Mittsommermärchen

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Ein Rezept zum Glücklichsein? Das gibt es nicht, davon ist die Konditorin Agneta Holmquvist überzeugt. Ihr Mann geht fremd, der eintönige Job im Hotel engt sie ein. Da kommt das Angebot ihres Vaters gerade recht: Sie kann im idyllischen Küstenort Sjöråhamn die Zuckerbäckerei der Familie wieder aufbauen. Doch irgendjemand will das verhindern und legt Agneta andauernd Steine in den Weg. Nur gut, dass Jonas Arvidsson, ihr Jugendfreund, immer noch in Sjöråhamn lebt und ihr zur Seite steht. Ob er auch die Zutaten für ihr Liebesglück bereithält und der Zucker in ihrem Leben sein kann?


  • Erscheinungstag 10.05.2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783862787760
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Sjöråhamn, Schweden – Mittsommer 1957

Magie lag in der Luft. Sie durchdrang jeden Baum, jeden Strauch und jeden Stein, erfüllte alles, was sie berührte, mit vibrierendem Leben.

Es war überall.

In den Tieren des Waldes und in den Pflanzen, ja sogar in den Felsen und im Wasser. Es war ein ganz besonderer Zauber, so hell und leuchtend, nur ein einziges Mal im Jahr. Der Zauber der Nacht, in der die Sonne niemals unterging.

Wie ein lodernder Feuerball stand sie tief über dem Horizont und setzte den Himmel in Flammen. Ihr Strahlen brach durch die silbernen Stämme der Birken und erfüllte den sonst so kühlen, schattigen Wald von Sjöråhamn mit rotgoldenem Licht. Es verwandelte ihn in einen Ort voller Wunder, wo die geheimsten Träume eines jeden Menschen nur darauf warteten, Wirklichkeit zu werden.

Wie aus weiter Ferne drangen fröhliche Musik, Gelächter und Gesprächsfetzen vom Festplatz auf die Lichtung herüber. Ganz Sjöråhamn war auf den Beinen, um die Sommersonnenwende zu begehen. Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche, egal ob arm oder reich, tanzten und lachten unbeschwert miteinander. Die gesellschaftlichen Konventionen verschwammen.

Heute Nacht war so vieles bedeutungslos, das die Menschen sonst voneinander trennte.

Heimlich hatte sich das junge Paar vom Festplatz davongeschlichen. Vor dem großen Feuerwerk würde ihre Abwesenheit niemandem auffallen. Sie hatten also Zeit. Alle Zeit der Welt, so mochte es ihnen erscheinen.

Ausgestreckt auf einem weichen Bett aus Moos lagen sie da. Der Wind fuhr raschelnd durch die Kronen der Birken, die sich wie eine ringförmige Kuppel über die Lichtung wölbten. Die Augen des Mädchens waren geschlossen. Der Junge lag seitlich neben ihm, auf die Ellbogen gestützt. Zärtlich strich er seiner Liebsten das dunkle Haar aus dem Gesicht. Er schaute sie an, als könnte er es noch gar nicht fassen.

„Seht her!“, schienen seine Augen zu verkünden. „Seht her, was für ein unglaubliches Glück ich habe, denn sie liebt mich. Und ich liebe sie!“

Doch er brauchte es nicht auszusprechen, denn das tiefe Gefühl, das sie füreinander empfanden, umgab sie wie ein goldenes Leuchten. Es war, als hätte der Rest der Welt aufgehört zu existieren. Als gäbe es nur noch sie beide und nichts anderes sonst.

Daher bemerkten sie das Mädchen mit den roten Haaren nicht, das, halb verborgen von einem mannshohen, mit Moos bewachsenen Felsen, den Blick nicht von ihnen abzuwenden vermochte.

Sie war den beiden gefolgt, als sie den Festplatz verlassen hatten. Irgendwie hatte sie gewusst – gespürt –, dass sie etwas vor ihr verheimlichten. Aber nichts hatte sie auf diesen Anblick vorbereitet.

Durch einen Vorhang aus Tränen sah sie, wie der Junge sich hinabbeugte und den Mund des Mädchens mit seinen Lippen verschloss.

Hass schnürte ihr die Kehle zu. Ihre beste Freundin und der Junge, den sie liebte, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte …

Sie schmeckte das Salz der eigenen Tränen auf den Lippen. Ihre Hände waren so fest zu Fäusten geballt, dass sie sich mit den Fingernägeln ins eigene Fleisch schnitt.

„Das werdet ihr bereuen“, flüsterte sie so leise, dass niemand sie hören konnte. „Das werdet ihr bitter bereuen …“

1. KAPITEL

Ein Blitz zuckte aus der schwarzgrauen Wolkendecke herab und tauchte die Umgebung für den Bruchteil einer Sekunde in gleißendes Licht. Verzweifelt bemühte sich Agneta, die Straße im Blick zu behalten – viel erkannte sie durch die dichten Regenschleier jedoch ohnehin nicht.

Die Scheibenwischer ihres silberfarbenen Volvo Cabriolets arbeiteten auf Hochtouren, wurden jedoch kaum mit den Was-sermassen fertig, die stetig über die Scheibe liefen. Die sündhaft teuren Carbon-Scheinwerfer, die Kristoffer ihr beim Kauf des Wagens aufgeschwatzt hatte, entrissen der Dunkelheit um sie herum nur einen kleinen Kegel aus Licht. Gerade genug, um die Fahrbahn auszumachen.

Erschrocken fuhr Agneta zusammen, als eine schrille Melodie erklang.

