Hundert Jahre Zärtlichkeit

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Als Elisabeth die verschlossene Tür in Tante Veritys Haus öffnet, glaubt sie zu träumen: Die alten Möbel, ein kleines Mädchen, das altmodisch gekleidet ist - sie ist hundert Jahre in der Zeit zurückgereist! Als ihr Dr. Jonathan Fortner entgegentritt, weiß Elisabeth plötzlich, dass ihr dieser Mann vom Schicksal bestimmt ist, dass sie bei ihm eine Liebe erfahren wird, die in der Vergangenheit beginnt und niemals enden soll. Und auch wenn Elisabeth nach dieser ersten Begegnung in die Gegenwart zurückkehrt - die Sehnsucht nach Jonathan wird übermächtig. Und es kommt der Moment, in dem sie wieder die verbotene Tür öffnet ...


  • Erscheinungstag 10.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955764609
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Lael Miller

Hundert Jahre Zärtlichkeit

Aus dem Amerikanischen von M.R. Heinze

MIRA® TASCHENBUCH


MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg


Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH


Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: 

There and Now

Copyright © 1992 by Linda Lael Miller

erschienen bei Silhouette Books, Toronto


Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l


Konzeption: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildungen: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Redaktion: Mareike Müller


ISBN eBook 978-3-95576-460-9


www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. KAPITEL

Elisabeth McCartneys tief abgesackte Laune hob sich ein wenig, als sie an dem verbeulten ländlichen Briefkasten abbog und das Haus wiedersah.

Das weiße viktorianische Gebäude stand am Ende einer langen, mit Kies bestreuten Zufahrt, flankiert von Apfelbäumen in leuchtender rosigweißer Blüte. Eine Veranda zog sich an der Vorderseite und an einer Schmalseite hin, und wilde Rosenbüsche mit scharlachroten und gelben Blüten kletterten an der Westwand an einem Spalier hoch.

Elisabeth hielt ihren kleinen Kombi seufzend vor der Garage an und betrachtete mit müden blauen Augen die Veranda mit dem durchhängenden Boden und der abblätternden Farbe. Noch vor weniger als zwei Jahren hätte Tante Verity auf den Stufen gestanden und sie mit einem Lächeln und einer Umarmung erwartet. Und Elisabeths Lieblingscousine Rue wäre über das Geländer gesprungen, um sie zu begrüßen.

Unwillkürlich füllten sich Elisabeths Augen mit Tränen. Tante Verity war tot, und Rue war Gott weiß wo und riskierte vermutlich Kopf und Kragen für eine brandheiße Reportage. Die Scheidung von Ian, die erst seit einem Monat rechtskräftig war, stellte ein Trauma dar, das Elisabeth allein überwinden musste.

Schniefend straffte sie ihre Schultern und holte tief Luft, um sich Mut zu machen. Sie griff nach der Handtasche, stieg aus dem Wagen und zog ihren Koffer hinter sich her. Liebend gern hatte sie Ian ihre ultramodernen Möbel aus Plastik und Rauchglas überlassen. Ihre Bücher, Bänder und anderen persönlichen Gegenstände sollten später von einer Umzugsfirma gebracht werden.

Sie schob den Schulterriemen der Tasche über die Schulter, und während sie sich der Veranda näherte, strich das hohe Gras über ihre weißen Jeans. An der Tür mit dem bunten Glaseinsatz stellte Elisabeth den Koffer ab und suchte in ihrer Tasche nach den Schlüsseln, die ihr der Makler bei ihrem Besuch in Pine River gegeben hatte.

Das Schloss war alt und widerborstig, aber es gab nach. Elisabeth öffnete die Tür und betrat mit ihrem Gepäck die vertraute Diele.

Manche Leute glaubten, dass es in diesem Haus spukte. Seit hundert Jahren gab es diese Legende in und um Pine River. Doch für Elisabeth war es ein freundlicher Ort. Es war ihr sicherer Hafen seit dem Sommer, als sie fünfzehn gewesen war. Als ihre Mutter plötzlich gestorben war, hatte ihr trauernder Vater sie hierher zu seiner etwas exzentrischen, verwitweten Schwägerin Verity geschickt.

