Kein Tag mehr ohne dich

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Das Leben ist schmerzhaft und viel zu kurz. Aber es kann auch wunderschön sein, weiß Elle, und beginnt ein Jahr nach dem Tod ihres Verlobten die Scherben ihres Lebens zusammenzusetzen. Nur um sich gleich vor neuem Schmerz schützen zu müssen, als plötzlich ihre erste Liebe Oliver wieder vor ihr steht und eine zweite Chance will. Das letzte Mal brach er ihr das Herz. Diesmal werden nicht einmal mehr Scherben übrig bleiben, wenn er sie erneut verlässt. Und doch fühlt Elle sich in seinen Armen etwas weniger zerbrochen …

Ein Buch, von dem man sich gern das Herz brechen lässt!


  • Erscheinungstag 05.12.2016
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499586
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Claire Contreras

Kein Tag mehr ohne dich

Roman

Aus dem Amerikansichen von
Nele Junghanns und Sophie Wölbling

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by Claire Contreras

in der HarperCollins Germany GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Bookcase Literary Agency

im Auftrag der Rebecca Friedman Literary Agency

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: formlabor, Hamburg

Redaktion: Laura Oehlke

Titelabbildung: LenaBelkin; Iosw; Irtsya; mw2st; Seamartini Graphics / Shutterstock

ISBN eBook 978-3-95649-958-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Prolog

Der erste Junge, in den ich verliebt war, erzählte mir immer Geschichten von Königen und Königinnen, von Krieg und Frieden und von seiner Hoffnung, irgendwann einmal für jemanden der Ritter in strahlender Rüstung zu sein. Ich fieberte bei seinen abendlichen Geschichten mit, hing an seinen Lippen, während er lebhaft erzählte, und freute mich, wenn seine grünen Augen strahlten, weil ich über einen seiner Witze lachte.

Er zeigte mir, wie es sich anfühlt, liebkost und innig geküsst zu werden. Später brachte er mir bei, wie schmerzhaft es ist, jemanden zu verlieren, der einem viel bedeutet. Wie man mit einem gebrochenen Herzen weiterlebt, brachte er mir leider nicht bei. Ich habe mich oft gefragt, ob ich diese Lektion verpasst habe. Heute frage ich mich, ob er selbst vielleicht versucht hat, dahinterzukommen, oder ob er die ganze Zeit einfach überhaupt keine Gefühle hatte.

1. Kapitel

Es heißt, am besten kommt man über etwas hinweg, indem man loslässt.

Als wäre loslassen so leicht. Als könnte man die guten und schlechten Erinnerungen an drei Jahre so einfach beiseiteschieben oder vergessen. Ich weiß, dass es nicht geht, denn in ein paar Wochen ist es genau ein Jahr her, und die Erinnerungen an ihn sind so präsent, als wäre er noch da. Seine Badelatschen der San Francisco Giants stehen noch vor dem Waschbecken, genau dort, wo er sie ausgezogen hat. Einige seiner Hemden riechen noch nach ihm – die wenigen, die ich noch nicht zum Schlafen angezogen habe. Auch wenn er nicht mehr da ist, ist seine Gegenwart immer noch so stark. Ich gehe durch das Haus und achte darauf, dass von ihm nichts mehr zu sehen ist – für mich ist das ein großer Schritt des Loslassens.

In der Küche beschrifte ich gerade die letzten Kisten, als ich erst Schlüssel klimpern höre und dann Schritte auf dem Parkett. Auch so ein Geräusch, das mir sicherlich fehlen wird, wenn ich hier ausgezogen bin.

„Estelle?“ Ihre Stimme klingt sanft und melodisch.

„In der Küche!“ Ich wische mir die Hände an meiner Jeans ab und gehe ihr entgegen.

„Hey. Du hast gestern Abend aber ganz schön viel geschafft“, sagt sie mit einem traurigen Lächeln. Ihre Augen glänzen beim Anblick der fast leeren Wohnung. Sie hat dieselbe Lockenmähne und die ausdrucksstarken karamellbraunen Augen, wie ihr Sohn sie hatte. Sie zu sehen versetzt mir erneut einen Stich.

Ich zucke mit den Schultern und beiße mir auf die Wange, um nicht zu weinen. Bloß nicht wieder weinen, wo das letzte Mal doch schon so lange her ist. Felicia nimmt mich in den Arm, und ich atme langsam aus, um nicht völlig die Kontrolle zu verlieren. Ich möchte stark sein, für sie und für Phillip. Wyatt war ihr einziges Kind, und so schwer dieser Verlust auch für mich ist, muss die Leere für sie doch noch viel schlimmer sein. Normalerweise weinen wir nicht, wenn wir uns sehen – noch nicht einmal hier –, aber das Haus nun zu verkaufen ist mehr als nur ein Abschied von einem Zuhause. Es ist ein Abschied von Weihnachtsfesten und Thanksgiving-Essen. Es ist, als würden wir sagen: „Wyatt, wir lieben dich, aber das Leben geht weiter.“ Und das stimmt ja auch. Ein Grund, warum ich mich so schuldig fühle. Das Leben geht weiter, aber warum muss es denn ohne ihn sein?

„Alles wird gut“, sage ich und wische mir die Tränen von den Wangen, als ich mich aus der Umarmung löse.

„Ja, bestimmt. Wyatt hätte nicht gewollt, dass wir wegen eines Hauses weinen.“

„Nein, er hätte garantiert den Kopf darüber geschüttelt, dass wir an einem Gebäude hängen“, sage ich zaghaft lächelnd. Ginge es nach Wyatt, würden alle Menschen in Zelten leben und sich mit Regenwasser waschen.

„Genau. Und er hätte auch schon vor zwei Monaten den Strom abgestellt, wo du dir doch sowieso nur Essen holst“, fügt sie hinzu.

Unser Lachen verstummt. Kopfschütteln, neue Tränen, Stille.

„Bist du sicher, dass du nicht zu Phillip und mir ziehen möchtest?“, fragt sie mich, als wir langsam von Zimmer zu Zimmer gehen und noch einmal überprüfen, dass wir nichts vergessen haben. Morgen zeigt die Maklerin das Haus den ersten Interessenten, und für die potenziellen Käufer soll alles perfekt sein.

„Ja. Victor würde es mir übel nehmen, wenn ich sein Angebot ablehne. Er fände es toll, wenn ich bei ihm wohne würde, wo ich doch schon auf ein anderes College gegangen bin und nicht dasselbe Footballteam mag wie er. Vielleicht hofft er ja auch, dass ich ihm wieder seine Wäsche wasche, wie in dem einen Jahr auf der Highschool.“

Felicias Schultern bewegen sich beim Lachen auf und ab. „Na gut, dann bestell ihm liebe Grüße und sag ihm, dass wir uns sehr freuen würden, wenn er Sonntag auch zum Essen vorbeikommt.“

„Mach ich.“ Mein Lächeln erstirbt, als mein Blick auf die Schuhe unter dem Waschbecken fällt.

„Soll ich die mitnehmen, oder möchtest du sie behalten?“

„Ich …“, ich atme zitternd. „Würdest du sie nehmen?“

Ich ertrage es bestimmt nicht, sie Tag für Tag zu sehen, wenn ich woanders wohne. Ich behalte schon alle Hemden von Wyatt, und die Schuhe passen mir nun wirklich nicht – sie sind mir mindestens fünf Nummern zu groß –, aber es sind seine Lieblingsschuhe. Waren. Sie waren seine Lieblingsschuhe. Mit meinem Therapeuten habe ich lange daran gearbeitet, von Wyatt in der Vergangenheit zu sprechen. Manchmal zucke ich dabei noch zusammen, aber es ist schon besser geworden. Einige Zeit lebte ich in einer Parallelwelt, in der Wyatt nur beruflich unterwegs war. Er verreiste sehr gern allein und ließ sich von fremden Kulturen zu neuen Bildern inspirieren. Nach einem Monat ließ ich die Erkenntnis zu, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Nach drei Monaten packte ich auf Vorschlag meines Therapeuten nach und nach seine Sachen weg, um nicht ständig an ihn erinnert zu werden.

