Ich fühle was, was du nicht siehst

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Nicht freiwillig kehrt die Krimiautorin Liz Sutton zurück in ihre Heimatstadt Fool’s Gold, sondern nur, weil sie sich um ihre beiden Nichten kümmern muss. Der Zustand ihres Elternhauses ist noch der kleinste Schock, denn kaum wieder da, trifft sie schon auf Ethan. Den Mann, der ihr einst das Herz gebrochen hat - und den sie in ihren Romanen schon auf die grausamsten Weisen zur Strecke gebracht hat. Und dem sie schon lange etwas Bedeutendes hätte sagen müssen …

"Susan Mallery hat mit dem zweiten Band der Fool's Gold -Serie ein Buch geschrieben, dass ich kaum aus der Hand legen konnte. Ich kann es kaum erwarten, nach Fool's Gold zurückzukehren."

Romance Reviews Today


  • Erscheinungstag 07.11.2016
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499548
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Mallery

Ich fühle was,
was du nicht siehst

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Jutta Znira

 

 

 

MIRA® TASCHENBUCH

 

 

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Almost Perfect
Copyright © 2010 by Susan Macias Redmond
erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.á.r.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: büropecher, Köln
Redaktion: Mareike Müller
Titelabbildung: Robyn Neil / Newdivision

ISBN eBook 978-3-95649-954-8

www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. KAPITEL

Liz Sutton hatte immer gewusst, dass die Vergangenheit sie irgendwann einholen würde. Sie hatte nur nicht geahnt, dass es heute so weit wäre.

Ihr Tag hatte relativ normal begonnen. Sie hatte ihren Sohn morgens in den Schulbus gesetzt und war anschließend durch den Flur ihres Hauses in ihr Arbeitszimmer gegangen. Dort hatte sie fünf einigermaßen annehmbare Seiten geschrieben, eine Pause eingelegt, um ein wenig nachdenklich auf und ab zu gehen, und danach drei dieser fünf letzten Seiten wieder gelöscht. Sie versuchte gerade herauszufinden, wen sie im ersten Kapitel ihres neuen Buches ermorden sollte. Vor allem: Wie würde er – oder sie – ermordet werden? War eine Enthauptung allzu vorhersehbar? Glücklicherweise klopfte in diesem Moment ihre Assistentin an die Tür und ersparte Liz dadurch, sich entscheiden zu müssen.

„Tut mir leid, dass ich störe“, sagte Peggy und reichte ihr mit leicht gerunzelter Stirn ein Blatt Papier. „Aber ich dachte, du würdest das lesen wollen.“

Liz nahm das Blatt. Es war der Ausdruck einer E-Mail. Auf ihrer Website gab es einen Link, über den Fans mit ihr in Kontakt treten konnten. Um den Großteil der Mails kümmerte sich Peggy, aber hin und wieder war etwas dabei, womit sie nicht wirklich etwas anfangen konnte.

„Mal wieder ein durchgeknallter Stalker?“, erkundigte sich Liz. Sie war geradezu lächerlich dankbar für die Unterbrechung. Wenn es mit dem Schreiben nur zäh voranging, war sogar eine Morddrohung aufregender als das eigene Buch.

„Eher nicht. Sie sagt, sie ist deine Nichte.“

Nichte?

Liz überflog den Ausdruck.

Liz las die E-Mail ein zweites Mal und versuchte zu verstehen, worum es darin eigentlich ging. Roy war also wieder in Fool’s Gold. Zumindest war er es gewesen, bevor er ins Gefängnis gegangen war.

Sie hatte ihren Bruder seit fast achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Er war einige Jahre älter als sie und in jenem Sommer von zu Hause fortgegangen, als sie zwölf geworden war. Offensichtlich hatte er ein paarmal geheiratet und Kinder bekommen. Töchter. Mädchen, die allein in einem Haus lebten, das schon vor zwölf Jahren heruntergekommen und scheußlich gewesen war. Sie bezweifelte, dass es seither viele Renovierungsbestrebungen gegeben hatte.

Ihr schossen jede Menge Fragen durch den Kopf. Fragen zu ihrem Bruder und dem Grund dafür, dass er nach so langer Zeit nach Fool’s Gold zurückgekehrt war. Fragen, warum er im Gefängnis war und was um alles in der Welt sie mit zwei Nichten anfangen sollte, die sie nicht kannte.

Sie sah auf ihre Uhr. Es war noch nicht mal elf. Da Tyler heute seinen letzten Schultag vor den Sommerferien hatte, würde er um halb eins fertig sein. Wenn sie es bis dahin schaffte, das Auto zu packen, könnten sie direkt von der Schule aus losfahren und in ungefähr vier Stunden in Fool’s Gold sein.

„Ich muss mich darum kümmern“, erklärte Liz ihrer Assistentin, während sie eine Adresse auf einen Zettel schrieb. „Ruf die Stadtwerke in Fool’s Gold an und sorge dafür, dass der Strom wieder eingeschaltet wird. Die Bezahlung mit Kreditkarte sollte funktionieren. Ich rufe die Mädchen an und gebe Bescheid, dass ich komme.“

„Sind sie wirklich deine Nichten?“, fragte Peggy.

„Ich denke schon. Ich habe meinen Bruder zwar schon seit der Zeit nicht mehr gesehen, als ich in ihrem Alter war, aber ich kann sie dort nicht allein wohnen lassen.“ Sie schüttelte den Kopf und überlegte, was noch getan werden musste. Ihr nächstes Buch würde nicht vor Herbst erscheinen, also musste sie sich keine Gedanken über Werbung und Lesereisen machen. Und mit ihrem Laptop konnte sie überall an ihrer neuen Geschichte arbeiten. Zumindest theoretisch.

„Ich weiß nicht, wie lange wir weg sein werden“, fuhr sie fort. „Ich schätze, es wird ein paar Wochen dauern, bis ich alles geregelt habe.“

Peggy starrte sie an. „Einfach so?“

„Was meinst du?“

„Willst du dir das nicht überlegen? Die meisten Leute hätten Bedenken. Du kennst diese Mädchen ja nicht mal.“

Stimmt, dachte Liz. Aber hatte sie eine Wahl? „Es sind Kinder, sie sind ganz allein, und sie sind mit mir verwandt. Ich muss irgendetwas tun.“

„Das ist typisch für dich“, sagte Peggy. „Du bist schnell entschlossen und tust, was du für richtig hältst – was bewundernswert ist. Aber nicht immer klug.“

„Irgendjemand muss sich darum kümmern.“ Außerdem war sie es von Kindheit an gewohnt, sich um alles zu kümmern, weil ihrer Mutter alles egal gewesen war. „Mit ein wenig Glück bin ich bald wieder da.“

„Mach dir keine Sorgen. Ich schaffe das hier schon.“

Liz zwang sich zu einem Lächeln. „Ich weiß. Ich gehe jetzt packen und hole anschließend Tyler ab. Wir fahren heute nach Fool’s Gold.“

„Vielleicht wird es ganz schön, nach Hause zu kommen.“

Liz bemühte sich sehr, neutral dreinzuschauen. „Sicher. Okay, ich rufe jetzt die Mädchen an.“

Sie wartete, bis Peggy draußen war. Dann griff sie zum Telefon, wählte die vertraute Nummer und ließ es acht Mal klingeln, bevor sie auflegte. Niemand da. Gut, es war ein Werktag. Die Mädchen waren wahrscheinlich noch in der Schule. Sie würde es später noch einmal versuchen. Von ihrem Handy aus.

Sie musste für sich selbst und für ihren Sohn packen, ein paar Freunde anrufen, um Bescheid zu geben, dass sie für ein paar Wochen wegfuhr, und per E-Mail auch ihren Herausgeber und ihre Literaturagentin informieren. Alles eine Frage der Organisation, dachte sie, während sie die Zettel mit den Notizen einsammelte, die sie sich zu ihrem aktuellen Roman gemacht hatte. Sie war gut im Organisieren. Die Fähigkeit zu planen und Probleme zu lösen war einer der Gründe, warum ihr das Schreiben ihrer Krimi-Reihe so viel Spaß machte. In ihrem Job als Autorin war sie immer gut gewesen. Es war der Rest ihres Lebens, bei dem sie hin und wieder ins Stolpern geriet.

„Selbstbetrachtung folgt später“, murmelte sie halblaut. „Jetzt ist Action angesagt.“

Sie fuhr ihren Laptop herunter und nahm ihn von der Dockingstation. Dann packte sie ihre Notizen, ein paar Stifte und Schreibblöcke sowie ihr Adressbuch ein und ging den Flur hinunter in ihr Schlafzimmer.

