Die nächste Braut bist du

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Zehn Jahre nachdem Callie ihn verlassen hat, trifft Rorke sie auf einer Hochzeit wieder. Ein Blick von ihr und sein Herz brennt lichterloh. Sofort setzt Rorke alles daran, sie zu verführen. Doch dabei schwört er sich: Nochmal bricht Callie mir nicht das Herz!


  • Erscheinungstag 03.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768249
  • Seitenanzahl 170
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. Kapitel

Wollte sie das wirklich jetzt tun?

Calista Harrison wusste, dass sie Rorke O’Neil in Harrison, Vermont, sehen würde, denn er war der Trauzeuge bei der Hochzeit von Rachel und Steve, und sie würde die erste Brautjungfer sein. Sie konnte dem Unvermeidlichen nicht ausweichen, aber sie könnte warten, bis sie einander zufällig begegneten, und nicht ihren ursprünglichen Plan verfolgen, ihn aufzusuchen.

Nein, bring es hinter dich, dann kannst du aufhören, dir Sorgen zu machen, sagte sie sich. So würde Rachel nie erfahren, in was für eine unangenehme Situation sie sie gebracht hatte, als sie und Steve sie baten, an ihrer Hochzeit teilzunehmen.

Sie hatte Rachels Einladung angenommen, ehe sie gefragt hatte, wer denn der Trauzeuge sein würde. Nachdem sie es wusste, hatte sie nicht den Mut gehabt, ihre beste Freundin zu enttäuschen, indem sie einen Rückzieher machte.

Aber auf keinen Fall wollte sie, dass die Feindseligkeit zwischen ihr und Rorke sich in negativer Weise auf die Hochzeit auswirkte, und da Rorke derjenige war, der gelitten hatte, musste sie den ersten Schritt tun und sich bei ihm entschuldigen.

So blieb sie bei ihrer Entscheidung, die sie schon in New York getroffen hatte, und lenkte ihren Wagen in die Einfahrt der O’Neil Autowerkstatt.

Sie entdeckte ihn sofort. Er arbeitete an einem Wagen. Rorke. Ihr Rorke. Er hatte einmal ihr gehört, aber das war schon lange her. Zehn Jahre waren seitdem vergangen. Zehn Jahre, und dennoch erschien es wie gestern.

Ihr Gefühl für Zeit und Ort mochte durcheinandergeraten sein, doch ihre Augen funktionierten noch sehr gut.

Über einen Meter achtzig geballte Männlichkeit, das war Rorke, der sich gerade über den Motor eines Wagens beugte. Er trug einen dunkelblauen Overall und schwarze Motorradstiefel – genau wie früher. Und auch sein dichtes schwarzes Haar war noch immer zu lang, um konservativ zu wirken, und doch zu kurz, um ihn für einen Rockstar zu halten.

Callie holte tief Luft und versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. Du musst in ihm nur einen Mann unter vielen ­sehen. Tu so, als würdest du ihn heute zum ersten Mal sehen, sagte sie sich.

Alles, was sie jetzt brauchte, war die eiskalte Selbstkontrolle, die ihr schon seit frühester Kindheit eingeprägt worden war, die ihr die Bewunderung ihrer Freunde und Kollegen einbrachte und die ihr half, selbst mit den schwierigsten Kunden und den anspruchsvollsten Managern fertig zu werden, und schon mehr als einen liebestollen Mann in Schach gehalten hatte.

Es war die gleiche Selbstkontrolle, die sie auch vor zehn Jahren aufgebracht hatte, um die schwierigste Entscheidung ihres Lebens zu treffen und sich auch daran zu halten. Rorke heute noch einmal gegenüberzutreten würde sicher leichter sein.

Langsam stieg sie aus dem Wagen und ging auf ihn zu.

»Schwierigkeiten mit dem Wagen, Miss Harrison?«, fragte Rorke und warf ihr einen kurzen Blick zu, ohne sich aufzurichten. Seine Stimme war tief und voll – wie früher.

