Es muss ja nicht gleich Liebe sein

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Nun in ungekürzter Neuübersetzung erhältlich!

Jeder in Lone Star Canyon hält sie für das perfekte Paar - nur Nora und Stephen streiten es ab. Dabei sind die temperamentvolle Friseurin Nora und Dr. Stephen Remington ein unschlagbares Team: Gemeinsam kümmern sie sich während eines Tornados um Verletzte, sprechen Mut zu und versorgen Wunden. Praktischerweise liegen Salon und Praxis einander gegenüber. Außerdem sieht ein Blinder, wie es zwischen Nora und Stephen knistert. Keiner der beiden will mehr eine feste Bindung eingehen. Aber wenn die Küsse so gut schmecken wie Schokolade, muss es ja auch nicht gleich Liebe sein!

Dieser Roman ist in gekürzter Fassung bereits im CORA Verlag unter dem Titel »Traummann mit Vergangenheit« erschienen.

»Susan Mallery ist eine Klasse für sich!«
Romantic Times Book Reviews

»Liebesromane können kaum besser sein als Mallerys Mischung aus emotionaler Tiefe, Humor und erstklassigem Erzählen.«
Booklist


  • Erscheinungstag 05.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768775
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Maureen Child,

begabte Autorin und wundervolle Freundin.

Dein Witz, dein Charme und deine große Klappe

haben mich zu Nora Darby inspiriert.

Schon ein bisschen gruselig, oder?

1. Kapitel

»Denken Sie nicht mal dran, Dr. Remington«, warnte ihn Schwester Rosie. »Diesen Berg haben schon mutigere Männer als Sie zu erklimmen versucht – und nur die wenigsten haben es überlebt.«

Stephen Remington sah zu seiner Arzthelferin hinüber und runzelte die Stirn. »Was für einen Berg? In Texas gibt es nur plattes Land.«

Und das weiß ich aus erster Hand, dachte Stephen. Er hatte nämlich einen Großteil davon durchquert, als er vor sechs Monaten aus Boston hierher nach Lone Star Canyon gezogen war. Texas war flach, weit und genau das, was er sich erträumt hatte, als er seine Stelle als Leiter der städtischen Notaufnahme gekündigt hatte, um das ruhige Leben eines Landarztes zu genießen.

Seine zierliche Helferin und Empfangsdame bedachte ihn mit einem wissenden Blick. »Das war eine Metapher«, erklärte sie mit der Geduld einer Frau, die es gewohnt war, sich mit den Schwächen des männlichen Verstandes herumzuschlagen. »Ich habe Sie aus dem Fenster starren sehen. Da war es nicht schwer, zu erraten, was … beziehungsweise wer … Sie so fesselt.«

Lächelnd deutete sie auf das Fenster seiner großzügigen Praxis. Stephen folgte ihrem Blick und erkannte, was sie annahm: dass er die Nachbarn von gegenüber ausspionierte.

Die Arztpraxis von Lone Star Canyon teilte sich die Innenstadt mit ein paar Banken, drei Restaurants, einem Sportartikelgeschäft, mehreren Kleiderboutiquen und einem Friseursalon namens Snip ’n Clip. Letzteres Etablissement befand sich direkt gegenüber der Praxis. Normalerweise schützten leicht abgedunkelte Scheiben die Kundschaft vor neugierigen Blicken, aber an diesem Nachmittag war es draußen so düster, dass das Innere des hell erleuchteten Salons deutlich zu sehen war.

Zwei Personen waren klar zu erkennen: Die eine war eine weißhaarige alte Dame, die sich die Haare legen ließ. Die andere Frau stand hinter ihr und schwang gekonnt und großzügig die Haarspraydose. Das war dann vermutlich diejenige, von der Rosie glaubte, er hätte sie bewundert.

Stephen musterte die hochgewachsene Brünette. Zu ihrer engen Jeans und den Stiefeln trug sie ein knappes rotes T-Shirt, unter dem ein Streifen Haut mit einem äußerst hübschen Bauchnabel hervorblitzte. Das dunkle Haar fiel ihr in sinnlichen Wellen offen bis auf den Rücken hinunter. Sie bewegte sich mit der sexy Anmut einer Frau, die jeden Mann haben könnte, aber keinen einzigen davon wollte.

»Die da?«, fragte er und war sich wohl bewusst, dass, wenn er in ihren Laden schauen konnte, dasselbe auch für seine Praxis galt. Zum Glück schien die Frau ihn bisher nicht bemerkt zu haben.

»Genau die«, bestätigte Rosie. »Nora Darby. Nach außen hin mag sie ja zuckersüß und lieb aussehen, aber in Wahrheit ist sie ungefähr so freundlich wie eine angeschossene Bärenmutter. Nora hat für Männer nichts übrig, und das aus gutem Grund. Ich nehme Ihnen ja nur ungern Ihre Illusionen, Doktor, aber an ihr haben sich schon Bessere als Sie die Zähne ausgebissen.«

»Verstehe.«

Und wenn er Nora so ansah, konnte er durchaus nachvollziehen, warum sie es versucht hatten. Diese Frau hatte das komplette Paket – einen tollen Körper und ein hübsches Gesicht. Wenn sie sich jetzt auch noch intelligent zu irgendeinem Thema äußern konnte, war sie perfekt. Natürlich nicht für ihn, aber vielleicht für jemand anderen.

»Ich gebe zu, sie ist sehr attraktiv«, wandte er sich an seine Helferin, »aber um mich müssen Sie sich keine Sorgen machen. Ich bin nicht auf der Suche – angeschossene Bärenmutter hin oder her. Davon abgesehen hab ich gar nicht sie beobachtet.«

Er deutete auf die dunkle grüngraue Wolke am Horizont, die bedrohlich näher rückte. Der größte Teil war zwar vom gegenüberliegenden Gebäude verdeckt, aber die obere Hälfte war klar zu erkennen und wälzte sich in unruhigen Wirbeln immer näher. Beinah schien es, als würde der Himmel nach etwas greifen, um …

Plötzlich schrie Rosie auf und packte ihn beim Arm. »Tornado«, rief sie und zerrte ihn in Richtung Ausgang.