Gebracht hat das nicht viel. Das Haus erinnerte mich an ihn, und auch unsere Galerie konnte ich ja nicht einfach wegpacken. Ich musste lernen, damit zu leben … ohne ihn zu leben. Nach sechs Monaten konnte ich das Haus und die Galerie betreten, ohne dass mir jedes Mal das Herz schwer wurde. Und heute, nach einem Jahr, bin ich wohl so weit, nach vorn zu schauen. Wenn Wyatts Tod mich irgendetwas gelehrt hat, dann dass das Leben kurz ist und wir es voll auskosten sollten. Ich begreife zwar, was damit gemeint ist, aber an manchen Tagen kann ich es einfach nicht.

„Liebes, du weißt, dass alles, was er hinterlassen hat, dir gehört“, unterbricht Felicia meine Gedanken. Ich merke erst, dass ich immer noch weine, als meine Lippen salzig schmecken. Ich möchte mich bei ihr bedanken, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken.

Ein letztes Mal sehen wir uns um, umarmen uns, und ich verspreche, am Sonntag zu kommen. Auf dem Weg zum Auto werfe ich einen Blick über die Schulter und lasse den Stich in meinem Herzen ein letztes Mal zu, bevor ich einsteige und losfahre. Die Erinnerungen … die Geborgenheit … die Vergangenheit … sind nichts als ein entferntes Bild im Rückspiegel, während ich zu meinem Bruder fahre. In Gedanken gehe ich gerade durch, was ich alles erledigen muss, als mich ein Anruf unterbricht.

„Hey, wie ist es gelaufen?“, will Mia sofort wissen.

„Es ging. Ein bisschen traurig, aber nicht so schlimm.“

„Tut mir leid, dass ich nicht kommen konnte. Hat Felicia ein paar seiner Sachen mitgenommen? Wie geht es ihr inzwischen?“

„Gut. Sie sieht ganz gut aus.“

„Bleibt es bei unserem Treffen morgen Abend?“, fragt Mia.

„Solange wir uns auf eine Kneipe beschränken, ja. Mir ist nicht nach einer Kneipentour und dem College-Quatsch, auf den du so stehst.“

Mia hat ihre wilde, ausgelassene Seite nicht aufgegeben, nur weil wir unseren Abschluss gemacht haben und „so richtig erwachsen“ geworden sind. So gern ich auch mit ihr weggehe, ich kann meine Leber nicht jede Woche mit einer unsäglichen Menge an Wasser wieder auffüllen, nachdem ich sie am Abend zuvor in Alkohol ersäuft habe, wie Mia es zu tun pflegt.

„Gut, dann keine Kneipentour. Ich bin Samstag sowieso zum Brunchen verabredet und kann es mir nicht leisten, total verkatert zum Date zu kommen, also lassen wir es besser ruhig angehen.“

„Ein Date?“, frage ich stirnrunzelnd, während ich in die Auffahrt meines Bruders einbiege.

„Ein Blind Date. Er heißt Todd. Ist Kurator im Pelican. Maria ist der Meinung, wir würden perrrfekt zusammenpassen“. Sie rollt das R übertrieben, um ihre italienische Freundin nachzuahmen.

„Hm … einen Todd kenne ich nicht“, erwidere ich.

Mia und ich kennen uns, seitdem ich denken kann. Unsere Mütter waren schon die besten Freundinnen und haben dann Männer geheiratet, die ebenfalls beste Freunde waren. Zum Leidwesen unserer Mütter stellte sich recht schnell heraus, dass sich dieses Schicksal nicht wiederholen würde, denn Mia steht eher auf die Bad Boys, während es mir mehr die ruhigen Typen angetan haben.

„Mist. Ich hatte gehofft, du kennst ihn. Du kennst doch jeden aus der Szene. Todd Stern?“, fragt sie hoffnungsvoll.

Ich muss lachen, denn so falsch liegt sie da nicht. Vor einigen Jahren haben Wyatt und ich „Paint it Back“ eröffnet, eine Mischung aus Galerie und Kunstatelier, und durch all unsere befreundeten Künstler und Galeristen und Mias Verbindungen zur Fotografenszene kennen wir tatsächlich so ziemlich jeden. Aber anscheinend doch nicht jeden.

„Nein. Kennt Rob ihn?“

„Den frage ich bestimmt nicht! Mein Bruder kann einfach nicht den Mund halten! Er würde es brühwarm meiner Mutter erzählen, und dann stürzen sie sich direkt in die Hochzeitsplanung, bevor ich den Kerl überhaupt gesehen habe.“

Ich muss lachen, denn damit hat sie absolut recht. „Also mir sagt der Name jedenfalls nichts.“

„Maria meint, er ist erst vor Kurzem aus San Francisco hergezogen, deshalb dachte ich, du würdest ihn kennen. Frischfleisch sozusagen.“

„Mia, wir sind doch nicht mehr in der Highschool!“

„Es ist aber genau wie in der Highschool. Deshalb glaube ich, dass er total hässlich ist, wenn wir noch nichts von ihm gehört haben.“

„Möglicherweise“, gebe ich lachend zu.

„Mist. Stefano ist gerade zum Shooting gekommen. Sag Bescheid, wenn ich nachher noch bei Vic vorbeikommen soll. Hab dich lieb!“

Noch während ich Tschüs sage, legt sie auf, und ich packe mein Handy weg und schalte den Motor ab. Im Rückspiegel überprüfe ich kurz, dass mein Mascara nicht verlaufen ist, und fahre mir mit den Fingern durch meine welligen braunen Haare, die ich schnell zu einem Pferdeschwanz binde. Mit einer Tasche in der Hand, in der sich meine letzten Habseligkeiten befinden, gehe ich zum Haus und höre nichts als den Kies unter meinen Schritten knirschen und die Wellen vom Strand, der nur einen Steinwurf entfernt ist.

Als ich den Ersatzschlüssel unter der Fußmatte hervorhole und aufschließe, macht sich Vorfreude in mir breit. Ich gehe ins Haus, durch das Wohnzimmer und rufe nach meinem Bruder. Sein Wagen steht bestimmt in der Garage. Aber ich erhalte keine Antwort. Ich gehe nach oben, wo sich die Gästezimmer befinden. Sein eigenes Schlafzimmer ist im Erdgeschoss, wie es sich für einen 28-jährigen Singlemann gehört, denn so hat er es nicht weit bis zur Küche und zum Wohnzimmer, wo natürlich ein überdimensionaler Fernseher steht. Im Gästezimmer verschlägt es mir den Atem. Er hat nicht nur mein Bett mit der neuen Bettwäsche bezogen, die ich gekauft und vor Kurzem hiergelassen habe, er hat das Zimmer auch noch in dem zarten Grauton gestrichen, den ich so toll finde.

Ich werfe meine Tasche aufs Bett und trete auf den Balkon hinaus. Die Balkone gefallen mir am ganzen Haus mit am besten. Beide Gästezimmer haben einen eigenen, mit Blick zum Strand. Just in dem Moment klingelt mein Handy: Vic schreibt, dass er in ein paar Minuten zu Hause ist. Ich will ihm gerade antworten, als ich aus Versehen gegen eine Staffelei stoße, die hier bei meinem letzten Besuch ganz sicher noch nicht stand. Ich gehe um sie herum und lese, was Vic in Großbuchstaben darauf geschrieben hat: „Willkommen zu Hause, Küken!“ Und darunter ist die Zeichnung eines Huhns, wie sie ein Fünfjähriger nicht besser hinbekommen hätte. Ich muss lachen und mache erst mal ein Foto davon, das ich direkt an Mia und meine Mutter schicke, denn nur die beiden verstehen, was damit gemeint ist. Als ich fünf war und Angst im Dunkeln hatte – wie das nun mal bei vielen Fünfjährigen ist –, hat mein Bruder mich immer so genannt und gesagt, ich sei wie ein kleines verängstigtes Küken. Aus irgendeinem Grund ist dieser Spitzname hängen geblieben. Vielleicht weil es noch heute eine Art Ansporn für mich ist, nicht aufzugeben, wenn Vic mich so nennt.