Fluchend nahm sie eine Hand vom Lenkrad und tastete in ihrer Fendi-Umhängetasche nach dem Telefon. Allerdings keineswegs, um das Gespräch anzunehmen. Sie konnte sich schon denken, dass es Kristoffer war. Und er war mit Abstand der letzte Mensch, mit dem sie im Augenblick sprechen wollte. Nein, sie wollte einfach, dass dieses nervtötende Geräusch aufhörte.

Da spürte sie plötzlich, wie der Volvo auf der regennassen Fahrbahn ins Schlingern geriet.

Mit einem heiseren Aufschrei riss sie das Lenkrad herum und trat auf die Bremse. Genau die falsche Reaktion, wie sich gleich darauf zeigte. Die Räder blockierten, der Wagen rutschte vollkommen unkontrolliert und viel zu schnell auf den Straßenrand zu. Agneta kniff die Augen zusammen, so als könnte sie das Unvermeidliche verhindern, indem sie sich einfach weigerte, es zu sehen.

Schmerzhaft schlugen ihre Zähne aufeinander, als die wilde Schleuderfahrt des Volvos schließlich mit einem Ruck im Straßengraben endete. Der Motor machte ein Geräusch, das wie ein resigniertes Seufzen klang, ehe er erstarb. Danach war nur noch das heftige Prasseln des Regens auf dem Autodach zu hören.

Agneta öffnete zaghaft die Augen. Was sie sah, entlockte ihr einen wenig damenhaften Fluch. Die farbigen Warnleuchten im Armaturenbrett, die miteinander um die Wette strahlten, tauchten den Innenraum des Volvos in ein seltsam unwirkli-ches Licht. Das kleine Kosmetikköfferchen, das sie bei ihrer Abfahrt auf dem Rücksitz abgelegt hatte, war bei der Kolli-sion nach vorn und frontal gegen die Windschutzscheibe ge-schleudert worden. Ein spinnennetzartiges Geflecht winziger Risse, das sich durch das Glas zog, zeugte von der Wucht des Aufpralls. Nur mit Mühe unterdrückte Agneta ein Schaudern. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können!

Sie hatte Glück gehabt. Aber davon abgesehen, dass sie noch einmal mit dem Schrecken davongekommen war, konnte sie der Situation nichts Positives abgewinnen. Der Wagen hing in einem Winkel von etwa fünfundvierzig Grad im Graben. Das Heck ragte steil in die Höhe, während die Front von den teuren Carbon-Scheinwerfern bis hin zur Vorderachse im Schlamm steckte. Was für eine Bescherung!

Doch im Grunde war diese Katastrophe nur eine konsequente Fortsetzung der Ereignisse, die ihr Leben innerhalb von knapp vierundzwanzig Stunden vollkommen auf den Kopf gestellt hatten.

Agneta schüttelte den Kopf. Unglaublich, wie schnell sich die Dinge manchmal entwickelten.

Vor zwei Wochen um diese Zeit war sie gerade auf dem Heimweg von der Arbeit gewesen, in Vorfreude auf ein romantisches Wochenende mit Kristoffer. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie bei Kerzenschein essen und danach mit einem Glas Wein vor dem Kamin sitzen würden … Wie durch ein kleines Wunder hatte sie es geschafft, ihrem Vorgesetzten – Birger Johanssen, dem Chef de Cuisine des Hotel Rosenträdgården – ganze zwei freie Tage in Folge abzuschwatzen. Ein Ereignis mit echtem Seltenheitswert, da es keine Vertretung für sie gab. Als Maître Confiseur war sie dafür zuständig, jedem Menü mit einem eigens dazu kreierten Dessert den letzten Schliff zu verleihen.

Die Arbeit machte ihr Spaß. Einzig die Tatsache, dass sie Jo-hanssen gegenüber für wirklich jeden Handgriff Rechenschaft ablegen musste, trübte ihre Begeisterung ein wenig. Denn während sie insgeheim von zarten Gespinsten aus Zucker, Eischaum und feinster Schokolade träumte, bevorzugte der Küchenchef des Hotelrestaurants eher bodenständige Kost. Nicht, dass an mandeltårta, kanelbullar oder spettekaka et-was auszusetzen war. Agneta wünschte sich einfach nur, etwas mehr herausgefordert zu werden. Endlich einmal ihre kreative Seite zeigen zu dürfen.

„Sei zufrieden mit dem, was du hast“, hatte Kristoffer ihr gepredigt, als sie über dieses Thema gesprochen hatten. „Andere wären froh, wenn sie so einen tollen Job hätten wie du.“ Wenn sie jetzt darüber nachdachte, wann hatte er eigentlich zum letzten Mal etwas wirklich Nettes zu ihr gesagt? Agneta konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.

Doch selbst wenn zwischen Kristoffer und ihr vermutlich längst nicht mehr alles so rundgelaufen war, wie sie sich einzureden versucht hatte – darauf, was sie erwartet hatte, als sie zwei Stunden früher als angekündigt zu Hause eingetroffen war, hätte nichts auf der Welt sie vorbereiten können.

Kristoffer eng umschlungen mit seiner Sekretärin auf der Couch …

Nej! Agneta schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Doch jenen Anblick würde sie sicher nie vergessen können.

Und es war sogar noch schlimmer gekommen.

Denn Kristoffer hatte ihr nicht einmal die Chance gegeben, ihrer gerechten Wut Luft zu machen.