»Nein, ich möchte mit dir reden … wenn du einen Augenblick Zeit hast.«

»Rede.« Er griff in seine Gesäßtasche und holte einen Schraubenschlüssel heraus, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Wagen zu.

All die Jahre hatte sie versucht, sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn sie ihn wiedersah – wie sie sich anblicken würden, was sie sich sagen würden, ob es Worte des Bedauern wären oder das bittersüße Eingeständnis, dass alles richtig gewesen war.

Sie hatte sich viele verschiedene Möglichkeiten ausgemalt, aber in keiner ihrer Fantasien war Rorke so steif und förmlich gewesen wie jetzt.

Es war offensichtlich, dass er es ihr nicht leicht machen würde. »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen.« Sie hielt inne, doch als er nichts darauf erwiderte, fuhr sie fort: »Dafür, dass ich aus Harrison weggegangen bin, ohne es dir vorher zu sagen.« Sie biss sich auf die Unterlippe. Sieh mich doch wenigstens an, bat sie ihn im Stillen.

Er kam hoch, legte den Schraubenschlüssel beiseite und sah sie an.

Sie hatte ganz vergessen, wie blau seine Augen waren. Blaue Augen, die sie jetzt anblitzten – wie Sonnenlicht, das sich im Eis spiegelt. Es war kein warmer, schelmischer Blick. Er war kalt und wütend und hatte nichts von der Liebe und Zärtlichkeit, mit der Rorke sie früher angeschaut hatte. Seine kalte Wut weckte in ihr den Wunsch, er würde sich wieder auf den Wagen und nicht auf sie konzentrieren.

»Denk nicht mehr daran. Ich habe es auch nicht getan.«

»Aber ich …« All ihre sorgfältig vorbereiteten Worte, mit denen sie ihm ihre damalige Entscheidung erklären wollte, waren aus ihrem Kopf verschwunden.

»Glaub nur nicht, ich hätte mit gebrochenem Herzen herumgesessen, nachdem du verschwunden warst. Als ich wieder klar sehen konnte, habe ich mein Leben so gelebt wie immer, mein Schatz.«

»Bitte, lass es mich dir erklären, Rorke.« Sie legte die Hand auf seinen Arm. Er war so warm, so kräftig. So männlich. Seine Muskeln spannten sich an, und sie spürte deutlich die rauen Haare.

»Warum sollte ich dir zuhören?« Er blickte auf ihre Hand und biss dabei die Zähne zusammen. Langsam zog sie ihre Hand zurück, und er hob den Blick und sah ihr kühl ins Gesicht. »Willst du dein Gewissen beruhigen?«

Ihr Gewissen beruhigen? Sie hatte wegen Rachels Hochzeit mit ihm ins Reine kommen wollen, und sie wünschte sich, dass er verstand, warum sie ihn verlassen hatte, und ihr verzieh. Der Rorke, den sie einmal geliebt hatte, hätte das getan und ihren Schmerz ausgelöscht.

»Ich dachte nur, du solltest wissen …«

»Ich will es nicht wissen.«

»Aber es gab Gründe …«

»Ich bin sicher, dass es die gab. Aber wenn du sie mir jetzt nennst, wird das auch nichts mehr ändern. Also, warum sollen wir Zeit verschwenden?« Er nahm den Schraubenschlüssel wieder in die Hand. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich habe zu tun.« Er beugte sich wieder über den Wagen.

Aus Frustration sagte sie schärfer als beabsichtigt: »Was ist nur geschehen mit dir? Mit zwanzig warst du gefühlvoller! Du warst menschlich, du hattest ein Herz. Jetzt bist du nur eine … eine herzlose Maschine.«

Rorke richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Was mit mir geschehen ist?« Er lachte bitter. »Ich hatte das Vergnügen, dich kennenzulernen.«

Verdammt, das konnte er nicht gebrauchen!

Hatte er nicht schon genug damit zu tun, die Yankee Motorradwerke von seinem behelfsmäßigen Büro über der Werkstatt aus zu leiten, sein Haus einzurichten und in der Werkstatt auszuhelfen, bis sein Vater einen neuen Mechaniker fand, nachdem der alte gekündigt hatte? Er hatte weder die Zeit noch die Energie, sich in Erinnerungen an Callie Harrison zu verlieren.