Stirnrunzelnd befreite Stephen sich aus dem beharrlichen Griff seiner Helferin. »Wovon reden Sie?«

»Wir müssen sofort in den nächsten Sturmkeller«, drängte sie aufgewühlt. »Oh, und Verbandsmaterial brauchen wir auch. Es wird Verletzte geben.« Bei einem erneuten Blick aus dem Fenster kreischte sie beinahe. »Er ist schon fast hier!«

In diesem Moment fiel Stephen auf, dass der Wind um sie herum zugenommen hatte und die Luft seltsam schwer war. Ein Tornado? Natürlich hatte er schon von dem Phänomen gehört, aber er stammte von der Ostküste, wo solche Dinge in den Abendnachrichten stattfanden, nicht im echten Leben.

Aber Rosies Panik war definitiv echt. Seine sonst so unerschütterliche Helferin rannte zum Empfangstresen und riss den Erste-Hilfe-Notfallkoffer aus seiner Halterung an der Wand. Stephen nahm ihn ihr ab, als sie ihn erneut beim Arm fasste und zur Tür hinauszerrte.

Als sie auf die Straße traten, war die Luft erfüllt vom Donnern eines herannahenden Zuges. Bloß dass es in Lone Star Canyon keine Bahnschienen gab. Er sah auf die andere Straßenseite. Allerdings nicht zur zugegeben äußerst verlockenden Ms. Nora Darby, sondern zu ihrer ältlichen Kundschaft. Sie alle würden Mühe haben, es rechtzeitig in den Sturmkeller zu schaffen. Also wechselte er den Kurs und steuerte in Richtung Snip ’n Clip.

»Ich liebe dieses Lied«, schwärmte Mrs. Gelson, während sie sich im Spiegel bewunderte.

Nora lauschte auf die Schnulze, die aus den Lautsprechern der kleinen Anlage hinten im Salon drang.

Seufzend tätschelte Mrs. Gelson sich die weißen Haare, die ihr Gesicht wie ein perfekt gerundeter Helm umgaben. »Da fehlt mir mein Bill noch mehr. Das Lied hat er mir immer vorgesungen.«

Ja, genau, dachte Nora, setzte aber trotzdem ein Lächeln auf. Besagter Bill war derselbe Mann, der seine Frau und die drei Kinder zweimal die Woche abends allein hatte sitzen lassen, um Poker zu spielen – egal ob genug Essen im Haus war oder nicht. Dass das verspielte Geld vielleicht gebraucht wurde, um die Telefonrechnung zu bezahlen oder den Kindern Schuhe zu kaufen, war ihm nie in den Sinn gekommen. Und Mrs. Gelson hatte mit keiner Silbe protestiert. Das Paar war vierzig Jahre lang verheiratet gewesen, als Bill schließlich »heimgegangen« war, wie Mrs. Gelson es ausdrückte. Wenigstens hat der Mistkerl nicht seine Lebensversicherung verpfändet, dachte Nora grimmig. Auch wenn seine Witwe beileibe nicht wohlhabend war, würden ihre letzten Tage dadurch zumindest besser sein als die Jahre mit ihm.

Aber Mrs. Gelson sah das ganz anders. Jetzt, da Bill nicht mehr war, hatte sie ihn zum Heiligen erklärt und lebte dafür, der Welt von seinen großen Taten zu berichten.

»Sie haben immer schon gesagt, dass Ihr Mann ein Romantiker war«, pflichtete Nora ihr warmherzig bei und tischte ihrer Kundin damit die Lüge auf, die sie hören wollte. Weil es eine gute Tat war. Weil die Erinnerung fast aller Frauen an ihre Männer erstaunlich selektiv zu sein schien. Nicht dass Nora dieses Problem gehabt hätte. Sie besaß ein hervorragendes Gedächtnis und beging nie zweimal denselben Fehler.

Mrs. Gelson reichte ihr einen Zehndollarschein und wartete auf ihre zwei Dollar Wechselgeld. Dann legte sie einen der Scheine auf Noras Arbeitsplatz, winkte noch einmal in die Runde und ging in Richtung Tür.

Nora starrte die einsame Banknote an. Wenn sie nicht endlich die Preise anhob, würde sie mit diesem Salon nie etwas verdienen. Eigentlich hatte sie das ja auch schon getan … Sogar mehrfach in den vergangenen zehn Jahren. Allerdings gab es bestimmte Kundinnen, die sich einfach nicht mehr leisten konnten, also berechnete Nora ihnen eben nicht mehr. Da waren beispielsweise die Senioren mit ihrem begrenzten Einkommen. Oder Debbie Watson, deren Ehemann sie mit vier Kindern und einem Haufen Rechnungen hatte sitzen lassen. Und ein halbes Dutzend weitere Frauen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden.

»Es ist nur Geld«, murmelte Nora philosophisch, steckte das Trinkgeld ein und wandte sich zum Ausgang, um ihrer gebrechlichen Kundin nach draußen zu helfen.

Gerade in diesem Augenblick flog die Tür auf. Herein stürmte ein hochgewachsener dunkelblonder Mann im weißen Kittel. Nora erkannte Stephen Remington, den neuen Arzt des Städtchens. Erfolgreich und unverheiratet, ja, ja – schon seit seiner Ankunft vor ein paar Monaten schwärmten die Leute ihr von ihm vor. Nora war zutiefst unbeeindruckt und fuhr weiterhin die knapp hundert Kilometer in eine andere Stadt, um sich von einer Frau behandeln zu lassen.

Jetzt sah sie ihn an und stellte zufrieden fest, dass sie trotz seiner großen braungrünen Augen, der sportlichen Figur und seines guten Aussehens immun gegen ihn war. Wie immer.

»Männerhaarschnitte bieten wir hier nicht an«, erklärte sie liebenswürdig. »Da müssen Sie sich an den Barbier ein paar Häuser weiter wenden.«

»Was?«

Sie seufzte. Männer können so unglaublich begriffsstutzig sein. Wie hat er es nur durchs Medizinstudium geschafft? »Ich sagte …«

Mit einem knappen Kopfschütteln fiel er ihr ins Wort. »Ist mir egal. Es ist ein Tornado im Anmarsch. Alle in den Sturmkeller.«

Bevor Nora oder sonst jemand reagieren konnte, heulte die Warnsirene los. Wie eine Explosion erfüllte der Lärm plötzlich den ganzen Salon. Nora fluchte in sich hinein, als sie in die Runde blickte und lauter volle Stühle sah. Abgesehen von ihr und den anderen drei Stylistinnen war niemand unter fünfundsechzig. Besonders mobil war die Truppe nicht, und der Sturmkeller war fast einen halben Block entfernt neben der Bank.