Elisabeth lehnte sich von innen gegen die massive Tür und ließ ihre Gedanken zurückwandern. Rues wohlhabende Eltern hatten sich in demselben Jahr scheiden lassen, und Elisabeths Cousine hatte sich der kleinen Herde angeschlossen. Verity Claridge, die herrliche Geschichten über Geister und Magie und Leute, die sich zwischen den Jahrhunderten hin und her bewegten, erzählen konnte, hatte beide Mädchen aufgenommen und sie schlicht und einfach geliebt.

Elisabeth biss sich auf die Unterlippe und stieß ihre schlanke Gestalt von der Tür ab. Es hätte bedeutet, zu viel zu hoffen, dachte sie mit einem gequälten Lächeln, dass Tante Verity noch immer durch diese großen Räume wanderte.

Mit einem Seufzer hängte sie die Schultertasche über den Treppenpfosten und schleppte den Koffer hinauf. Oben befanden sich drei Schlafzimmer, alle auf der rechten Seite des Korridors. Elisabeth blieb stehen, blickte neugierig auf die einzelne Tür linker Hand und berührte den Knauf.

Hinter dieser Holztür lagen drei Meter freien Falls bis zu dem Dach des Wintergartens. Die verschlossene Tür hatte sie und Rue immer fasziniert, vielleicht weil Verity ihnen so überzeugende Geschichten über die Welt erzählt hatte, die auf der anderen Seite lag.

Elisabeth schüttelte lächelnd den Kopf und ließ ihre vorne kinnlangen und im Nacken schulterlangen blonden Locken um ihr Gesicht schwingen. »Du magst nicht mehr sein, Tantchen«, sagte sie leise, »aber der Einfluss deiner Fantasie lebt weiter.«

Damit öffnete Elisabeth die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors und betrat das Schlafzimmer der Hausherrin. Der Rest des Hauses bedurfte dringend einer Reinigung, aber der Makler hatte in Erwartung von Elisabeths Ankunft einen Reinigungstrupp geschickt, um die Küche und ein Schlafzimmer vorzubereiten.

Das große Bett mit den vier Pfosten war aufgedeckt und poliert worden. Elisabeth legte den Koffer auf die mit blauem Samt bespannte Bank am Fußende des Bettes und sah sich um.

Der gewaltige Mahagonischrank stand zwischen den beiden vom Boden bis zur Decke reichenden Fenstern mit den Vorhängen aus Nottinghamspitze. Zwei mit blauem Samt bezogene Queen-Anne-Sessel standen vor dem kleinen aus Ziegeln gemauerten Kamin, und eine Chaiselongue mit cremefarbenem Brokat zierte die gegenüberliegende Wand. Es gab auch einen Schreibtisch – Verity hatte ihn Sekretär genannt – und einen Schminktisch mit einem Sitz, der mit gestickten Rosen bespannt war.

Elisabeth setzte sich und öffnete mit leicht zitternder Hand das Schmuckkästchen. Veritys antike Lieblingshalskette, die sie von einer Freundin erhalten hatte, lag darin.

Elisabeth zog die Brauen zusammen. Seltsam, dachte sie. Sie hatte gedacht, Rue hätte die zierliche, filigrane Halskette genommen, da sie diejenige war, die Schmuck liebte. Veritys bescheidenes Vermögen – das Haus, die Möbel, ein paar Schmuckstücke und ein kleiner Treuhandfond – war Elisabeth und Rue zu gleichen Teilen hinterlassen worden, und die Cousinen hatten es unter sich aufgeteilt.

Vorsichtig öffnete Elisabeth den Verschluss, legte die Kette um ihren Hals und lächelte traurig, als sie sich an Veritys Versicherung erinnerte, der Anhänger würde magische Kräfte besitzen.

