kell war nie in Panik ausgebrochen, und jetzt würde er es ganz sicher nicht tun. Er hörte auf, im Wasser um sich zu schlagen und zwang sich, die Nerven zu bewahren. Sein ungebrochener Lebenswille trug ihn an die Oberfläche zurück. Sobald er wusste, wohin er sich zu bewegen hatte, begann er, so gut es ging, darauf zuzuschwimmen, obgleich er kaum seinen linken Arm und das Bein benutzen konnte. Seine Lungen brannten, als er endlich an die Oberfläche stieß und die warme, salzhaltige Luft einatmete.

Die „Wanda“ brannte. Schwarze Rauchwolken quollen aus dem Rumpf in den perlmuttfarbenen Himmel, der von den allerletzten Lichtstrahlen erhellt wurde. Die Dunkelheit hatte sich bereits über Land und Wasser gesenkt, und Kell war dankbar dafür, weil darin sein einziger Schutz bestand. Das andere Boot umrundete die ‚Wanda‘ und suchte mit seinen Scheinwerfern das brennende Wrack und das Meer in seiner Nähe ab.

Kell spürte die Vibration der Motoren im Wasser. Falls man nicht auf seinen Körper – oder auf das, was davon übrig geblieben sein mochte – stieß, würde man die Suche nach ihm fortsetzen. Sie konnten gar nicht anders. Man konnte es sich nicht leisten, einfach beizudrehen.

Schwerfällig drehte er sich auf den Rücken und begann, mit einem Arm rückwärts zu schwimmen. Erst als er eine genügende Strecke außerhalb der Reichweite der Bootsscheinwerfer war, hielt er inne. Seine Chancen standen nicht sehr gut, denn er war mindestens zwei, wenn nicht drei Meilen von der Küste entfernt. Der Blutverlust hatte ihn geschwächt, und er war kaum fähig, seine linke Körperhälfte zu gebrauchen. Obendrein bestand die Möglichkeit, dass er durch seine Wunden Raubfische anlockte, ehe er überhaupt den ersten Streifen Land erblickte.

Er lachte leise und zynisch auf, spuckte umgehend Wasser, als eine Welle ihn im Gesicht traf. Jetzt saß er zwischen den Raubfischen im Wasser und den menschlichen Haien an Bord des Schiffes in der Falle. Doch um ihn zu fassen, würden sie sich verdammt anstrengen müssen, wo immer es auch sein mochte. Kell hatte nicht vor, es ihnen leichtzumachen.

Er atmete tief durch, ließ sich auf dem Wasser treiben und versuchte krampfhaft, die Shorts auszuziehen. Doch sein Gestrampel trieb ihn wieder unter Wasser, und er musste sich zurück an die Oberfläche kämpfen. Er hielt das Kleidungsstück zwischen den Zähnen fest und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Der Stoff war alt, abgetragen und fast fadenscheinig. Es müsste ihm möglich sein, ihn zu zerreißen. Das Problem war nur, dabei an der Wasseroberfläche zu bleiben. Er würde seinen linken Arm und sein linkes Bein einsetzen müssen, oder es würde ihm nie gelingen.

Kell blieb keine andere Wahl: Trotz der Schmerzen musste er sich damit abquälen.

In dem Augenblick, als er anfing, im Wasser auf der Stelle zu treten, kam es ihm vor, als würde er gleich wieder ohnmächtig werden. Doch der Moment ging vorbei, aber der Schmerz blieb. Verbissen zerrte er mit den Zähnen an dem Stoff, um einen kleinen Riss in das Material zu bekommen. Er verdrängte seine stechenden Schmerzen, als das Gewebe unter seinen Zähnen nachgab. Hastig riss er das Material bis zum Gürtelband auf. Durch die doppelte Stofflage und den Zweifachstich kam er nicht weiter. Wieder biss er in den Jeansstoff, bis er vier lose Streifen hatte, die nur noch vom Bündchen zusammengehalten wurden. Dann fing er an, am Gürtelsaum entlangzukauen. Der erste Stoffstreifen ging ab, und er hielt ihn in der Faust fest, bis er auch den zweiten losgerissen hatte.

