1. KAPITEL
Draußen wütete der Sturm. Hinter Lincoln Blaise flackerte das Flurlicht, sodass er einen breiten Schatten auf die Postkästen vor ihm warf. Aber das war egal. Er wusste sowieso auswendig, was auf dem Schild an der Box unter seiner stand:
Daisy Flattery
Apartment 1 B
Geschichtenerzählerin, Märchenmalerin
Unwirklich, aber nicht unwahr
Mit finsterem Blick betrachtete er das Schild. Er war davon überzeugt, dass es in diesem herrschaftlichen Haus, das er mit drei anderen Mietparteien teilte, nichts zu suchen hatte. Deswegen hatte er das Apartment überhaupt angemietet: Es strahlte eine gewisse Würde aus. Linc mochte Ehrwürdigkeit ebenso sehr wie Kontrolle und Ruhe. Er hatte lange gebraucht, bis er diese drei Dinge in seinem Leben und seiner Wohnung gefunden hatte. Und dann hatte er seine Nachbarin kennengelernt.
Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, als ihm einfiel, unter welchen Umständen er die leibhaftige Daisy Flattery das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte. Wie sie ihn praktisch angefaucht hatte, als er eine Katze von seinem Porsche verscheucht hatte. Die Haare hatten ihr buchstäblich zu Berge gestanden. Und auch spätere Begegnungen hatten den ersten Eindruck nicht verbessert, und die Erinnerung daran verdarb ihm die Laune noch mehr. Sie trug lange Kleider in kreischenden Farben. Und weil sie groß war, waren die Kleider sehr lang. Immer sah sie ihn finster an, die dichten Augenbrauen unter dem albernen blauen Samthut zusammengezogen, den sie sich sogar im Sommer bis über beide Ohren hinabzerrte. Sie sah aus wie jemand aus Unsere kleine Farm – allerdings auf Speed. Für gewöhnlich bemühte er sich daher, sie zu ignorieren.
Er starrte auf das Briefkastenschild, das in diesem apokalyptischen Unwetter passenderweise hell aufleuchtete. Möglicherweise würde er sie jetzt kennenlernen müssen. Und er war verflucht noch mal selbst daran schuld.
Bei dem Gedanken bekam er Kopfschmerzen. Also stopfte er die Post in die Jackentasche und stieg die Treppe hoch, zu seiner Wohnung und seinen Kopfschmerztabletten.
Ein Stockwerk tiefer runzelte auch Daisy Flattery die Stirn. Sie neigte den Kopf zur Seite und versuchte, das Geräusch einzuordnen, das sie eben gehört hatte. Etwas zwischen einer quietschenden Tür und einer kreischenden Katze. Mit einem raschen Blick überprüfte sie, ob Liz sich regte. Aber wie immer lag sie wie ein samtiges schwarzes Fellknäuel ausgestreckt auf dem Beistelltisch, den Daisy zwei Straßen weiter aus einem Sperrmüllberg gerettet hatte. Die Katze aalte sich im warmen Schein der gesprungenen Kristalllampe, die Daisy auf dem Flohmarkt entdeckt und für einen Dollar erstanden hatte. Zu dritt bildeten sie eine bezaubernde Kombination aus Licht, Struktur und Farbe: warmer Lampenschein, seidiges Fell und glattes Holz. Unfassbar, dass irgendwelche Dummköpfe diese drei Dinge weggeworfen hatten. Manchmal konnte Daisy über die Blindheit der Leute nur staunen.
„Hallo?“ Die zierliche Blondine auf der anderen Seite des angeschlagenen Eichentischs winkte. „Jemand da? Du ziehst gerade ein ziemlich dämliches Gesicht.“
„Ich dachte, ich hätte etwas gehört“, erklärte Daisy ihrer besten Freundin. „Egal. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja: Ich bin pleite.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nichts Neues.“
„Na ja, aber es bedrückt dich. Das ist neu.“ Mit ihren manikürten Fingern nahm Julia sich ein Zuckerplätzchen vom Teller vor ihr und schubste den Rest nur knapp an der Bleiglaslampe vorbei zu Daisy hinüber. Die Lampe war noch so ein Fund: Sie bestand aus blauen, grünen und gelben Tiffany-Glasscheiben, von denen eine zerbrochen war, sodass Daisy sie sich gerade eben hatte leisten können.
Für Daisy war die Bruchstelle der Trumpf: Durch den Makel hatte die Lampe eine Vergangenheit, eine Geschichte. Sie war real. Ungefähr so wie meine Hände, dachte sie, während sie ihre mit Julias verglich. Rau, voller Farbkleckse, kein Fingernagel war gleich lang. Interessant. Real.