In dem Moment läutete das Telefon und ließ sie zusammenzucken, obwohl ihr der Makler gesagt hatte, dass es angeschlossen worden war. »Hallo?«

»Also hast du es in einem Stück geschafft.« Die Stimme gehörte Janet Finch, einer von Elisabeths engsten Freundinnen. Janet und sie hatten gemeinsam an der Hillsdale-Volksschule im nahen Seattle unterrichtet.

Elisabeth sackte ein wenig in sich zusammen, während sie in den Spiegel starrte. Die Halskette passte so gar nicht zu ihrem Seahawks-Sweatshirt. »Du tust so, als wäre ich durch einen Kugelhagel hierher gekrochen«, entgegnete sie. »Es geht mir gut, Janet, wirklich.«

Janet seufzte. »Eine Scheidung ist schmerzlich, selbst wenn es deine Idee war«, behauptete sie. »Ich hätte es einfach besser gefunden, wenn du in Seattle geblieben wärst, wo du deine Freunde hast. Ich meine, wen kennst du schon in dieser Stadt?«

Es stimmte, dass ihre meisten Freunde von Pine River weggezogen waren. »Ich kenne mich selbst«, antwortete sie. »Und die Buzbee-Schwestern.«

Trotz ihrer Sorge lachte Janet. Auch wenn sie wie Elisabeth knapp dreißig war, konnte sie manchmal ein richtiger Brummbär sein. »Die Buzbee-Schwestern? Ich glaube nicht, dass du mir von ihnen erzählt hast.«

Elisabeth lächelte. »Natürlich habe ich. Sie wohnen auf der anderen Straßenseite. Sie sind alte Jungfern, aber auch Abenteuerinnen. Laut Tante Verity waren sie überall auf der ganzen Welt – sie waren sogar beide beim Friedenskorps.«

»Faszinierend«, sagte Janet.

»Wenn du zu Besuch kommst, stelle ich dich vor«, versprach Elisabeth und unterdrückte mühsam ein Gähnen.

»Wenn das eine Einladung ist, greife ich natürlich sofort zu«, erwiderte Janet rasch. »Ich komme am Freitagabend und bleibe über das Wochenende, um dir zu helfen, dich häuslich einzurichten.«

Auch wenn sie Janet sehen wollte, hätte Elisabeth das erste Wochenende doch lieber allein mit ihren Gedanken verbracht. »Ich mache Spaghetti und Fleischklöße«, sagte sie resigniert. »Ruf mich an, wenn du Pine River erreicht hast, ich beschreibe dir dann den Weg.«

»Nicht nötig. Du hast in diesem Haus geheiratet, und ich war dabei, falls du das vergessen haben solltest.«

»Dann freue ich mich auf Freitag«, sagte Elisabeth und legte nach einer schnellen Verabschiedung auf.

Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Elisabeth sich auf das Bett sinken, streckte sich aus und blickte zu dem kunstvoll bestickten Baldachin hoch. Sie musste ihre Augen für ein paar Sekunden ausruhen.

Elisabeth musste eingeschlafen sein, denn als die Musik sie weckte, fiel weniger Sonnenschein in den Raum, und es war kühl.

Musik …

Elisabeths Herz schlug bis zu ihrer Kehle hinauf, als sie sich aufsetzte und umschaute. Es gab kein Radio und keinen Fernseher im Raum, und doch drangen die fernen, märchenhaften Klänge eines Klaviers an ihre Ohren, begleitet von der Stimme eines Kindes.

Funkle, funkle, kleiner Stern, ich möchte sehen dich so gern …

Verwirrt kletterte Elisabeth aus dem Bett und wollte den Klängen folgen, aber die verstummten, als Elisabeth den Korridor erreichte.

Trotzdem eilte sie die Treppe hinunter.

Der kleine Salon mit Tante Veritys Spinett war leer, und das Spinett selbst war unter einer Abdeckhaube verborgen. Elisabeth überprüfte das große, altmodische Radio in dem Wohnraum und den tragbaren Fernseher auf der Küchentheke.

Keines der Geräte war eingeschaltet.