Eine gute Stunde später hatte sie hoffentlich alles gepackt, was sie brauchten, das Auto beladen und mit Peggy alles Nötige besprochen. Ihre Assistentin würde sich um das Haus kümmern und während Liz’ Abwesenheit alle Rechnungen bezahlen.

„Geht es dir gut?“, erkundigte sich Peggy.

„Sicher. Großartig. Warum?“

Peggy, Mitte vierzig und frühere Assistentin der Geschäftsleitung einer großen Firma, runzelte die Stirn. „Ich will mich nur vergewissern. Du bürdest dir ja eine Menge auf.“ Sie zögerte. „Ich meine, falls es niemanden gibt, der sich um die Mädchen kümmert, dann …“

Dann hätte Liz möglicherweise plötzlich die Verantwortung für zwei Nichten, die sie bislang gar nicht kannte. „Ich weiß. Damit setze ich mich auseinander, wenn ich mehr Informationen habe.“

„Mac und ich waren in unseren Flitterwochen in Fool’s Gold. Das war damals, als ich die Ehe noch für etwas Gutes gehalten habe. Ich wusste nicht, dass du von dort bist.“

Niemand weiß das, dachte Liz grimmig. Sie fand das Leben einfacher, wenn sie nichts von ihrer Vergangenheit erzählte. „Ich bin direkt nach der Highschool weggezogen. Jetzt ist San Francisco meine Heimat.“

Peggy lächelte sie an. „Ruf mich an, wenn du irgendetwas brauchst.“

„Mach ich.“

Liz ging hinunter in die kleine Garage und stieg in ihren Lexus. Sie hatte vier Koffer, einige Kartons mit Tylers Lieblingsvideos sowie seiner Xbox und ein paar Büchern gepackt. Sie überprüfte noch einmal, ob sie nichts vergessen hatte – das war einfacher, als darüber nachzudenken, was sie gerade zu tun im Begriff war. Nämlich an den einzigen Ort zurückzukehren, in den sie nie mehr einen Fuß hatte setzen wollen: die Stadt, in der sie aufgewachsen war.

Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie es wirklich tun musste. Zwei Kindern zu Hilfe zu eilen, die sie noch nie gesehen hatte. Dann schüttelte sie den Gedanken ab. Im Moment gab es außer ihr niemanden. Sie konnte die Mädchen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Sie würde die Sache in die Hand nehmen, das Problem lösen und in ihr Leben zurückkehren. Dort zu bleiben kam nicht infrage.

Es herrschte nur wenig Verkehr, und sie schaffte es in knapp 20 Minuten zu Tylers Schule. Er unterhielt sich gerade mit seinen Freunden; vermutlich planten sie, gemeinsam irgendetwas zu unternehmen. Als er ihren kleinen Geländewagen sah, winkte er und rannte zu ihr.

„Jason sagt, er fährt mit seinen Eltern im August nach Disneyland. Er sagt, sie werden dich anrufen und mit dir darüber reden, ob ich mitfahren darf“, erzählte er, während er sich auf den Beifahrersitz setzte.

„Auch dir einen wunderschönen guten Tag“, begrüßte sie ihn schmunzelnd.

Er grinste. „Hi, Mom. Wie war dein Tag?“

„Interessant.“

„Fein. Können wir jetzt über Disneyland reden?“

Mein Sohn ist der beste und schönste Teil meines Lebens, dachte sie, als sie in seine dunkelbraunen Augen sah. Er hatte ihr Lächeln, aber alles andere war von seinem Vater. Es war so, als wäre ihre DNA nicht stark genug gewesen, sich gegen seine durchzusetzen.

Tyler war intelligent, witzig, herzlich und liebenswürdig. Er hatte jede Menge Freunde, ein unkompliziertes Naturell und wollte, wenn er groß war, Architekt werden. Liz wusste, dass alle Leute meinten, die Pubertät wäre bei Jungs die allerschlimmste Zeit. Dass ihr Sohn ihr mit dreizehn oder vierzehn das Leben zur Hölle machen würde. Dieses Problem würde früh genug auftauchen. Derzeit allerdings war Tyler ihr Ein und Alles und der Mittelpunkt ihrer Welt.

Einer Welt, die gerade gehörig aus den Fugen geraten war. „Disneyland hört sich super an“, stimmte sie zu. „Ich werde mit Jasons Mom reden. Wenn sie dich mitnehmen und du mitfahren möchtest, spricht nichts dagegen.“

Sein Grinsen wurde breiter. Dann warf er einen Blick zurück in den hinteren Teil des Wagens.

„Moment mal, fahren wir irgendwohin? Machen wir einen Ausflug?“

Liz reihte sich in den Verkehr Richtung Highway ein. Sie würde die Interstate 80 nach Osten nehmen und bei Fool’s Gold von der Autobahn abfahren.

„So ungefähr.“ Sie umfasste das Lenkrad fester.

Im Laufe der Jahre hatte sie sich immer bemüht, ihren Sohn nicht anzulügen. Weder über ihre Vergangenheit noch über seinen Vater. Meistens hatte sie ihm einfach erklärt, dass es Fragen gab, die sie nicht beantworten würde. Mit vier oder fünf Jahren hatte Tyler sich leicht ablenken lassen. Mit acht war er entschlossen gewesen, die Wahrheit herauszufinden. Zurzeit stellte er kaum Fragen – vielleicht, weil er wusste, dass aus ihr sowieso nichts herauszukriegen war. Aber Liz war klar, dass ihn das Thema beschäftigte.

„Ich habe heute eine E-Mail bekommen“, verkündete sie. „Du erinnerst dich, dass ich dir von meinem Bruder erzählt habe?“

„Mhm. Roy. Wir treffen uns nie mit ihm.“

„Ich weiß. Er ist viel älter als ich und von zu Hause weggegangen, als ich zwölf war. Eines Morgens bin ich aufgewacht, und er war weg. Ich habe ihn nie wieder gesehen.“

Sie erinnerte sich noch an das Schluchzen ihrer Mutter, das durch den Alkohol in ihrem Blut noch lauter und heftiger ausgefallen war. Ab diesem Moment hatte ihre Mutter ihr Leben damit verbracht, auf Roys Rückkehr zu warten. Nichts anderes war mehr wichtig gewesen. Vor allem nicht Liz.

Kurz nach ihrem Highschool-Abschluss hatte Liz die Stadt verlassen. Ein paar Wochen später hatte sie das erste und einzige Mal zu Hause angerufen, um Bescheid zu geben, wo sie war, und zu fragen, wie es ihrer Mutter so ging.

„Du brauchst dir nicht die Mühe zu machen, noch mal anzurufen“, war die Reaktion ihrer Mutter gewesen. Dann hatte sie einfach aufgelegt.

„Onkel Roy hat dir also eine E-Mail geschickt?“

„Das trifft es nicht ganz.“ Liz wusste nicht, wie viel sie ihrem Sohn sagen sollte. Die Wahrheit zu sagen war eine Sache, ihm alle Einzelheiten zu erzählen eine andere. „Er steckt, äh, in Schwierigkeiten und braucht mich. Er hat zwei Töchter. Deine Cousinen. Melissa ist vierzehn und Abby ist in deinem Alter.“

„Ich habe Cousinen? Das hast du mir nie erzählt.“

„Ich wusste bis heute nichts von ihnen.“

„Aber sie sind doch mit uns verwandt.“

Wohl wahr, dachte Liz. Und in den meisten Familien bedeutete das Wort verwandt, dass man sich umeinander kümmerte und sich verbunden fühlte. Allerdings nicht bei den Suttons. Zumindest nicht in der Zeit, bevor Liz Tyler bekommen hatte. Sie hatte alles nur Mögliche getan, um den Kreislauf der Vernachlässigung zu durchbrechen. Sie war fest entschlossen gewesen, eine warmherzige, liebevolle Mutter zu sein und ihrem Kind Geborgenheit zu geben.

„Ich wusste nicht, wo Roy war“, sagte sie. „Nachdem er fortgegangen ist, hat er nie mehr Kontakt zu mir aufgenommen.“ Sechs Jahre lang hatte sie gewartet; hatte gehofft, dass er kommen und sie von daheim wegholen würde. Als er noch zu Hause lebte, hatte er sich immer um sie gekümmert. Er war ein Puffer zwischen ihr und ihrer Mutter gewesen und hatte sie vor dem Schlimmsten bewahrt.

Als Liz dann alt genug gewesen war, um ihn zu suchen, war es ihr nicht mehr wichtig erschienen.