Wie immer war Julia weder an den Farben noch an den Formen um sich herum etwas aufgefallen, und sie war auf Reden gepolt. „Außerdem bist du diejenige, die das Futter für die alte Katzendame bezahlen muss. So gut sollte ich mal essen.“
„Genau.“ Daisy rümpfte die Nase. Sie hasste es, über Geld nachzudenken – was vermutlich der Grund war, warum sie in den letzten vier Jahren nie viel davon gehabt hatte. „Vielleicht war es doch keine so gute Idee, den Job als Lehrerin aufzugeben.“
Julia richtete sich so abrupt auf, dass Liz ein Auge öffnete. „Soll das ein Witz sein? Das hier ist neu. Du und Selbstzweifel, ich kann’s kaum glauben.“ Sie beugte sich über den Tisch, um Daisy in die Augen zu sehen. „Komm klar. Koch einen guten Tee zu den Keksen. Erzähl mir eine Geschichte. Mach irgendwas Komisches oder Unpraktisches, damit ich weiß, dass du Daisy Flattery bist!“
„Sehr lustig.“ Daisy schob ihren Stuhl zurück und machte sich auf die Suche nach den Teebeuteln und ihrem verbeulten Kupferkessel. Mit einiger Sicherheit befanden sich die Teebeutel in einer der Dosen auf dem Regal, aber der Kessel konnte sonst wo sein. Also öffnete sie den untersten Schrank und begann, die Pfannen, Bücher und Malpinsel zu durchsuchen, die beim Aufräumen irgendwie dort gelandet waren.
„Das ist mein Ernst“, beharrte Julia, die ihr zur Spüle folgte. „Ich kenne dich jetzt seit zwölf Jahren. Und das ist das erste Mal, dass ich von dir höre, du könntest etwas nicht.“
Dieser Gedanke machte Daisy so wütend, dass sie zu schnell wieder aus dem Schrank herauskam und sich übel den Kopf stieß. „Aua.“ Durch die dichten Locken hindurch rieb sie sich den Hinterkopf. „Ich sage nicht, dass ich es als Künstlerin nicht schaffen kann.“ Wieder steckte Daisy den Kopf zurück in den Schrank, wo sie die Keksbleche so lange herumschob, bis sie den Kessel fand und ihn herauszerren konnte. „Ich glaube an mich. Vielleicht war ich nur ein bisschen zu schnell.“ Damit stand sie auf und ließ den Kessel unter dem Wasserhahn volllaufen.
„Aber sonst bist du doch auch nie langsam.“ Einen nach dem anderen nahm Julia die Behälter vom Regal, bis sie endlich den Tee in einer eckigen braun-silbernen Dose fand. „Warum tust du den Tee in die Dose, auf der ‚Kakao‘ steht? Egal. Constant Comment oder Earl Grey?“
„Earl Grey.“ Daisy stellte den Kessel auf den Herd. „Das ist ein ernster Moment, und dafür brauche ich einen ernsten Tee.“
„Darum nehme ich Constant Comment.“ Mit ihren langen Fingern stocherte Julia in der Büchse herum und fischte zwei Teebeutel heraus. „Bei mir gibt es keine ernsten Momente.“
„Dann tu einfach so, als hättest du einen – für mich.“ Voller Neid auf Julias Optimismus stieß Daisy einen Seufzer aus. Natürlich hatte Julia nicht ihren sicheren und soliden Job als Lehrerin an den Nagel gehängt, um Malerin zu werden. Außerdem hatte sie in den letzten vier Jahren nicht von ihren Ersparnissen gelebt, bis nichts mehr davon übrig war. In Daisys Kopf hämmerte es. „Julia, ich glaube, ich kann das nicht mehr. Ich habe es satt, für jede Rechnung meine letzten Cents zusammenzukratzen. Ich habe es satt, meine Bilder an Leute zu verkaufen, die sie nicht verstehen. Und ich habe es satt …“ Sie biss sich auf die Lippe. „Ich habe es so satt, mir ständig Sorgen zu machen.“ Denn dort lag der Hase im Pfeffer: Die Unsicherheit hatte sie zermürbt. Immer an der Grenze zur Armut entlangzuschrammen höhlte einen aus wie steter Wassertropfen den Stein.
„Was willst du also tun?“, fragte Julia. Aber irgendwo war da wieder dieses Geräusch, halb Kreischen, halb Miauen. Statt zu antworten, horchte Daisy konzentriert.
„Ich schwöre, da hat eine Katze geschrien“, sagte sie zu Julia. „Horch mal! Hörst du etwas?“
Julia hielt kurz inne, dann schüttelte sie den Kopf. „Mm-mh. Das Wasser kocht gleich. Vielleicht war es das.“
Während Daisy den Kessel vom Herd nahm, holte Julia zwei Paar zusammengewürfelte Tassen und Untersetzer aus dem Schrank. Ihren Beutel Constant Comment hängte sie in den Peggy-Becher, und Daisys Earl Grey in die leuchtend orangefarbene Tontasse. Daisy goss das heiße Wasser über die Beutel. „Hübsch“, sagte sie, als das Getränk sich langsam verfärbte.