Ich blättere in dem Skizzenblock auf eine leere Seite und wende mich dem Meer zu. Ich nehme die verschiedenen Blautöne wahr, die im Sonnenlicht funkeln – Coelinblau, Aquamarin und Mitternachtsblau. Solch ein Anblick lässt niemanden kalt. Mir zeigt er, wie klein ich doch im Vergleich zum großen Ganzen bin. Wie klein wir alle sind. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stehe und nur schaue. Nur atme. Nur das Salz auf meinen Lippen schmecke, das dort anscheinend allein vom Meeresgeruch hängen bleibt. Plötzlich legt sich eine Hand auf meine Schulter, und ich zucke, herausgerissen aus meiner meditativen Stimmung, zusammen.

„Verdammt noch mal, Victor!“, sage ich erschrocken und presse beide Hände an meine Brust.

„Gefällt dir dein Geschenk?“, fragt er lachend und umarmt mich.

„Aber sicher, du Trottel“, antworte ich und schlage ihm spielerisch gegen die Brust.

„Trottel? Ich besorge dir das tollste Geschenk überhaupt, und du nennst mich Trottel? Nur wegen der Zeichnung vom Huhn, stimmt’s?“

„Du weißt doch, dass ich diesen Spitznamen hasse.“ Stöhnend gehe ich ins Haus und folge ihm nach unten. „Wo bleibt das Essen? Ich bin kurz vorm Verhungern.“

„Müsste jeden Moment kommen. Ich zieh mich eben um“, erwidert er. „Ich muss gleich wieder zur Arbeit.“

„Du musst noch arbeiten?“

„Der Fall, an dem ich gerade sitze, ist der reinste Horror. Die Frau meines Mandanten will ihn bei der Scheidung komplett ausnehmen. Wann lernen diese Sportler endlich, dass es ohne Ehevertrag nicht geht?“

„Oh.“ Ich zucke leicht zusammen. Darüber haben Wyatt und ich bei unserer Verlobung gesprochen – und jedes Mal, wenn das Thema aufkam, gab es gewaltige Meinungsverschiedenheiten. Man glaubt gar nicht, dass Künstlern so etwas wichtig wäre, aber Wyatt war erfolgreich und vermögend. Mit dreiunddreißig zählte er bereits einige reiche Sammler zu seinen Kunden. Diese Leute hatten ihm eingeredet, eine Hochzeit ohne Ehevertrag würde unweigerlich in einem Rosenkrieg enden.

Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Während ich zur Tür gehe, denke ich noch, wie dumm solche Meinungsverschiedenheiten im Nachhinein betrachtet doch sind. Wir waren noch nicht mal verheiratet, als Wyatt starb, und dennoch bestehen seine Eltern darauf, dass mir alles zusteht. Sie sind älter – bedeutend älter, als meine Eltern sein werden, wenn ich so alt bin wie Wyatt bei seinem Tod –, und sie sind auf ihre Art wohlhabend. Sie wissen sowieso nicht, was sie mit dem Geld anfangen sollen, und sind der Meinung, dass ich alles bekommen soll, da ich ja bei seinem Tod Miteigentümerin von „Paint it Back“ war. Aber das ist Vergangenheit. Ich will nicht noch mehr darüber nachdenken – das hier ist mein Neuanfang.

Dieser Gedanke zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen, das bleibt, als ich die Tür öffne, und mir entgleitet, als ich dahinter einen Mann in grüner OP-Kleidung und weißem Arztkittel erblicke. Er sieht nach unten und versucht, etwas Dreck von seinen Turnschuhen zu streifen. Seine dunkelblonden Haare verdecken fast das ganze Gesicht. Ich kann seinen ausgeprägten Kiefer und die volle Unterlippe zwar nur erahnen, aber ich erkenne ihn sofort. Als er nach oben schaut, mustern mich seine grünen Augen Stück für Stück, bis sie auf meine Augen treffen. Sein Mund verzieht sich zu einem schiefen Grinsen, und wie immer stockt mir der Atem.

„Bean“, flüstere ich. Seine Mundwinkel ziehen sich noch ein Stück nach oben, und zwei Grübchen kommen zum Vorschein.

„Hallo Elle“, sagt er. Ich halte mich am Türgriff fest. Ich habe ihn schon so lange nicht mehr gesehen, dass ich gar nicht mehr wusste, wie seine Stimme klingt. „Das Essen ist da.“

Ich schaue auf die Tüten in seiner Hand, trete einen Schritt zurück und lasse ihn herein. „Oh, okay. Mit dir habe ich nicht gerechnet.“

„Ist schon eine Weile her.“ Er bleibt direkt vor mir stehen. Ich lehne mich gegen die Tür, und als sein Gesicht näher kommt und seine Lippen leicht meine Wange berühren, halte ich die Luft an. Ich bemühe mich redlich, nicht seinen vertrauten Geruch einzuatmen, der bei mir schon so oft Schwindel ausgelöst hat. „Schön, dich mal wieder zu sehen.“ Sein Tonfall und das Strahlen in seinen Augen lassen mir das Herz in die Hose rutschen. Wie schafft er es, dass ich mich immer noch so fühle? Selbst nach Wyatt. Ich hasse ihn dafür.

„Freut mich auch“, erwidere ich leise, schließe die Tür und folge ihm.

Dabei freue ich mich gar nicht. In all den Jahren habe ich eine Menge über Oliver Hart gelernt, aber das Wichtigste ist, dass er mir nicht guttut.

2. Kapitel

„Du siehst klasse aus“, sagt Mia, als ich in der Kneipe erscheine, die sie für unsere wöchentliche Happy Hour ausgesucht hat.

„Sie aber auch, Mylady“, erwidere ich mit einer leichten Verbeugung, die sie zum Kichern bringt. Sie trägt ein Kleid im viktorianischen Stil mit einem Bustier, bei dem ihre Möpse fast rausfallen. Ihre langen blonden Haare hat sie zu leichten Locken gedreht und vorne in zwei Strähnen zurückgenommen.

„Du bist blöd. Ich habe meine Eltern und Rob zu einem Halloween-Shooting überredet, damit ich die Fotos nächsten Monat im Studio ausstellen kann, und hatte keine Zeit mehr, mich umzuziehen.“ Sie dreht sich zur Bedienung um. „Zwei Lemon Drops, bitte.“

„Wen willst du denn darstellen? Königin Victoria?“, frage ich und werfe einen Blick unter den Tisch, um nachzusehen, wie der Rest ihres Kostüms aussieht. Als ich mich wieder aufrichte, schaut sie mich an, als hätte ich sie nicht alle, und mir wird klar, dass sie keine Ahnung hat, wer Königin Victoria ist.

„Nein! Ich bin Cersei Lannister.“

„Ahhh …“, mache ich und nippe an dem Cocktail, den die Kellnerin mir hingestellt hat.

„Rob hat sich als Jaime verkleidet.“

„Was?“, frage ich und pruste die Hälfte meines Schlucks zurück ins Glas.

Das Lachen, das aus ihr heraussprudelt, verwandelt sich in blanke Hysterie. „Doch, ernsthaft“, sagt sie nach Luft schnappend. „Du hättest das Gesicht meiner Mom sehen sollen!“

Robert ist Mias Bruder. Zwillingsbruder. Und normal ist eindeutig keiner von beiden.

„Ihr spinnt echt. Was haben deine Eltern denn gesagt?“, frage ich und stimme in ihr Lachen ein.

„Mom hat keinen blassen Schimmer, was Game of Thrones ist. Und Dad war geschockt, als er dahinterkam. Er wollte nicht, dass meine Mom die Halloween-Karten verschickt, aber es war das erste Mal, dass wir Halloween-Fotos gemacht haben, seit Rob und ich ungefähr acht waren. Jedenfalls hat sie sich als Mary Poppins verkleidet und Dad als Bert.“

„Ach, wie süß … aber ihr beide seid trotzdem bekloppt“, murmele ich. „Erzähl doch mal was über diesen Todd. Hast du irgendwas rausgefunden?“

„Sein Nachname ist Stern.“

„Klingt wie ein Rechtsanwalt oder so“, unterbreche ich sie.

Mia verdreht die Augen. „Er ist Buchhalter.“

„Ich dachte, er wäre Kurator?“

„Keine Ahnung, was Maria gedacht hat. Ehrlich, manchmal glaube ich, es ist so ein Sprachbarriere-Ding.“

„Was genau?“, frage ich und versuche, nicht zu lachen.