„Wissen sie, dass wir kommen?“, erkundigte sich Tyler. „Wissen sie, dass es mich gibt?“

„Noch nicht. Aber bald. Wir werden nämlich ein paar Wochen bei ihnen bleiben.“ Die Tatsache, dass Roy im Gefängnis war, erwähnte sie nicht. Dafür war später noch Zeit genug. Sie erwähnte auch nicht, dass die Mädchen möglicherweise auf Dauer mit ihnen zusammenleben würden. Vielleicht konnte sich ja eine andere Familie um die beiden kümmern.

„Ich bin in einer kleinen Stadt namens Fool’s Gold aufgewachsen“, fuhr sie fort. „Sie liegt am Fuß der Sierra Nevada.“

„Gibt es dort Schnee?“, fragte er aufgeregt. Mit elf war die Vorstellung, Schnee zu sehen, das Größte überhaupt.

Sie lachte. „Vermutlich nicht im Juni, aber ja, dort gibt es Schnee. Man kann überhaupt eine Menge unternehmen. Wandern, Schwimmen. Es gibt einen Fluss und einen See.“

„Wir könnten zelten gehen.“

Liz gab ein unverbindliches „Mhm“ von sich. Die Vorstellung, irgendwo zu campen, war für sie ungefähr so attraktiv wie eine Operation am offenen Herzen bei vollem Bewusstsein. Nicht einmal der Gedanke hatte irgendetwas Erfreuliches an sich. Andererseits war sie kein elfjähriger Junge. Sie hatte auch nie eine Faszination für Würmer, Dreck, Spielzeugautos und Plastikgewehre gehabt.

Noch eine Eigenschaft, von der sie wusste, dass er sie von seinem Vater hatte. Was ein weiteres Problem war. Nicht die Eigenschaft, sondern der Mann an sich. Es sprach einiges dafür, dass Ethan immer noch in Fool’s Gold lebte – dem einzigen Ort, an dem sie nicht sein sollte. Darum hatte er sie gebeten. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er weder sie noch ihr Kind um sich haben wollte.

Tja, darüber wird er einfach hinwegkommen müssen, sagte sie sich. Das hier war ein Notfall. Sie würde nicht viel Aufhebens darum machen, dass Tyler in der Stadt war, und sie würde ihrem Sohn ganz bestimmt nichts von seinem Vater erzählen. Dafür hatte Ethan sie beide viel zu brüsk zurückgewiesen.

Sie würde sich um die Mädchen kümmern und dann zusehen, dass sie so schnell wie möglich wieder aus Fool’s Gold fortkam. Falls sie Ethan zufällig über den Weg lief, würde sie sich freundlich, aber distanziert geben. Mehr nicht. Denn nach all der Zeit und all den Arten, auf die er sie verletzt hatte, würde sie sich ihm gegenüber nie wieder verletzlich zeigen. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Ein zweites Mal würde sie sich nicht zum Narren halten lassen.

Sie umfasste das Lenkrad energischer und warf einen Blick auf ihr Navigationsgerät. Es zeigte den Weg zu ihrem Ziel, und sie rechnete damit, dass das kleine Gerät sie auch wieder nach Hause navigieren würde, wenn sie hier fertig war.

Ethan Hendrix stand an der Barrikade, die Zuschauer und Radrennfahrer voneinander trennte. Die Sonne war heiß, das Publikum laut. Der Lärm bei einem Rennen war etwas ganz Besonderes, etwas, das er nie vergessen würde. Einst hatte er alle Rennstrecken der Welt bereisen wollen. Diese Zeit ist lange vorbei, dachte er, während er sich an den Fahrtwind und an das Gefühl erinnerte, wie seine Muskeln brannten und er alle Kräfte mobilisierte, um zu gewinnen.

Es war leicht gewesen zu gewinnen. Vielleicht zu leicht. Mit der Zeit war er bei den Rennen leichtsinnig geworden. Bei achtzig Stundenkilometern auf zwei schmalen Reifen und einem Leichtbaurahmen konnte jeder noch so kleine Fehler tödlich sein. In seinem Fall waren das Ergebnis ein paar gebrochene Knochen und ein dauerhaftes Hinken gewesen. Alle anderen sprachen davon, welches unglaubliche Glück er gehabt hatte. Ethan hingegen hatte nur gesehen, dass er aufgrund der Verletzungen nie wieder würde Radrennen fahren können.

Jetzt, zehn Jahre später, sah er zu, wie die Radfahrer an ihm vorbeirasten. Er entdeckte seinen Freund Josh, der immer noch dabei war, die Zeit von seinem späten Start aufzuholen, und fragte sich: Was wäre, wenn? Viel Begeisterung konnte er für die Idee jedoch nicht aufbringen. Alles war jetzt anders, und damit konnte er gut leben.

Er hatte dem Rennen gerade den Rücken gekehrt, um in sein Büro zurückzugehen, als er eine Frau in der Menge entdeckte. Eine Sekunde lang hielt er sie für ein Produkt seiner Fantasie; bestimmt hatte er ihre schönen Gesichtszüge, die er nie vergessen würde, auf das Gesicht einer anderen Person projiziert. Es war unmöglich, dass Liz Sutton wieder in Fool’s Gold war.

Instinktiv bewegte er sich auf sie zu, doch die abgesperrte Straße lag zwischen ihnen. Die rothaarige Frau sah auf. Sie drehte das Gesicht in seine Richtung. Als sie ihre Sonnenbrille abnahm, sah er ihre großen grünen Augen. Sein Blick wanderte zu ihren vollen Lippen. Aus der Ferne konnte er die Sommersprossen auf ihrer Nase nicht erkennen, doch er wusste, dass sie dort waren. Er wusste sogar, wie viele.

Ethan fluchte leise. Liz war wieder da. Außer auf dem hinteren Buchdeckel ihrer Romane hatte er sie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen. Noch vor fünf Sekunden hätte er jedem, der ihn gefragt hätte, erklärt, dass er sie vergessen hatte und über sie hinweg war. Sie war Vergangenheit.

Jetzt schaute sie gerade in die andere Richtung. So als würde sie jemanden suchen. Offensichtlich nicht mich, dachte Ethan. Dann schmunzelte er. Liz wieder in Fool’s Gold. Wer hätte das gedacht?

Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Vielleicht würde er sie jetzt inmitten der vielen Leute nicht finden, doch er hatte da so eine Ahnung, wo sie später sein würde. Dort würde er sie treffen und sie zu Hause willkommen heißen. Das war das Mindeste, was er tun konnte.

Auf dem Weg zum Lebensmittelladen hielt Liz Tyler fest an der Hand. Die Menschenmenge, die sich wegen des Radrennens angesammelt hatte, war riesig und schien immer größer zu werden. Es war dumm von ihr gewesen zu glauben, sie könnte im Gedränge der Touristen zwei Mädchen finden, die sie noch nie gesehen hatte.

Sie deutete auf einen Eisstand, der Wassereis anbot, und kaufte Tyler seine Lieblingssorte. Blaubeere.

Um sie herum standen die Leute in Grüppchen zusammen, lachten und unterhielten sich über das Rennen. Liz schnappte etwas von einer neuen Radsportschule und einem neuen Krankenhaus auf, das gerade gebaut wurde. Veränderungen, dachte sie. Fool’s Gold hatte sich in den letzten zehn Jahren verändert.

Doch nicht so sehr, dass sie alles vergessen hätte. Obwohl sie wegen der gesperrten Straßen einen Umweg machen musste, fiel es ihr leicht, über Seitenstraßen den Weg zu jenem Haus zu finden, in dem sie aufgewachsen war.

„Du hast hier gelebt, bevor du nach San Francisco gegangen bist?“, fragte Tyler.

„Ja. Ich bin hier aufgewachsen.“

„Bei Grandma Sutton?“

„Ja.“

„Jetzt ist sie tot.“ Es war lediglich eine Feststellung. Tyler hatte Liz’ Mutter nie kennengelernt.

Als Liz damals, mit achtzehn und gebrochenem Herzen, aus Fool’s Gold geflüchtet war, hatte sie sich nach San Francisco durchgeschlagen. Dort hatte sie sich einen Job und eine ziemlich heruntergekommene Bleibe gesucht. Dann hatte sie gemerkt, dass sie schwanger war.