Was machte es für einen Unterschied, warum sie ihn damals verlassen hatte, warum sie ihn nicht hatte heiraten wollen. Warum sie sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sich von ihm zu verabschieden. Er wollte es gar nicht mehr wissen.

Früher einmal hatte er sich über die Gründe den Kopf zer­brochen und war dabei immer wieder auf die Worte zurückgekommen, die Chandler Harrison ihm ins Gesicht geworfen hatte – Callie habe sich nur deshalb mit ihm eingelassen, damit sie ihn, ihren Vater, unter Druck setzen konnte.

Als er und Callie sich kennengelernt hatten, hatte sie ihm erzählt, dass ihr Vater sie drängte, der alten Familientradition zu folgen, und sie auf die Harvard Universität gehen sollte, um danach in die Bank der Familie einzutreten. Sie aber wollte Kunst studieren. Ihr Vater war entsetzt gewesen, aber offensichtlich hatte Mr. Harrison das kleinere von zwei Übeln gewählt. Er hatte zugestimmt, sie auf die Universität ihrer Wahl gehen zu lassen, wenn sie dafür ihn, Rorke, aufgab.

Sie hatte ihm eine Falle gestellt, und er war hineingetappt. Wie dumm war er doch gewesen, zu glauben, dass die Tochter des reichsten Mannes der Stadt sich wirklich in den Sohn des Automechanikers verliebt hatte.

Aber jetzt stellte er mehr dar. Sekundenlang hatte er den Wunsch verspürt, Callie von den Yankee Motorradwerken zu erzählen und ihr zu sagen, was außer seinem Vater noch niemand in Harrison wusste.

Er hatte sich sein Leben eingerichtet. Nachdem er vier Jahre lang in der Air Force gedient hatte, hatte er sich an der Technischen Universität eingeschrieben. Nach dem Studium hatte er sich mit zwei Freunden zusammengetan, einem Ingenieur und einem Wirtschaftswissenschaftler. Sie teilten seine Vorliebe für Motorräder, und zusammen hatten sie die Yankee Motorradwerke gegründet – ein Millionen-Dollar-Unternehmen, das ­ungeahnt schnell wuchs. Mittlerweile wurde bereits die dritte Fabrik gebaut, und diesmal in einem Außenbezirk von Harrison.

Harrison hatte sein Wohlergehen nie interessiert. Während er dort aufwuchs, hatte man ihn spöttisch und abwertend »Die-ein-Mann-Motorrad-Gang« genannt.

Als er im letzten Monat nach Harrison zurückgekehrt war, hatte er sich entschieden, seine Verbindung zu den Yankee Motor­radwerken noch für eine Weile geheim zu halten. Eigentlich war es ihm gleichgültig, wer von seinem Erfolg erfuhr, und noch weniger interessierte es ihn, was die Leute darüber dachten. Aber wenn sein Freund Steve, der eine junge Baufirma hatte, herausgefunden hätte, dass er hinter dem Bauauftrag für die neue Fabrik und das Wohnhaus auf dem Hügel dahinter stand, hätte er darauf beharrt, ihm ein besonders günstiges Angebot zu machen. Dabei konnte Steve, der bald heiraten würde, das Geld viel eher brauchen als er.

Er und seine Freunde, Alex und Jesse, hatten das Grundstück für die Yankee Motorradwerke gekauft, und auch wenn dies sein Lieblingsprojekt war, so hatte doch Alex die Firma beim Kauf vertreten.

Obwohl Alex nie behauptet hatte, das Wohnhaus würde für ihn persönlich gebaut, so hatten doch alle in Harrison vermutet, dass er es war, der dort einziehen würde. Er, Rorke, sah keinen Grund, diese Annahme zurechtzurücken.