„Vergiss den hübschen Tee.“ Julia ging mit ihrer Tasse zurück zum Tisch. „Du steckst in einer Krise. Du bist pleite und kannst deine Bilder nicht verkaufen. Wie läuft es mit dem Geschichtenerzählen?“
„Budgetkürzungen.“ Daisy setzte sich mit ihrem Teeset ihr gegenüber. „Die meisten Bibliotheken können sich mich nicht leisten. Die Buchläden haben es schwer, und die Schulen kannst du komplett vergessen. Alle sagen, ich wäre sehr beliebt und sie würden so bald wie möglich auf mich zurückkommen, aber bis dahin habe ich Pech.“
„Okay.“ Beim Nachdenken zog Julia die Nase kraus. „Womit hast du sonst noch Geld verdient? Oh, der Schmuck. Was ist mit dem Schmuck?“
Vor Schuldgefühlen zuckte Daisy zusammen. „Der verkauft sich, aber Howard gibt mir das Geld erst zum Monatsende. Und was er mir noch vom letzten Monat schuldet, hält er zurück. Es ist nicht allzu viel, aber es würde schon helfen.“ Sie wusste, dass sie hingehen und das Geld einfordern sollte. Doch der Gedanke an Howard und daran, wie er sie verhöhnen würde, war wenig verlockend. Er ähnelte ihrem Vater so sehr, dass ihr jede Begegnung mit Howard vorkam wie alle beim Vater verbrachten Sommer, komprimiert in zwei Minuten.
Julia runzelte die Stirn. „Wie viel brauchst du? Um dich über Wasser zu halten, meine ich.“
„Um die tausend“, antwortete Daisy seufzend. „Die Miete vom letzten Monat, die Miete von diesem und die laufenden Kosten. Damit würde ich hinkommen, bis Howard mich bezahlt, und dann ergibt sich vielleicht irgendetwas Neues.“ Das hörte sich ziemlich kläglich an, also holte sie tief Luft und begann erneut. „Die Sache ist, dass ich damals meinen Beruf aufgegeben habe, um zu malen. Aber jetzt verschwende ich die meiste Zeit damit, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, anstatt mich aufs Malen zu konzentrieren. Ich dachte, bis jetzt hätte ich längst eine Ausstellung, aber keiner versteht, was ich mache. Und obwohl ich beinahe genug Bilder dafür zusammenhätte, bin ich unsicher, ob sie überhaupt das Richtige für mich sind.“
Julia nippte an ihrem Tee. „Autsch, heiß. Du musst erst pusten. Was soll das heißen, du weiß nicht, ob sie das Richtige für dich sind? Ich liebe deine Bilder mit den vielen Details!“
„Genau das meine ich.“ Um sich näher zu ihrer Freundin hinüberbeugen zu können, schob Daisy ihren Tee beiseite. „Mir gefallen die Details ja auch, aber ich bin durch damit. Ich finde, ich sollte mich mehr anstrengen und Dinge versuchen, die schwieriger für mich sind. Aber das kann ich mir nicht leisten. Im Moment bin ich für meine naiven Bilder bekannt, da kann ich nicht plötzlich zur abstrakten Expressionistin werden.“
Erschreckt verzog Julia das Gesicht. „Das willst du also?“
„Nein.“ Bei dem Versuch, sich die Bilder vorzustellen, die sie malen wollte, schloss Daisy die Augen. Es waren Gemälde, bei denen die Emotionen nicht in den winzigen gezeichneten Einzelteilen, sondern direkt im Pinselzug steckten. Werke aus dicken Farbstrichen anstelle von kleinen bunten Punkten. „Meine Malerei muss größer werden. Ich muss …“
Wieder war da der lang gezogene Schrei, der sie vorhin schon aufgeschreckt hatte, nur diesmal lauter. „Das ist definitiv eine Katze.“ Eilig lief Daisy zum Fenster, um es zu öffnen.
Sofort fegte der Wind ins Zimmer und brachte noch mehr Chaos als üblich in Daisys Wohnung. Liz kam auf die Pfoten und miaute entrüstet, aber Daisy ignorierte sie und lehnte sich hinaus in den Sturm.
Aus dem Gebüsch unter ihrem Fenster starrten zwei helle Augen zu ihr hoch.
„Bleib, wo du bist!“, befahl sie und sauste zur Wohnungstür.
„Daisy?“, rief Julia hinter ihr her. Aber die hatte schon die Tür hinter sich zuknallen lassen und rannte in den Regen hinaus. Was auch immer sie eben gesehen hatte, war verschwunden. Also krabbelte Daisy auf Händen und Knien durch den Schlamm, um unter den Busch zu spähen.
Ein Kätzchen linste zu ihr zurück, durchnässt, verdreckt und alles andere als erfreut, sie zu sehen. Daisy streckte die Hand nach ihm aus und wurde mit einem Kratzer für ihre Mühe belohnt. „Ich rette dich doch, du Dummchen“, erklärte sie ihm, während es sich zappelnd dagegen wehrte, von ihr aus dem Busch gezogen zu werden. „Hör auf, dich zu sträuben.“
Sobald sie wieder drinnen war, wickelte sie den patschnassen kleinen Körper in ein Geschirrtuch. Julia und Liz beäugten ihn mit ähnlichem Abscheu.
„Es sieht aus wie eine Ratte“, stellte Julia fest. „Ich fasse es nicht. Du hast eine Ratte gerettet.“
Liz fauchte, und als Daisy das Kätzchen trocken rieb, fauchte es auch.