Ihr erster Impuls war es gewesen, nach Hause zurückzukehren. Doch besagter erster Anruf hatte sie skeptisch gemacht. Im Laufe des nächsten Jahres hatte sie noch zwei Mal zu Hause angerufen. Beide Male hatte ihre Mutter ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass ihre Tochter nicht mehr zu ihrem Leben gehörte. Die Zurückweisung hatte wehgetan, war aber keine allzu große Überraschung gewesen. Außerdem hatte ihre Mutter es richtig genossen, ihr mitzuteilen, dass Ethan Hendrix nie anrufe und auch nie nach ihr frage.

Beim Tod ihrer Mutter vor vier Jahren hatte Liz nicht geweint. Allerdings hatte sie Bedauern darüber empfunden, dass sie nie eine echte Beziehung zueinander gehabt hatten.

Liz überquerte eine ruhige Straße und befand sich nun wieder in ihrer früheren Nachbarschaft. Die Häuser waren einfach, mit zwei oder drei Schlafzimmern und einer kleinen Veranda. An den Fassaden blätterte da und dort die ausgebleichte Farbe ab. Ein paar Häuschen allerdings leuchteten wie bunte Blumen inmitten der verwahrlosten Gärten und erweckten den Eindruck, als würde die Wohngegend bald einen Aufschwung erleben.

Und mittendrin befand sich das heruntergekommenste Haus der Straße. Ein Schandfleck mit abgeblättertem Verputz und fehlenden Dachschindeln. Der Garten bestand aus mehr Unkraut als Pflanzen oder Rasen, die Fenster waren blind vor Schmutz. Eine Sperrholzplatte verdeckte ein Loch in einer kaputten Scheibe.

Liz schloss mit dem Schlüssel auf, den sie unter der Fußmatte gefunden hatte. Sie hatte vorhin bereits einen kurzen Rundgang durch das Haus gemacht, um nachzusehen, ob die Mädchen da waren. Angesichts der Schulbücher, die sich auf dem schmutzigen Küchentisch stapelten, und der Kleidungsstücke auf dem Fußboden der Mädchenzimmer vermutete Liz, dass die Sommerferien noch nicht begonnen hatten.

Jetzt ging sie mit dem Abendessen, das sie gekauft hatte, in die Küche. Die Hälfte der Küchenschränke fehlte. Es sah so aus, als hätte irgendjemand mit Renovierungsarbeiten begonnen und es sich dann anders überlegt. Der Kühlschrank funktionierte, war aber leer. In der Speisekammer in der Ecke gab es keine Vorräte. Im Müll steckten ein paar leere Chipstüten, und auf der Küchentheke lag ein einziger kleiner Apfel.

Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dem Brief ihrer Nichte zufolge waren die Mädchen seit ein paar Wochen auf sich gestellt. Seit dem Zeitpunkt, als ihre Stiefmutter das Weite gesucht hatte. Müsste nicht eigentlich der Staat eingreifen, wenn der Vater im Gefängnis saß und es sonst keine Verwandten gab? Wo waren die Leute vom Jugendamt?

Es gab noch mehr Fragen, die Liz beschäftigten. Doch sie beschloss, sich später mit ihnen auseinanderzusetzen. Es war nach vier. Die Mädchen müssten also eigentlich bald nach Hause kommen. Sobald sie sich kennengelernt hatten, würde sie noch mehr Lebensmittel besorgen und herausfinden, was hier vor sich ging.

„Mom?“, rief Tyler aus dem Wohnzimmer, „darf ich fernsehen?“

„Bis deine Cousinen kommen.“

Peggy hatte bereits angerufen und Bescheid gegeben, dass sie alle Strom-, Wasser- und sonstigen Rechnungen bezahlt hatte und nun alles wieder funktionieren sollte. Dass es Strom gab, hatte Liz schon festgestellt. Sie drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser schoss heraus – ein gutes Zeichen. Sekunden später hörte sie den Ton eines Zeichentrickfilms, was bedeutete, dass es hier Kabelfernsehen gab. Das moderne Leben, wie sie es kannte, war wiederhergestellt.

Sie ging zurück in den vorderen Teil des Hauses, über die Treppe hinauf ins obere Stockwerk und weiter in das Elternschlafzimmer. Es war der einzige Raum mit Familienfotos. Auf die alte, abgewetzte Kommode hatte jemand ein Hochzeitsfoto gestellt, das einen viel älter gewordenen Roy an der Seite einer dicklichen Blondine zeigte. Es gab auch ein paar Schulfotos der Mädchen. Liz trat näher und betrachtete sie prüfend. Sie suchte nach vertrauten Gesichtszügen.

Melissa schien Roys Lächeln zu haben. Abby hatte Liz’ Augen und ihre Sommersprossen. Beide waren rothaarig. Melissas Haarfarbe war ein sanftes Kastanienrot. Abbys Haar war karottenrot, was hinreißend aussah. Liz ahnte allerdings, dass die Elfjährige ihre außergewöhnliche Haarfarbe noch eine ganze Weile nicht zu schätzen wissen würde.

Sie sah sich im Zimmer um. Das Bett war nicht gemacht, die Schubladen der Kommode standen offen und waren leer. In dem erstaunlich großen Schrank hing lediglich Männergarderobe, und es gab ein paar Kartons mit Socken und Unterwäsche, die höchstwahrscheinlich Roys Ehefrau dort verstaut hatte.

Plötzlich war der Raum erfüllt von Erinnerungen. Sie ließen Liz nicht los und verfolgten sie, als sie hinaus in den Flur trat und zu jenem Zimmer ging, das früher ihres gewesen war. Vieles, was sie unbedingt hatte vergessen wollen, fiel ihr wieder ein.

Sie hörte das Schreien ihrer Mutter und nahm den Geruch von Alkohol wahr. Sie erinnerte sich an die tiefen Stimmen der Männer, die hier ein- und ausgegangen waren. Die meisten „Freunde“ ihrer Mutter waren Liz aus dem Weg gegangen, doch ein paar hatten sie mit einer Intensität angestarrt, die ihr immer unangenehm gewesen war.

Sie betrat ihr ehemaliges Zimmer. Die Farbe an den Wänden war anders. Das verblasste Gelb war durch ein helles Lavendelblau ersetzt worden. Im Gegensatz zu den frisch gestrichenen Wänden hatte man die Sockel- und Zierleisten jedoch lediglich abgeschliffen und ihnen keine neue Farbe verpasst.

Im Badezimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs hatte man Teile des Fußbodens herausgerissen, sodass die darunter liegenden Sperrholzplatten zu sehen waren. Liz war vorhin auch ein kleiner, halb fertiger Rohbau an der Rückseite des Hauses aufgefallen, der auf einem Betonfundament errichtet worden war. Es gab so viele halbherzig begonnene Renovierungsprojekte, und sie alle verliehen dem ohnehin schon alten und mitgenommen wirkenden Haus ein geradezu verwundetes Aussehen.

Das ist leicht zu ändern, sagte sie sich. Eine gute Baufirma könnte das Haus in ein paar Wochen auf Vordermann bringen. Aber vielleicht sollte man das alte Gebäude besser das Zeitliche segnen lassen und es einfach abreißen.

Liz schüttelte die trüben Gedanken ab. Sie war erst eine knappe Stunde hier, und schon setzte ihr dieses Haus zu. Sie musste sich in Erinnerung rufen, dass sie in San Francisco ein tolles Leben hatte. Einen Job, den sie liebte, ein schönes Zuhause und einen wunderbaren Sohn. Aus Fool’s Gold war sie vor zehn Jahren fortgezogen. Heute war sie ein anderer Mensch. Älter. Stärker. In der Lage, mit ein paar Erinnerungen fertig zu werden. Es war ja nicht so, dass sie sich hier für immer häuslich niederlassen würde. Für ein paar Wochen, sagte sie sich. Höchstens drei. Sie würde herausfinden, was hier los war, und dann die Mädchen dorthin bringen, wo sie künftig leben würden. Oder sie würde die beiden kurzerhand zu sich nach Hause mitnehmen.

Als sie wieder nach unten ging, hörte sie aufgeregte Stimmen und schnelle Schritte auf der Veranda. Dann flog die Haustür auf.

Zwei Mädchen standen da, von denen das größere und ältere gleichzeitig erschrocken und erleichtert aussah, während das jüngere eher schüchtern wirkte.

„Tante Liz?“, fragte Melissa, die Vierzehnjährige, zögernd. Liz lächelte den beiden zu und nickte. „Hi. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich einfach so ins Haus gekommen bin. Der Schlüssel war genau dort, wo …“

Der Rest dessen, was sie sagen wollte, wurde regelrecht aus ihr herausgedrückt. Denn die beiden Mädchen stürmten auf sie zu und umarmten sie so fest, als wollten sie sie nie mehr loslassen.