„Tut mir wirklich leid, dass du es auf diese Weise erfahren musst“, hatte er gesagt und sich schützend vor seine Sekretärin gestellt. „Aber früher oder später hätte ich es ohnehin nicht länger verbergen können. Das zwischen Grit und mir hat sich einfach so entwickelt, und … Wir bekommen ein Kind, Agneta. So, nun ist es heraus.“

Ihr wurde jetzt noch ganz schlecht bei dem Gedanken. Und wie erleichtert Kristoffer ausgesehen hatte! Schuldbewusst, ja, aber vor allem erleichtert.

Schwanger – ausgerechnet!

Ein Blitz zuckte vom Himmel und holte Agneta wieder zurück in die Gegenwart. Sie atmete tief durch. Das mit Kristoffer war Geschichte, und im Hier und Jetzt gab es genügend Herausforderungen, denen sie sich stellen musste.

Zuallererst musste sie den Volvo irgendwie aus dem Straßengraben bekommen und den Pannendienst anrufen.

Der Inhalt ihrer Handtasche hatte sich, als sie die Kontrolle über den Wagen verloren hatte, im gesamten Fußraum verteilt. Im Dunkeln tastete Agneta nach ihrem Telefon. Doch als sie es endlich fand, musste sie erkennen, dass sie keinen Empfang mehr hatte. Und das, wo ein eingehender Anruf doch erst zu dem Dilemma geführt hatte, in dem sie nun steckte! Kristoffer war schon wieder die Wurzel des Übels.

Das Display zeigte „Nur Notrufe“ an – die Polizei würde sie aber keinesfalls alarmieren. Draußen schüttete es jedoch immer noch wie aus Kübeln. „Und was nun?“, fragte Agneta mit belegter Stimme in die Stille hinein.

Seufzend fuhr sie sich durch ihr ehemals perfekt frisiertes weizenblondes Haar, stellte den Kragen ihres cremefarbenen Camilla-Norrback-Trenchcoats hoch und drückte mit der Schulter hart die Fahrertür auf.

Der Wind, der ihr entgegenschlug, brachte eine kalte Dusche mit sich. Agneta hatte die steile, mit Gras bewachsene Böschung des Straßengrabens kaum erklommen, da war sie schon bis auf die Haut durchnässt.

Na wunderbar, dachte sie. Es reicht ja nicht, dass dein Mann dich nach sechs Jahren Ehe sang- und klanglos gegen eine andere Frau austauscht und mit ihr genau die Familie gründet, die du dir insgeheim immer gewünscht hast. Ist es nicht Strafe genug, nach fast dreizehn Jahren wie ein geprügelter Hund in deinen Heimatort in der schwedischen Provinz zurückzukehren? Nein, auf dem Weg dorthin musst du dir offenbar auch noch den Tod holen!

Sie erreichte die Straße und hielt Ausschau nach irgendeinem Anzeichen von Zivilisation. Doch so weit das Auge reichte, gab es nur Wald und Regen. Agneta hatte keine Ahnung, wie weit es noch bis Sjöråhamn war. Ihr letzter Besuch lag schon lange zurück. Kristoffer hatte der Gedanke, Stockholm zu verlassen, nie gefallen, und Agneta hatte sich stets nach seinen Wünschen und Bedürfnissen gerichtet.

Nun musste sie feststellen, dass ihr die Umgebung, in der sie aufgewachsen war, vollkommen fremd geworden war. So fremd, dass sie sich ebenso gut auf dem Mond hätte befinden können.

Es war Stunden her, dass sie während der Fahrt an einer Siedlung vorbeigekommen war. Agneta blieb nichts anderes übrig, als nun am Straßenrand entlangzugehen und zu hoffen, dass es nicht mehr weit war. Und hinter jeder Kurve hoffte sie, endlich die ersten Ausläufer von Sjöråhamn zu erblicken. Oder zumindest einen Balken auf der Empfangsanzeige ihres Telefons.

Zwanzig Minuten später hatte sich weder das eine noch das andere eingestellt. Inzwischen fror Agneta so erbärmlich, dass sie mit den Zähnen klapperte. Was hatte sie da bloß angerichtet? Wäre sie doch in die andere Richtung gegangen – dort wusste sie zumindest, dass sie ein paar Minuten vor ihrem Missgeschick mit dem Wagen noch ein Netz gehabt hatte. Doch inzwischen war es zu spät, um noch umzukehren, also straffte sie die Schultern und setzte ihren Weg fort. Bald musste sie doch irgendwo ankommen!

Trotzdem verging noch eine gefühlte Ewigkeit, ehe das sich rasch steigernde Knattern eines Dieselmotors ankündigte, dass Rettung unterwegs war. Agneta trat mitten auf die Straße, wischte sich das tropfnasse Haar aus der Stirn und blinzelte geblendet ins Scheinwerferlicht eines näher kommenden Wagens.

„Hej!“, rief sie und winkte hektisch mit den Armen. „Hej, halten Sie an! Bitte! Ich brauche Hilfe!“

Das klapprige Vehikel – ein uralter Ford – kam unmittelbar vor ihr zum Stehen. Das Fenster auf der Fahrerseite wurde heruntergekurbelt, und dahinter zeigte sich ein unrasiertes Männergesicht, das Agneta entfernt bekannt vorkam. „Wo soll’s denn hingehen, tjej?“ Buschige Brauen hoben sich über funkelnden Augen. „Ach herrje! Wenn dieser begossene Pudel hier nicht die kleine Holmquvist ist. Dich hat man ja eine Ewigkeit nicht in Sjöråhamn gesehen!“

Agneta musterte den Fahrer des Ford genauer. „Arne?“, fragte sie schließlich. „Arne Sonsby?“

„Ganz recht“, erwiderte er lachend. „Mensch, das ist aber eine Überraschung! Hab gestern erst deinen alten Herrn besucht. Hat mit keinem Wort erwähnt, dass du zu Besuch kommst, der alte Griesgram.“ Er beugte sich über den Beifahrersitz hinweg, öffnete die Tür und stieß sie auf. „Aber jetzt hüpf endlich rein, tjej, ehe dich der Regen noch ins Meer spült.“

Dazu musste er Agneta kein zweites Mal auffordern. Während sie sich die Hände am Heizungsgebläse wärmte, erzählte sie Arne auf dem Weg nach Sjöråhamn von ihrem Malheur mit dem Volvo.