„Es ist eine Glückskatze.“ Daisy kniete sich hin, um sich mit dem handtuchumwickelten Tier auf dem Tisch auf Augenhöhe zu bringen. „Du bist in Sicherheit.“
Das fleckige Katzenbaby blitzte sie an und miaute so kreischend, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel schrammen.
„Das ist genau, was du gebraucht hast. Noch ein Maul, das du stopfen musst“, tadelte Julia ihre Freundin. Das Kätzchen fauchte nun auch sie an. „Und was für eins.“ Mitfühlend blickte sie auf Liz. „Ich kann dich verstehen, wenn du bei mir leben willst“, erklärte sie der Katze. „Ich weiß ja, dass du offiziell tot bist, aber sogar du musst bei einer Ratte als Mitbewohnerin eine Grenze ziehen.“
Ein letztes Mal funkelte Liz das Katzenbaby an, dann rollte sie sich unter der Lampe zusammen und schlief wieder ein.
„Ein Katzenjunges frisst nicht so viel“, widersprach Daisy und ging zur Küche, um Futter zu holen. Auf dem Regal über dem Herd, hinter der Ausgabe von „Grimms Märchen“, einem Glas krapproter Acrylfarbe und dem Zimt fand sie eine Thunfischdose. Über die Schulter rief sie Julia zu: „Willst du auch Thunfisch?“
„Nein. Eigentlich wollte ich nur die Kekse vorbeibringen, aber dann hast du mich abgelenkt.“ Julia und das Kätzchen beäugten sich mit ähnlich großem Widerwillen. „Weißt du, das ist eine ziemlich unglückliche Ratte.“
„Hör auf, Julia!“ Daisy kippte den Doseninhalt auf einen Porzellanteller mit Veilchenmuster. Ein Drittel des Thunfischs schaufelte sie in ein halbes Fladenbrot. Den Rest verteilte sie zwischen Liz’ rotem Katzenschälchen und einer gelben Tonuntertasse. Auf dem Weg zurück zu dem runden Eichentisch ließ sie eine der Mahlzeiten vor Liz’ Nase plumpsen. Vor lauter Begeisterung über den Fisch setzte Liz sich sogar auf. Das zweite Schälchen schob Daisy vor die kleine Katze. Um den Kontrast zwischen den blauen Veilchen auf ihrem Teller neben der gelben Tonuntertasse zu bewundern, blieb sie stehen. Farbe und Kontrast, dachte sie. Clash. Das ist das Leben.
„Daisy“, begann Julia. „Ich weiß, dass du ausflippst, wenn ich das sage. Aber ich kann dir tausend Dollar leihen. Ich möchte dir tausend Dollar leihen. Bitte.“
Empört drehte Daisy sich zu ihrer Freundin um, die im Schein der Tiffanylampe neben dem Tisch stand. Julia sah zerbrechlich aus, zaghaft und mitfühlend, und Daisy liebte sie für ihr Angebot – aber genauso wütend machte es sie auch. „Nein. Ich schaffe das allein.“
Julia biss sich auf die Lippe. „Dann lass mich eins von deinen Werken kaufen. Du weißt, wie sehr ich das Lizzie-Borden-Bild mag. Lass mich …“
„Julia, du hast schon drei Gemälde von mir.“ Daisy wandte sich wieder der Katze zu. „Das sind genug Almosen.“
„Das ist kein Almosen“, beharrte Julia eindringlich. „Die Bilder habe ich gekauft, weil ich mich in sie verliebt habe. Und ich …“
„Nein.“ Bestimmt nahm Daisy den Teller mit ihrem Fladenbrot. „Willst du auch Thunfisch? Ich kann es halbieren.“
„Nein.“ Julia seufzte. „Nein, ich muss noch ein paar Klassenarbeiten korrigieren“, sagte sie, schob ihren Stuhl an den Tisch und blickte Daisy teilnahmsvoll an. „Du weißt, dass du auf meine Hilfe zählen kannst, falls du sie jemals brauchst.“
„Danke.“ Bemüht, sich auf das Katzenbaby statt auf Julias Angebot zu konzentrieren, setzte Daisy sich an den Tisch. „Wenn dir einfällt, wie man ohne großen Aufwand tausend Dollar verdienen kann, sag mir Bescheid.“
Julia nickte. „Ich versuche, dran zu denken.“ Wieder kreischte das Kätzchen, und Julia trat den Rückzug zur Tür an. „Bring dem Viech bei, den Mund zu halten, ja? Wenn Guthrie mitkriegt, dass du in seiner Wohnung ein Haustier hältst, findet er das bestimmt nicht lustig. Liz kommt nur damit durch, weil sie zu neunundachtzig Prozent eine Zimmerpflanze ist.“
Als Julia gegangen war, kniete Daisy sich vor den Tisch, um dem Katzenjungen in die Augen zu sehen. „Hör zu. Wir haben uns zwar gerade erst kennengelernt“, begann sie, „aber du kannst mir glauben, du musst essen. Ich weiß, du hattest eine schwere Kindheit, aber die hatte ich auch, und ich esse trotzdem. Außerdem bist du jetzt eine Flattery-Katze. Und wir Flatterys geben nie auf. Friss den Thunfisch, und du kannst bleiben.“
Daisy nahm ein winziges Stückchen Fisch und hielt es dem Kätzchen unter die Nase. Die Kleine leckte daran, dann nahm sie es vorsichtig ins Maul.