»Jill, du nimmst Mrs. McDirmity«, ordnete Nora an, während sie zu den Trockenhauben rannte und sie der Reihe nach hochklappte. »Kommt schon, wir müssen uns beeilen. Es ist ein Tornado im Anmarsch.«

Noch während sie das sagte, nahm das Getöse draußen zu, und ihr wurde bewusst, dass es nicht nur der Wind und die Sirenen waren. Zusätzlich ertönte ein lautes Brüllen, in das sich Ächzen, Reißen und Krachen mischte, als würde die Welt um sie herum in Fetzen gerissen. Keine zwei Minuten später war ihre ältliche Kundschaft geschlossen auf dem Weg zum Sturmkeller. Dr. Remington hatte in jedem Arm eine Dame, eine noch mit Lockenwicklern im Haar. Staub und mitgerissene Kleinteile prasselten auf sie ein, aber niemand wurde von etwas Größerem als ein paar Zweigen getroffen.

Ein Stück weiter vorn stand Schwester Rosie am Eingang zum Sturmkeller. Eilig scheuchte sie die Leute nach unten, wo sie sicher waren. Jetzt raste Jill mit Mrs. McDirmity in ihrem Rollstuhl an Nora vorbei. Der Arzt bugsierte seine zwei Damen in den Sturmkeller, dann rief er hinein und bat um Hilfe. Gemeinsam mit einem der Männer aus dem Diner gegenüber trug er die gehbehinderte alte Dame nach unten. Der Rollstuhl wurde zusammengeklappt und ebenfalls in den Sturmkeller gezogen.

»Kommen Sie, Mrs. Gelson«, drängte Nora und stützte ihre Kundin. Mit vorsichtigen Trippelschritten bewegte die Witwe sich auf die unterirdische Zuflucht zu.

Schließlich war nur noch Nora auf der Straße. Auf der Suche nach Nachzüglern schaute sie sich um, entdeckte jedoch niemanden. Ihr Blick blieb an den vertrauten Gebäuden und Geschäften hängen. Wie viele davon würden den Sturm überleben?

Sie sandte ein Stoßgebet gen Himmel, dass es keine Toten geben würde, dann trat sie in den Keller. Doch als sie nach der Tür griff, um sie hinter sich zuzuziehen, konnte sie nicht anders, als innezuhalten und zurückzuschauen, während der Tornado dicht genug heranstürmte, um das Dach eines leer stehenden Gebäudes am Ende der Straße abzureißen.

Ein langer dünner Finger wirbelnder Finsternis wand sich bis in den Himmel, und der Lärm war so laut, dass sie ihn nur noch als Vibration wahrnahm. Die Erde bebte, der Himmel ächzte. Irgendwann einmal hatte sie einen Artikel gelesen, in dem ein Tornado wie der Finger Gottes beschrieben wurde, der ohne Sinn und Verstand quer über die Landschaft wütete und alles zerstörte, was ihm in die Quere kam. Nie zuvor hatte sie diese rohe Macht jedoch mit eigenen Augen gesehen. Es war überwältigend. Es war …

»Was, zum Teufel, treiben Sie da?«, blaffte ein Mann sie an, und im nächsten Moment legten sich zwei Arme um ihre Taille und rissen sie ins Halbdunkel des Kellers.

Instinktiv ließ Nora die Tür los, die mit lautem Knall zufiel. Sie spürte mehr, als dass sie es sah, wie sich vor ihr eine Hand hob, um den Riegel vorzuschieben. Aber was wirklich ihre Aufmerksamkeit fesselte, war die Hitze des Mannes, der sie so fest an sich drückte.

Er hielt sie in einer peinlich intimen Umarmung – ihren Rücken an seinen breiten Brustkorb gepresst. Doch das hielt sie nicht davon ab, seine Körperwärme und seine Kraft zu spüren. Sie war groß, eins fünfundsiebzig, aber er überragte sie. Seine immer noch um sie geschlungenen Arme ruhten direkt unter ihren Brüsten. Als er die Hand bewegte, streiften seine Finger die nackte Haut an ihrem Bauch. Nora durchlief ein Schauer. Nicht weil sie fror oder sich vor dem nahenden Wirbelsturm fürchtete, sondern weil … Na ja … weil …

Nora presste die Lippen aufeinander und stieß die fremden Arme weg. Sie wusste nicht, warum sie erschauert war, und es war ihr auch egal. Rasch trat sie einen Schritt weg von dem Kerl, der sie so geschickt eingefangen hatte, dann drehte sie sich um und bedachte ihn mit einem finsteren Blick – und sah den dunkelblonden Mann im weißen Kittel vor sich. Zu den braungrünen Augen zierten auch noch Sommersprossen sein gut geschnittenes Gesicht. Natürlich, Stephen Remington. Kein anderer hätte gewagt, sie so anzufassen.

Sie hob eine Augenbraue – den Trick hatte sie sich schon in der Schule angeeignet. »Ich hätte nicht gedacht, dass ein Arzt auf solche Mittel angewiesen ist, um mal auf Tuchfühlung zu gehen«, bemerkte sie wie nebenbei und rechnete damit, dass er jetzt wütend lospoltern und gegen diese infame Unterstellung protestieren würde.

Stattdessen unterzog Dr. Stephen Remington, der Neue in der Stadt, sie einer langsamen Ganzkörpermusterung, beginnend bei ihren Stiefeln und bis hinauf zu ihren Brüsten, bevor sein Blick auf ihrem entblößten Bauch ruhen blieb. »Ich hätte nicht gedacht, dass eine Frau in Ihrem Alter sich wie ein Teenager anziehen muss, bloß um ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen.«

»Das verstehen Sie falsch«, entgegnete sie kühl. »Ich habe kein Interesse an solcher Aufmerksamkeit. Jedenfalls nicht von Ihnen.«

Ihr war durchaus bewusst, dass ihr Wortgeplänkel von einem gefesselten Publikum verfolgt wurde. In dem kleinen Sturmkeller verstand man jedes Wort. Sie war so dämlich gewesen, auf der Treppe Maulaffen feilzuhalten und den herannahenden Sturm anzugaffen. Der Arzt hatte sie schlicht in den Keller gezogen, damit sie nicht alle ums Leben kamen.