2. KAPITEL

Als Liz die Mädchen an sich drückte, spürte sie, wie verzweifelt, aber auch erleichtert die beiden waren. Sie waren zu jung, um auf sich allein gestellt zu sein. Was hatte Roys Frau sich bloß dabei gedacht?

Sie fügte diese Frage gedanklich zu ihrer Liste mit Fragen hinzu, mit denen sie sich später auseinandersetzen würde. Im Moment wollte sie, dass die Mädchen zu essen bekamen und sich geborgen fühlten.

„Du bist wirklich hier.“ Melissa sah sie an. „Wirklich?“

„Ja. Ich habe deine E-Mail heute Morgen bekommen und bin sofort losgefahren.“

Melissa, die dünn und fast so groß wie Liz war, atmete tief durch. „Ich bin total froh. Ich habe mich so bemüht, alles auf die Reihe zu kriegen, habe es aber nicht geschafft. Das Geld, das Bettina uns dagelassen hat, war ziemlich schnell verbraucht.“

Abby, die ein wenig kleiner und ebenfalls dünn war, nagte auf ihrer Unterlippe. „Bist du unsere Tante?“

„Das bin ich. Euer Dad ist mein Bruder.“

„Du bist berühmt.“

Liz lachte. „Das ist ein bisschen übertrieben.“

„Aber in der Bücherei gibt es Bücher von dir. Ich hab sie gesehen.“

Abby sah kurz zu ihrer Schwester. „Ich lese sie nicht, weil Melissa meint, dass ich davon Albträume bekomme.“

Liz streichelte dem Mädchen über die Wange. „Ich glaube, da hat sie recht. Vielleicht liest du sie, wenn du älter bist.“

„Oder du schreibst ein Buch für Mädchen in meinem Alter.“

„Darüber werde ich mal nachdenken.“ Liz sah an den Mädchen vorbei und entdeckte Tyler, der in der Tür zum Flur stand. „Mädchen, ihr habt einen Cousin. Mein Sohn Tyler ist mit mir mitgekommen. Tyler, das sind deine Cousinen Melissa und Abby.“

Die Mädchen drehten sich um. Tyler lächelte.

„Hi.“ Er klang eher neugierig als verlegen.

„Hi“, antworteten die Mädchen gleichzeitig.

„Tyler ist elf“, erklärte Liz. „Er hatte heute seinen letzten Schultag.“

Melissa kräuselte ihr Näschen. „Bei uns dauert es noch bis Freitag. Dann haben wir auch Sommerferien.“

Ein Umstand, der die Situation vereinfachen könnte, dachte Liz. Falls sie die Mädchen nach San Francisco mitnehmen müsste, brauchte sie die beiden nicht extra aus dem Unterricht zu nehmen.

Abby drehte sich wieder zu ihr. „Wo ist Tylers Dad, Tante Liz?“

Nicht unbedingt ein Thema, das Liz im Moment diskutieren wollte. Sie merkte, wie ihr Sohn sie in der Hoffnung, sie würde vielleicht ein bisschen mehr verraten, sofort erwartungsvoll anguckte. Das würde kaum passieren, dachte Liz. Gleichzeitig wünschte sie, dass die Dinge anders lägen und Ethan wenigstens einen kleinen Platz im Leben seines Sohnes hätte einnehmen wollen.

„Nicht hier bei uns“, antwortete Liz ausweichend. „Warum gehen wir nicht in die Küche und ihr beide esst erst mal? Ich habe auf dem Weg in die Stadt Brathähnchen und Salat besorgt. Dann lernen wir uns alle ein bisschen besser kennen, und ihr könnt mir erzählen, was passiert ist.“

Sie hätte noch mehr zu sagen gehabt, doch beide Mädchen rannten sofort in die Küche, als wären sie am Verhungern. In Anbetracht ihrer Lebensumstände waren sie das vielleicht auch wirklich.

Liz servierte ihnen jeweils eine große Portion Hähnchen mit Kraut- und Kartoffelsalat.

Die Mädchen fielen regelrecht über das Essen her. Liz schenkte beiden Milch ein, die sie ebenfalls besorgt hatte, und beide stürzten zwei Gläser hinunter. Während Liz ihnen beim Essen zusah, spürte sie, wie sie wütend wurde. Wie hatte Roys Frau die beiden einfach ihrem Schicksal überlassen können? Sie hätte im Zuge ihrer Abreise doch wenigstens dem Jugendamt telefonisch Bescheid geben können.

Liz beschloss, so viel wie möglich über Bettina herauszufinden und in ihrem nächsten Buch eine Figur genau wie sie umzubringen. Der Tod würde grauenhaft sein, schwor sie sich. Langsam und qualvoll.

Tyler sah den Mädchen mit großen Augen zu, sagte aber nichts. Er schien zu spüren, dass sie seit geraumer Zeit Hunger gehabt hatten. Das war schlimm, aber vielleicht auch eine gute Lektion für ihn. Nicht alle Menschen kamen in den Genuss von drei Mahlzeiten am Tag.

Liz betrachtete die abgetragenen und nicht gerade sauberen T-Shirts ihrer Nichten. Auch die Jeans der beiden hatten schon bessere Zeiten gesehen. Außerdem brauchten sie neue Sandalen. Liz wusste, dass sich die meisten vierzehnjährigen Mädchen ohne moderne Klamotten und wenigstens einen Hauch Make-up genierten. Verzichtete Melissa freiwillig auf beides?

Als der erste Hunger gestillt zu sein schien, setzte Liz sich Melissa gegenüber an den Tisch. Tyler stand neben ihr, und Liz legte einen Arm um ihn.

„Wie lange ist Bettina schon weg?“, fragte sie.

„Eine Weile. Fast drei Monate. Sie hat uns hundert Dollar da gelassen. Als das Geld alle war …“ Melissa senkte den Blick und starrte auf ihren Teller. Dann schob sie ihn von sich.

Liz dachte an die leeren Chipstüten im Müll. An den kleinen Apfel auf der Küchentheke. Ohne Geld und ohne jemanden, der sich um die beiden kümmerte, gab es nur eine Möglichkeit, wie sie überlebt hatten. Melissa hatte in den Läden in Fool’s Gold Lebensmittel gestohlen.

„Darüber unterhalten wir uns später“, schlug Liz vor. „Unter vier Augen. Wir können mit den Ladenbesitzern reden und ihnen alles erklären. Ich komme für die Schäden auf.“

Melissa errötete. Dann schluckte sie. „Ich, äh … danke, Tante Liz.“

„Wie wäre es, wenn ihr mich einfach Liz nennt? Tante Liz ist zu lang.“

„Okay. Danke, Liz.“

„Wussten eure Freundinnen, dass Bettina fortgegangen ist?“

Abby schüttelte den Kopf. „Melissa hat gesagt, wir sollen es niemandem erzählen. Sie hat gemeint, dass man uns sonst von hier wegholt und in verschiedenen Familien unterbringt. Und dass wir uns dann nie mehr wiederfinden würden.“

„Ich hätte nicht zugelassen, dass man mir Abby wegnimmt“, erklärte Melissa grimmig. Ihre grünen Augen funkelten.

Eine bewundernswerte, aber leicht unrealistische Einstellung, wenn die Alternative bedeutete, zu verhungern. Allerdings war Liz die Falsche, um sich ein Urteil zu erlauben. Sie selbst hatte ihren großen Bruder vergöttert, und er war wortlos von zu Hause abgehauen und hatte sie allein zurückgelassen.

„Ein paar meiner Freundinnen haben es gemerkt“, gab Melissa zu. „Manchmal haben sie uns etwas zu essen gebracht. Es war schlimm. Ich habe wirklich gedacht, ich könnte für uns beide sorgen.“

„Das ist eine große Verantwortung“, räumte Liz ein. „Du hast dein Bestes gegeben, aber die Situation war aussichtslos. Ich bin froh, dass du mir die E-Mail geschickt hast.“

Abby grinste. „Sie hat alle deine Bücher gelesen. Dad auch. Er hat sie oben in seinem Zimmer. Können wir ihn besuchen?“

„Lass mir Zeit, bis ich mir hier einen Überblick verschafft habe“, antwortete Liz ausweichend. Sie wusste nicht einmal, wo Roy war, geschweige denn, warum er verurteilt worden war und in welchem Gefängnis er saß.

„Dad ist sehr stolz auf dich“, sagte Melissa scheu zu Liz. „Er hat ständig von dir geredet.“

Liz wusste nicht, was sie davon halten sollte. Ganz so stolz konnte er nicht gewesen sein, sonst hätte er mit ihr Kontakt aufgenommen. Wie seine Töchter gerade bewiesen hatten, war sie so schwer nun auch wieder nicht zu finden.