„Keine Sorge, darum kümmere ich mich schon. Petter holt den Wagen in null Komma nichts aus dem Graben und macht ihn wieder flott.“ Fragend schaute er sie an. „Du erinnerst dich noch an meinen Jungen?“

Natürlich wusste Agneta, wer Petter war. Immerhin hatte er, als sie noch Teenager gewesen waren, oft genug versucht, mit ihr anzubandeln. Damals war für sie jedoch nur einer infrage gekommen. Jonas Arvidsson …

Rasch verscheuchte sie die Erinnerung an Jonas. Er war es nicht wert, dass sie auch nur einen Gedanken an ihn verschwendete. Außerdem lag das alles schon eine kleine Ewigkeit zurück. So lange, dass es schon fast nicht mehr wahr zu sein schien. Die Erinnerungen an ihn sollten sie genauso wenig bremsen wie die an Kristoffer.

Mit der Gegenwart hatte sie genug zu tun.

Dunkle Wolken hingen so tief am Himmel, dass sie den Wetterhahn auf der Turmspitze der Kirche von Sjöråhamn zu berühren schienen. Jonas Arvidsson stellte seinen anthrazitfarbenen Saab Kombi vor Wikströms Blomsterparadis ab, zog zum Schutz gegen den Regen seine Wollmütze über, die auf dem Beifahrersitz lag, und stieg aus. Der Sommer nahte, aber zu sehen war davon nicht viel. Seit Tagen regnete es schon in Strömen, und es sah nicht so aus, als würde sich daran so bald etwas ändern.

Eilig überquerte er die Straße und stieß die Tür des Eisenwarenladens auf. „Hej, Frider“, begrüßte er den Ladenbesitzer, der, eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand, hinter der Theke stand. „Ich komme, um die bestellten Ersatzteile für die Tortenschneidemaschine abzuholen. Es wird Zeit, dass wir das alte Schätzchen wieder zum Laufen kriegen, ehe die gesamte Produktion zum Erliegen kommt.“

„Wenn du mich fragst, dann solltet ihr euch lieber eine neue Schneidemaschine anschaffen“, knurrte Frider. „Aber wie ich Berit kenne, ist es ihr mal wieder jede Krone zu viel, stimmt’s?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich sag’s dir, Junge, eines Tages fliegt euch noch die gesamte Fabrik um die Ohren.“

„Wem erzählst du das? Ich liege meiner Mutter oft genug mit diesem Thema in den Ohren.“ Jonas winkte seufzend ab. „Aber ihre Antwort ist immer dieselbe: Wenn Frederik eines Tages die Firma leitet, kann er schalten und walten, wie immer er möchte. Aber solange sie noch die Zügel in der Hand hält …“

„Das klingt eindeutig nach deiner Mutter“, entgegnete Frider. „Genauso starrköpfig und unnachgiebig wie schon ihr Vater. Der hat sich auch in nichts hereinreden lassen.“

An seinen Großvater hatte Jonas nur eine sehr verschwommene Erinnerung. Kein Wunder, schließlich war er gerade einmal fünf Jahre alt gewesen, als Ludvig Arvidsson einem Herzleiden erlegen war. Doch nach allem, was er so hörte, musste er ein sturer Hund gewesen sein. Gleichzeitig sagten aber auch alle, dass ihm das Wohl seiner Mitarbeiter sehr am Herzen gelegen hatte.

Und das war etwas, das man seinen Eltern nicht nachsagen konnte.

Manchmal fragte Jonas sich, wie aus der Ehe seiner Eltern insgesamt zwei Kinder hatten hervorgehen können. Berit und Carl-Henrik Arvidsson-Brömmer hatten in getrennten Zimmern geschlafen. Ihr Umgang war so kühl und reserviert gewesen, dass Jonas sich absolut nicht vorstellen konnte, wie es zwischen den beiden jemals zu Intimitäten gekommen war.

Doch Frederik und er waren der beste Gegenbeweis.

„Auch einen Kaffee, Junge?“, fragte Frider und riss ihn damit aus den Gedanken.

Jonas winkte seufzend ab. „Prinzipiell gerne, aber ich habe leider nicht viel Zeit“, sagte er. „Mutter hat für heute noch zwei Bewerber für den offenen Posten als Lagerleiter eingeladen. Dreimal darfst du raten, wer sich um die Vorstellungsgespräche kümmern darf.“

„Typisch Berit.“ Frider lachte. „Kaum zu glauben, was aus dem flatterhaften Ding geworden ist, das sie als junges Mädchen gewesen ist.“

Jonas hatte schon die verschiedensten Ausdrücke gehört, mit denen seine Mutter tituliert wurde – die wenigsten waren schmeichelhaft. Doch flatterhaft hatte sie bisher niemand genannt. Und es war schwer vorstellbar, dass die eiserne Berit Arvidsson jemals einen flatterhaften Zug an sich gehabt haben sollte.