Vielleicht hatten ihre Freundinnen wirklich Grund zur Sorge. Vielleicht wirkte sich die Scheidung stärker auf sie aus, als sie gedacht hatte.

Fünf Minuten später hatte sie sich dazu durchgerungen, nach Pine River zu fahren und einzukaufen. Da sie die Schuhe oben gelassen hatte, ging sie die hintere Treppe hinauf.

In dem Moment, als Elisabeth den ersten Stock erreichte, erklang die Klaviermusik wieder laut und deutlich, donnernd und misstönend. Elisabeth erstarrte, ihre Finger um Tante Veritys Anhänger geschlungen.

»Ich will nicht mehr üben«, sagte eine quengelige Kinderstimme. »Es ist draußen sonnig, und Vera und ich machen ein Picknick am Bach.«

Elisabeth schloss die Augen und kämpfte um ihr Gleichgewicht. Die Stimme kam genau wie die Musik von der anderen Seite der Tür, über die Tante Verity so viele Geschichten erzählt hatte.

So auf wühlend das Erlebnis auch war, Elisabeth verspürte nichts Böses. Es war nur ihr Geisteszustand, den sie fürchtete, nicht die Geister, die angeblich dieses alte Haus bevölkerten. Vielleicht war ja in ihrem Fall die Folge eines zerbrochenen Traums ein zerbrochener Verstand.

Sie packte den Türknauf und rüttelte heftig. Es war hoffnungslos, da die Tür vor langer Zeit versiegelt worden war, aber Elisabeth gab nicht auf. »Wer ist da?«, schrie sie.

Sie war nicht verrückt. Irgendjemand spielte ihr einen grausamen Streich.

Schließlich ließ sie den Knauf los und fragte noch einmal klagend: »Bitte, wer ist da?«

»Nur wir, meine Liebe«, antwortete eine süße weibliche Stimme von der Haupttreppe her. Die Musik war zu einem Echo verhallt, das vielleicht nur in Elisabeths Gedanken existierte.

Sie drehte sich mit einem schwachen Lächeln um und sah die Buzbee-Schwestern, Cecily und Roberta, in ihrer Nähe stehen.

Roberta, die größere und aufgeschlossenere der beiden Schwestern, hielt eine zugedeckte Backform und blickte sie forschend an. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Elisabeth?«, fragte sie.

Cecily betrachtete Elisabeth mit großen blauen Augen. »Diese Tür führte in den alten Teil des Hauses«, sagte sie. »In den Abschnitt, der 1892 ausbrannte.«

Elisabeth kam sich albern vor. »Miss Cecily, Miss Roberta, freut mich, Sie zu sehen.«

»Wir haben Ihnen Cecilys Rindfleischkasserolle gebracht«, erklärte Roberta. »Meine Schwester und ich dachten, Sie wollten am ersten Abend nicht kochen.«

»Danke«, sagte Elisabeth voller Unbehagen. »Möchten Sie Kaffee?«

»Wir würden nicht im Traum daran denken zu stören«, sagte Miss Cecily.

Elisabeth ging zu der hinteren Treppe. »Sie stören nicht. Es freut mich wirklich, Sie zu sehen, und es war so aufmerksam von Ihnen, Essen mitzubringen.«

In der Küche fand Elisabeth ein Glas mit Kaffee, wahrscheinlich noch von Rue. Während das Wasser auf dem Herd in einem Kupferkessel heiß wurde, saß sie mit den Buzbee-Schwestern an dem alten Eichentisch in der Frühstücksecke.

Sie wich dem Thema ihrer Scheidung aus, und die Buzbee-Schwestern waren zu gut erzogen, um danach zu fragen. Die Schwestern versicherten, wie sehr sie sich freuten, dass das alte Haus wieder bewohnt war. Und die ganze Zeit trieben die Stimme des Kindes und die Musik wie Schleier eines halb vergessenen Traums durch Elisabeths Gedanken.