Abby legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke. „Das Licht funktioniert wieder.“ Sie schmunzelte. „Es ist nicht mehr dunkel.“

„Alles funktioniert wieder“, bestätigte Liz. „Sogar das Kabelfernsehen.“

Zwei Augenpaare leuchteten auf. „Wir können fernsehen?“, fragte Abby.

Tyler sah Liz an und grinste, als hätte seine Mutter nun den Beweis, dass er nicht das einzige Kind war, das ständig fernsehen wollte.

„Erst, wenn ihr eure Hausaufgaben erledigt habt“, informierte Tyler seine Cousinen. „Und nicht jeden Abend.“ Er seufzte schwer, als wäre sein Leben eine einzige Qual.

Liz lachte. „Es stimmt. Ich bestehe darauf, dass wir jede Woche einen Leseabend machen. Da sitzen wir gemeinsam ruhig da und lesen.“

„Ich lese gern“, erklärte Melissa. „Aber Dad und Bettina haben uns jeden Abend fernsehen lassen.“

Ein Thema, auf das ich später zurückkommen werde, dachte Liz. „Falls ihr mit dem Essen fertig seid, könntet ihr rasch eure Teller abspülen. Dann machen wir eine Einkaufsliste und fahren zusammen in den Supermarkt.“

Nachdem sie gemeinsam abgewaschen hatten, schickte Liz ihren Sohn nach oben, weil sie wissen wollte, ob es im Badezimmer Toilettenpapier gab. Abby schickte sie in die Garage zur Waschmaschine, damit sie nachsah, ob auch Waschpulver fehlte. Sie und Melissa setzten sich wieder an den Küchentisch und begannen, eine Liste zu schreiben.

„Wir kaufen alles Nötige“, begann Liz. „Aber nicht allzu große Mengen. Ich weiß noch nicht, wie lange wir hier sein werden.“

Melissa strich sich ihr langes Haar nach hinten und runzelte die Stirn. „Wir gehen nirgendwohin. Ich lasse es nicht zu, dass irgendjemand Abby und mich trennt.“

Liz legte ihre Hand auf ihren Arm. „Das wollte ich damit auch in keiner Weise andeuten. Aber ihr könnt nicht allein hierbleiben. Ihr müsst bei einem oder zwei Erwachsenen leben. Ich werde die Situation mit eurem Dad besprechen.“

„Was ist mit dir?“ Melissa hielt die Augen bei ihrer Frage starr auf den Tisch gerichtet.

„Ich weiß es nicht. Wenn es andere Verwandte gibt, müssen wir uns entscheiden, was wir am besten tun. Wenn nicht, kommen du und Abby mit mir nach San Francisco.“

Melissa sprang auf. „Nein. Wir kommen nicht mit. Wir leben hier. In Fool’s Gold.“ Ihr traten Tränen in die Augen.

Liz stand auf. „Entschuldige. Das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist alles noch ganz neu, und wir haben uns noch nicht einmal richtig kennengelernt. Wir müssen nicht alle Probleme gleich heute lösen.“

„Ich gehe nirgendwohin. Abby auch nicht.“ Melissa sah sie trotz ihrer Tränen herausfordernd an. „Es ist mein Ernst, Liz. Du kannst uns zu nichts zwingen.“

Liz wusste, dass sie es sehr wohl konnte und auch tun würde, falls ihr die Vormundschaft für die Mädchen übertragen würde. Aber es hatte keinen Sinn, jetzt auf irgendetwas zu beharren.

„Ich verstehe“, sagte sie ruhig. „Lass mich, wie gesagt, mit deinem Vater reden und herausfinden, wie der Stand der Dinge ist. Ich werde nichts tun, ohne es vorher mit euch zu besprechen. Können wir es bis auf Weiteres dabei belassen?“

Melissa wirkte, als wollte sie etwas erwidern. Doch dann nickte sie langsam.

Liz setzte sich und nahm sich wieder die Einkaufsliste vor. „Shampoo und Haarspülung?“, fragte sie.

Melissa ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber sinken. „Haben wir auch nicht mehr.“

Liz machte sich eine Notiz. „Ihr müsst mir zeigen, was ihr mögt. Wie sieht es mit Schminksachen aus?“

Es war Bestechung, schlicht und einfach Bestechung. Doch Liz fand, dass sich sowohl sie als auch Melissa eine kleine Pause verdient hatten.

„Ich, äh, schminke mich nicht oft, würde es aber gerne tun.“

Liz lächelte. „Heute kaufen wir Wimperntusche und Lipgloss, aber in den nächsten Tagen machen wir eine richtige Shoppingtour und besorgen uns ein paar schöne Dinge, mit denen wir ein bisschen herumspielen können.“

Melissa beugte sich vor. „Hast du Strähnchen?“

Liz fuhr sich mit den Fingern durch ihr stufig geschnittenes, gewelltes Haar. Es fiel ihr knapp über die Schultern, sodass sie es zurückbinden, hochstecken oder sich – wenn sie besonders experimentierfreudig war – mit dem Lockenstab Korkenzieherlöckchen machen konnte.

„Ein paar. Wir haben ungefähr die gleiche Haarfarbe. Ein paar rötlichgoldene Strähnen lassen das Haar fülliger aussehen.“ Liz zuckte die Achseln. „Du bist hübsch, ohne nachhelfen zu müssen. Aber in ein paar Jahren willst du vielleicht auch da und dort ein paar zusätzliche Akzente setzen wollen.“

Melissa errötete. „Abby hasst ihr Haar. Es ist dermaßen rot.“

„Irgendwann wird sie es zu schätzen wissen. Aber als junges Mädchen tut man sich schwer, wenn man anders ist als die anderen.“

„Das hat meine Mom auch immer gesagt.“ Melissa presste die Lippen aufeinander und knetete ihre Hände. „Sie ist gestorben.“

„Das tut mir leid.“

„Es ist lange her. Abby erinnert sich nicht an sie.“

„Aber du erinnerst dich.“

Melissa nickte.

Liz dachte an die Frau, die ihr Bruder geheiratet hatte, und fragte sich, wo er die ganze Zeit gesteckt hatte. Wann war er nach Fool’s Gold zurückgekehrt? Damals, als ihre Mutter gestorben war? Liz vermutete, dass sie ihm das Haus vererbt hatte. Doch wie hatte man gewusst, wo man ihn erreichen konnte? Es sei denn, er war mit ihrer gemeinsamen Mutter in Verbindung geblieben, und sie, Liz, hatte es nicht gewusst.

Noch mehr Fragen für später, sagte sie sich.

Tyler kam die Treppe heruntergestürmt. „Kein Toilettenpapier“, verkündete er. „Und in der Dusche gibt es keine Seife.“

Er klang gleichzeitig schockiert und begeistert darüber, wie anders als zu Hause hier alles war.

Abby kam wieder in die Küche, um zu berichten, dass auch kein Waschmittel mehr da war.

„Ich weiß nicht, ob mein Auto groß genug für alle unsere Einkäufe ist“, sagte Liz augenzwinkernd. „Möglicherweise müssen wir einen von euch aufs Autodach binden, um Platz im Wagen zu schaffen.“

Abby guckte ein wenig erschrocken, doch Tyler lachte. „Ich tu’s. Binde mich auf dem Dach fest, Mom.“

„Danke, dass du dich freiwillig meldest.“

Abby sah erst Liz, dann Tyler an. Dann lächelte sie zaghaft, als würde sie langsam verstehen, dass alles nur Spaß war. „Du kannst mich auch aufs Dach binden.“

„Oh, vielen Dank“, sagte Liz und strich ihr über die Wange. „Sehr aufmerksam von dir. Okay, sind wir fertig? Ich dachte, wir könnten Spaghetti zum Abendessen machen. Na, wie klingt das?“

„Mein Lieblingsessen“, rief Tyler.

„Meines auch“, erklärte Abby.

„Mit Knoblauchbrot?“, fragte Melissa.

„Was wären Spaghetti ohne Knoblauchbrot?“ Liz lächelte.

Melissa strahlte über das ganze Gesicht.

Eine Einkaufstour, ein Abendessen und einen gemeinsamen Abwasch später kehrte Ruhe ein. Melissa musste noch etwas für die Schule erledigen, und Abby und Tyler saßen unten auf der Couch und sahen sich einen Film an.