„Du glaubst mir nicht?“, fragte Frider, der seinen skeptischen Gesichtsausdruck offenbar bemerkt hatte. „Aber ich sage dir, genauso war es und nicht anders. Ich muss es ja wissen, schließlich habe ich jahrelang mit ihr die Schulbank gedrückt. Deine Mutter war als Mädchen ein ganz schöner Feger. Keine Ahnung, was mit ihr passiert ist.“

Jonas wusste nicht, ob Frider die Wahrheit sagte oder einfach nur übertrieb. Vielleicht würde er ein andermal nachhaken. Wenn er sich vorher noch einmal den Laden anschauen und dann rechtzeitig für die Vorstellungsgespräche zurück in der Fabrik sein wollte, musste er sich beeilen. „Wir sprechen wann anders darüber, ja?“ Er deutete in Richtung Hinterzimmer. „Ich fahre auf den Hof – bringst du die Sachen schon mal bis zur Tür, damit ich sie in den Wagen laden kann?“

Keine zehn Minuten später war alles erledigt. Die Ersatzteile für die Schneidemaschine lagen auf der Ladefläche von Jonas’ Kombi, und er verabschiedete sich mit einem knappen Nicken von Frider, ehe er zurücksetzte, den Wagen wendete und durch die schmale Zufahrt zur Straße zurückkehrte.

Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, doch die schwarzen Wolkenberge, die tief am Himmel hingen, machten wenig Hoffnung auf Sonnenschein.

Seufzend schaltete Jonas die Scheibenwischer ein und setzte den Blinker, um sich wieder in den überschaubaren Verkehr einzufädeln. Dabei registrierte er Sonsbys klapprige alte Rostlaube auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er hob die Hand, um Arne zu grüßen, als plötzlich ein Blitz vom Himmel herabzuckte und alles für den Bruchteil einer Sekunde in grelles Licht tauchte.

Jonas erstarrte.

Die Frau, die da auf dem Beifahrersitz neben Arne saß, war das nicht …?

Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, aber im nächsten Moment war der andere Wagen auch schon vorbeigefahren. Stirnrunzelnd versuchte Jonas, ihn im Rückspiegel zu fixieren, bis der Regen ihn verschluckte.

Nej, das ist völlig unmöglich, sagte er sich schließlich. Und es stimmte: Er musste sich einfach getäuscht haben. Agneta Holmquvist hatte sich schon seit vielen Jahren nicht mehr in Sjöråhamn blicken lassen. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass sie es sich jetzt plötzlich anders überlegt haben sollte.

Vergessen hast du sie allerdings nicht, ganz gleich, wie lange es her sein mag …

Vor dem verlassenen Ladenlokal stellte er den Wagen ab. Ärgerlich über sich selbst, hieb er mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Die Sache mit Agneta lag schon eine Ewigkeit zurück, und er hatte im Augenblick wirklich andere Sorgen. Seine Mutter sprach vielleicht nicht darüber, doch er wusste, dass es Schwierigkeiten gab. Die Tatsache, dass die Gespräche zwischen ihr und ihrem Privatsekretär, diesem unsäglichen Leifsson, plötzlich verstummten, sobald er den Raum betrat … Irgendetwas war im Busch, das spürte Jonas deutlich. Dabei schienen die Geschäfte recht ordentlich zu laufen.

Nach einer Flaute vor etwas mehr als zwei Jahren befand sich die Tortenfabrik Arvidsson endlich wieder auf Kurs. Und diesen Erfolg hatten sie allein seiner Mutter zu verdanken. Nur dank der von ihr eingebrachten innovativen Tortenkreationen waren die Verkaufszahlen wieder gestiegen. Jonas hatte das Potenzial ihrer Rezepte auf Anhieb erkannt, als sie sie während eines Krisenmeetings den Abteilungsleitern vorgestellt hatte. Die Leute konnten überall mandeltårta, prinsesstårta oder valnötstårta bekommen. Ihnen stand der Sinn nach etwas Besonderem, Außergewöhnlichem. Diesen Wunsch bediente Arvidssons Tårtafabrik nun mit einem speziellen Programm von Klassikern, denen durch kleine Veränderungen in der Rezeptur ein völlig neues Gesicht verliehen wurde. Diese Finesse hatte rasch großen Anklang gefunden.

Jonas fragte sich bis heute, wer seine Mutter auf diese Idee gebracht hatte und wie sie so plötzlich ein halbes Dutzend geeigneter Rezepte aus dem Hut hatte zaubern können. Es hatte schon einem Wunder geglichen. Denn obwohl Berit in einer Familie von Konditoren aufgewachsen war, verstand sie von kreativer Zuckerbäckerei etwa so viel wie Jonas von Atomphysik.

Auch an seinem Bruder Frederik war jegliches Talent für kreatives Backen vorübergegangen. Jonas hingegen hatte schon als kleiner Junge viel Zeit in der Backstube verbracht, den Schichtleiter und sämtliche Mitarbeiter mit neugierigen Fragen gelöchert. Später, nach dem Schulabschluss, hatte seine Mutter ihn gedrängt, eine kaufmännische Ausbildung in der Fabrik zu machen. Jonas hatte sich ihrem ausdrücklichen Wunsch widersetzt und sich an der Uni in Stockholm eingeschrieben. Noch heute nutzte Berit jede Gelegenheit, ihm unter die Nase zu reiben, für welche Zeitverschwendung sie das Marketingstudium hielt, das er mit Bestnoten abgeschlossen hatte.

Denn als älterer Sohn würde Frederik die Firma eines Tages übernehmen und sämtliche geschäftlichen Entscheidungen treffen. Laut Ansicht seiner Mutter führte es automatisch zu Zwist, wenn Jonas als Jüngerer versuchte, eigene Vorstellungen und Entwürfe durchzusetzen.