„Siehst du?“ Sanft kraulte Daisy das Tier hinter den Ohren. „Armes Baby. Du bist eine Sturmwaise, wie die kleine Waise Annie. Aber jetzt gehörst du zu mir.“
Die kleine Waise Annie kämpfte sich weiter aus dem Handtuch hervor und begann erst langsam, dann voller Heißhunger zu fressen. Während Daisy das Katzenjunge beobachtete, strich sie sich ihr widerspenstiges Haar hinter die Ohren. Dann biss sie in ihr Fladenbrot.
„Du musst hier in Deckung bleiben“, erklärte sie dem Kätzchen. „Ich darf keine Haustiere haben, also müssen wir dich vor dem Vermieter verstecken. Und vor dem Typ von oben: großer, dunkelhaariger Anzugträger. Komplett spaßfreie Zone. Hat ständig bebende Nasenlöcher. Den kannst du gar nicht übersehen. Einmal hat er Liz getreten. Er sieht aus, als würde er kleine Katzen wie dich zum Frühstück verspeisen.“
Nachdem es den Fisch verputzt hatte, schleckte das Junge sich über den Bauch. Das Fell war schon etwas getrocknet, stand aber immer noch in alle Richtungen ab.
„Vielleicht bist du ein Omen.“ Zärtlich streichelte sie das Kätzchen, das sich nun daranmachte, den Teller blank zu putzen. „Vielleicht wird alles besser. Vielleicht …“
Wieder begann sie, sich selbst diese Geschichte zu erzählen: das Märchen von ihrem neuen Leben, das sie sich seit vier Jahren aufbaute. Um ihren Traum zu verwirklichen, hatte sie alle Sicherheiten aufgegeben. Da war es ganz normal, dass man erst ein paar schwere Jahre durchstehen musste – vier kam ungefähr hin –, denn ohne Schweiß und Tränen war keine Geschichte eine vernünftige Geschichte. Im nächsten Kapitel würden sich ihre Bilder endlich verkaufen, und vielleicht würde dann auch ihre Karriere als Märchenerzählerin ins Rollen kommen. Ein Prinz wäre auch nicht schlecht. Jemand Großes und Warmherziges, der ihr Gesellschaft leistete. Sieben Monate war es jetzt her, seit Derek ausgezogen war – mit der Stereoanlage, der Arsch –, und so langsam war sie wieder bereit, einem Menschen mit Y-Chromosom zu vertrauen. Sicher nicht, um zu heiraten. Was dieser Teil des Märchens bei Frauen anrichten konnte, hatte sie schon gesehen – am Beispiel ihrer Mutter. Dieser Gedanke deprimierte sie. Aber dann ließ Annie von dem leeren Teller ab und begann, sich das Fell trocken zu schlecken, und diese Tatsache holte Daisy zurück in die Gegenwart.
Vergiss den Prinzen. Märchen waren schön und gut, aber Prinzen waren keine Märchenhelden, sondern schlicht und ergreifend irreal. Das wusste Daisy, seit sie begriffen hatte, dass die Versprechungen ihrer Mutter bezüglich der Heimkehr ihres Vaters ein viel größeres Märchen waren, als die Gebrüder Grimm es sich jemals hätten ausdenken können. Niemand wird jemals für dich da sein, wenn du ihn brauchst. Du wirst allein geboren, und du stirbst allein, sagte Daisy sich. Vergiss das nie. Und jetzt denk nach, wie du aus dem Schlamassel wieder rauskommst.
Annie kuschelte sich ins Handtuch und schlief ein. Liz vertilgte den letzten Rest Thunfisch und fiel in einen komatösen Schlaf. Noch lange saß Daisy ganz still und starrte auf das Muster ihrer Tiffanylampe.
Ein Stockwerk höher rekelte Linc sich auf seinem Sofa aus Chrom und schwarzem Leder und aalte sich in dem kühlen Licht seiner weiß emaillierten Halogenlampe. Der Kopfschmerz ebbte ab, aber seine Probleme blieben. Dass er sich selbst in diesen Schlamassel gebracht hatte, machte es nicht besser.
Er hatte gelogen.
Linc zuckte zusammen. Er war kein Lügner, konnte sich nicht daran erinnern, jemals gelogen zu haben. Aber genauso wenig konnte er sich daran erinnern, dass er jemals etwas so sehr gewollt hatte wie diesen Job als Geschichtsdozent am kleinen privaten Prescott-College. Außerdem hatte er bei nichts Wichtigem im Vorstellungsgespräch gelogen. Alle Zeugnisse waren beeindruckend und echt, und seine Ziele waren redlich und gut.