Liz schenkte sich ein zweites Glas Wein ein und nahm es mit auf die Veranda. Ihre Nichten waren zwar großartig, doch die Situation war trotzdem anstrengend, und sie hatte das Bedürfnis, ein paar Minuten allein zu sein.

Sie setzte sich auf die Verandatreppe. Die Nacht war klar, und die Sterne wirkten viel größer und näher als in San Francisco. Hier gab es die Lichter der Großstadt nicht, die die Schwärze des Nachthimmels verwässerten. Liz konnte die Berge im Osten sehen, die riesig in den Himmel ragten. Die Spitzen schienen die funkelnden Sterne beinahe zu berühren.

Aus dem Haus war der Ton des Films zu hören – ein beruhigendes, Geborgenheit vermittelndes Geräusch. Abby und Melissa verhielten sich in dieser unmöglichen Situation, in die sie unschuldig geraten waren, sehr tapfer. Liz’ Wut auf Bettina wuchs mit jeder Sekunde. Wie konnte eine Erwachsene zwei Mädchen einfach im Stich lassen? Selbst wenn sie die beiden nicht um sich haben wollte, hätte sie doch wenigstens irgendetwas tun können, damit die beiden versorgt waren.

Liz hatte große Lust, die Polizei anzurufen und die Frau anzuzeigen. Doch sie würde es nicht tun. Nicht, bevor hier alles geregelt war. Wenn sich das Jugendamt jetzt einschaltete, würde sich alles nur unnötig verkomplizieren. Außerdem wollte Liz zuerst mit Roy reden.

Beim Abendessen hatte Melissa erwähnt, dass ihr Vater in Folsom im Gefängnis saß. Trotz der Tatsache, dass Johnny Cash den Ort durch einen Song berühmt gemacht hatte, war die Einrichtung alt und ein berüchtigter Knast. Liz hatte für eines ihrer Bücher in diesem Gefängnis recherchiert. Sie verfügte immer noch über einige Kontakte dorthin, was bedeutete, dass sich ein Besuch bei ihrem Bruder relativ einfach gestalten würde.

Dieses Wissen machte die Vorstellung, Roy nach so langer Zeit wiederzusehen, allerdings auch nicht viel angenehmer. Was sollte sie sagen?

Sie schüttelte die Frage ab und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den wunderbaren Himmel. Das war leichter, als über die Vergangenheit oder sogar die Gegenwart nachzudenken. Nach so langer Zeit war sie wieder in Fool’s Gold. Wer hätte das gedacht?

Beim Einkaufen hatte es keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Nur eine einzige Ladenbesitzerin hatte sie erkannt und sie mit Namen angesprochen. Liz hatte sich zwar überhaupt nicht an die ältere Dame erinnert, war jedoch noch so weit mit den Gebräuchen des Kleinstadtlebens vertraut, um so zu tun, als wäre sie hocherfreut über das Wiedersehen. Die Ladenbesitzerin hatte erklärt, wie nett es doch wäre, dass Liz wegen Roys Mädchen zurückgekommen war.

Eine harmlose Bemerkung, dachte Liz, während sie an ihrem Wein nippte. Es gab keinen Grund, warum sie diese Frau am liebsten scharf gefragt hätte, wie es denn möglich sei, dass niemandem zwei sich selbst überlassene Mädchen aufgefallen waren. Denn Fool’s Gold war natürlich immer noch die gleiche Stadt, die seinerzeit die vielen blauen Flecken auf Liz’ Armen und Beinen sehr wohl bemerkt, aber nicht hinterfragt hatte.

„Denk nicht daran“, flüsterte sie. Sie war hier, um Roys Mädchen zu helfen und dann so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden. Mehr nicht.

Sie hörte Schritte auf der Straße. Im ersten Moment erstarrte sie vor Schreck, bis ihr einfiel, dass dies hier Fool’s Gold war, wo niemals jemand überfallen wurde. Sie schaute auf und sah einen Mann vorbeigehen. Ganz allerdings ging er nicht vorbei. Er blieb am Gartentor stehen, machte es auf und spazierte herein. Liz wäre beinahe das Weinglas aus der Hand gerutscht, als sie Ethan Hendrix auf sich zukommen sah.

„Hallo Liz.“

Er war genauso groß und gut aussehend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Breitschultriger und etwas älter, doch auf diese attraktive Art älter, wie es Männer nun mal werden. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, doch wenn Liz jetzt raten müsste, würde sie sagen, dass er sich freute, sie zu sehen. Zumindest lächelte er.

Sie blinzelte, weil sie sich nicht sicher war, dass er wirklich vor ihr stand. Doch merkwürdigerweise verschwand das Bild nicht. Warum sollte Ethan froh sein, dass sie wieder in der Stadt war?

Sie umklammerte ihr Weinglas mit beiden Händen. Aufzustehen wäre jetzt das Vernünftigste und auch Höflichste gewesen, doch Liz wusste nicht recht, ob sie es schaffen würde. Ihre Beine fühlten sich etwas zittrig an, während sie den ersten Mann anstarrte, den sie geliebt hatte. Noch ein Gläschen Wein mehr, und sie hätte sich möglicherweise eingestanden, dass er der einzige Mann war, den sie jemals geliebt hatte. Aber warum darüber nachdenken?

„Ethan.“ Sie war überrascht, wie leicht ihr sein Name nach so langer Zeit über die Lippen kam. Sie hatte ihn angeschrien, ihn verflucht, um ihn geweint und ihn angefleht – aber nur in Gedanken. In den vergangenen zwölf Jahren hatte sie nie wieder seinen Namen ausgesprochen. Bis auf ein einziges Mal … seiner Frau gegenüber.

„Ich dachte, ich hätte dich vorhin gesehen.“ Die Hände in die Hosentaschen gesteckt kam er lächelnd näher. „Beim Rennen. Ich habe versucht, zu dir durchzukommen, aber das Gedränge war zu groß. Du bist zurück.“ Das Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen. „Du siehst gut aus.“

Sie sah wie aus?

Liz nahm all ihre Kraft zusammen, stellte das Glas ab und stand auf. Nachdem sie die Arme vor der Brust verschränkt hatte, merkte sie, dass sie immer noch ihren Kopf leicht in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen schauen zu können.

„Es ist nicht so, wie du denkst“, begann sie. „Ich bin nicht hier, um Schwierigkeiten zu machen.“

Er wirkte verwirrt. „Warum solltest du?“

„Ich bin wegen meines Bruders und seiner Töchter hier. Es hat nichts mit uns beiden zu tun.“

Sein Lächeln verschwand. „Ach, das“, sagte er nachdenklich. Dann zuckte er die Achseln. „Ich war jung und dumm. Es tut mir leid.“

Wenn das eine Entschuldigung sein sollte, war es keine besonders gelungene. Vor allem nicht im Verhältnis zu der regelrecht unglaublichen Abfuhr, die er sowohl ihr als auch ihrem Sohn seinerzeit erteilt hatte. Doch Ethan war nie besonders gut darin gewesen, Verantwortung für seine Beziehungen zu übernehmen.

Für ihn zählte nur, wie alles nach außen hin wirkte. Schließlich war er ein Hendrix. Ein Mitglied jener Familie, die zu den Gründervätern von Fool’s Gold gehörte und die traditionellen Werte bewahrte. Ein Mädchen mit dem falschen Stammbaum war gut genug, um mit ihm zu schlafen, aber mehr würde ein Mann wie Ethan niemals von so jemandem wollen.

„Egal“, murmelte sie. „Ich wusste nicht, dass mein Bruder wieder nach Fool’s Gold gezogen ist, und ich wusste nicht, dass er Töchter hat. Bis Melissa mir geschrieben hat. Deshalb bin ich hier. Ich bleibe zwei Wochen. Höchstens drei. Und ich werde dir in dieser Zeit nicht in die Quere kommen. Das hast du mir ja nahegelegt.“ Befohlen wäre der treffendere Ausdruck gewesen, aber jetzt war nicht der richtige Moment, um dieses Thema aufzurollen. Liz war müde und hatte ohnehin schon genug um die Ohren. Ein Streit mit Ethan würde die Situation nur verkomplizieren.

Leicht gereizt schüttelte sie den Kopf. „Aber ich möchte klarstellen, dass dir die Stadt nicht gehört und du kein Recht hast, mir zu sagen, wo ich mich aufhalten darf und wo nicht.“

„Ich weiß.“ Er kam einen Schritt näher. „Würde es etwas bringen, wenn ich sage, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wovon du sprichst?“ Jetzt lächelte er wieder. Es war dieses lässige Lächeln, das bei ihr früher immer für Schmetterlinge im Bauch gesorgt hatte. „Ich wollte dich zu Hause willkommen heißen“, fuhr er fort. „Und dir sagen, wie großartig ich es finde, dass du mit deinen Büchern so viel Erfolg hast. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es mir gefällt, dass du mich darin immer wieder umbringst.“

Jetzt war er nicht mehr der Einzige, der verwirrt war. Er wollte über ihre Bücher reden?