Da sie nicht wusste, wie sie die Unterhaltung sonst beenden sollte, drehte sie ihm einfach den Rücken zu und befasste sich mit ihren ältlichen Kundinnen. Der Keller war etwa sechs mal sechs Meter groß und an drei der vier Wände mit Bänken ausgestattet. Es gab genug Vorräte, um ein Dutzend Menschen zwei Tage lang zu versorgen, und in einem mit einem Vorhang abgetrennten Alkoven stand eine tragbare Toilette. Alle aus dem Snip ’n Clip hatten es sicher hierher geschafft, und Noras Angestellte umarmten ihre Kundinnen und trösteten einander.

Mrs. McDirmity berührte die Locken ihrer neuen Dauerwelle. »Wenigstens hatte Jill schon alles ausgespült«, sagte sie und lächelte verhalten. »Ich hoffe, meine Katzen überstehen den Sturm unbeschadet.«

Nora setzte sich zu ihr und nahm die gekrümmten Finger der alten Dame zwischen ihre Hände. »Sie wissen doch, wie gern die beiden sich unter Betten und Sofas verstecken, wenn sie Angst haben«, erinnerte sie ihre Kundin. »Und das ist im Augenblick auch der beste Ort für sie. Ihre Instinkte werden sie schon richtig leiten.«

Mrs. McDirmity nickte. »Ich weiß. Ich mache mir einfach nur Sorgen. Schließlich sind die beiden alles, was ich habe.«

So wechselte Nora mit all ihren Kundinnen ein paar Worte, dann unterhielt sie sich mit einigen anderen Leuten, die gerade im Diner gesessen hatten. Dr. Remington mied sie allerdings mit großer Sorgfalt. Oft spürte sie seinen Blick auf sich ruhen, erwiderte die Aufmerksamkeit aber nie. Denn wie sie ihm bereits erklärt hatte: Sie war nicht interessiert. Weder an ihm noch an sonst irgendeinem Mann. Diese Lektion hatte sie schon vor langer Zeit gelernt.

Das Getöse draußen wurde noch schlimmer, als der Wirbelsturm direkt über sie hinwegzog. Durch das Brüllen des Windes drangen schweres Krachen und das Klirren von berstendem Glas.

In der Ecke begann Mrs. Arnold zu röcheln. Hektisch fingerte sie an ihrer Handtasche herum, bekam jedoch nicht genug Luft, um sie zu öffnen und ihren Inhalator herauszuholen.

»Asthma«, informierte Nora den Arzt, als er zu der Frau eilte.

Stephen Remington nickte nur knapp. »Ich weiß. Sie ist meine Patientin.«

Nora knirschte mit den Zähnen. »Okay, Entschuldigung, dass ich helfen wollte«, zischte sie leise und hoffte, dass der Sturm bald vorüber sein würde. Wenn sie noch viel länger mit diesem furchtbaren Kerl hier herumhocken musste, würden sicher die Fetzen fliegen.

Knapp zwanzig Minuten später trauten sie sich aus dem Sturmkeller hervor. Nora war eine der Letzten, die nach draußen in die trübe Düsternis trat, die sich erst langsam aufhellte. Die Hauptstraße war verschont geblieben, ihr Salon stand noch. Aber zwei Seitenstraßen sahen aus, als hätte ein Riese darin getobt. Überall lagen Trümmerteile verstreut, und auf dem Gehweg vor dem Kurzwarenladen stand ein leuchtend roter Pick-up. Ein leuchtend roter Pick-up, der vor dem Wirbelsturm noch nicht da gewesen war.

Als die ersten Tropfen fielen, steuerte sie im Laufschritt auf ihren Salon zu. Der Sturm zog in nordöstliche Richtung weiter, was bedeutete, dass er die Ranch bereits passiert hatte. Sie wollte ihre Familie anrufen und sich vergewissern, dass es allen gut ging.

Auch ihre Kundinnen hatten es eilig, ins Trockene zu kommen, und zwei von ihnen bot Nora einen stützenden Arm. Als sie mit den letzten Nachzüglerinnen den Salon betrat, legte Jill gerade das schnurlose Telefon weg.

»Die Leitung ist tot«, sagte die Stylistin. »Aber das wundert mich auch nicht. Der Strom ist auch ausgefallen.«

Mit einem zuversichtlichen Lächeln ging Nora zu ihrer Handtasche hinüber und holte ihr Handy heraus. »Willkommen in der Neuzeit. Wenn die Funktürme überlebt haben, dürften wir wenigstens so jemanden erreichen.« Sie gab das Gerät an Jill weiter. »Deins ist immer noch kaputt, oder? Ruf ruhig erst mal deine Kinder an. Aber wenn ich mir so ansehe, in welche Richtung der Sturm zieht, würde ich schätzen, euer Haus liegt mehrere Meilen außerhalb der Gefahrenzone.«

Dankbar lächelte ihre Stylistin sie an, dann tippte sie ihre Nummer. Nora sah, dass Mary und Kathy den Kundinnen bereits geholfen hatten, ihre Sachen zusammenzusuchen. Allen wurde eingeschärft, zu Hause zu bleiben, bis der Strom wieder da war, und dann wieder herzukommen, um ihre jeweilige Sitzung zu Ende zu bringen.

Mrs. Arnold hatte ihr Asthma wieder unter Kontrolle und legte sich ein Tuch über die immer noch fest auf Lockenwickler gedrehten Haare. »Das wird wohl bald von allein getrocknet sein«, befand sie fröhlich. »Ich komme dann einfach wieder, damit Sie es auskämmen können.«

»Aber natürlich«, versprach Nora ihr. Gerade als sie noch etwas hinzufügen wollte, sah sie Rosie auf der anderen Straßenseite zur Arztpraxis rennen.

Schnell trat Nora vor die Tür. »Gibt es Verletzte?«, rief sie.

Keuchend blieb Rosie einen Moment stehen. »Ein Dutzend oder mehr. Orchard Park hat es komplett zerlegt. Da waren kleine Kinder mit ihren Müttern zu Hause … und in den Neubauten einige Bauarbeiter. Dr. Remington sieht sich die Verletzungen gerade an, und für die schlimmsten lassen wir einen Hubschrauber kommen. Ich muss ihm Verbandsmaterial und Medikamente nachliefern.«

Orchard Park war ein Neubaugebiet in Lone Star Canyon, das erst halb fertig gewesen war. Dutzende Häuser hatten sich noch im Bau befunden. Da die meisten Gebäude dort etwas kleiner und weniger teuer waren, war es der perfekte Ort für junge Familien.