Linc schloss die Augen. Rationalisierung. Es spielte keine Rolle – er hatte gelogen. In all seinen schmerzlichen Details kam ihm das Gespräch wieder ins Gedächtnis. Der Dekan der Geisteswissenschaften, Dr. Crawford, sowie Dr. Booker, Leiter des Fachbereichs für Geschichte, hatten es mit ihm geführt. Dr. Crawford war Linc wie ein pensionierter Südstaatencop vorgekommen: groß, bierbäuchig, gesellig, durchdrungen von einer Aura der Beschränktheit. Die Fliege war wohl sein kläglicher Versuch, gelehrt auszusehen, vermutete Linc. Dr. Booker hatte diese Art von Verkleidung nicht nötig. Er sah aus, als wäre über die Jahre langsam aller Lebenssaft aus ihm herausgesickert und hätte nur die ausgetrocknete Schale hinter einer dicken Hornbrille übrig gelassen. Lincs Traum von seinem Aufstieg als Fachbereichsleiter begann, als er realisierte, dass Booker älter zu sein schien als Gott.
Zuerst war alles gut gelaufen. Sie waren beeindruckt gewesen von seinen Empfehlungen, von seinem ersten Buch, das er vor vier Jahren veröffentlicht hatte, beeindruckt von seinem Verhalten und überhaupt beeindruckt von ihm als Person. Lincoln wusste, dass er gut war. Dafür hatte er vier Jahre seines Lebens geopfert. Er wusste, dass er in den richtigen Zeitschriften publiziert hatte, dass er auf den richtigen Kongressen gesprochen hatte, dass sein Werdegang tadellos war, dass er immer das Richtige tat und das Richtige sagte. Jetzt war nur noch die Frage, ob sie ihn gut genug fanden. Aber das war gar nicht das Thema gewesen. Stattdessen hatte Dr. Crawford die Lippen geschürzt und sich erkundigt: „Sind Sie verheiratet, Dr. Blaise?“
„Nein.“ Und dann hatte er den Ausdruck in Crawfords Gesicht gesehen: Bedauern. Linc war nicht so weit die Karriereleiter hinaufgeklettert, weil er langsam war. „Aber ich bin verlobt“, schob er schnell nach. In dem Moment kam es ihm wie ein Geistesblitz vor, als er hinzufügte: „Prescott wäre der perfekte Ort für uns. Wir wollten mit der Hochzeit warten, bis ich mich etabliert habe, damit wir unsere Kinder auf die altmodische Art erziehen können.“
Damit war nicht nur das Eis gebrochen, sondern Crawford blühte förmlich auf. „Schön, schön. Gute alte Werte. Sie werden auf jeden Fall von uns hören, Dr. Blaise.“
Dr. Booker schniefte.
Und Linc fragte sich, ob er den Verstand verloren hatte. Schlimm genug, dass er eine Verlobte erfand. Aber mit seinem Geschwätz von den erdichteten Kindern hatte er sich selbst den Weg zur Hölle geebnet. Das Komische daran war, dass es sich so echt angefühlt hatte, während er es ausgesprochen hatte. Nicht das mit der Verlobten – wohl aber der Gedanke, sich mit einer hübschen kleinen Frau in einem Städtchen niederzulassen und eine Familie zu gründen. Die Bilder waren da gewesen, in seinem Kopf: sonnige Szenen im gepflegten Vorgarten, artige Kinder in ordentlich gebügelten Shorts. Du bist erbärmlich, Blaise, schimpfte er mit sich selbst. Und du hast gelogen. Dafür wird Gott dich bestrafen. Vermutlich wirst du vom Blitz erschlagen.
Aber wie sich herausstellte, war es nicht der Blitz, der ihn von hinten anfiel, sondern Crawford. Linc wurde eingeladen, im Fachbereich über seine Forschung zu sprechen. Das übliche Prozedere bei Stellenbesetzungen am College. Und, schrieb Crawford: Denken Sie daran, Ihre Verlobte mitzubringen.
Klar. Mit dem Gedanken daran bestrafte Linc sich selbst und trank mehr Bier. Er hatte es verdient. Wenn sie ihn in Prescott nicht wegen seiner herausragenden Leistungen wollten, hätte er sie links liegen lassen sollen. Es gab noch andere Institute. Und wenn erst sein Buch fertig war, an dem er arbeitete …
Aber er konnte das Buch nicht fertigstellen. Nicht an der städtischen Uni, an der er jetzt war. Nicht solange er drei fürchterliche, todlangweilige Seminare unterrichtete. Um das Buch abzuschließen, brauchte er einen Ort wie Prescott. Und um Prescott zu kriegen, brauchte er einen Plan.
Linc wälzte sich auf dem Sofa herum. Tatsächlich hatte er zwei Pläne. Der eine war, ohne Verlobte aufzutauchen und damit den Job zu riskieren. Außer dass das die ehrliche Variante war, hatte dieser Plan ziemlich wenig Vorteile. Der andere war, jemanden zu überreden, sich als seine Verlobte auszugeben. Wenn er dann den Job hätte, würde er einfach sagen, die Verlobung sei aufgelöst. Sie könnten seine Einstellung dann kaum mehr rückgängig machen. Der Plan war nicht besonders schlau, darum hatte er ihn auch bis drei Tage vor der Veranstaltung aus dem Gedächtnis gestrichen. Aber je näher der Termin rückte, desto reizvoller erschien ihm die Idee. Es war immerhin besser, als die Anstellung nicht zu kriegen.