„Du hast es verdient“, erwiderte sie schroff. „Und genau genommen habe ich dich überhaupt nicht umgebracht.“

„Warum haben alle deine Opfer dann eine unübersehbare Ähnlichkeit mit mir?“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Das war gelogen.

„Soso.“

Das Lächeln verschwand wieder, während er noch einen Schritt auf sie zu machte. Einen Schritt, mit dem er ihr ein bisschen zu nahe kam.

„Vor elf Jahren war ich ein Idiot“, sagte er. „Ich gebe es zu und entschuldige mich dafür. Das ist der wahre Grund, warum ich hergekommen bin.“

„Wie bitte?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihn wütend an. „So einfach ist das? Nach allem, was bei meinem letzten Besuch in Fool’s Gold passiert ist, willst du ausgerechnet darüber reden?“

Er runzelte die Stirn. „Welcher letzte Besuch?“

„Vor fünf Jahren war ich hier, um mit dir zu reden. Stattdessen hatte ich ein unangenehmes Gespräch mit deiner Frau. Du warst gerade verreist. Und ein paar Tage später habe ich dann deinen Brief bekommen.“

Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. „Was?“

Liz hätte am liebsten geschrien. „Ich bin damals nach Fool’s Gold gekommen, um mit dir zu reden. Ich wollte dir von Tyler erzählen. Stattdessen habe ich Rayanne getroffen, die mir mitgeteilt hat, dass du verreist bist. Zehn Tage später trudelte dann dein Brief bei mir ein.“

Ethan wirkte nun nicht mehr verwirrt, sondern genervt. „Ich sehe ein, dass das, was ich vor vielen Jahren getan habe, idiotisch und gemein war, und dafür entschuldige ich mich. Aber lass bei deinen Geschichten meine Frau aus dem Spiel.“

Sie erstarrte. „Geschichten? Du glaubst also, ich lüge? Ich habe vor fünf Jahren mit deiner Frau geredet. Und du hast mir einen Brief geschrieben. Ich habe ihn immer noch.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe dir keinen Brief geschrieben. Und du hast nicht mit meiner Frau …“ Er zögerte. „Ich weiß nicht, ob du Rayanne getroffen hast oder nicht. Möglich, dass ich damals verreist war. Heute jedenfalls habe ich dich in der Stadt gesehen und wollte vorbeikommen, um dich zu begrüßen. Das ist alles.“ Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Wer ist Tyler? Dein Mann? Du bist verheiratet?“

Oh Gott. Liz ließ sich auf die Verandatreppe sinken. Ihr gingen so viele Erinnerungen durch den Kopf, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ihr fiel ein, wie sehr sie Ethan einmal geliebt hatte. Wie er sich um ihr Vertrauen bemüht und ihr versichert hatte, dass er sie liebte. Sie hatte sich ihm in einer sternenklaren Nacht unten am Fluss hingegeben. Trotz der Sehnsucht, mit ihm zu schlafen, hatte das erste Mal wehgetan, und sie hatte geweint. Ethan hatte sie fest im Arm gehalten.

Sie hatten gemeinsam geplant, dass sie zu ihm aufs College nachkommen würde, da eine Beziehung in Fool’s Gold nicht möglich gewesen war. Seine Familie war zwar nicht außergewöhnlich reich, genoss jedoch großes Ansehen. Etwas, womit Liz Sutton nicht dienen konnte.

Sie erinnerte sich daran, wie er und seine Freunde einmal in dem Restaurant gewesen waren, in dem sie gejobbt hatte. Sein Freund Josh hatte eine Anspielung gemacht, dass er sie und Ethan zusammen gesehen hätte. Liz erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Ethan war die Situation damals peinlich gewesen. Er hatte gesagt, sie habe einen süßen Hintern, sei aber niemand, für den er sich jemals interessieren könnte. Er hatte sie verleugnet. Er hatte sie beide verleugnet. Liz hatte jedes Wort gehört.

Wenn sie älter gewesen wäre, hätte sie seine Reaktion vielleicht verstanden. Wenn er erwachsener und selbstbewusster gewesen wäre, hätte er sich vor seinen Freunden wahrscheinlich anders verhalten. Aber so hatte er sie verletzt und provoziert. Sie war zu seinem Tisch gegangen, hatte den Schoko-Milchshake genommen, den sie ihm kurz zuvor serviert hatte, und ihn ihm ins Gesicht geschüttet. Dann hatte sie ihn sitzen lassen, ihren Job gekündigt, ihre Sachen gepackt und war nach San Francisco abgehauen.

Drei Wochen später hatte sie gemerkt, dass sie schwanger war.

Sie war nach Fool’s Gold zurückgekehrt, um es Ethan zu sagen. Als sie ihn mit einer anderen im Bett erwischt hatte, war sie wieder abgehauen. Dieses Mal war sie fest entschlossen gewesen, es allein zu schaffen. Doch vor fünf Jahren, kurz bevor Tyler in die Schule gekommen war, hatte sie entschieden, noch einen Versuch zu wagen und Ethan alles zu sagen. Das Ergebnis dieses Versuchs waren das Gespräch mit seiner Frau und besagter Brief gewesen. Jener Brief, in dem Ethan deutlich gemacht hatte, dass er nichts mit Liz und ihrem Sohn zu tun haben wollte.

Das alles ergibt keinen Sinn, dachte sie. Ethan mochte vieles sein, aber dumm war er nicht. Er würde nicht einfach vergessen, dass er ein Kind hatte. Außer, man hatte es ihm wirklich nie gesagt. Was bedeutete, dass ihm seine Frau Liz’ Besuch verschwiegen hatte.

„Liz?“, fragte er leise. „Was soll das alles?“

„Ich weiß es nicht.“ Sie stand wieder auf. „Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Hat Rayanne dir nie erzählt, dass ich mit dir reden wollte?“

„Nein, nie.“

„Du hast mir nie einen Brief geschrieben?“

„Nein.“

„Du hast also keine Ahnung?“

„Wovon?“

Liz holte tief Luft. Sie hatte gewusst, dass die Wahrscheinlichkeit groß war, Ethan in Fool’s Gold über den Weg zu laufen. Oder seiner Frau. Oder beiden. Doch mit dem, was gerade passierte, hatte sie nicht gerechnet.

„Ich bin vor fünf Jahren hier gewesen, weil ich dich sehen wollte“, begann sie. „Nein, ich bin sogar schon ein paar Wochen, nachdem ich abgehauen bin, zurückgekommen. Aber da warst du gerade mit Pia im Bett.“

„Was?“ Er erstarrte. „Ich war nie …“ Er wandte sich ab. Dann sah er sie wieder an. „Es war nicht so, wie du denkst.“

„Ich denke, dass ihr beide nackt miteinander im Bett gelegen habt.“ Liz musste sich beherrschen, um nicht laut zu werden. „Aber egal. Es geht nicht darum, dass du mit Pia rumgevögelt hast.“

„Ich habe nicht rumgevögelt.“

„Ach nein? Na gut, es geht auch nicht um deine tiefe und ernsthafte Beziehung zu ihr. Ich bin damals zurückgekommen, weil ich dir sagen wollte, dass ich schwanger bin. Als ich dich mit Pia im Bett gesehen habe, hat es mir gereicht. Ich war gekränkt. Und auch wütend. Du hast mich öffentlich verleugnet und dann auch noch mit einem jener Mädchen geschlafen, die mich immer gequält haben.“ Sie straffte die Schultern. „Noch etwas, das dich nicht interessiert, oder? Worum es geht, ist, dass ich immer wollte, dass du es weißt. Also bin ich vor fünf Jahren noch einmal zurückgekehrt, um dir von Tyler zu erzählen. Ich habe mit Rayanne gesprochen und es ihr erzählt. Dann kam dein Brief, in dem stand, dass du nichts mit Tyler und mir zu tun haben willst und dass wir uns von dir fernhalten sollten.“ Ein Brief, den offensichtlich Rayanne geschrieben hatte.

Ethan starrte sie an, als hätte er sie noch nie gesehen. Sein Blick war ungläubig, verwirrt und wütend.

„Tyler ist nicht dein Ehemann?“

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