„Das ist der fünfte Kerl, mit dem sie versucht, mich zu verkuppeln, und er ist ein bescheuerter Buchhalter! Sehe ich so aus, als würde ich mit einem Buchhalter ausgehen?“

„Eigentlich nicht, aber du hast bei Männern nicht gerade den besten Geschmack, also ist das vielleicht nicht die schlechteste Idee.“

„Naaa jaaaa“, sagt sie lang gezogen, bevor sie ihren Cocktail austrinkt und per Handzeichen zwei neue bestellt. „Wie war deine erste Nacht bei Vic?“

Ich gebe ein Seufzen von mir … Meine erste Nacht bei Vic. Schwermütig, einsam, schräg, traurig, fröhlich, schräg …

„Gut.“ Ich zucke mit den Schultern.

Mia legt ihre Hand auf meine, damit ich aufhöre, Linien aus Wasser auf dem Tisch zu malen, und fordert meine Aufmerksamkeit ein. „Es ist in Ordnung, wenn es dir nicht gut geht, Elle.“

„Es ist aber alles in Ordnung“, antworte ich stirnrunzelnd.

„Du brauchst nicht für alles und jeden stark zu sein, weißt du? Du darfst zusammenbrechen. Die Liebe deines Lebens ist gestorben, du bist dabei, euer gemeinsames Haus zu verkaufen, und du bist gerade zu deinem Bruder gezogen. Das ist eine ganze Menge zu verdauen. Keiner verlangt von dir, das einfach so wegzustecken. Es ist in Ordnung, dir eine Auszeit von der Arbeit zu nehmen, wenn du eine brauchst.“

„Es ist ein Jahr her. Und ich habe bereits eine Auszeit genommen“, erinnere ich sie. Nach Wyatts Tod nahm ich mir zwei Monate frei, was allerdings dazu führte, dass ich die ganze Zeit zu Hause war. Ich lebte sogar ein paar Wochen bei meinen Eltern, um aus diesem Haus rauszukommen. Ich ertrug die Erinnerungen nicht und die Tatsache, dass ich ohne ihn dort war, aber man kann vor der Realität nicht davonlaufen und erwarten, dass sich alles von selbst klärt. Das funktioniert einfach nicht. Also ging ich wieder nach Hause und stellte mich der Tatsache, dass er nicht zurückkommen würde. Ich suchte mir einen Therapeuten, der mir half, mein Leben langsam wieder in den Griff zu bekommen. Aber nicht mehr in dem Haus zu wohnen fühlt sich an … als ob es endgültig vorbei ist.

„Manchmal komme ich mir so mies vor, weil ich das Haus verkaufe“, sage ich schließlich. „Als würde ich ihn aus meinem Leben auslöschen oder so.“

Mia drückt meine Hand. „Ach Süße, niemand denkt das. Du musst nach vorn schauen. Du bist jung, du bist klug, du bist wahnsinnig talentiert, und mit dir kann man Pferde stehlen. Du kannst nicht wegen eines Geists aufhören zu leben.“

Mein Blick trifft ihren. „Ich habe nicht aufgehört zu leben. Ich will nur nicht weitermachen, als wäre nichts gewesen. Wenn ich jemand Neues finde, dann finde ich jemand Neues – und wenn nicht, dann nicht.“ Mia hat versucht, mich in den letzten paar Monaten zu zwei Blind Dates zu schicken. Sogar Felicia wollte mich zu einem überreden, aber ich war noch nicht bereit. Ich glaube, ich bin es immer noch nicht, auch wenn alle etwas anderes denken. Selbst meine Mom liegt mir in den Ohren, ich solle mit Männern ausgehen, als würde irgendein Mann den Schmerz einfach wegzaubern.

„Elle …“

„Ich sage doch nur, dass mir im Moment nicht nach einem Date zumute ist. Außerdem brauche ich keinen Mann. Ich bin sehr gern allein.“

„Elle …“

„Doch, im Ernst. Und da bin ich keine Viertelstunde bei Vic zu Hause und denke, das wird wie im Ferienlager, da kommt dieser verflixte Oliver vorbei, und es ist genauso wie …“

„Du bist Oliver begegnet?“, ruft Mia und bringt mich (und ein paar andere um uns herum) erfolgreich zum Schweigen.

Ich nicke und nehme einen Schluck von meinem Cocktail.

„Und dann? Oh. Mein. Gott. Was ist passiert, als er dich da gesehen hat? Wusste er, dass du da bist? Wusstest du, dass er hier ist? Hat Victor dich nicht gewarnt? Ach du meine Güte!“, kreischt sie schon fast.

„Deswegen wollte ich es eigentlich gar nicht ansprechen.“

Ihr Blick spricht Bände. „Raus mit der Sprache. Sofort. Ich will ganz genau wissen, was passiert ist. Ist er immer noch so verdammt heiß?“

„Was denkst du denn?“, sage ich und lache kurz auf.

„Ich denke, er reift wie ein guter Wein. Hat er immer noch die langen Haare? Seine Haare waren so toll“, sagt sie und fächelt sich mit der Hand Luft zu.

„Seine Haare waren so toll? Ja, lang sind sie noch. Nicht ganz so lang, aber lang genug“, sage ich und merke dann erst, wie das klingt – nicht die Worte an sich, sondern wegen der Bilder in meinem Kopf, wie ich mit den Fingern durch diese Haare fahre.

„Na ja, das ganze Paket war verdammt heiß. Aber wie war es denn, ihn wiederzusehen?“, will sie wissen.

„Für ihn wie in alten Zeiten, schätze ich. Für mich, keine Ahnung. Es war …“

„Wie in den alten Zeiten vor oder nach Oliver?“, unterbricht sie mich wieder.

„Immer schön eine Frage nach der anderen, Columbo.“

„Du kannst mir nicht so was erzählen und dann nicht mit allem rausrücken. Komm schon!“, quengelt Mia.

„Meinetwegen. Ihn zu sehen war … ein ziemlich blödes Gefühl. Wie ein Überfall aus dem Hinterhalt, obwohl er nur mit was zu essen in der Hand dastand. Er hat Sandwiches und Sushi mitgebracht.“

Mia sieht mich eindringlich an. „Also wusste er, dass du da bist.“

Ich zucke mit den Schultern. Offensichtlich wusste er es, denn er hatte genug zu essen für uns drei dabei. Ich weiß nur nicht, wie lange vorher er es wusste. Sushi ist in Santa Barbara nicht gerade schwer aufzutreiben, aber Victor und Oliver machen sich gar nichts aus Sushi. Nur ich kann nicht genug davon bekommen.

„Ich habe ihn nicht gefragt“, sage ich kleinlaut. „Wir haben nicht viel geredet, außer über seine Facharztausbildung und meine Skulpturen.“

„Er hat nach den Herzen gefragt?“, fragt Mia im Flüsterton.

Ich nicke.

„Hast du ihm erzählt, warum du sie machst?“

„Natürlich nicht“, sage ich höhnisch. „So mutig bin ich nicht.“

Wir tauschen ein jämmerliches, mitleidvolles Lächeln aus, bevor sie das Thema wechselt. „Und? Was hast du dieses Wochenende vor?“

Ich fange an, ihr von meinen Plänen fürs Wochenende zu erzählen, und das Gespräch dreht sich nun darum. Jedes Mittel ist mir recht, um von dem Thema Oliver Hart abzulenken.

3. Kapitel

Ich gehe durch mein Studio und stelle auf jede Staffelei eine neue Leinwand.

Samstags ist Ladies’ Night, und heute habe ich einen Junggesellinnenabschied hier, als Auftakt ihrer Party. Die Trauzeugin hat vorher schon Wein zum Kühlstellen vorbeigebracht und eine CD mit Musik, die sie nachher hören wollen. Ich gebe am Anfang nur eine kurze Einweisung und habe danach nichts mehr groß zu tun. Sie bezahlen, damit sie hier Spaß haben und mit ihren Freundinnen rumblödeln können. Und auf gar keinen Fall wollen sie von mir wissen, welche Pinselstriche auf ihrem Meisterwerk noch fehlen.