Als er damals die Stadt verlassen hatte, hatte er sich geschworen, es zu etwas zu bringen, um es ihnen allen zu zeigen. Doch als er dann mit Alex und Jesse die Firma gegründet hatte, hatte sich seine Perspektive verändert. Jetzt arbeitete er, weil er seine Arbeit liebte.

Einem Menschen hatte er sich aber doch noch beweisen wollen: Calista Harrison. Er war entschlossen gewesen, ihr zu zeigen, dass er es trotz seiner bescheidenen Herkunft geschafft hatte, ihr gesellschaftlich ebenbürtig zu sein.

Callie.

Er hatte gewusst, dass sie zu der Hochzeit nach Harrison kommen würde, musste sich nun aber eingestehen, dass er für die Begegnung nicht gewappnet war. Sie heute wiederzusehen war wie ein Schlag in den Magen gewesen.

Sie war noch immer wunderschön – eine herrliche Prinzessin mit goldenem Haar.

Einmal, vor langer Zeit, hatte er ihr sein Herz geschenkt. Und überraschenderweise hatte sie es genommen, aber sie hatte es nicht behalten. Nachdem sie damit gespielt hatte, hatte sie es weggeworfen.

Der Schraubenschlüssel fiel ihm mit einem lauten Klirren aus der Hand. Er fluchte wie schon seit Jahren nicht mehr. Zur Hölle, er musste sich besser in den Griff bekommen. Zwei Wochen und eine Hochzeit hatte er noch zu überstehen. So angespannt wie heute durfte er nicht noch einmal sein. Niemand in der Stadt sollte bemerken, was er wirklich fühlte. Callie würde in zwei Wochen wieder abreisen, aber er würde mit den Folgen leben müssen, wenn er vor aller Augen seinen Gefühlen freien Lauf ließ.

Callie und er brauchten eine Art Waffenstillstand. Er öffnete die Knöpfe seines Overalls.

Je eher er sich darum kümmerte, desto besser.

Fünfzehn Minuten nachdem sie Rorke verlassen hatte, merkte Callie, dass sie in der Eile, von ihm wegzukommen, die falsche Fahrtrichtung eingeschlagen hatte. War das vielleicht der unterschwellige Wunsch gewesen, nach New York zurückzufahren? In die sterile Welt zu fliehen, die sie sich dort aufgebaut hatte?

Sie war wie benommen. Rorkes Wut und seine Bitterkeit hatten sie nicht überrascht, aber sie hatte geglaubt, dass er sich wenigstens ihre Erklärung anhören würde. Auf eine solche Kälte und Feindseligkeit war sie nicht vorbereitet gewesen.

Als sie Harrison vor zehn Jahren verlassen hatte, war ihr das Bild von Rorke, der sicher tief erschüttert gewesen war, nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Doch ihr Vater war ein mächtiger Mann in der Stadt, und es wäre für ihn leicht gewesen, seine Drohung wahr zu machen und die O’Neils zu ruinieren.

Auch sie hatte unter der Trennung gelitten, und noch mehr hatte es sie geschmerzt, als sie feststellen musste, dass Rorke ihr nicht folgte.

Um ihren Schmerz zu lindern, hatte sie sich eingeredet, dass Rorke sie nicht wirklich geliebt habe, dass er eine andere gefunden hatte … dass sein Heiratsantrag nur ein paar nette Worte im Mondschein gewesen waren … dass er sie benutzt hatte, um das von ihr zu bekommen, was er wollte … dass er sie wahrscheinlich sowieso nie geheiratet hätte.

All das hatte ihr geholfen, bis sie jetzt nach Harrison zurückgekehrt war. Nun waren die Erinnerungen an Rorke wieder aufgebrochen.

Sie dachte an ihn, wie er auf seinem Motorrad durch die Stadt gefahren war, und glaubte beinahe die Stimme ihrer Großmutter zu hören: »Er ist nur ein Nichtsnutz, aber was kannst du von ihm schon anderes erwarten? Schließlich hat seine Mutter ihn im Stich gelassen und ist verschwunden, als er gerade erst sieben Jahre alt war.«

Es war der Gedanke an einen traurigen Jungen gewesen, der in der kleinen Stadt mit der Schande leben musste, dass seine Mutter ihn nicht hatte haben wollen, der sie dazu gebracht hatte, dem rebellierenden Zwanzigjährigen ihre Freundschaft anzubieten. Ihre eigene Mutter war gestorben, als sie vierzehn gewesen war, und so kannte sie das Gefühl der Leere nach einem solchen Verlust.