Funkle, funkle …

Trista Fortners schlanke Finger stockten auf den Klaviertasten. Irgendwo im ersten Stock knarrte eine Tür in den Angeln. »Wer ist da?«, rief eine Frauenstimme.

Trista stand von der Klavierbank auf, strich ihre frisch gebügelte Schürze glatt und kletterte die Treppe hinauf.

Die Tür ihres Schlafzimmers klapperte förmlich im Rahmen, der Türknauf drehte sich wild hin und her, und Tristas braune Augen weiteten sich. Sie hatte zu viel Angst, um zu schreien, und sie war zu neugierig, um wegzulaufen. Also stand sie einfach da und starrte.

Die Frau sprach wieder. »Bitte, wer ist da?«

»Trista«, antwortete das Kind leise und fand den Mut, den Knauf zu berühren und zu drehen. Gleich darauf spähte sie um die Türkante.

Es war nichts zu sehen außer ihrem Bett, dem Puppenhaus, der Tür zu ihrer privaten Treppe, die in die Küche führte, und der großen, hölzernen Garderobe, in der ihre Kleider untergebracht waren.

Gleichzeitig enttäuscht und erleichtert schloss die Achtjährige wieder die Tür und ging nach unten zurück zu dem Klavier.

Seufzend setzte sie sich. Ob Papa ihr das glaubte? Nein, er war ein Mann der Wissenschaft. Er würde sagen: »Also, Trista, darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich weiß, du möchtest mich gern davon überzeugen, dass deine Mutter zu uns zurückkommen könnte, aber es gibt keine Geister. Ich will solche Albernheiten nicht mehr von dir hören. Ist das klar?«

Sie begann pflichtschuldig wieder zu spielen – verloren in ihren Träumen.

»Funkle, funkle, kleiner Stern …«, murmelte sie, während ihre Finger unbeholfen über die Tasten wanderten.

»Ach ja.« Roberta Buzbee putzte nicht vorhandene Krümel von dem Busen ihres farbenfrohen Jerseykleides. »Mama war noch ein kleines Mädchen, als dieses Haus brannte.«

»Sie war neun«, warf Miss Cecily feierlich ein und erschauerte. »Es war eine schreckliche Feuersbrunst. Der Doktor und seine arme Tochter sind darin umgekommen. Und dieser Teil des Hauses wurde nicht wieder aufgebaut.«

Elisabeth schluckte schmerzlich. »Da war also ein Kind …«

»Sicher«, erklärte Roberta. »Ihr Name war Trista Anne Fortner, und sie war Mamas beste Freundin. Sie waren etwa im gleichen Alter. Mama war nur ein paar Monate älter.« Sie schnallte bedauernd mit der Zunge. »Es war wirklich tragisch. Dr. Fortner kam um, als er versuchte, sein kleines Mädchen zu retten. Es hieß, seine Gefährtin habe das Feuer gelegt. Sie wurde wegen Mordes angeklagt und gehängt, nicht wahr, Schwester?«

Cecily nickte.

Trotz der Wärme dieses sonnigen Nachmittags im April durchlief Elisabeth ein kalter Schauer, und sie nahm einen Schluck Kaffee. Nimm dich zusammen, Elisabeth, dachte sie. Was immer du gehört hast, es war kein totes Kind, das gesungen und Klavier gespielt hat. Tante Veritys Geschichten über das Haus waren genau das – nämlich Geschichten.

»Sie sehen blass aus, meine Liebe«, bemerkte Cecily.

Das letzte, was Elisabeth gebrauchen konnte, war, dass sich noch jemand um sie sorgte. »Ich werde in diesem Herbst an der Schule von Pine River unterrichten«, verkündete sie, um das Thema zu wechseln.

»Roberta hat in dem alten Schulgebäude von Cold Creek unterrichtet«, sagte Cecily stolz. »Und ich war die Stadtbibliothekarin. Das war natürlich, ehe wir mit unseren Reisen begonnen haben.«

Bevor Elisabeth antworten konnte, schlug jemand hart auf die Tasten eines Klaviers.