Wieder legte er sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Die Erleichterung, die er seinem Bein verschaffte, ließ ihn aufstöhnen. Schnell verknotete er die beiden Streifen, um eine genügend lange Binde für sein Bein zu bekommen. Dann legte er sich den selbst gefertigten Verband um den Oberschenkel und achtete darauf, dass die Ein- und Ausschussstellen damit bedeckt waren. Er zog ihn so fest wie möglich zusammen, ohne die Blutzufuhr zu unterbrechen, aber es war unbedingt erforderlich, die akuten Blutungen durch Druck zu verhindern.

Mit seiner Schulter würde es schwieriger werden. Kell zerrte und riss, bis er zwei weitere Stoffstreifen vom Bündchen gelöst hatte, und verknotete auch sie. Ihm war nicht ganz klar, wie er sich diese Bandage anlegen konnte. Er wusste nicht einmal, ob er im Rücken eine Ausschusswunde hatte, oder ob die Kugel noch in seiner Schulter steckte. Langsam, linkisch fuhr er mit der Rechten nach hinten, aber seine aufgeweichten Finger spürten nur die glatte Haut. Das bedeutete, die Kugel saß noch im Fleisch. Die Wunde lag hoch auf der Schulter, und es schien fast unmöglich, sie mit dem vorhandenen Material zu verbinden.

Selbst zusammengeknotet würden die beiden Stoffstreifen nicht ausreichen. Erneut fing er an, an dem Gewebe herumzukauen, und riss zwei weitere Fetzen ab, die er mit den ersten beiden verknotete. Es glückte ihm, den Streifen über den Rücken zu legen, ihn unter der Achsel durchzuziehen und ihn fest auf der Schulter zu verknoten. Dann ballte er die Reste seiner Shorts zusammen und schob sie unter der Schlinge über seine Wunde.

Nachdem Kell sich diese unbeholfene Bandage angelegt hatte, war ihm schwindlig, und er fühlte sich grenzenlos ermattet. Doch er ließ sich nicht unterkriegen und zwang sich, gen Himmel auf die Sterne zu starren, um sich etwas zu orientieren. Er würde nicht aufgeben. Er konnte sich treiben lassen und kurze Zeit hindurch auch etwas schwimmen. Er würde lange brauchen, und falls ihn in der Zwischenzeit kein Hai anfallen sollte, dann würde er auch die Küste erreichen. Er legte sich auf den Rücken und ruhte sich einige Minuten lang aus, ehe er die langsame, qualvolle Strecke gen Land zurückzulegen begann.

Selbst für Mitte Juli war es eine heiße Nacht in Florida. Rachel Jones hatte ihre Gewohnheiten ganz dem Klima angepasst. Sie erledigte ihre Aufgaben ohne Hast entweder früh am Morgen oder verschob sie auf den Spätnachmittag. Sie war bei Sonnenaufgang aufgestanden, hatte in ihrem kleinen Gemüsegarten Unkraut gejätet, die Gänse gefüttert und ihr Auto gewaschen. Als die Temperatur über dreißig Grad stieg, war sie ins Haus gegangen und hatte einen Arm voll getragener Sachen in die Waschmaschine gesteckt. Anschließend hatte sie einige Stunden darauf verwendet, sich auf den Journalistikkurs vorzubereiten, den sie zugestimmt hatte, abends mit Beginn des Herbstsemesters in Gainesville zu halten.

Trotz der Hitze fühlte Rachel sich hier drinnen wohl. Der Ventilator summte beruhigend über ihrem Kopf, sie hatte sich das Haar hochgesteckt und trug nur eine weite, weiße Bluse und ein paar alte Shorts. Neben ihrem Arm stand stets griffbereit ein Glas Eistee, aus dem sie während ihrer Lektüre immer wieder einen Schluck trank.