»Können Sie ein zusätzliches Paar Hände gebrauchen?«, fragte Nora. »Hier geht es allen gut. Ich habe zwar keine Ahnung von Erster Hilfe, aber Anweisungen kann ich befolgen.«

Dankbar lächelte Rosie sie an. »Aber so was von. Kommen Sie, helfen Sie mir beim Tragen, und dann finden wir schon Verwendung für Sie.«

Rasch klärte Nora, wie es im Salon weitergehen sollte. Jill wollte nach Hause fahren und nach ihren Kindern sehen, während Mary einige Kundinnen zu Fuß heimbringen und Kathy im Salon bleiben würde. Als das erledigt war, hastete Nora in Richtung Arztpraxis und betete, dass keine schweren Verletzungen dabei sein würden. Um ihretwillen betete sie außerdem darum, dass sie nicht allzu viel Blut würde sehen müssen. Verbal konnte sie überall und jederzeit jeden Mann plattmachen, aber der Anblick von Blut zwang sie in die Knie.

Der Hubschrauber hob in einem Luftwirbel ab, der Stephen an den Tornado erinnerte. Als der Pilot nach Westen in Richtung County-Krankenhaus abgedreht hatte, atmete Stephen erleichtert auf. Der Patient im Helikopter war bei den Notfallsanitätern in besten Händen. Also fokussierte er sich auf die wenigen noch verbliebenen Menschen, die auf seine Hilfe angewiesen waren. Effizient wie immer hatte Schwester Rosie ihm geholfen, die Verletzungen einzuschätzen. Sie hatte Verbandsmaterialien und Medikamente besorgt, Familienangehörige ausfindig gemacht und sich insgesamt genauso professionell verhalten, wie er sie kannte. Das Überraschende war ihre Assistentin.

Als Rosie zur Praxis gelaufen war, um Nachschub zu holen, war sie mit einem Arm voll Verbandsmaterial und Nora Darby zurückgekehrt. Die schöne Mittzwanzigerin hatte offensichtlich keinen Schimmer von Erster Hilfe, aber sie packte mit an, wo immer Rosie sie hinschickte, drückte Blutungen ab, spülte Schnittwunden aus, hielt Händchen und verteilte tröstende Worte. Ein paarmal war sie merklich blass geworden, aber davon abgesehen hatte sie bewundernswert durchgehalten. Sie mochte ja ein gefährliches Mundwerk haben, aber dazu besaß sie auch ordentlich Rückgrat und viel Mitgefühl.

Jetzt ging Stephen zu der provisorischen Erste-Hilfe-Station, die er zusammen mit Rosie auf dem Parkplatz des Supermarkts eingerichtet hatte. Unter dem langen Vordach waren sie vor dem Regen geschützt. Stephen sah noch einmal nach dem vorhin genähten Schnitt im Zeigefinger eines heulenden Vierjährigen, dann entfernte er einem jungen Mann mehrere Glassplitter aus dem Auge.

»Kommen Sie bitte morgen früh zu mir in die Praxis«, wies er den Tischler an. »Dann nehmen wir Ihnen den Verband ab und machen einen Sehtest. Aber so, wie ich das einschätze, dürfte bald wieder alles in Ordnung sein.«

»Danke, Doc.« Sie reichten einander die Hand.

Rosie kam herüber und lächelte den Patienten an, dann wandte sie sich an Stephen. »Wir sind hier dann so weit fertig«, informierte sie ihn. »Wollen Sie schon mal zurück in die Praxis, falls noch Nachzügler kommen? Ich würde dann hierbleiben und alles zusammensuchen.«

»Ich helfe Ihnen«, erklärte einer der Bauarbeiter, der einen Kollegen hergebracht hatte. »Wir können die Sachen in meinen Wagen laden.«

Stephens Einschätzung nach hatte die Hilfsbereitschaft des Kerls weniger mit seinem wohltätigen Wesen zu tun als mit Rosies zierlicher, kurvenreicher Figur und ihren warmen braunen Augen. Während der vergangenen sechs Monate hatte er in Erfahrung gebracht, dass seine unglaublich effiziente Helferin Mitte dreißig und geschieden war und in ihrer Freizeit eher für sich blieb. Ein bisschen wie Nora, dachte er und beäugte die hochgewachsene Frau, die gerade mit einer jungen Mutter und zwei verschreckten, aber unverletzten Kindern sprach. Nur dass Rosie jederzeit für jeden ein liebes Wort übrig hatte, während Nora reizbar wie die erwähnte angeschossene Bärenmutter war.

Rosie und er waren in etwa gleich alt, und sie waren beide solo. Eigentlich hätte es zwischen ihnen knistern sollen, aber dem war nicht so. Freundschaftliche Zusammenarbeit, mehr war da nicht. Bisher hatte hier noch keine Frau seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen – nicht dass ihn das überraschte.

Er überließ Rosie dem Bauarbeiter mit dem Hundeblick und machte sich auf den Rückweg ins Stadtzentrum. Aus dem Augenwinkel sah er Nora auf sich zukommen und dann zögern, als wäre die Vorstellung, Zeit mit ihm zu verbringen, zu viel für sie.

»Ich beiße nicht«, versprach er und winkte ihr, ihn zu begleiten.

Sie hob bloß eine Augenbraue. »Damit hatte ich auch nicht gerechnet«, antwortete sie in gelangweiltem Tonfall, der deutlich machte, dass ihr herzlich egal war, was Stephen tat oder eben nicht tat.

Eigentlich betrachtete Stephen sich als vernünftigen Mann, aber zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er den Drang, eine ihm gestellte Herausforderung anzunehmen. Noch faszinierender war, dass er, als die hochgewachsene Schönheit sich ihm anschloss, echte Neugier empfand. Wer war Nora Darby, und wieso hatte sie einen derartigen Hass auf Männer?

»Danke für Ihre Hilfe heute«, sagte er.