Diesmal war es nicht möglich, dass sie sich das Geräusch eingebildet hatte. Es hallte durch das Haus, und die Buzbee-Schwestern zuckten zusammen.

Ganz langsam setzte Elisabeth ihre Kaffeetasse ab und ging, um nach dem Spinett zu sehen. Es war zugedeckt. Niemand war da.

»Das ist der Geist«, sagte Cecily, die Elisabeth mit ihrer Schwester gefolgt war. »Nach all dieser Zeit ist sie hoch immer hier. Nun, es wundert mich nicht.«

»Geist?«, echote Elisabeth.

Cecily nickte. »Trista hat nie wirklich Ruhe gefunden, armes Kind. Und man sagt, dass der Doktor noch immer nach ihr sucht. Die Leute haben seinen Einspänner auch auf der Straße gesehen.«

Elisabeth musste sich zusammennehmen.

»Schwester«, warf Roberta energisch ein, »du regst Elisabeth auf.«

»Mir geht es gut«, log Elisabeth. »Wirklich gut.«

»Vielleicht sollten wir lieber gehen.« Cecily tätschelte Elisabeth am Arm. »Und machen Sie sich keine Sorgen wegen der armen, kleinen Trista. Sie ist ganz harmlos, müssen Sie wissen.«

Kaum waren die beiden Frauen gegangen, da lief Elisabeth zu dem altmodischen, schwarzen Telefon auf dem Tisch in der Diele und wählte Rues Nummer in Chicago.

Ein Anrufbeantworter meldete sich beim dritten Rufzeichen. »Hallo! Wer immer Sie sind«, sagte Rues Stimme energisch, »ich bin wegen eines Spezialprojekts verreist und weiß nicht, wie lange ich diesmal fort sein werde. Falls Sie planen, meine Wohnung auszurauben, vergessen Sie bitte die Couch nicht. Falls Sie es nicht planen, hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer, und ich setze mich mit Ihnen so bald wie möglich in Verbindung. Ciao, und vergessen Sie nicht, auf den Pfeifton zu warten.«

Elisabeths Kehle war wie zugeschnürt. »Hallo, Rue! Hier ist Beth. Ich bin in das Haus gezogen und … Nun ja, ich würde gern mit dir reden, das ist alles. Konntest du mich anrufen, sobald du zurückkommst?« Elisabeth nannte die Nummer und legte auf.

Jonathan Fortner rieb sich die schmerzenden Nackenmuskeln, während er müde durch die Dunkelheit auf das erleuchtete Haus zuging. Seine Arzttasche wirkte schwerer als sonst, als er die hinteren Stufen hinaufstieg und die Tür öffnete.

Die weitläufige Küche war leer, obwohl eine Laterne auf dem rot und weiß karierten Tisch brannte.

Jonathan stellte die Tasche weg und zog das Jackett aus. Einsamkeit erfüllte ihn. Sein Abendessen stand wie üblich im Herd. Er löste die Manschettenknöpfe und rollte die Ärmel hoch. Dann nahm er einen Kessel vom Herd, goss heißes Wasser in eine Waschschüssel und fügte etwas kaltes Wasser aus dem Eimer neben dem Spülstein hinzu. Danach schrubbte er sich die Hände mit einer gelben Seife.

»Papa?«

Er drehte sich um und sah Trista im Nachthemd am Fuß der hinteren Treppe stehen. »Hallo, Püppchen!«, grüßte er und sah sie forschend an. »Ellen ist nicht hier? Du warst doch nicht die ganze Zeit allein daheim?«

Mit ihren dunklen Haaren und den grauen Augen ähnelte Trista ihm und nicht Barbara. Und er war froh, nicht jedes Mal an seine Frau erinnert zu werden, wenn er seine Tochter anschaute.