Um 19 Uhr gehe ich ins Bad und überprüfe mein Makeup. Ich fühle mich gut. Ich trage ein rotes Shirt mit schwarzen Schleifen am Ärmel, schwarze Pumps und eine zerrissene, hautenge Jeans, von der ich letztes Jahr nicht zu träumen gewagt hätte, meinen Hintern hineinzubekommen. Ich höre Schritte und reiße mich vom Spiegel los. Lächelnd gehe ich zum Eingang der Galerie und bereite mich auf die Begrüßung vor. Wie vom Donner gerührt bleibe ich stehen, als ich Oliver im Atelier vor einem von Wyatts Bildern stehen sehe.

Heute trägt er keine OP-Kleidung, also hat er wohl frei. Er hat eine Jeans an, die seinen schmalen Hüften schmeichelt, ein blaues Hemd und darüber eine anthrazitfarbene Anzugjacke. Total GQ, würde Mia sagen. Vermutlich ist er auf dem Weg zu dem Gruppendate, das Vic erwähnt hat. Er meinte, sie gingen in eine Sportsbar, was bei ihnen so viel bedeutet wie: Wir gehen mit den Frauen aus, mit denen wir aktuell rumvögeln, damit sie uns nicht vorwerfen, es ginge nur um Sex, und damit sie wissen, dass wir es nicht ernst meinen, machen wir das alle zusammen in einer Sportsbar.

„Hey, was machst du denn hier?“

Oliver dreht sich zu mir um und scannt mich einmal von oben bis unten ab. „Von Mal zu Mal wirst du schöner. Wie ist das nur möglich?“

Ich verbiete mir, so zu reagieren, wie er es gern hätte. Stattdessen konzentriere ich mich auf das Gemälde, das er betrachtet hat. Das mit dem dunklen Auge mit Schmetterlingsflügeln anstatt Wimpern. Das Bild, das beobachtet, wie Oliver mich ansieht, und lauscht, wie er mit mir flirtet.

„Ich war gerade in der Gegend und wollte mir mal kurz deinen Laden ansehen. Ich hoffe, das ist okay“, sagt er und kommt auf mich zu.

„Bisher wolltest du ihn noch nie sehen“, erwidere ich mit ruhiger Stimme, aber innerlich könnte ich schreien. Er hat sich nie die Mühe gemacht, sich das Atelier anzusehen – noch nicht einmal, als ich ihm vor ein paar Jahren eine Einladung zu unserer großen Eröffnungsfeier geschickt habe.

Olivers Blick, seltsam ernst und eindringlich, bringt mein Innerstes ins Wanken, aber ich halte dagegen. Ich halte gegen alles, was mich wie magnetisch zu ihm hinzieht, während er einen letzten Schritt auf mich zu macht, sodass er direkt vor mir steht.

„Das hätte ich wohl besser“, sagt er in einem Tonfall, der mich dazu bringen soll, meine Augen zu schließen. Aber ich bleibe standhaft. Ich schaue zur Seite – zu dem Auge, das uns weiterhin ansieht, über uns urteilt. Ich schlucke, bevor ich etwas sage, damit meine Stimme ruhiger klingt, als ich mich fühle.

„Warum bist du hier?“

„Du bist für heute fast fertig, oder?“ Er sieht sich um.

„Eigentlich fange ich gerade erst an. Ich habe einen Junggesellinnenabschied …“ Bevor ich den Satz beenden kann, sehe ich eine Blondine im kleinen Schwarzen hereinkommen. Dicht gefolgt von ihren fünf Freundinnen, die ebenfalls alle Schwarz tragen, bis auf eine, die ein kurzes weißes Kleid anhat und eine Tiara. Ich lächele ihnen zu. „Und da sind sie.“

„Hi!“, begrüßt mich Gia, die Trauzeugin, die ich bereits kenne, lächelnd.

„Oh mein Gott, gehört diese Augenweide etwa dazu?“, fragt eine der Frauen. „Ist er heute Abend unsere Muse?“

Oliver schmunzelt und schenkt ihnen ein Lächeln, das alle bis auf eine wie kleine Mädchen erröten lässt. Sie steht vermutlich nicht auf Männer, denn dieses Lächeln lässt grundsätzlich alle Frauen in Verzückung geraten.

„Leider nein. Das ist mein Freund Oliver, der gerade auf dem Weg zu einem Date ist“, antworte ich und ernte einen belustigten Blick von ihm. „Ihr Mädels könnt schon mal nach nebenan gehen, ich komme sofort. Gia, es ist alles auf dem Tisch.“

„Das ist so lieb von dir“, flötet Gia und geht in den Nebenraum. Ihre Freundinnen folgen ihr, lassen Oliver aber nicht aus den Augen. Ich bin kurz davor, ihn zu fragen, ob ich ihn nicht mal ausstellen darf. Vielleicht kämen dann mal mehr Leute in mein Atelier.

„Also …“, wende ich mich an ihn.

„Ich wollte dich fragen, ob du uns heute Abend nicht Gesellschaft leisten möchtest“, sagt er. Seine Stimme ist eine Oktave tiefer als vorher, er streckt seine Hand nach mir aus, greift nach einer Haarlocke und wickelt sie sich um seine Finger.

„Warum sollte ich?“, frage ich ruhig und gehe ein Stück zurück, sodass er meine Haarsträhne loslassen muss.

„Weil du auch mal wieder ausgehen solltest.“ Seine Augen schwenken von meinen Augen zu meinen Lippen.

Ich trete noch einen Schritt zurück, denn ich brauche plötzlich mehr als nur etwas Abstand. „War ich gestern schon.“

„Aber nicht mit mir.“

Die Erinnerung an das letzte Mal, als er diese Worte zu mir sagte, ist plötzlich da, und er grinst, als würde er in meinem Kopf in der ersten Reihe sitzen, mit bestem Blick auf die Vorstellung, bei der er die Hauptrolle spielt.

„Ich muss los. Sie warten auf mich.“

Die Hände in den Hosentaschen, nickt Oliver. Er zieht diese Show ab, bei der er auf seine Füße starrt, den Kopf ein wenig hebt und mich durch seine Wimpern hindurch ansieht. Total sexy und verführerisch, und mir gefällt gar nicht, wie mein Herz auf diesen Blick reagiert. Ich schaue zu Wyatts Bild, um dieses Gefühl zu unterdrücken, aber das klappt nicht. Das Gefühl bleibt, tief in meinem Inneren, zwischen einem großen Stück Schmachten und einem Hauch Schuldgefühlen.

„Dann vielleicht ein anderes Mal“, schlägt er vor, ohne den Blick abzuwenden.

„Vielleicht.“

„Es ist wirklich toll hier, Elle. Das hast du gut hinbekommen.“

„Danke. Obwohl Wyatt eigentlich fast alles gemacht hat“, antworte ich. Olivers Lächeln gefriert. Ich sehe, wie sich sein Adamsapfel bewegt, als er seinen Stolz herunterschluckt und nickt.

„Ihr beide habt das gut hinbekommen. Ich hatte Vic gebeten, dir meine Nummer zu geben. Hat er?“

„Ich habe ihn kaum gesehen“, lüge ich. Dabei habe ich meinen Bruder heute Morgen und letzte Nacht gesehen, aber Olivers Nummer hat er mit keiner Silbe erwähnt.

„Ich dachte, er hätte sie dir vielleicht gegeben und du hast dich einfach nur noch nicht gemeldet.“

„Warum sollte ich mich melden?“, will ich wissen.

„Das wäre zur Abwechslung mal ganz schön“, antwortet er schulterzuckend.

Mir klappt die Kinnlade hinunter. „Es wäre ganz schön?“

Wir schauen uns wortlos an, ich warte, dass er zurückrudert, er wartet, dass ich darauf anspringe. Keiner von uns greift an. Wir wissen beide, dass dafür keine paar Minuten reichen, und mir persönlich reicht es sowieso. Ich muss darauf nicht eingehen. Mir fällt der Junggesellinnenabschied wieder ein, und ich räuspere mich.

„Okay, also, ich denke, wir laufen uns mal über den Weg. Viel Spaß bei deinem Date heute Abend.“ Ich winke ihm etwas unbeholfen zu, während ich mich umdrehe, um mich endlich meiner Arbeit für heute Abend zu widmen.

„Hättest du Interesse, ein- oder zweimal pro Woche ins Krankenhaus auf die Kinderstation zu kommen?“ Er grinst, als ich mich umdrehe und eine Augenbraue hebe, damit er weitererzählt.