»Kein Problem.« Sie warf sich das Haar über die Schulter. »Wir hatten Glück, große Schäden gab es wohl nicht in der Stadt. Ich hab mit meiner Mom telefoniert, auf unserer Ranch ist alles gut, aber wie es den anderen ergangen ist, weiß ich nicht. Von weiter draußen könnten noch ein paar Verletzte reinkommen.«

Das hatte er nicht bedacht. »Dann ist es ja gut, dass wir auf dem Weg in die Praxis sind«, stellte er fest. »Da werden die Leute wohl als Erstes nach mir suchen.«

Schon öffnete sie den Mund zu einer Antwort, doch bevor sie etwas sagen konnte, raste ein Pick-up-Truck mit mindestens siebzig Sachen um die Ecke und wäre beinah umgekippt. Als der Fahrer sie entdeckte, begann er zu hupen, dann kam er schlitternd mitten auf der Straße zum Stehen.

»Doc, Doc, Sie müssen uns helfen!« Aus der Fahrerkabine stieg ein alter Mann und hastete zur Ladefläche herum. »Meinen Jungen hat’s schlimm erwischt.«

Stephen rannte zum Wagen, kletterte auf die Ladefläche und registrierte erst dann, dass Nora ihm dicht auf den Fersen geblieben war.

Vor ihm auf einigen Decken ausgestreckt lag ein Mann Ende zwanzig. Seine Haut war bläulich weiß, die Augen hatte er geschlossen, und überall war Blut.

Neben Stephen ertönte ein leises Stöhnen, doch er konnte keinen Blick an Nora verschwenden. »Wo ist er verletzt?«, fragte er.

»Am Oberarm, kurz unter der Schulter«, erklärte der alte Mann. »Ich hab schon einen Druckverband gemacht, aber die Blutung wollte einfach nicht aufhören.«

Stephen sah die Kompresse aus mehreren Bandagenrollen und hob sie an. Blut schoss hervor, und rasch drückte er das Material wieder hinunter. Es war unmöglich zu sagen, wie viel Blut der Mann bereits verloren hatte. Zu viel, so viel war sicher. Er befand sich bereits in einem Schockstadium.

Rasch blickte Stephen zu dem alten Mann auf. »Fahren Sie«, befahl er. »Wir müssen ihn in die Praxis bringen. Sofort!«

Der Vater beeilte sich zu gehorchen und rutschte wieder hinters Steuer. Stephen öffnete den Erste-Hilfe-Koffer, den er bei sich trug, und fischte mehrere dicke Bandagen heraus, um die durchgeblutete Kompresse durch eine frische zu ersetzen. Dann wies er Nora an, mit aller Kraft auf die Wunde zu drücken.

Holpernd raste der Wagen durchs Stadtzentrum und kam mit quietschenden Reifen vor der Arztpraxis zum Stehen.

»Nicht bewegen«, wies Stephen seine freiwillige Helferin an, sprang von der Ladefläche und rannte ins Gebäude.

Keine Minute später war er mit zwei Infusionsbeuteln wieder draußen – einer Blutkonserve der Sorte null negativ und einem Beutel Kochsalzlösung. Als er für beides einen Zugang gelegt hatte, tauschte er den Platz mit Nora.

»Ich werde das nähen müssen«, erklärte er und schaute zum ersten Mal seit dem Auftauchen des Pick-ups zu ihr auf. Sie war beinahe so weiß wie sein Patient. »Können Sie mir helfen?«

Sie nickte und schluckte. »Ich brauche nur mal eben eine halbe Minute.«

Wozu? fragte er sich. Doch bevor er nachhaken konnte, kletterte sie schwankend aus dem Wagen, rannte zum nächsten Mülleimer und übergab sich. Wie versprochen war sie innerhalb einer halben Minute wieder an seiner Seite.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Nein, aber das spielt keine Rolle. Umkippen werde ich nicht, und falls ich noch mal kotzen muss, drehe ich den Kopf in die andere Richtung.«

Damit zog sie die Handschuhe über, die er ihr reichte, und lauschte dann aufmerksam, während er ihr erklärte, wie er vorgehen würde. Als er ihr weitere Bandagen und eine Spüllösung reichte, tat sie sorgfältig wie geheißen. Zwischendurch musste sie innehalten, um sich noch einmal zu übergeben, aber davon abgesehen assistierte sie ihm ebenso ruhig und effizient wie Schwester Rosie persönlich.

Bis der Krankenwagen abfuhr und den Mann ins Krankenhaus transportierte, war es bereits dunkel. Nora lehnte an der Wand des Praxisgebäudes und ermahnte sich, ruhig weiterzuatmen. Wenigstens hatte ihr Magen sich vor etwa einer Stunde beruhigt. So viel wie heute hatte sie sich seit einer Magen-Darm-Grippe vor drei Jahren nicht mehr übergeben, und ehrlich gesagt konnte sie darauf auch für den Rest ihres Lebens verzichten.

Doch obwohl sie sich ausgelaugt fühlte und noch immer leicht zitterte, war sie ungemein stolz auf sich. Denn auch wenn ihre medizinischen Kenntnisse sich darauf beschränkten, ein Pflaster aufzukleben, hatte sie heute helfen können. Sie hatte ihrer Gemeinde in der Not beigestanden.

Jetzt blickte sie zum mittlerweile dunklen Snip ’n Clip hinüber und dachte daran, hineinzugehen und alles wieder in Ordnung zu bringen. Seit ungefähr fünf war der Strom wieder da, somit könnte sie staubsaugen und wischen und … Sie seufzte. Nicht heute Abend. Dazu war sie schlicht zu müde.

»Wie fühlen Sie sich?«

Sie blickte auf und sah Stephen Remington auf sich zukommen, der seinen blutbespritzten Kittel und die Krawatte abgelegt hatte. Bevor sie antworten konnte, fühlte er ihre Stirn, dann tastete er am Handgelenk nach ihrem Puls. Was allerdings noch viel ärgerlicher war als die ungefragte Berührung, war, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Okay, der Mann ist ein halbwegs anständiger Arzt, gestand sie ihm widerwillig zu. Allerdings gab ihm das noch lange nicht das Recht, sie zu untersuchen.

»Mir geht’s bestens«, behauptete sie, entzog sich seinem Griff und startete den jämmerlichen Versuch eines bösen Blicks. »Jetzt bedanken Sie sich, und ziehen Sie Leine.«

»Danke«, erwiderte er sofort. »Aber Leine ziehe ich ganz bestimmt nicht. Sie haben den ganzen Tag lang nichts gegessen, und das wenige, was noch vom Frühstück geblieben war, haben Sie ausgekotzt.«

»Wohl wahr«, gab sie zu und musste gegen ihren Willen lächeln.