Alles, was er brauchte, war eine Frau, die halbwegs helle und einigermaßen hübsch war. Und sie musste bereit sein, das Blaue vom Himmel zu lügen und sich danach still und leise wieder zu verdrücken. Als Erstes war ihm Julia aus der Wohnung im Erdgeschoss eingefallen. Sie hatten einmal eine Affäre gehabt, die in Freundschaft geendet war. Julia würde es tun, das wusste er. Aber sie würde es in den Sand setzen. Dazu war sie einfach zu scharf, und zwar sowohl was ihr Aussehen als auch ihr Mundwerk betraf. Er brauchte eine Frau, die … häuslich war. Wie in Unsere kleine Farm. Eine, die log, ohne mit der Wimper zu zucken.
Daisy Flattery.
Nein! dachte er. Aber rational betrachtet war sie seine einzige Hoffnung. „Geschichtenerzählerin“ stand auf ihrem Schild, demnach nahm sie es mit der Wahrheit wohl ohnehin nicht so genau. Außerdem hatte Julia gesagt, sie wäre grundanständig, und er vertraute Julias Einschätzung. Daisy Flattery war etwa fünfzehn Zentimeter kleiner als er und rundlich gebaut, typisch für den Mittleren Westen. Wenn er sie in eins von diesen altmodischen Blümchenkleidern steckte, könnte Crawford anbeißen. Da sie ihn, Linc, jedoch aus irgendeinem Grund zu hassen schien, müsste sie schon extreme Geldsorgen haben, um überhaupt Zeit mit ihm zu verbringen. Okay, manchmal trieb die Verzweiflung Menschen zu Dingen, über die sie sonst nie nachdenken würden.
Ich muss es ja wissen, dachte Linc düster und starrte an die Decke. Merke: Julia wegen der Flattery-Frau anrufen, sagte er zu sich selbst. Dann wurde ihm bewusst, dass ihm keine Zeit mehr blieb, in Gedanken Notizzettel zu schreiben. Es war Dienstag. Am Freitag sollte er in Prescott sein. Einen Moment wurde ihm schwindelig. Aber dann fiel ihm auf, dass er wieder die Luft anhielt. Seit er denken konnte, reagierte er so auf Stresssituationen. „Atmen, Blaise!“, hatte sein Rugbytrainer ihn in der Highschool angebrüllt, als er das erste Mal während eines Spiels umgekippt war. „Du musst weiteratmen, wenn du mitspielen willst.“
Durch die Nase sog Linc scharf die Luft ein, streckte die Hand nach dem Telefon aus und wählte Julias Nummer.
Fünf Minuten lang durfte Linc zuhören, wie Julia sich kaputtlachte. „Du hast ihnen was gesagt?“, prustete sie, als sie wieder sprechen konnte. „Ich fasse es nicht.“
„Krieg dich wieder ein“, beschwerte sich Linc. „Das ist nicht witzig. Meine Karriere steht auf dem Spiel.“
„Und wir wissen ja alle, dass die dir wichtiger ist als jeder deiner Körperteile.“ Julia kicherte. „Das gefällt mir. Soll ich dein süßes Frauchen sein? Kein Problem. Ich hole mir eins von diesen spießigen kleinen Kleidchen …“
„Nein!“, fiel Linc ihr ins Wort, bevor sie sich zu sehr mit der Idee anfreunden konnte. „Ich brauche eine professionelle Lügnerin. Eine, die nicht gleich anfängt zu stottern, wenn’s drauf ankommt.“
„Daisy.“ Julia klang sehr überzeugt. „Sie ist großartig. Absolut vertrauenswürdig.“
„Außer dass sie mit Lügengeschichten ihr Geld verdient.“
„Sie erzählt Geschichten“, korrigierte Julia ihn hitzig. „Unwirklich, aber nicht unwahr, so nennt sie es. Außerdem ist deine Weste auch nicht blütenrein, mein Freund. Du bist derjenige, der das kleine Weibchen erfunden hat.“
Linc stieß einen frustrierten Laut aus.
„Ich kann nicht glauben, dass du überhaupt gelogen hast“, redete Julia weiter. „Ich hätte gedacht, dass das gar nicht geht. Du bist ein echter Langweiler. Aber vielleicht wirft dich das ja aus dem Trott …“
Wütend starrte Linc auf das Telefon. „Ich mag meinen Trott. Außerdem muss ich jetzt auflegen. Tschüss.“
„Weil du wirklich vor meinen Augen versteinerst …“, fuhr Julia fort, dann hängte er auf.
Oh Gott. Er ließ den Kopf auf die Lederlehne zurückfallen. Drei Tage blieben ihm noch, und er brauchte dringend eine Verlobte. Er steckte bis zum Hals im Schlamassel, und seine einzige Hoffnung hing an einer Irren. Es musste einen anderen Ausweg geben. Als Allerletztes konnte er jetzt gebrauchen, dass seine Zukunft von Daisy Flattery abhing.