Das war auch der Grund, warum Jonas, anstatt in der Marketingabteilung von Arvidssons Tårtafabrik zu arbeiten, den Maschinenpark und das Vorratslager verwaltete. Dabei hatte er so viele Ideen! Auch wenn seine Mutter davon ja partout nichts hören wollte.

Seufzend strich er sich das tiefschwarze Haar zurück. Wenn es ihm jemals gelang, Berit davon zu überzeugen, ihm eine Chance zu geben, musste er sich etwas einfallen lassen. Es war besser, vorbereitet zu sein und sich keine Ablenkung zu leisten. Deshalb sollte er keinen Gedanken an Agneta Holmquvist verschwenden. Sie hatte schon einmal sein ganzes Leben ins Chaos gestürzt. Noch einmal würde ihr das nicht gelingen.

Nie mehr.

„Tack“, bedankte Agneta sich, als Arne Sonsby seinen Wagen vor ihrem Elternhaus, das aufgrund seiner Lage auf einer schmalen Landzunge direkt an der Küste nur Klippanhus genannt wurde, an den Straßenrand lenkte. „Tack så mycket. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne deine Hilfe getan hätte.“

Arne beugte sich nach hinten und holte einen sperrigen schwarzen Stockregenschirm aus dem Fußraum der Rückbank hervor. Grinsend reichte er ihn Agneta. „Eines kann ich mit Sicherheit sagen: Du wärst noch nasser geworden, als du es ohnehin schon bist. Und jetzt mach, dass du reinkommst. Dein Vater reißt mir den Kopf ab, wenn du dir meinetwegen eine Lungenentzündung holst!“

Das wäre wohl kaum deine Schuld, dachte Agneta und blickte auf die Straße. Sofort wanderten ihre Gedanken wieder zurück zu Kristoffer. Wenn jemand für dieses Dilemma die Verantwortung trug, dann ganz eindeutig er. Immer wieder quälte sie sich mit der Frage, wie lange die Affäre mit seiner Sekretärin wohl schon angedauert hatte. Ein paar Wochen? Monate? Oder gar Jahre? Hatte er all die Abende, an denen er angeblich in Meetings oder bei Geschäftsessen gewesen war, in Wahrheit in Grits Armen verbracht? Allein bei der Vorstellung drehte es Agneta schier den Magen um.

Sie war im Grunde nicht einmal so sehr wütend darüber, dass er sie verlassen wollte. So bitter es auch sein mochte, aber solche Dinge passierten eben. Liebe verblasste, Gefühle kühlten ab. Was sie ihm jedoch übel nahm, war die Tatsache, dass er ihr offensichtlich nicht genug Respekt entgegenbrachte, um offen und ehrlich mit ihr umzugehen. Zumindest das hätte sie von einem Menschen erwartet, der ihr einst am Altar „Bis dass der Tod uns scheidet“ versprochen hatte.

Mit einem unterdrückten Seufzen öffnete sie die Wagentür, lächelte Arne zu und spannte den Schirm auf. Noch einmal wandte sie sich zu dem älteren Mann um. „Wir sehen uns bestimmt bald!“

Arne hupte kurz, dann fuhr er los. Agneta blickte ihm nach, während er wendete und über die schmale Zufahrt zurückfuhr. Dann trat sie ein paar Schritte zurück und begutachtete das Klippanhus. Hier hatte sich nichts verändert, seit sie als kleines Mädchen im Garten herumgetobt war. Nicht das Geringste.

Die hölzerne Fassade war noch immer in demselben hellen Gelb gehalten, das Agneta stets an Vanilleeis erinnerte, während die Rahmen der Sprossenfenster, das Geländer der Veranda und die Balken des Dachstuhls leuchtend weiß gestrichen waren.

Agneta stieg die niedrige weiße Treppe zur Veranda empor und betrachtete versonnen den Schaukelstuhl, auf dem einst ihre Mutter gesessen und eine endlose Flut von Strümpfen gestrickt hatte, mit denen sie zu Weihnachten die Verwandten beschenkt hatte. Einen Moment lang rechnete Agneta fast damit, dass die Tür sich öffnen und Viola Holmquvist ins Freie treten würde. Aber das war selbstverständlich nicht möglich. Ihre Mutter war vor mehr als sechs Jahren gestorben und unter der großen Linde auf dem Friedhof von Sjöråhamn begraben worden. Ihre Beerdigung war eine der seltenen Gelegenheiten gewesen, bei denen Agneta ihren Heimatort besucht hatte.

„Agneta? Bist du das, mein Kind?“

Als sie die Stimme ihres Vaters hörte, drehte sie sich um.

„Agneta, min älskling, du bist es wirklich!“ Strahlend kam Gustaf Holmquvist auf sie zu. „Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt, dass du zu Besuch kommst, ich …“ Plötzlich wurde seine Miene ernst. „Um Himmels willen, du bist ja vollkommen durchgefroren! Was ist dir zugestoßen, Liebes?“

Die Zuneigung im Blick ihres Vaters und seine offenkundige Sorge wärmten ihr das Herz und verdrängten die eisige Kälte, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Wer weiß, sagte sie sich. Vielleicht hat das alles ja auch sein Gutes …

„Hej, pappa“, entgegnete sie mit einem traurigen Lächeln. „Es ist nichts. Ich bin nur so froh, dich zu sehen!“

Sie ließ den Schirm einfach fallen; dann eilte sie auf ihren Va-ter zu, schloss ihn in die Arme und barg das Gesicht an seiner Brust. Einen Moment lang stand sie einfach nur da, durch das Dach der Veranda vom Regen geschützt, und genoss es, einem Menschen nah zu sein, der sie liebte. Der sie wirklich liebte -und zwar nicht nur auf diese seltsame Art und Weise, wie Kri-stoffer es vielleicht getan haben mochte.