Rorke hatte sich mit keinem der Jungen der Harrison Highschool angefreundet, und seine Beziehung zu den Mädchen konnte man kaum »Freundschaft« nennen. Ihr weiches Herz hatte in ihr den Wunsch geweckt, ihm zu helfen. Doch eigentlich hatten seine coole Art, sein schlechter Ruf und seine starke Wirkung auf sie ihr zunächst einmal Angst gemacht. Doch diese Angst hatte sie schließlich überwunden.

Sie hatten sich in abgelegenen Straßen und in den Wäldern vor der Stadt getroffen, und es hatte sich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die schon bald zu viel mehr wurde.

Richtig bewusst war ihr das erst heute bewusst geworden, als sie in seine vor Wut glitzernden Augen gesehen hatte. Jetzt war sie ganz sicher, dass er jedes Liebeswort damals ernst gemeint hatte, und auch den Heiratsantrag.

Unwillkürlich musste sie an Rachels bevorstehende Hochzeit denken. Ihre Bemühungen, die Festlichkeiten nicht von ihren persönlichen Problemen beeinflussen zu lassen, hatten bis jetzt zu nichts geführt.

Deshalb würde sie noch einmal mit Rorke sprechen müssen. Doch diesmal würde sie sich gar nicht erst bemühen, ihm etwas zu erklären. Sie würde ihm klar sagen, dass er die Hochzeit nicht durch das gefährden dürfe, was zwischen ihnen stand. Für sie wäre er dazu sicher nicht bereit, aber das Glück von Rachel und Steve wollte er doch bestimmt nicht trüben.

Die Unterhaltung mit Rorke ging ihr nicht aus dem Kopf. Denn etwas an seinen Worten irritierte sie. Er hatte ihr gesagt, er habe sein Leben wir immer gelebt, nachdem sie ihn verlassen hatte. Aber wenn das wirklich so war, wenn er sie wirklich so schnell vergessen hatte, warum war er dann heute so wütend auf sie gewesen, warum hatte er praktisch sie dafür verantwortlich gemacht, dass er so kalt geworden war?

Sie schob ihre eigenen Gefühle beiseite und versuchte alles einmal mit Rorkes Augen zu sehen.

Ein seelischer Schmerz durchzuckte sie, der so groß war, dass sie den Wagen an den Straßenrand lenken musste.

Bestürzt senkte sie den Kopf und legte die Stirn aufs Lenkrad.

»Mein Gott, Callie, wie konntest du nur so blind sein?«, flüsterte sie gepresst. »Er hatte sich dir geöffnet, er hatte dir vertraut. Er hat dich geliebt. Und was hast du getan? Du bist verschwunden und hast ihn verlassen … genau wie seine Mutter!«

Es war, als würde ihr wegen Rorke noch einmal das Herz brechen. Wegen dieses wundervollen, mitfühlenden Mannes, der er tief in seinem Innern war. Und sie hatte ihm dabei geholfen, diesen Mann in sich zu entdecken. Und dann war sie weggelaufen.

Sie öffnete die Wagentür und stieg aus. War es möglich, so weit zu gehen, dass sie dem Schatten der Selbstverachtung und Abscheu entkommen konnte, der sich über sie zu senken drohte?

Das Gras am Straßenrand war feucht, und ihre nackten Füße in den Sandalen wurden nass, doch sie achtete nicht darauf. Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie gegangen war, als ihr plötzlich ein Zaun auffiel. Ein Schild wies darauf hin, dass hier die Yankee Motorradwerke gebaut wurden.