»Ellen musste nach dem Abendessen nach Hause gehen«, antwortete Trista und leistete ihm Gesellschaft. »Ihr Bruder Billy hat sie geholt, weil die Kühe ausgebrochen sind.«

Jonathans Miene spannte sich an. »Ich weiß nicht, wie oft ich diesem Mädchen erklärt habe …«

Trista griff lachend nach seiner Hand. »Ich bin groß genug, um ein paar Stunden allein zu sein, Papa.«

Jonathan seufzte. »Du bist acht Jahre alt.«

»Maggie Simpkins ist auch acht, und sie kocht für ihren Vater und alle ihre Brüder.«

»Und sie ist mehr wie eine alte Frau und nicht wie ein Kind.« Er sah täglich alte Kinder, obwohl Gott wusste, dass es hier in Pine River besser stand als in anderen Städten. »Überlass du den Haushalt Ellen und konzentriere dich darauf, ein kleines Mädchen zu sein. Du wirst bald genug eine Frau sein.«

Trista warf einen Blick auf das verbrannte und zusammengeschrumpfte Essen auf dem Teller ihres Vaters. »Wenn du weiterhin dieses schreckliche Zeug willst, ist es deine Sache.« Seufzend stützte sie die Ellbogen auf den Tisch. »Vielleicht solltest du wieder heiraten, Papa.«

Jonathan schob den Teller weg. »Und vielleicht solltest du wieder ins Bett gehen«, entgegnete er brüsk und zog seine Taschenuhr aus der Weste. »Es ist spät.«

Trista nahm seinen Teller weg. »Willst du deshalb keine andere Frau, weil du Mama noch immer liebst?«

Jonathan hatte Trista längst nicht alles über ihre Mutter erzählt. Dazu gehörte, dass es nie Liebe zwischen ihnen beiden gegeben hatte. Und Barbara war nicht weit weg bei einem Unfall gestorben, sondern hatte ihren Mann und ihr Kind verlassen. Und Jonathan hatte die Scheidung eingereicht. »Man kann nicht einfach zum Kaufmann gehen und sich eine Frau kaufen, Trista.«

»Es gibt viele Ladys in Pine River, die sich nach dir verzehren«, behauptete Trista. »Miss Jinnie Potts zum Beispiel.«

Jonathan wies mit dem Finger auf die Tür. »Ins Bett, Trista«, sagte er energisch.

Sie tappte durch die Küche und schlang die Arme um ihn. »Gute Nacht, Papa«, sagte sie, drückte ihn und entwaffnete ihn so, wie das keine andere Frau vermochte. »Ich liebe dich.«

Er drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Ich liebe dich auch«, sagte er mit rauer Stimme.

Trista drückte ihn noch ein letztes Mal, drehte sich dann um und hastete die Treppe hinauf. Ohne sie war die Küche kalt und leer.

2. KAPITEL

Abends zog ein Gewitter auf. Elisabeth hatte in Pine River eingekauft und wärmte etwas von dem Rindfleisch der Buzbee-Schwestern auf, als das Telefon läutete.

»Hallo, Kleines!«, sagte ihr Vater mit seiner tiefen Stimme. »Wie geht es meinem Baby?«

Elisabeth lächelte. »Gut, Daddy. Wo bist du?«

Er lachte leise. »Du kennst das doch – wenn heute Mittwoch ist, muss das hier Cleveland sein. Wieder eine Geschäftsreise.«

Das war nichts Neues. Marcus Claridge war ständig unterwegs, seit er eine Beratungsfirma gegründet hatte, als Elisabeth noch klein war. »Wie geht es Traci und dem Baby?«, fragte sie. Erst vor achtzehn Monaten hatte Marcus eine Frau geheiratet, die drei Jahre jünger als Elisabeth war, und das Paar hatte einen kleinen Sohn.