„Ich dachte mir, du könntest vielleicht mit den Kindern malen oder so. So etwas machst du doch gerne.“ Im Krankenhaus zu sein würde bedeuten, irgendwie wieder mit Oliver in Verbindung zu sein. Als würde er meine Zweifel erahnen, wirft er ein: „Ich habe genug damit zu tun, meine Facharztausbildung zu Ende zu bringen, also könnte ich nicht groß helfen, aber eine Freundin von mir kann mit dir die Details besprechen.“

„Klar. Ruf mich an und sag mir, welcher Tag passt.“ Ich drehe mich ein letztes Mal um, strahle über das ganze Gesicht und gehe zu den völlig aufgekratzten, angeheiterten Frauen. Dann wird es mir schlagartig bewusst: Oliver hat mich zum Strahlen gebracht. Die Erinnerung an all die Momente, in denen er das in meinem Leben bereits geschafft hat, prasselt auf mich ein, und beim Anblick der fröhlichen Frauen, die das Leben und die Liebe feiern, würde ich am liebsten weinen. Aber das mache ich nicht. Oliver hat gar nicht das Recht, mich zum Weinen zu bringen. Nicht mehr.

4. Kapitel

Sonntagmorgen wache ich von einem metallischen Scheppern auf und krieche verschlafen aus dem Bett, um der Ursache des Lärms auf den Grund zu gehen.

„Was machst du denn da?“, frage ich gähnend.

„Scheiße! Hast du mich erschreckt. Ich hab mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass du hier bist“, sagt Vic und bückt sich, um eine Pfanne vom Boden aufzuheben.

„Wenigstens hast du was an“, erwidere ich mit einem dezenten Blick auf seine weiß-blauen Basketball-Shorts. „Was machst du da?“, frage ich erneut.

Er seufzt. „Okay, das ist jetzt peinlich.“ Er spricht im Flüsterton weiter. „Da ist jemand in meinem Zimmer, und ich versuche, Frühstück zu machen.“

Ich halte mir den Mund zu, um nicht loszulachen über die Vorstellung, dass Vic irgendwas auch nur entfernt Essbares zustande bringen könnte, und spähe dann verstohlen um die Ecke in Richtung seines Zimmers.

„Und ich bin nicht sicher, ob sie angezogen sein wird“, fügt er hinzu.

Ich reiße die Augen auf. „Vielleicht solltest du ihr sagen, dass ich da bin.“

„Ja, das werde ich wohl müssen … Du bist irgendwie ein Abtörner für das, was ich vorhatte“, sagt er und sieht sich hilflos in der Küche um.

Ich halte mir die Ohren zu. „Sag nichts. Ich gehe unter die Dusche und dann mit Mia frühstücken.“

Vics Augen leuchten auf, und er lacht. „Das musst du nicht.“

„Pssst! Sag nichts.“

Ich gehe nach oben und schnappe mir meine Klamotten, bevor ich mich im Bad so schnell wie nur menschenmöglich fertig mache. Ich habe wohl nicht so richtig durchdacht, wie es sein würde, mit meinem Bruder im selben Haus zu wohnen. Während ich mich aus der Wohnung verdrücke und in Gedanken schon eine verzweifelte E-Mail an meine Maklerin schreibe, schalte ich mein Handy ein und finde zwei neue Nachrichten von einer unbekannten Nummer vor.

Das ist meine Nummer – Oliver

Ich speichere sie, bevor ich die nächste Nachricht lese.

Jen will wissen, ob es dir dienstags passt, ins Krankenhaus zu kommen. Sie konnte einen freien Raum für dich organisieren.

Ein Blick in meinen Kalender sagt mir, dass ich ein paar Termine verschieben kann – nicht, dass ich zurzeit viele hätte. Ich antworte.

Dienstags passt super. Sag ihr, sie soll dir eine Zeit nennen und wo ich dann hinkommen soll.

Ich erwarte keine Antwort von ihm, denn es ist erst neun Uhr, und die meisten kinderlosen Personen in unserem Alter schlafen zu dieser Zeit noch, aber als ich gerade in mein Stamm-Café biege, summt mein Telefon.

Ich frag sie. Sehen wir uns später?

Ich überlege, ob ich irgendwas verschwitzt habe, aber mir fällt nichts ein.

Uns sehen?

Bei Vic.

Wusste nicht, dass du vorbeikommst.

Football-Sonntag.

Ich runzele die Stirn, als mir klar wird, wie lange es her ist, dass ich das letzte Mal bei ihrem Football-Sonntag dabei war.

Vic vergisst immer wieder, dass ich vorübergehend bei ihm wohne.

Oh je …

Ich sage nur, ich bin heute wesentlich früher aus dem Haus gegangen, als ich es mir an einem Sonntagmorgen gewünscht hätte.

LOL. Tut mir leid. Wo bist du jetzt?

Will gerade frühstücken.

Willst du herkommen? Du kannst bei mir schlafen.

Wie gebannt starre ich auf das Display und warte darauf, dass die Wörter umspringen und doch etwas anderes dasteht.

Bei mir, nicht mit mir.

Ich fange an, eine Nachricht zu tippen, lösche sie aber wieder, als seine nächste ankommt.

Okay. Wenn du nicht antwortest, rufe ich dich eben an.

Einen Augenblick später vibriert das Telefon in meiner Hand, und mich räuspernd nehme ich den Anruf an.

„Das kam jetzt vielleicht falsch rüber“, sagt er. Seine Stimme. Gott, ich liebe seine Stimme. Sie ist tief und voll und klingt immer so, als wäre er gerade aufgewacht.

„Schon gut. Ich hab’s überlebt. Danke.“

„Ich glaube, wir haben noch nie miteinander telefoniert“, sagt er.

„Nein, glaube ich auch nicht“, stimme ich zu, ohne die zig Millionen anderen Dinge zu erwähnen, die mir in den Sinn kommen – weil du ein Arschloch bist, weil du einfach gegangen bist, weil ich die kleine Schwester deines besten Freundes bin, weil du nicht einmal eine Beziehung führen könntest, wenn dein Leben davon abhinge …

„Tja, das haben wir ja jetzt nachgeholt. Okay, ich wollte nur sichergehen, dass du das nicht falsch verstanden hast. Also, es sei denn, du willst es. Das wär für mich auch völlig in Ordnung.“ Ich stöhne, als ich das Lächeln in seiner Stimme höre.

„Oliver …“

Sein Schmunzeln dringt bis in meinen Körper vor und fliegt dort wie ein Geschoss hin und her. Ich hasse es, dass er diese Wirkung auf mich hat. „Ich spiele doch nur, Elle. Apropos Spiel, machst du heute Abend Bohnendip?“

„Du willst, dass ich heute Abend Bohnendip mache?“

„Ist der Papst katholisch?“

„Wenn du ganz nett fragst, mache ich dir Bohnendip, Oliver. Wenn du das sarkastische Arschloch rauskehrst, lege ich auf.“

Er atmet tief durch. „Estelle Reuben, mein Lieblingsmensch auf der ganzen Welt, würdest du mir bitte Bohnendip machen? Mit extra Guacamole.“

Ich muss lächeln, obwohl ich eigentlich nicht sollte. Es ist nicht gut. Er ist gefährlich, rufe ich mir in Erinnerung. Er macht das jedes Mal mit dir. Jedes. Verdammte. Mal.

„Okay.“

Ich höre bei ihm eine Tür zuschlagen, gefolgt von irgendwelchem Geraschel und noch mehr Geraschel und am Ende einen tiefen Seufzer. „In meinem Bett ist noch ein Platz frei zum Schlafen, falls du müde bist.“

„Danke für das Angebot, aber wir sehen uns später.“

Ich lege auf, als er ein Lachen anstimmt, stecke mein Telefon weg und wende mich meinem mittlerweile kalten Eier-Sandwich zu, das ich mir bestellt hatte. Als ich mit dem Essen fertig bin, lege ich den kurzen Fußweg zu meinem Atelier zurück und schließe die Tür hinter mir ab. Als ich die Bilder an den weißen Wänden betrachte, frage ich mich, ob ich sie vielleicht umhängen sollte. Viele davon stammen von Wyatt, aber die meisten von lokalen Künstlern, Werke, in die ich mich im Laufe der Jahre verliebt habe. Auch ein paar von mir sind dabei, aber die stelle ich nicht im vorderen Teil der Galerie aus. Der vordere Teil ist für Stücke reserviert, die ich zum Verkauf anbiete, und die einzigen Schöpfungen, die ich von mir verkaufe, sind meine Kaleidoskop-Herzen.