Irgendwann machte ihr Vater sich von ihr los, hielt sie auf Armeslänge von sich und musterte sie forschend. „Erzähl mir doch nichts, Kind! Irgendetwas hat dich vollkommen aus der Bahn geworfen, und ich will wissen, wer oder was dafür verantwortlich ist!“ Er seufzte, als sie nicht antwortete. „Gut, gehen wir erst mal rein. Ich brühe uns einen frischen Kaffee auf. Und während er durchläuft, schauen wir mal nach, was der Kleiderschrank deiner Mutter für dich zu bieten hat. Ihre Sachen dürften dir ja passen.“

Er hatte recht. Der schmal geschnittene weinrote Rollkragenpullover und die dunkle Flanellhose saßen wie angegossen. Und Agneta fühlte sich überraschend wohl in der Kleidung ihrer Mutter. Das Haar in ein weiches Frotteehandtuch gewickelt, lächelte sie wieder, als sie die Küche betrat, in der ihr Vater gerade den Kaffee vorbereitete.

Einen Moment lang wirkte er so verblüfft, dass sie schon anfing, sich Sorgen zu machen.

„Du siehst deiner Mutter wirklich unglaublich ähnlich, weißt du das? Wenn du, so wie heute, ihre Kleidung trägst, könnte man fast meinen, ein und dieselbe Person vor sich zu haben.“

Agneta nickte. Schon als kleines Mädchen war sie oft auf die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter angesprochen worden. Viola Holmquvist hatte dasselbe weizenblonde Haar besessen, und ihre Augen waren genauso leuchtend blau gewesen, mit winzigen goldbraunen Sprenkeln darin, die man nur sehen konnte, wenn man sie unmittelbar anschaute.

Ein trauriges Lächeln glitt über Gustaf Holmquvists Gesicht. „Es klingt vermutlich albern, aber ich vermisse Viola noch immer genauso sehr wie am ersten Tag. Ob man irgendwann lernt, besser damit zurechtzukommen?“

Agneta schluckte. Ohne es zu wissen, hatte er sie mit seinen Worten mitten in die Seele getroffen. Zum einen, weil auch sie ihre Mutter noch immer sehr vermisste. Sie war eine Seele von einem Mensch gewesen, mit ihr hatte Agneta über alles reden können, was sie bewegte. Zum anderen hatte ihre Mutter ihren Vater sehr geliebt. So sehr, dass selbst der Tod sie nicht wirklich hatte entzweien können. Auf gewisse Weise existierte Viola Holmquvist noch immer – und zwar in den Erinnerungen ihres Mannes, der sie, solange er lebte, in seinem Herzen tragen würde.

Und sie selbst? Würde ihr ein solches Glück auch jemals zuteilwerden? Ganz sicher nicht mit Kristoffer, so viel stand fest. Nicht einmal, wenn er jetzt reumütig zu ihr zurückkehren würde. Nein, ganz sicher nicht, nachdem er ihr so übel mitgespielt hatte. Aber wenn nicht mit ihm, mit wem sollte sie ihr Leben sonst planen? Männer, die sich nicht daran störten, dass sie mit Agneta niemals eine eigene Familie würden gründen können, wuchsen nicht gerade auf Bäumen …

„Lass uns erst einmal eine Tasse Kaffee zusammen trinken“, sagte Gustaf, der ihre seelische Not zu spüren schien. „Dann reden wir.“

Alles war noch genau so, wie Agneta es in Erinnerung hatte. Selbst die Wachstuchdecke, deren fröhlicher Blumendruck über die Jahre ganz verblichen war, lag noch immer auf dem Küchentisch. In den Pflanzkästen vor dem Fenster blühten Goldmarie und Eisbegonien, genauso wie früher. Und Agneta glaubte noch immer den Duft vom frisch gebackenen äppelpaj ihrer Mutter zu riechen.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch, als die Bilder auf sie einstürmten. Bilder aus Zeiten, in denen das Leben noch einfach und unkompliziert gewesen war. Sie sah sich selbst, wie sie mit ihrer besten Freundin Ann-Kristin im Garten hinter dem Haus Blumen gepflückt und daraus Kränze geflochten hatte, die sie sich ins Haar gebunden hatten. Endlose Sommer, die sie am felsigen Strand außerhalb von Sjöråhamn verbracht hatten, Fahrradtouren durch blühende Rapsfelder und schattige Wälder …

„Agneta?“

Sie spürte den Blick ihres Vaters auf sich ruhen, sah auf und nahm die Tasse mit dampfend heißem Kaffee entgegen, die er ihr reichte.

„Bitte, setz dich doch. Dein alter Herr hat es nicht mehr so mit dem Stehen.“

Tatsächlich wollte er nur Rücksicht auf sie nehmen, und das rührte Agneta. Sie nahm auf einem der alten Küchenstühle Platz und starrte dann minutenlang in ihren Kaffee, wobei sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Schließlich räusperte sie sich. „Ich habe Kristoffer verlassen“, sagte sie schlicht.

Gustaf Holmquvist schien nicht sonderlich überrascht. „Was ist passiert?“, fragte er bloß – so als sei das Scheitern ihrer Ehe ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen und einzig der Auslöser ihm noch unbekannt.