»Großartig.« Marcus räusperte sich. »Hör mal, ich weiß, dass du es im Moment schwer hast, Süße. Traci und ich haben gedacht … Also, vielleicht willst du an den Lake Tahoe kommen und den Sommer mit uns verbringen. Es gefällt mir nicht, dass du dich in diesem alten Spukhaus vergräbst …«

Elisabeth lachte leicht hysterisch. Sie hatte nichts gegen Traci, die stets auf dem letzten Buchstaben ihres Namens anstelle eines Punkts ein Herzchen malte, aber sie wollte keine einzige Stunde lang versuchen, mit der Frau Small Talk zu machen. »Daddy, das ist kein Spukhaus. Ich liebe es, das weißt du. Wer hat dir überhaupt gesagt, dass ich hier bin?«

Ihr Vater seufzte. »Ian. Er macht sich große Sorgen um dich, Kleines. Das tun wir alle. Du hast keinen Job und kennst keine Menschenseele in dieser hinterwäldlerischen Stadt. Was willst du denn mit dir anfangen?«

Sie lächelte. Das sah Ian ähnlich, dass er es so hinstellte, als würde sie sich in einer Höhle verkriechen und ihre Wunden lecken. »Ich habe einen Job, Daddy. Ich werde im September in der dritten Klasse der Volksschule von Pine River anfangen. In der Zwischenzeit möchte ich einen Garten anlegen und lesen …«

»Was du brauchst, ist wieder ein Mann.«

Elisabeth verdrehte die Augen. »Ich könnte mich auch vor einen dahinrasenden Lastwagen werfen und mir alle Knochen brechen«, erwiderte sie. »Das ginge schneller und wäre nicht so aufreibend.«

»Sehr witzig«, bemerkte Marcus, aber amüsierter Respekt mischte sich in seinen grollenden Ton. »Na schön, Baby, ich lasse dich in Ruhe. Pass auf dich auf und sag Traci Bescheid, wenn du etwas brauchst. Versprichst du es?«

»Ich verspreche es.«

»Gut.«

»Ich liebe dich, Daddy …«

Als sie nach dem Abendessen das Geschirr spülte, flackerte das Licht, und der Wind heulte um das Haus. Sie beschloss, zeitig zu Bett zu gehen.

Ihre Hand schloss sich um den zierlichen Anhänger an Tante Veritys Halskette, als sie sich in die Kissen sinken ließ.

Blitze erfüllten den Raum mit einem unheimlichen Licht, aber Elisabeth fühlte sich in dem großen Himmelbett sicher. In wie vielen Nächten waren sie und Rue quietschend und kichernd zu diesem Bett gekommen, hatten sich zu beiden Seiten an Tante Verity gedrückt und sie um eine Geschichte gebeten, die sie von dem Donner ablenken sollte.

Bei dem Schrei riss sie die Augen auf.

»Papa!«

Elisabeth sprang aus dem Bett und rannte auf den Korridor. Ein zweiter Schrei ertönte, gefolgt von ersticktem Schluchzen.

Es waren jedoch nicht die Geräusche, die Elisabeth lähmten, sondern die dünne Linie gelblichen Lichts, die unterhalb der Tür auf der anderen Korridorseite schimmerte. Jener Tür, die sich ins Leere öffnete.

Sie lehnte sich gegen den Türrahmen. Eine Hand lag auf der Halskette, als wollte sie Tante Verity zu ihrer Rettung heraufbeschwören.

»Papa, Papa, wo bist du?«, rief das Kind verzweifelt auf der anderen Seite.

Elisabeth stieß sich ab und machte einen Schritt über den Korridor, dann noch einen. Sie fand den Knauf, und das Geräusch ihres Herzschlages schien beinahe die Rufe des kleinen Mädchens zu übertönen, als sich der Knauf drehte.

Während sich die Tür tatsächlich öffnete, erwartete Elisabeth, von einer regnerischen Aprilböe getroffen zu werden. Die sanfte Wärme, die sie stattdessen umgab, war ein viel angenehmerer Schock.

Autor

Linda Lael Miller
Linda Lael Miller wurde als Tochter eines Town Marshalls in Washington geboren. Natürlich wurde sie auch durch den Beruf ihres Vaters in den „Western lifestyle“ hineingeboren, der ihr Leben prägte. Sie verließ Washington und folgte ihrem Fernweh. Sie lebte in Arizona und London (Europa) und reiste rund um die Erde....
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