»Dann lassen Sie mich meine Dankbarkeit auf ganz praktische Weise ausdrücken. Ich lade Sie zum Essen ein.« Er deutete auf den Diner am Ende der Straße, der wieder geöffnet hatte. »Das meiste, was sie da auf der Karte haben, hab ich probiert. Gar nicht so übel.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Danke für den Hinweis, aber Ihnen ist schon klar, dass ich in dieser Stadt geboren wurde und mein gesamtes Leben hier verbracht habe, oder? Aller Wahrscheinlichkeit nach habe ich in diesem Diner schon weit öfter gegessen als Sie, von daher kann ich auf Ihre Anmerkungen zur Speisekarte verzichten.«

»Warum sind Sie denn so mies gelaunt? Das muss der niedrige Blutzuckerspiegel sein. Sie brauchen dringend was zu beißen.«

Damit legte er ihr eine Hand auf den Rücken und bugsierte sie in Richtung Diner. Und zu ihrer großen Überraschung ließ sie ihn gewähren.

2. Kapitel

Was hab ich mir nur dabei gedacht! schalt Nora sich, als sie gemeinsam mit Stephen Remington zu einer Sitznische ganz hinten im Lone Star Café geleitet wurde. Normalerweise war es hier zur Frühstücks- und Mittagszeit voll und abends relativ leer. Da allerdings die Hälfte der Stadt noch immer ohne Strom war und der Diner zum glücklichen Rest gehörte, waren viele Familien hierhergekommen, um sich ein hausgemachtes Abendessen zu gönnen und sich über den Tornado auszutauschen. Was bedeutete, dass es reichlich interessierte Gäste gab, die beobachteten, wie sie sich dem Arzt gegenübersetzte – und es flüsternd kommentierten, was zufälligerweise im ganzen Diner zu hören war.

Wenigstens hatte sie den Platz mit dem Rücken zur Menge ergattert, sodass sie nicht auch noch in die neugierigen Gesichter blicken musste. Sie seufzte. In Lone Star Canyon gab es nun einmal nicht viel mehr zu tun, als über die Nachbarn zu tratschen. Abgesehen von einigen spektakulären Ausnahmen war es ihr gelungen, dem Scheinwerferlicht fernzubleiben. Heute Abend war es damit allerdings vorbei.

»Warum seufzen Sie so schwer?«, erkundigte sich Stephen und nahm die Speisekarte zur Hand. Doch statt das Angebot zu studieren, sah er Nora an, als wäre ihre Antwort das mit Abstand Interessanteste, was er heute zu hören bekommen würde.

»Die Leute werden reden«, erklärte sie knapp. Sie musste nicht auf die Karte schauen. In der Tat hatte sie hier oft genug gegessen, dass sie das Angebot auswendig hätte aufsagen können.

»Über den Tornado? Wieso denn auch nicht? So was passiert schließlich nicht alle Tage.«

Sie war bereit, ihm zuzugestehen, dass er recht gut aussah und hart gekämpft hatte, um gleich mehrere Leben zu retten. Auch hatte sie gehört, er sei ein netter Mann – nicht dass sie interessiert oder auf der Suche wäre –, aber offensichtlich hatte er ein dickes Brett vor dem Kopf.

»Nicht über den Sturm«, erklärte sie und wünschte, Trixie würde sich beeilen, ihre Bestellung aufzunehmen, oder – noch besser – sie selbst hätte sich gar nicht erst bereit erklärt, mit Stephen essen zu gehen. »Darüber, dass ich hier mit Ihnen aufkreuze.«

»Oh.«

Diese einzelne Silbe klang sehr vieldeutig. Was genau er damit ausdrücken wollte, konnte sie nicht sagen, aber es gefiel ihr ganz und gar nicht.

»Ja, oh. Ich hab keine Lust darauf, dass die ganze Stadt über mein Privatleben spekuliert.«

»Weil …?« Fragend sah er sie an.

Sie lehnte sich vor und senkte die Stimme. Außerdem sprach sie langsam, damit er ihr auch folgen konnte. »Weil die Leute denken könnten, das hier wäre ein Date.«

»Ich hab schon gehört, dass Sie nicht oft mit Männern ausgehen«, gab er zu. »Tatsächlich wurde mir sogar mitgeteilt, es hätten sich schon Bessere als ich die Zähne an Ihnen ausgebissen.«

»Ich mag es gar nicht, wenn hinter meinem Rücken über mich geredet wird.«

»Da Sie nicht anwesend waren, wäre es schwer gewesen, dieses Gespräch vor Ihnen zu führen.«

»Sie hätten es auch einfach lassen können.«

Kapitulierend hob er die Hände. »Ich hab nicht damit angefangen, das war jemand anders. Ich hab mich einfach nur beteiligt.«

Unwillig presste sie die Lippen aufeinander und antwortete nicht. Es hatte keinen Zweck, weiter darüber zu reden. Stephen allerdings schien das anders zu sehen.

»Wo liegt denn das Problem?«, hakte er nach. »Warum gehen Sie so selten aus?«

»Miss Nora kann Männer nicht ausstehen«, vernahmen sie da eine fröhliche Stimme.

Mit Mühe unterdrückte Nora ein frustriertes Stöhnen. Ihr Wunsch, Trixie möge auftauchen, hatte sich erfüllt, aber das Timing hätte nicht mieser sein können.

Sofort wandte Stephen seine Aufmerksamkeit der hübschen Mittvierzigerin mit der voluminösen feuerroten Föhnfrisur zu, die ihm kokett zuzwinkerte.

»Unsere Nora hier ist der Himalaya von Lone Star Canyon. Gucken können Sie, so viel Sie wollen, und an klaren Tagen wirkt sie richtig einladend, aber wenn Sie versuchen, sie zu bezwingen, dann sterben Sie einen grausamen Erfrierungstod.«

»Danke für die Aufklärung, Trixie«, bemerkte Nora trocken.