Eigentlich wollte ich Kunstlehrerin werden, war mir aber dessen nie so ganz sicher. Irgendwie konnte ich mich selbst nicht in einem so anspruchsvollen Bereich arbeiten sehen. Als ich Wyatt davon erzählte, hatte er die Idee zu „Paint it Back“. Er meinte, auf diese Weise würde meine Kreativität lebendig bleiben, und wenn ich wollte, könnte ich ja ein Programm für Kinder anbieten. Durch das Atelier war es uns möglich, ein Sommerprogramm für ältere Kinder ins Leben zu rufen, die tagsüber bei ihrer Ferienfreizeit waren und danach zu uns kommen und an ihren Bildern arbeiten konnten. Ursprünglich war es eine Möglichkeit, sie von der Straße zu holen und ihre Energie auf etwas anderes zu lenken, aber als dann die Schule wieder anfing, vereinbarten sie immer wieder neue Termine, zu denen sie in kleinen Gruppen kamen.

Ich hänge gerade weiße Laken über die Staffeleien meines Montagnachmittag-Kurses, als mein Telefon klingelt.

„Elle“, trällert mein Bruder, als hätte er mich nicht vor ein paar Stunden quasi vor die Tür gesetzt. „Ich hab ja ganz vergessen, dir zu sagen, dass nachher ein paar Leute vorbeikommen.“

„Ach ja?“

„Ja, so gegen zwölf. Meinst du, du könntest vielleicht deinen Bohnendip machen?“

Ich muss mich ganz schön beherrschen, um ihn auf diese Bitte hin nicht anzufauchen. „Klar. Für wie viele Personen?“

„Hmmm … ich, Bean, Jenson und Bobby … das war’s.“

„Also essen nur vier Personen mit?“, frage ich.

„Ja, vier.“

Ich blinzele ein paarmal und frage mich, ob er mich überhaupt mit einplant.

„Na ja, fünf, wenn du auch bleiben willst“, korrigiert er sich mit einem Räuspern.

„Wer ist denn Bobby? Der Typ, mit dem du arbeitest?“

„Ja, das ist der Neue. Du wirst ihn mögen, er ist locker drauf.“

„So locker drauf wie du wahrscheinlich“, murmele ich. Mein Bruder und seine Freunde sind als Sportskanonen getarnte Comic-Nerds. Die Clique ist immer noch dieselbe wie in der Grundschule, und es kommt nicht oft vor, dass er jemand Neues in diesen erlauchten Kreis einführt. Ich vermute mal, dass auf Bobby dieselbe Beschreibung passt wie auf den Rest.

„Du kannst ja Mia Bescheid sagen, wenn du willst“, fügt er hinzu, wohl um mir die Sache schmackhaft zu machen.

„Mia und Jenson im selben Raum? Na, vielen Dank.“

Vic lacht. „Ist sie immer noch nicht drüber weg?“

„Darüber, dass er sie wegen seiner Ex verlassen hat? Eher nicht.“ Ich hebe eine Augenbraue, während ich neue Pinsel aus der Verpackung nehme und sie in die silbernen Blechgefäße neben jeder Staffelei stelle.

„Er ist ein Arsch“, sagt Vic. „Aber sie ist auch nicht die Hellste. Ich hätte dich nie mit einem meiner Freunde ausgehen lassen.“

Ich stelle die Materialien ab, die ich noch in der Hand halte, und suche Halt an der Kante der Theke. „Und warum nicht?“

Er gibt ein tiefes, vollmundiges Lachen von sich, das mir unter anderen Umständen ein Lächeln entlockt hätte. „Ach komm, Elle. Du kennst sie doch.“

Bei seinen Worten zucke ich zusammen. Und ob ich sie kenne. Sehr gut sogar.

„Na ja, wir sehen uns dann. Sie kommen um zwölf zur Pre-Show, also …“

„Ja, schon klar, Vic. Dein Dip wird vor dem Kick-off fertig sein. Ist dieses Mädchen schon weg?“

„Ja, sie ist weg. Ich habe sie für Mittwoch zum Abendessen eingeladen. Oliver und Jenson kommen auch mit ein paar … Freundinnen, dann lernst du sie kennen.“

Ich notiere mir in Gedanken, mich Mittwochabend zu verdünnisieren, und sage Vic Bis später. Als ich in den Galeriebereich zurückgehe, bemerke ich, dass eins meiner Kaleidoskop-Herzen schief auf seinem Ständer steht, also rücke ich es wieder gerade. Eine Zeitschrift, die über eins unserer Events berichtet hat, hatte meine Herzen einst als „Herzschmerz auslösende und ergreifend schöne Stücke“ bezeichnet. Dieses hier ist zwar ausgestellt, aber unverkäuflich. Es war eins der ersten, die ich gemacht habe, und Wyatt weigerte sich, es wegzugeben. Bei diesem Stück habe ich viele Lilatöne verarbeitet, und jedes Mal, wenn sich ein Sonnenstrahl hier hineinverirrt, sind die Wände mit lila Lichtflecken gesprenkelt.

„Wenn irgendjemand reinkommt und es kaufen will, sag ihm, egal, was er zahlt, ich zahle das Doppelte“, hatte er grinsend zu mir gesagt.

Meine Augen werden feucht, als ich betrachte, wie es das Licht reflektiert, und an Wyatt denke. Ich wische mir über die Augen, hole tief Luft, verlasse die Galerie, schließe hinter mir ab und fahre zurück zu Vic. Ich höre ihn unter der Dusche. Während ich den Dip zubereite, mache ich mir eine Flasche Wein auf: die zerstampften Bohnen zuunterst, in der Mitte die Avocado und obendrauf die Sour Cream. Als ich eine große Schüssel davon fertig habe, hole ich den Schongarer hervor, den ich meinem Bruder vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt habe und den er eindeutig noch nie benutzt hat, und bereite Frikadellen vor. Dann nehme ich noch einen letzten Schluck Wein, gehe in mein Zimmer und werfe mich aufs Bett.

5. Kapitel

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber wildes Gegröle aus dem Wohnzimmer lässt mich aus meinem Nickerchen hochschrecken.

Ich blinzele mehrmals, um wach zu werden, und gehe ins Bad. Ich sehe fürchterlich aus, also kämme ich meine ellbogenlangen Haare und zaubere die rötlichen Adern mit Augentropfen weg, sodass meine Augen wieder haselnussbraun aussehen. Nachdem ich etwas Make-up aufgetragen habe, rücke ich mein schwarzes Shirt mit der Aufschrift Elvis is King so zurecht, dass meine linke Schulter frei bleibt, klopfe meine hippe zerrissene Jeans ab und mache mich auf den Weg ins Wohnzimmer. Erst dort fällt mir auf, dass ich ja immer noch meine Darth-Vader-Pantoffeln anhabe. Aber zu spät, sie haben mich schon entdeckt.

„Hey Elle“, ruft Jenson, und alle drehen sich zu mir um.

„Hey Jenson. Wohnst du wieder hier?“

„Nö, aber in den nächsten Monaten werde ich viel in dieser Gegend sein“, antwortet er.

„Toll. Hallo Jungs“, sage ich in die Runde und zwinkere Oliver, Vic und einem blonden Typen zu, den ich nicht kenne.

„Hallo“, ertönt es wie aus einem Mund.

„Elle, das ist Bobby. Bobby, das ist meine Schwester Estelle“, stellt Vic uns vor, ohne vom Fernseher aufzuschauen.

Bobby steht auf und gibt mir die Hand. Er sieht eigentlich ziemlich gut aus, auf eine adrette Art und Weise wie der nette Junge von nebenan, was mich zum Schmunzeln bringt, denn ich lag falsch – er ist nicht so wie die anderen Freunde meines Bruders. Er ist nicht groß und sportlich wie Vic und Oliver. Er macht keinen auf Bad Boy wie Jenson, aber er schenkt mir ein breites Zahnpastalächeln, als er mir die Hand schüttelt. Und schon erliege ich dieser charmanten Ausstrahlung, die sie alle haben und die Frauen dazu bringt, einen zweiten Blick zu riskieren, ganz egal, wie der Mann aussieht.