Der Name kam ihr bekannt vor, aber sie wusste im Augenblick nichts damit anzufangen. Möglich, dass sie ihn von ihrer Arbeit her kannte. Die Werbefirma, in der sie arbeitete, betreute viele Kunden. Sie blickte voller Interesse durch den Zaun.

Das eingezäunte Gebiet war eingeebnet worden. Einige große Gebäude in der Mitte des Geländes waren bereits fertig, doch es wurde noch eifrig weitergebaut.

Sie wünschte, dass es auch für sie ein ganz normaler Arbeitstag wäre. So schön die Landschaft um Harrison auch war, heute würde sie sie mit Freuden gegen ihre Staffelei, ihren Zeichentisch und den Computer eintauschen.

Sie ging den Weg zurück, doch ihre Schritte waren jetzt langsamer. Ein paar Kardinalsvögel flogen aus einem nahen Baum auf. Sie sah ihnen nach und entdeckte eine große Reklametafel.

Ihr Puls schlug plötzlich heftiger. Drei Motorräder prangten auf der Tafel – ein rotes links, ein blaues rechts und ein weißes in der Mitte, ein wenig vor den beiden anderen. Neben jedem stand ein Motorradfahrer in Lederkleidung, und über jedem Motorrad stand der Maschinen-Typ: Yankee Spirit, Yankee Clipper und Yankee Pride.

Die Werbefachfrau in ihr bewunderte das Layout des Bildes, doch als sinnliche Frau wurde sie magisch von dem Motorradfahrer in der Mitte angezogen.

Etwas an seiner Haltung, an der Art, wie er die Arme vor der Brust verschränkt hatte, ließ einen Schauer durch ihren Körper laufen. Callie, du hast zu viele Filme gesehen, sagte sie sich, wenn der Anblick eines Mannes in weißer Lederkleidung dich so beeindruckt. Das Visier des Motorradhelms war undurchsichtig, und sie fragte sich, wie der Mann wohl aussah.

Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, wandte sich um und ging weiter. Seit ihrer Teenagerzeit, als sie Kaugummi-Bilder ihrer Filmlieblinge gesammelt hatte, hatte sie nicht mehr so stark auf ein Bild reagiert.

Eins davon zeigte einen Ritter in Weiß, der eine Frau rettete. Das Visier des Motorradhelms war dem der legendären Ritter ähnlich, die in die Schlacht zogen. Und die Situation mit Rorke hatte sie zu der Frau gemacht, die in einer schwierigen Lage steckte.

Wenigstens hatte diese Reklametafel ihre Frage nach den Yankee Motorradwerken beantwortet. Harrison würde sicher davon profitieren, dass hier eine so große Fabrik gebaut wurde. Doch die Reklametafel und die Fabrik waren schnell vergessen. Ihre Gedanken kehrten zurück zu Rorke und den zwei Wochen, die vor ihr lagen.

Callie war froh, als sie wieder an ihrem Wagen angekommen war. Die Morgensonne spiegelte sich in der Windschutzscheibe, als sie die Tür öffnete und sich hinter das Steuer setzte.

»Du solltest deinen Wagen nicht abstellen, ohne ihn abzuschließen.«

2. Kapitel

Callie stockte der Atem, und sie umklammerte das Lenkrad. Sie hatte die Stimme hinter ihr sofort erkannt, aber selbst ein völlig Fremder hätte nicht einen solchen Aufruhr in ihr hervorrufen können. »Ich … ich … du hast sicher recht.« Hat Rorke sich entschieden, mich nun doch anzuhören? fragte sie sich hoffnungsvoll.

»Ich wollte dir keine Angst machen, aber ich denke, wir sollten miteinander reden.«

Sie wandte sich zu ihm um. Er hatte den Overall ausgezogen, und sie sah jetzt, dass er darunter Jeans und ein blassblaues Arbeitshemd trug.

»Rorke …«, begann sie, doch er wehrte sie ab.