Die Gänse schnatterten friedlich, während sie von einer Grasfläche zur nächsten watschelten, allen voran Ebenezer Duck, ihr streitsüchtiger alter Anführer. Einmal gab es kurz einen Aufstand, als Ebenezer und Rex, der Hund, darüber in Streit gerieten, wer ein Anrecht auf den Flecken kühlen Grases unter dem Oleandergebüsch besaß. Rachel ging zur Fliegentür und rief ihre wild lärmenden Haustiere zur Ordnung. Das war auch das aufregendste Ereignis des ganzen Tages. Im Sommer verlebte sie die meisten ihrer Tage auf diese Weise. Im Herbst, wenn die Touristensaison begann und Rachels zwei Andenkenläden auf Treasure Island und in Tarpon Springs viel zu tun hatten, wurde alles lebhafter.

Der Journalistikkurs würde ihre Zeit noch mehr als üblich ausfüllen, und deshalb entspannte sie sich jetzt während der Sommermonate. Sie arbeitete mit Unterbrechungen an ihrem dritten Buch und hatte keine große Eile, es zu beenden, da ihr Abgabetermin erst zu Weihnachten und sie ihrem Zeitplan schon um etliches voraus war. Man konnte sich leicht in Rachels Energie täuschen. Sie erreichte sehr viel, ohne dabei gehetzt zu wirken.

Hier war sie daheim, tief mit der sandigen Erde verwurzelt. Das Haus, in dem sie lebte, hatte einst ihrem Großvater gehört, und das Land war seit hundertundfünfzig Jahren im Besitz der Familie.

Bei ihrem Einzug hatte Rachel das Innere neu gestalten lassen, und dennoch vermittelte ihr dieser Ort noch immer das Gefühl des Dauerhaften. Sie kannte das Haus und die umliegende Gegend so gut wie ihr eigenes Gesicht. Vielleicht sogar noch besser, denn Rachel gehörte nicht zu den Menschen, die sich dauernd im Spiegel bewunderten. Das hohe Kieferndickicht vor dem Haus war ihr ebenso vertraut wie die gewellten Wiesen dahinter. Durch die Kiefern schlängelte sich ein Pfad hinunter zum Strand, über den die Wellen des Golfes ausrollten.

Der Strand war nicht für den Tourismus erschlossen, zum Teil der ungewöhnlichen rauen Küste wegen und teilweise deshalb, weil er seit Generationen im Besitz von Leuten war, die es ablehnten, vor ihrer Nase Apartmenthäuser und Motels aus dem Boden schießen zu sehen. In dieser Gegend widmete man sich vor allem der Viehzucht. Rachels Besitz wurde fast ganz von einer riesigen Ranch umschlossen, die John Rafferty gehörte, und auch Rafferty widerstrebte es, ebenso wie ihr selbst, das kleinste Stückchen Land als Baugrundstück zu verkaufen.

Der Strand war Rachels Lieblingsort. Dort konnte sie spazierengehen, nachdenken und sich bei der unaufhörlich und endlos hereindonnernden Brandung entspannen. Man nannte diesen Ort die „Diamantenbucht“, weil das Licht sich auf eine besondere Art in den über die unter Wasser liegenden Felsen hinwegtosenden Wellen brach, die sich vor dem Eingang der kleinen Bucht befanden. Das Wasser sprühte und glitzerte wie Tausende von Diamanten, bis es über den Sand ausrollte. Ihr Großvater hatte ihr in der Diamantenbucht das Schwimmen beigebracht. Manchmal kam es Rachel vor, als hätte ihr Leben in diesen türkisfarbenen Fluten begonnen.