„Als du von deiner kleinen Schwester gesprochen hast, dachte ich an einen Teenager mit Zahnspange“, sagt Bobby, während er mich von oben bis unten mustert.

Ich lasse seine Hand los. „Ich wette, genau dieses Bild hat er vor Augen, wenn er mich beschreibt.“

„Also ich würde dich garantiert nicht so beschreiben.“

Bei diesem kleinen Flirtversuch muss ich kurz zu Vic schauen, aber mein Blick landet stattdessen bei Oliver. Es macht mich wahnsinnig, dass ich nicht weiß, was er gerade denkt. Verärgert oder eifersüchtig sieht er nicht aus, noch nicht einmal neugierig. Er starrt einfach nur.

„Ich glaube, ich will gar nicht wissen, wie du mich beschreiben würdest“, erwidere ich.

Bevor er antworten kann, gehe ich in die Küche, hole das vorbereitete Essen und stelle es auf den Tisch, ohne auch nur eine der unzähligen Bierdosen umzuwerfen.

„Sie sieht klasse aus und kann kochen?“, fragt Bobby, als er sich die Chips greift. „Ich glaube, sie wäre was für mich.“

„Ja, ist klar“, gibt Jenson leicht genervt von sich. Da sind sich die Freunde meines Bruders ähnlich. Sie glauben alle, sie müssten mich vor Eindringlingen beschützen, als lauere die Gefahr jenseits ihrer Höhle. Meine Verlobung mit Wyatt hat sie bestimmt eiskalt erwischt, da niemand damit gerechnet hat.

„Du hältst Bobby nicht die übliche Standpauke, dass er die Finger von deiner Schwester lassen soll?“

Mein Blick trifft Olivers, und ich lächele, als er auf den freien Platz neben sich zeigt. Mein Körper rührt sich und will zu Oliver, aber mein Gehirn hat auch noch etwas zu melden, also setze ich mich stattdessen neben Victor.

„Klappe“, ist Vics einzige Antwort auf Jensons Kommentar.

„Früher mussten wir uns alle das volle Programm anhören“, erklärt Jenson. Ich beuge mich ein Stück nach vorn, um ihn besser sehen zu können, während er die Geschichte erzählt, die ich noch nicht kenne. „Als wir Kinder waren, war Elle uns egal, weil sie eher wie unsere kleine Schwester war … aber dann wurde sie älter, und sobald auch nur einer von uns irgendeinen Kommentar über sie losließ, ging es bei Vic los mit Gafft sie nicht an. Tatscht sie nicht an. Sonst breche ich euch die Arme und sorge dafür, dass ihr nie wieder mein Haus betretet.“

„Nur fürs Protokoll: Dafür hätte ich mir gerne die Arme brechen lassen“, meldet Bobby sich lächelnd zu Wort, während er mich aus seinen blauen Augen ansieht.

„Die gebrochenen Arme hätten uns auch nicht abgehalten, aber das Hausverbot! Er hatte die coolsten Eltern! Wir haben praktisch dort gewohnt“, erklärt Jenson grinsend und nippt an seinem Bier, bevor er mir damit zuprostet. „Na ja, außerdem hatte ich einen guten Wurfarm, den ich nicht für ein Mädchen aufs Spiel setzen konnte. Tut mir leid, Elle.“

„Mir nicht, das kannst du glauben.“ Ich lehne mich wieder zurück und strecke die Beine aus, während die Jungs lachen.

„Elle weiß sich von euch Trotteln fernzuhalten. Von euch ist keiner gut genug für sie“, sagt Vic, schnappt sich ein paar Chips und greift zum Dip.

Ich sehe genau in dem Moment zu Oliver, als Vics Worte ihn kurz zusammenzucken lassen. Unsere Blicke treffen sich, und tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf – war das der Grund? Zählte Vics Wunsch mehr als meiner? Fragen, auf die ich die Antworten kenne. Gedanken, die mich jahrelang verfolgt haben, auch wenn ich sie beiseiteschieben wollte.

„Ernst gemeinte Frage“, kommt es von Jenson, der meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zieht. „Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, was würdest du sagen, wer war am ehesten dein Typ?“

Bei dieser Frage und bei dem Gesichtsausdruck meines Bruders muss ich mir ein Lachen verkneifen. Victor war immer ein Kumpeltyp – so einer, mit dem jeder zum Spiel oder einen trinken gehen will. Junior, Jenson und Oliver sind sich da ziemlich ähnlich. Von den vieren ist nur Junior verheiratet und hat Kinder, während die anderen drei ewige Junggesellen bleiben werden. Vermutlich. Jenson ist der Inbegriff des Kerls, den man nicht seinen Eltern vorstellt. Er sieht klasse aus, groß, dunkel, attraktiv, aber er hat auch eine wilde Seite, der tätowierte Bad Boy auf seinem Motorrad.

Ich sehe zu Oliver, der immer diese lässige Art hatte, träges Lächeln und zerzauste rotbraune Haare, durch die man am liebsten durchwuscheln würde. Er kann einen so ansehen, als wäre man die einzige Frau im Raum. Und seine Grübchen … Gott, seine Grübchen. Alle meine Freundinnen wollten den unerreichbaren Oliver daten. Er hat diese magische Anziehungskraft starker Männer. Schon früher strömte ihm das Charisma aus jeder Pore.

„Ja, Elle“, sagt Oliver und grinst mich bedächtig und sexy an, während sein Blick von meinem Mund zu meinen Augen wandert. „Wer war am ehesten dein Typ?“

Ich werfe ihm einen Blick zu, bevor ich mich zu Jenson wende, der mich amüsiert beobachtet.

„Ganz ehrlich? Jenson“, sage ich schulterzuckend.

„Tadaa!“, ruft dieser. „Ich hab’s doch schon immer gewusst! Du wärst also mit mir ausgegangen?“

„Das habe ich nicht gesagt. Du warst nur am ehesten mein Typ“, antworte ich lachend. Ich erwähne nicht, dass er zu jener Zeit der Traumtyp so ziemlich jedes Teenie-Mädchens war.

„Und genau deshalb musste ich die Jungs im Zaun halten“, erklärt Vic Bobby, der belustigt den Kopf schüttelt.

Ich konzentriere mich auf das Spiel der Cowboys gegen die Forty-Niners und zucke zusammen, als mich jemand am Fuß berührt.

„Wirklich?“, fragt Oliver lautlos und legt die Hände auf sein Herz, als wäre er schwer getroffen. Ich schüttele nur den Kopf. „Ich steh auf deine Pantoffeln“, sagt er mit einem verschmitzten Lächeln.

„War mir klar“, erwidere ich augenzwinkernd und würde mich für dieses Zwinkern am liebsten selbst ohrfeigen. Wir schauen uns noch an, als Bobby etwas sagt, und diesmal kneift Oliver die Augen zusammen.

„Wurde dieses Verbot mittlerweile aufgehoben? Darf ich sie zu einem Date einladen?“

„Ich date nicht“, entgegne ich und löse meinen Blick von Oliver.

„Kann ich nicht glauben. Jemand wie du hat doch ganz bestimmt Dates“, sagt Bobby.

„Jemand wie ich.“ Ich kann mir ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen. Eigentlich will ich das so im Raum stehen lassen, aber ich muss dazu einfach noch etwas sagen. „Selbst wenn ich Dates hätte, dann definitiv nicht mit den Freunden meines Bruders. Euer Ruf eilt euch voraus.“

„Unser Ruf eilt uns voraus?“, fragt Jenson.

„Soll ich das wirklich genauer erklären?“ Ich funkele ihn an, bis der Groschen bei ihm fällt und seine Miene sich abrupt verdüstert.

„Nein, lieber nicht. Du hast recht. Vic hat recht“, räumt er ein.

„Dann können wir das Thema Dates mit meiner Schwester ja jetzt abhaken und uns auf das Spiel konzentrieren“, schlägt Vic vor und wirft jedem seiner Freunde noch einen langen, eindringlichen Blick zu. Nachdem er mich einige Male mit dem Ellbogen angerempelt hat, wenn er sich was zu essen vom Tisch schnappt, stehe ich auf und setze mich zu Oliver auf das Zweiersofa.

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