Kopfschüttelnd stand er auf und holte sich noch ein Bier.
Den nächsten Morgen verbrachte Daisy damit, nach Arbeit zu suchen und dabei kläglich zu scheitern. Als sie nach Hause kam, war das Kätzchen ausgebüchst und wartete vor der Haustür auf sie. Neben ihm saß der Vermieter, ein Mann, den Julia Grummel-Guthrie nannte.
Oje, dachte Daisy. Dann straffte sie die Schultern und ging los, ihre Katze zu retten. Dafür marschierte sie an dem dunkelhaarigen Verbrecher von oben vorbei, der gerade sein scheußliches schwarzes Auto putzte. Seine Karre verabscheute sie fast ebenso sehr wie ihn. Sie sah aus wie etwas, das Darth Vader fahren würde.
Guthrie zeigte auf das Katzenbaby, als wäre es eine Kakerlake. „Das ist eine Katze.“
„Ja, ich weiß.“ Daisy atmete tief ein, dann lächelte sie ihn an. Zwar wusste sie, dass sie nicht schön war. Aber Gott hatte ihr etwas Besseres geschenkt als Schönheit: ein leuchtendes, Männer erweichendes Lächeln. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von ihrer Mutter und einer langen Ahnenriege von Südstaatenschönheiten, die sich damit ihren Weg durch die Geschichte geebnet hatten. Es war Daisys einzige körperliche Waffe, aber es ließ sie nie im Stich. Auch jetzt nicht.
Guthrie grinste sie an.
Hinter ihr hörte sie den Katzentreter gerade rechtzeitig das Wasser abstellen, dass Annie markerschütternd miauen konnte.
Guthrie zuckte zusammen. „Daisy, Sie sind mit der Miete einen Monat im Verzug, und Sie dürfen keine Haustiere halten.“
„Ich weiß.“ Daisy pumpte noch mehr Watt auf das Lächeln. „Sie wissen, dass ich die Miete zahle. Seit acht Jahren wohne ich nun hier, und ich habe Sie noch nie hängen lassen, oder?“
Guthrie schloss die Augen. „Nein, aber die Katze …“
„Ich behalte sie nur so lange, bis ihre Besitzer wiederkommen“, erklärte Daisy wahrheitsgemäß. Sie war sicher, dass Annies Besitzer niemals zu diesem Mietshaus zurückkehren würden. „Sie ist ein sehr kostbares Tier, wissen Sie.“ Verschwörerisch senkte sie die Stimme, um Guthrie zu ihrem Verbündeten zu machen. „Einzigartig. Eine krapprote Alizarin. Sehr ungewöhnliche Stimme. Sagen Sie es nicht weiter, sonst werden hier nur noch Katzendiebe herumhängen.“ Guthrie zwinkerte, und sie brachte ihre Stimme wieder auf eine normale Tonlage. „Ich bin sicher, dass es Julia nichts ausmacht. Und die Leute von oben werden es gar nicht merken. Sie ist so eine winzige Katze.“
„Aber sie wissen es doch schon“, widersprach Guthrie. „Mr Blaise weiß es. Er steht da hinter Ihnen.“
Daisy drehte sich zu dem Katzenhasser um. Er war genauso groß und breit und Angst einflößend, wie sie Annie gesagt hatte, mit dichtem blauschwarzem Haar und dunklen eindringlichen Augen. Gegen das Auto gelehnt beobachtete er sie und Guthrie. Er sah nicht böse aus, eher berechnend.
Daisy setzte alles auf eine Karte. „Stört es Sie, Mr Blaise?“ In der besten Tradition ihrer Vorfahrinnen schenkte sie ihm ihr schönstes Lächeln.
Er blinzelte. Und dann grinste er sie an. Es war nicht so ein einfältiges Schmachten wie das der meisten Männer, wenn sie sie anstrahlte, sondern ein hellwaches Lächeln. Für einen Katzenhasser hatte er einen tollen Mund. „Es stört mich ganz und gar nicht, Miss Flattery. Es ist mir eine Ehre, mit einer krapproten Alizarin unter einem Dach zu wohnen.“
Daisy fühlte sich unbehaglich. Aber dem geschenkten Gaul wollte sie nicht ins Maul schauen, auch wenn der freundliche Geber Katzen hasste und nach ihnen trat. „Danke, Dr. Blaise. Das ist sehr lieb von Ihnen.“ Wieder lächelte sie ihn an, und sein eigenes Lächeln wurde noch breiter.
Komischer Kerl.
„Ich habe bald die Miete für Sie“, versprach sie Guthrie, der sich kopfschüttelnd entfernte.
Daisy hob das Kätzchen auf und wollte gerade gehen, als der Katzenhasser sie zurückrief. „Dürfte ich kurz mit Ihnen sprechen, Miss Flattery?“
Ich wusste es, sagte Daisy zu sich selbst. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Sie holte tief Luft. Dann wandte sie sich um und lächelte um ihr Leben – bereit, alles zu tun, damit Annie nicht wieder zur Waise wurde.
E-Book sofort lieferbar