Mit Sicherheit war die Bucht Mittelpunkt ihrer goldenen Kinderzeit gewesen, als ein Besuch bei ihrem Großvater das Schönste war, was Rachel sich vorstellen konnte. Als sie zwölf Jahre alt war, starb ihre Mutter, und die Bucht wurde zu ihrem ständigen Zuhause. Der Ozean hatte etwas an sich, das ihren Schmerz linderte und ihn für sie leichter zu ertragen machte. Außerdem war ihr Großvater bei ihr, und selbst jetzt brachte der Gedanke an ihn Rachel zum Lächeln. Welch wunderbarer alter Mann er doch gewesen war! Nie war er zu beschäftigt oder zu verlegen, um die gelegentlich unmöglichen Fragen eines heranwachsenden Mädchens zu beantworten. Er hatte ihr alle Freiheit gelassen, sich selbstständig zu entfalten, ohne dass sie dabei den gesunden Menschenverstand verlor.

Er starb in ihrem letzten Collegejahr, doch auch noch im Sterben bewahrte er die ihm eigene Haltung. Er war müde, krank und akzeptierte seinen Tod mit solcher Gelassenheit und Geduld, dass Rachel bei seinem Hinscheiden selbst noch Frieden empfand. Sicher, sie hatte getrauert, aber ihr Schmerz war durch das Wissen erleichtert worden, ihr Großvater habe seinen Tod herbeigesehnt.

Dann hatte das alte Haus leergestanden, solange Rachel ihre Karriere als Kriminalreporterin in Miami verfolgte. Sie hatte Bobby Bill Jones kennengelernt und ihn geheiratet, und ihr Leben war schön gewesen. Bobby Bill war mehr als nur ihr Ehemann, er war ein guter Freund gewesen, und sie hatten geglaubt, die ganze Welt läge ihnen zu Füßen. Dann hatte Bobbys grausamer Tod diesem Traum ein abruptes Ende bereitet und Rachel im Alter von fünfundzwanzig Jahren zur Witwe gemacht. Sie gab ihre Stellung auf und kehrte hierher in die Bucht zurück.

Erneut fand sie ihren Trost in der Gegenwart des endlosen Meeres. Ihr Gefühlsleben hatte einen großen Einbruch erlitten, aber die Zeit und das friedvolle Leben heilten ihre Wunden. Trotzdem verspürte sie nicht mehr den Drang, wieder in ihr altes, hektisches Leben zurückzukehren. Hier war ihr Heim, und sie war glücklich bei dem, was sie jetzt machte. Die beiden Souveniergeschäfte ermöglichten ihr ein angenehmes Leben, und sie verbesserte ihr Einkommen durch gelegentliche, von ihr verfasste Artikel und ihre Abenteuerromane, die so überraschend erfolgreich geworden waren.

Dieser Sommer war fast wie all die anderen Sommer, die sie je in der Diamantenbucht verlebt hatte, nur war er viel heißer. Die Hitze und die Feuchtigkeit erstickten einen fast, und an manchen Tagen stand ihr nach nichts Anstrengenderem der Sinn, als sich in die Hängematte zu legen und Kühlung zuzufächeln. Sobald die Sonne untergegangen war, wurde es etwas erträglicher, doch auch das war eine relative Angelegenheit. Nachts wehte eine leichte Brise vom Golf her, die ihr die erhitzte Haut kühlte, aber es war doch viel zu heiß zum Schlafen.

Rachel hatte bereits kalt geduscht und sich jetzt in die Hollywood-Schaukel auf der vorderen Veranda gesetzt. Ab und zu gab sie ihr mit einem trägen Schubs wieder neuen Schwung. Das Quietschen der Ketten mischte sich in das Zirpen der Grillen und das Gequake der Frösche. Rex lag dösend und gefangen in seinen Hundeträumen vor der Fliegentür auf der Veranda.

Rachel schloss die Augen. Sie genoss die frische Brise auf ihrem Gesicht und überlegte, was sie am nächsten Tag tun sollte. Es würde mehr oder weniger dasselbe wie heute oder wie gestern sein, doch sie hatte nichts gegen die Wiederholung einzuwenden. Die Aufregungen der früheren Zeiten hatten ihr gefallen, aber jetzt behagte ihr der Frieden ihres gegenwärtigen Lebens ebenso.