»Wollte nur helfen«, gab die Kellnerin breit lächelnd zurück. »Der Hackbraten ist toll heute Abend – wie immer. Genau wie das Knusperhähnchen. Den Fisch würde ich heute lieber nicht nehmen, der hat eine Weile draußen gestanden, als der Tornado gewütet hat.«

Stephen legte die Hand auf seine Speisekarte. »Lassen Sie uns noch einen Moment überlegen. Aber zu trinken könnten wir schon was bestellen … Nora, was möchten Sie?«

»Kaffee«, antwortete sie und wünschte, es gäbe einen Weg, aus diesem Diner zu spazieren und spurlos zu verschwinden. Schon jetzt spürte sie, wie sich Hitze in ihren Wangen breitmachte. Es war, als wäre sie wieder sechzehn und hätte einer Freundin ihre heimliche Schwärmerei für Bobby Jones verraten. Leider hatte dessen kleine Schwester hinter der Ecke gelauscht und es prompt in der gesamten Schule herumposaunt. Eine volle Woche lang hatte Nora einen ständigen Singsang von »Nora liebt Bobby« über sich ergehen lassen müssen. Die Tatsache, dass das Objekt ihrer Begierde sie später zum Schulball eingeladen hatte, war da nur wenig tröstlich gewesen.

Nicht dass sie irgendein Interesse an Stephen Remington gehabt hätte. Es gefiel ihr einfach nur nicht, mit einem Gebirgszug verglichen zu werden, auf dem ein Mann erfrieren konnte.

»Ich nehme auch einen Kaffee«, sagte der Arzt.

Als Trixie wieder ging, herrschte einen Moment lang Schweigen zwischen ihnen. Hektisch suchte Nora nach einem neutralen Gesprächsthema. Egal was, Hauptsache, es hatte nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun. Leider wollte ihr partout nichts einfallen.

»Ich hab gehört, auf einigen der Ranches in der Nähe hat es erhebliche Schäden gegeben«, bemerkte Stephen beiläufig. »Sie haben erwähnt, Sie hätten mit Ihrer Familie telefoniert. Da geht es allen gut, oder?«

In diesem Moment war sie ihm so dankbar, dass sie beinahe beschlossen hätte, ihn zu mögen. Aber nur beinahe. »Ja. Meine Mom hat erzählt, bis auf das Haus meines Bruders – ein Totalschaden – ist das meiste heil davongekommen.« Sie dachte an Jacks kleines Zweizimmerhäuschen. »Aber das wird er schnell wieder hochziehen können. Von den Arbeitern ist auch niemand verletzt. Allerdings gab es auf den benachbarten Ländereien bei den Fitzgeralds wohl größere Schäden. Der Zaun ist platt gewalzt, aber der große Patriarch Aaron lässt natürlich niemanden bei der Reparatur helfen – mal wieder typisch.«

Stephen lehnte sich vor, und ihm fiel eine dunkelblonde Haarsträhne in die Stirn, was ihn seltsam anziehend aussehen ließ. Unschuldig, aber mit dem Schalk im Nacken – wie ein kleiner Junge, der gerade einen Streich ausheckte.

»Stimmt ja, Sie sind eine Darby, nicht wahr? Teil der berüchtigten Darby-Fitzgerald-Fehde.«

Trixie erschien mit ihrem Kaffee, und Nora bestellte den Hackbraten, während Stephen sich für das Knusperhähnchen entschied. Als die Kellnerin wieder ging, zuckte der Arzt die Achseln. »Ich weiß ja, dass Frittiertes ungesund ist, aber ich habe nun mal eine Schwäche dafür. Ein paarmal im Monat lasse ich mir das durchgehen, und ich dachte, heute habe ich es mir redlich verdient.«

Sie dachte an die Leben, die er gerettet hatte. Wie ruhig er geblieben war, trotz all der vielen Verletzungen. Während sie sich die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, hatte er sich darangemacht, das Problem zu lösen.

Jetzt nahm er seinen Kaffeebecher zwischen die kräftigen Hände. »Also, erzählen Sie mal von dieser Familienfehde. Wie ist es dazu gekommen und wann? Und wieso liegt die Reparatur des Zauns in Aarons Verantwortung? Der gehört doch beiden Familien zu gleichen Teilen, oder?«

Sie hob die Augenbrauen. »Soll ich jetzt hundertvierzig Jahre Familiengeschichte in eine fünfminütige Zusammenfassung quetschen?«

»So in der Art.«

Sie nippte an ihrem Kaffee und spürte die Hitze, als er sich in ihrem Magen ausbreitete. Plötzlich hatte sie einen Bärenhunger. »Das mit dem Zaun lässt sich deutlich leichter erklären. Die Darbys und die Fitzgeralds teilen sich über dreißig Kilometer Zaun. So vor ungefähr sechzig oder siebzig Jahren waren die Familien mal wieder wegen irgendwas vor Gericht gezogen – das haben sie damals ziemlich oft getan. Na ja, der Richter hatte es jedenfalls so satt, diese Streithähne in seinem Gerichtssaal zu sehen, dass er den Zaun in sechs Abschnitte aufgeteilt hat. Jede Familie ist für drei davon verantwortlich. Wenn sie ihre Abschnitte nicht instand halten, müssen sie eine Strafe zahlen – zehn Prozent des Vorjahreseinkommens.«

Stephen hatte gerade an seinem Kaffee genippt und verschluckte sich beinahe, als er das Strafmaß hörte. »Zehn Prozent?«

Sie grinste. »Die Geschichte unserer Streitigkeiten reicht lange zurück. In den 1920er-Jahren gab es eine Reihe von Auseinandersetzungen wegen der Wasserrechte. Damals wurde es so schlimm, dass mehrere Cowboys ums Leben gekommen sind. Die texanische Regierung hat ein Gesetz verabschiedet, das besagte, sollte je wieder ein Darby oder ein Fitzgerald sich in die Wasserrechte einmischen, würden beide Familien ihre Ländereien verlieren.« Feierlich hob sie die Hand. »Großes Indianerehrenwort, das können Sie nachlesen.«

»Ich glaube Ihnen. Mir war nur nicht klar, dass es so viel böses Blut zwischen den beiden Familien gibt. Wie hat das Ganze denn angefangen?«

Autor

Susan Mallery

Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery unterhält ein Millionenpublikum mit ihren Frauenromanen voll großer Gefühle und tiefgründigem Humor. Mallery lebt mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen, aber unerschrockenen Zwergpudel in Seattle.

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