»Ich möchte nicht dort weitermachen, wo wir eben aufgehört haben. Soweit es mich betrifft, ist die Vergangenheit vorbei, und so möchte ich es auch halten. Aber wir werden uns oft sehen, solange du hier bist, und da würde ein Waffenstillstand zwischen uns die Dinge für alle viel einfacher machen.«

Genau darum hatte sie ihn bitten wollen, doch etwas in ihr sehnte sich noch immer danach, ihm alles zu erklären und ihn um Vergebung zu bitten und das Eis zum Schmelzen zu bringen, das ihre jugendliche Tat um sein Herz zurückgelassen hatte. »Ein Waffenstillstand ist eine gute Idee. Rachel soll eine schöne Hochzeit haben.«

Rorke sah sie nachdenklich an. »Wie viel weiß Rachel eigentlich? Könnte es sein, dass sie dieses Wiedersehen absichtlich arrangiert hat, um uns miteinander zu verkuppeln?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Rachel hat keine Ahnung, dass wir beide …«

»Uns geliebt haben?«

Plötzlich hatte sie das Gefühl, im Wagen sei es viel zu eng, um sich hier mit Rorke zu unterhalten. »Dass wir beide Freunde waren«, korrigierte sie ihn und fügte hinzu: »Ich dachte, wir wollten nicht mehr über die Vergangenheit sprechen.«

»Das tun wir auch nicht. Ich möchte nur wissen, wer wie viel weiß.«

»Rachel weiß überhaupt nichts von uns. Auch sonst niemand. Nur mein Vater.« Und dem hatte sie es nur gesagt, weil er sie dabei überrascht hatte, wie sie ihre Sachen packte. Doch sogar ihm hatte sie nicht alles erzählt. Sie hatte ihm nur gesagt, dass sie Rorke liebe und dass sie mit ihm wegfahren wolle, um ihn zu heiraten.

Rorke verschränkte die Arme vor der Brust. »Du wolltest wohl nicht zugeben, dass du dich unter deinem Niveau bewegtest, Miss Harrison, wie?«

»Nein! Nein, das war nicht der Grund.« Vor zehn Jahren, als die Gerüchte umgingen, dass die sehr adrette und sehr höfliche Miss Harrison und dieser Teufelskerl O’Neil etwas miteinander hatten, hatte sie darüber gelacht. Nicht einmal ihrer besten Freundin hatte sie die Wahrheit verraten. Die Liebe, die zwischen Rorke und ihr erwacht war, war so neu gewesen und etwas so Besonderes. Sie hatte ihre Gefühle anderen gegenüber verschlossen, nur mit Rorke hatte sie darüber gesprochen.

»Wirst du es Rachel sagen?«

»Dazu gibt es keinen Grund. Wenn ich es ihr jetzt sage, wird sie sicher ein schlechtes Gewissen haben, weil sie uns beide zu ihrer Hochzeit eingeladen hat. Und um sich zu beruhigen, wird sie sofort versuchen, uns zusammenzubringen.«

Rorke runzelte die Stirn. »Dann sag ihr um Himmels willen nichts davon.«

Sie wollte auf keinen Fall, dass Rachel solche Pläne machte, doch dass Rorke sein Entsetzen so offen zeigte, ärgerte sie. »Und du? Hast du Steve etwas gesagt?«

»Nein, ich habe auch mit niemandem darüber gesprochen. Aber ich denke, ich sollte dich warnen. Als du damals nicht wie verabredet gekommen bist, bin ich zu dir nach Hause gegangen.«

»Du warst bei meinem Vater?«, rief sie und war total verblüfft.

»Ja. Hat er dir das nicht gesagt?«

»Nein.« Wusste Rorke denn nicht, dass sie nicht mehr mit ihrem Vater sprach? Sie war sicher, dass jeder andere in der Stadt es wusste. »Hat er dich ausgefragt? Was hast du ihm gesagt?« Und was noch viel wichtiger war, was hatte ihr Vater ihm gesagt?