Obwohl sie nur Shorts und eine weite Bluse trug, deren lange Ärmel sie hochgerollt und von der sie die drei obersten Knöpfe des Ausschnitts geöffnet hatte, fühlte sie doch, wie sich kleine Schweißperlen zwischen ihren Brüsten bildeten. Die Hitze machte sie ruhelos, und schließlich sprang sie auf. „Ich gehe spazieren“, erklärte sie ihrem Hund. Er zuckte zwar mit einem Ohr, aber seine Augen blieben geschlossen.

Eigentlich hatte Rachel nicht damit gerechnet, dass er mit ihr kommen würde. Rex war kein sehr anhängliches Tier, nicht einmal bei ihr. Er war unabhängig und ungesellig und wich zähnefletschend und mit aufgestellten Haaren vor einer ausgestreckten Hand zurück. Rachel war überzeugt, dass er, bevor er vor einigen Jahren auf ihrem Hof aufgetaucht war, misshandelt wurde.

Mittlerweile hatten sie eine Art Waffenstillstand geschlossen. Sie fütterte Rex, und er nahm seine Pflichten als Wachhund wahr. Noch immer ließ er sich nicht von ihr streicheln, doch kaum näherte sich ein Fremder, war er sofort an ihrer Seite und starrte den Eindringling finster an, bis er selbst fand, es bestehe keine Gefahr, oder der Fremdling es vorgezogen hatte zu verschwinden. Arbeitete Rachel in ihrem Garten, war Rex für gewöhnlich dicht in ihrer Nähe. Ihre Partnerschaft fußte auf gegenseitigem Respekt, und beide waren zufrieden.

Rex hat wirklich ein leichtes Leben, dachte Rachel, während sie den Hof überquerte und den Pfad einschlug, der sich durch die hohen Kiefern zum Strand hinunterwand. Er musste nicht oft auf sie aufpassen, da nur wenige Besucher zu ihr kamen, den Briefträger ausgenommen. Ihr Haus lag am toten Ende einer nicht asphaltierten Straße, die durch den Raffertyschen Besitz schnitt, und andere Häuser gab es nicht. John Rafferty war ihr einziger Nachbar, aber es lag ihm nicht, andauernd auf ein Schwätzchen zu ihr zu kommen.

Manchmal kam Honey Mayfield, die ortsansässige Tierärztin, nach einem Besuch auf der Rafferty-Ranch bei ihr vorbei. Sie hatten sich beide recht gut angefreundet. Von ihr abgesehen war Rachel so gut wie für sich allein und fühlte sich deshalb ganz wohl, nachts nur so leicht bekleidet in der Gegend herumzustrolchen.

Der Weg wand sich leicht abschüssig durch das Kieferndickicht. Die Sterne standen klar und deutlich am Himmel. Da Rachel diesen Pfad schon seit ihrer Kindheit kannte, verzichtete sie auf eine Taschenlampe. Selbst unter den Bäumen konnte sie noch so gut sehen, um voranzukommen. Der Strand lag eine Viertelmeile von ihrem Haus entfernt, nicht weiter als einen bequemen Spaziergang. Sie schlenderte gern nachts am Strand entlang. Sie bevorzugte diese Stunde, um der Gewalt des Meeres zu lauschen und den bis auf ihre matten Schaumkronen schwarzen Wellen zuzusehen.

Außerdem war es gerade Ebbe, und Rachel hatte es lieber so. Denn bei Ebbe enthüllte das zurückflutende Wasser die Schätze, die es wie Liebesgaben an den Strand schwemmte. So hatte Rachel schon viele Fundstücke geborgen und hörte nie auf, sich an den Kostbarkeiten zu erfreuen, die die türkisfarbenen Wogen des Golfes ihr zu Füßen spülten.

Es war eine wunderschöne, mondlose Nacht ohne Wolken. Die Sterne funkelten noch strahlender, als Rachel sie seit Jahren gesehen hatte, und ihr Licht brach sich auf den Wellen und funkelte wie zahllose Diamanten.

Diamantenbucht … Der Name traf wirklich zu. Der Strand war schmal und uneben, an seinen Rändern wuchs Seegras, und die Mündung der Bucht war von zerklüfteten Felsen umgeben, die besonders bei Ebbe sehr gefährlich waren. Doch trotz aller Unzulänglichkeiten vermittelte die Bucht mit ihrer Mischung aus Licht und Wasser einen ganz eigenen Reiz. Rachel konnte stundenlang dastehen, gebannt von der Macht und Herrlichkeit des Meeres, und dem glitzernden Nass zuschauen.

Der grobe Sand kühlte ihr die nackten Füße, und sie wühlte ihre Zehen tiefer hinein. Der Wind frischte plötzlich etwas auf und blies ihr das Haar aus dem Gesicht. Rachel atmete die klare Salzluft tief ein. Sie war mit dem Meer allein.

Der Wind drehte sich, umspielte sie und blies ihr die Haare in das Gesicht. Rachel hob die Hand, um sich eine Strähne aus den Augen zu wischen, und hielt mit leicht gerunzelten Brauen mitten in der Bewegung inne, während sie auf das Wasser starrte.

Sie hätte schwören können, dort etwas gesehen zu haben. Einen Moment lang war eine Bewegung zu erkennen gewesen, doch jetzt nahm ihr angestrengter Blick nichts anderes als das rhythmische Auf und Ab der Wellen wahr. Vielleicht hatte es sich nur um einen Fisch oder ein großes Stück Treibholz gehandelt. Da sie ein wirklich gutes Stück für ein Blumengesteck zu finden hoffte, ging sie bis zum Rand des Wassers vor und hielt sich die Haare zurück, damit sie besser sehen konnte.

Da war es wieder! Etwas hüpfte auf der Wasseroberfläche! Sie machte einen eifrigen Schritt nach vorn und bekam in der schaumigen Brandung nasse Füße. Dann bewegte sich das dunkle Objekt wieder und nahm eine eigenartige Form an. Im Schein des silbrigen Sternenhimmels sah es fast wie ein Arm aus, der matt nach vorn ausgriff, wie bei einem erschöpften Schwimmer, der das Letzte aus sich herausholte. Es war ein kräftiger Arm, und die dunkle Masse daneben konnte gut ein Kopf sein.

In plötzlicher Erkenntnis fuhr Rachel wie elektrisiert zusammen. Ehe sie es recht begriff, war sie auch schon im Wasser und kämpfte sich gegen die Wellen auf den um sich schlagenden Mann zu. Das Wasser hinderte sie voranzukommen. Immer wieder rissen die Wellen sie mit unglaublicher Kraft um, da die Flut gerade einzusetzen begann.

Rachel verlor den Mann aus den Augen. Sie gab einen erstickten Schrei von sich. Entschlossen bahnte sie sich ihren Weg nach vorn. Mittlerweile stand ihr das Wasser bis zur Brust und die Wogen schlugen ihr ins Gesicht. Wo war der Mann? In der schwarzen Nässe war kein Anzeichen von ihm zu entdecken. Sie kam an der Stelle an, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, aber ihre wild suchenden Hände fanden nichts.

Die Brandung würde ihn an den Strand spülen. Rachel drehte sich um und stolperte ans Ufer zurück. Wieder sah sie den Körper eine Sekunde lang, ehe sein Kopf erneut unter Wasser verschwand. Mit kräftigen Stößen schwamm sie auf ihn zu, und zwei Sekunden später ergriff ihre Hand dichtes Haar. Mit aller Kraft riss sie den Kopf über Wasser, aber der Mann war schlapp und hatte die Augen geschlossen.

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