»Er hat mir eine Menge Fragen gestellt, aber ich habe ihm nichts verraten. Sollte er je etwas anderes behaupten, lügt er.«

»Es ist nett, dass du mir das erzählt hast, und es tut mir leid …«

»Nein, hör auf damit. Deshalb habe ich nicht darüber gesprochen. Mir ist es nur recht, wenn wir nicht mehr darüber reden müssen.«

Sie lächelte kühl. »Natürlich, wie dumm von mir.« Lass ihn bloß nicht merken, wie sehr seine Worte dich verletzt haben, beschwor sie sich.

»Nun, jetzt wo wir das geklärt haben, kann ich mich ja wieder an meine Arbeit machen.«

Wenn er ihr doch nur die Möglichkeit geben würde, ihm alles zu erklären. Dann würde er begreifen, dass er diese Arbeit nur deshalb noch hatte, weil sie ihn damals verlassen hatte. Die O’Neil-Autowerkstatt würde nicht mehr bestehen, wenn sie geblieben wäre.

Vielleicht würde das ja seine kühle Fassade zum Einsturz bringen. Wenigstens sie würde sich besser fühlen, wenn er wüsste, dass sie ihm die Firma erhalten hatte, die seine Familie über Jahre hinweg aufgebaut hatte. »Ich muss zu Rachel. Wir haben in den nächsten zwei Wochen noch eine Menge zu tun.«

Dabei hätte sie ihn am liebsten gebeten, noch zu bleiben. Denn wenn sie ihn wiedersah, würden wahrscheinlich Rachel und Steve dabei sein, und so wäre heute das einzige Mal, dass sie allein waren.

Rorke stieg aus. Er wandte sich noch einmal zu ihr. »Vergiss unseren Waffenstillstand nicht.«

»Bestimmt nicht.«

»Bis bald, Callie.«

Nachdem er die Autotür geschlossen hatte, warf Callie einen Blick in den Rückspiegel und entdeckte sein Motorrad.

Spontan sprang sie aus ihrem Wagen.

»Du hast noch immer deine alte Indian?« Langsam ging sie auf die Maschine zu und betrachtete sie. »Sie sieht immer noch toll aus, als käme sie gerade erst aus der Fabrik. Wie alt ist sie jetzt eigentlich?«

»Über vierzig Jahre alt.«

»Du hast sie gut gepflegt.« Fast ehrfürchtig fuhr sie mit dem Finger über das Firmenlogo auf dem Tank.

»Ehe mein Vater sie mir gegeben hat, musste ich ihm versprechen, sie immer in Schuss zu halten.« Er schwang sich auf den Ledersitz, dann sah er ihr tief in die Augen. »Und wenn ich jemandem ein Versprechen gebe, Miss Harrison, dann halte ich es auch.«

Sie erschauerte, als sie den Vorwurf und die Verachtung in seinen Augen las. Doch sie konnte ihm seine Feindseligkeit nicht übel nehmen. Sie war diejenige, die ihr Versprechen nicht gehalten hatte.

Callie kämpfte mit den Tränen und sah Rorke zu, wie er den Helm aufsetzte und das Visier hinunterschob.

Sie drehte sich um, stieg wieder in ihren Wagen, wendete und fuhr zurück zur Stadt. Im Rückspiegel sah sie, dass Rorke ihr folgte.

Sie liebte es, ihn auf einem Motorrad zu sehen. Die glänzende Maschine und der Mann schienen eine Einheit zu bilden, und er strahlte so viel Freiheit aus, wenn er mit dem Wind über die Piste des Highways fuhr.

Nur mit ihm zusammen hatte sie je auf einem Motorrad gesessen, und auch das war schon lange her. Aber die Erinnerung daran war noch ganz nah. Manchmal hatte sie auf die vorüberfliegende Landschaft geschaut, während der Wind ihr ins Gesicht blies, manchmal hatte sie den Kopf an Rorkes Rücken gelegt und nur nach unten gesehen, auf die Markierungen des Highways, die Meile für Meile vorbeiflitzten.

Es war herrlich gewesen, und sie sehnte sich nach diesen Momenten der Freiheit, aber schnell wurde ihr klar, wonach sie sich in Wahrheit sehnte: Sie wollte Rorke spüren.

Autor

Pamela Macaluso
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