War das wirklich so? Hatte man Kristoffer und ihr bereits ansehen können, dass das Ende unmittelbar bevorgestanden hatte? Aber nein, unmöglich! Ihr Vater hatte Kristoffer und sie insgesamt zweimal zusammen gesehen – auf ihrer Hochzeit damals im Sheraton Stockholm, und später auf der Beerdigung ihrer Mutter. Nein – ihr fiel ein, dass Kristoffer es wegen eines dringenden Geschäftstermins gar nicht zur Trauerfeier geschafft hatte. Sie war allein nach Sjöråhamn gefahren, um ihrem Vater beizustehen. Also hatte Gustaf Holmquvist seine Tochter und seinen Schwiegersohn sogar nur ein einziges Mal zusammen gesehen. Sehr glücklich konnte er darüber nicht gewesen sein, aber er hatte sich nie beklagt.

War ihr Vater etwa von Anfang an davon überzeugt gewesen, dass die Beziehung zwischen ihr und Kristoffer nur von kurzer Dauer sein würde? Weil er gewusst hatte, dass sie ihrem Ehemann niemals das geben konnte, was die meisten Menschen sich doch irgendwann wünschten?

Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Aber im Grunde konnte sie nicht glauben, dass ihr Vater so über sie dachte. Schließlich waren es ihre Zweifel gewesen, die sie befallen und unter denen sie gelitten hatte. Wie oft hatte sie mit offenen Augen neben Kristoffer im Bett gelegen, an die Decke gestarrt und sich dabei immer und immer wieder dieselbe Frage gestellt? Und es war nicht einmal so sehr die Frage gewesen, ob er eines Tages einsehen würde, dass es ein schwerwiegender Fehler gewesen war, sie zu heiraten – sondern die, wann das geschehen würde …

Sie nahm einen Schluck Kaffee, der stark und bitter ihre Kehle herunterrann. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Von allen Menschen, die sie kannte, kochte ihr Vater den mit Abstand schlechtesten Kaffee. Ihre Mutter hatte früher oft im Scherz behauptet, eine der Hauptzutaten des scheußlichen Gebräus wäre flüssiger Teer. Agneta kam nicht umhin, ihr einmal mehr recht zu geben.

Doch viel zu schnell holte die Realität sie wieder ein. Was geschehen war?

Seufzend fuhr sie sich mit der Hand über die Augen. Seltsamerweise verspürte sie zugleich bleierne Erschöpfung und nervöse Rastlosigkeit. „Nichts Besonderes eigentlich“, beantwortete sie die Frage ihres Vaters. „Im Grunde ist es schon so klischeebehaftet, dass es beinahe albern klingt.“

„Nichts, was meinen kleinen solstråle beschäftigt, könnte für mich jemals albern klingen“, entgegnete Gustaf ernst.

Min solstråle – mein Sonnenschein. Es war ewig her, dass Ag-neta von jemandem so genannt worden war. Kristoffers Kose-name für sie war duva – Taube – gewesen. Und in den letzten Jahren hatte er sie eigentlich nur noch mit dem Vornamen an-gesprochen. Vielleicht war dies bereits ein erstes Alarmzeichen gewesen. Wann hatte sich der graue Alltag in ihre Beziehung geschlichen? An welchem Punkt war ihre Liebe auf der Stre-cke geblieben?

Kopfschüttelnd strich sie sich durchs Haar. „Er hat mich mit seiner Sekretärin betrogen“, fasste sie die Geschehnisse der vergangenen Wochen zusammen – selbst erstaunt darüber, wie nüchtern ihre Stimme klang. „Ich habe sie in flagranti in unserer Wohnung ertappt, leugnen war also nicht mehr möglich. Aber wenn du mich fragst, war es genau das, was er gewollt hat: Kristoffer hatte es darauf abgesehen, erwischt zu werden. Vermutlich war er die ewigen Lügen längst leid und einfach zu feige, reinen Tisch zu machen.“

„Dieser Schuft!“, knurrte ihr Vater. „Wie konnte er dir so etwas antun?“

Agneta winkte ab. „Bitte, pappa, lass gut sein. Kristoffer wird schon seine Gründe gehabt haben. Vermutlich war ich auch nicht gerade die perfekte Ehefrau – vor allem in einer speziellen Beziehung …“

„Fan också!“ Erschrocken zuckte Agneta zusammen, als Gustaf mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. „So etwas will ich aus deinem Munde nie wieder hören, hast du mich verstanden? Und nun lass es endlich sein, diesen Mistkerl in Schutz zu nehmen. Er hat ganz genau gewusst, worauf er sich einließ, als er mit dir vor den Traualtar getreten ist. Er kann sich jetzt nicht einfach aus seiner Verantwortung schleichen!“

„Doch, er kann“, entgegnete Agneta müde. „Seine Sekretärin – Grit … Sie erwartet ein Kind von ihm. Du siehst also, er hat ihr gegenüber eine noch sehr viel größere Verantwortung als für mich.“

Ihr Vater sah wenig überzeugt aus. „Förlåt“, entschuldigte er sich, „aber das macht ihn in meinen Augen nur noch mehr zu einem Schuft.“ Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Nun, jetzt bist du ja hier, min solstråle. Und es wäre doch gelacht, wenn wir dich nicht im Nu wieder auf die Beine kriegen. Wer weiß, vielleicht ist die Sache mit Kristoffer sogar ein Wink des Schicksals. Ich hatte nämlich ohnehin schon länger vor, dich etwas zu fragen. Da mir allerdings auch klar war, wie deine Antwort lauten würde, habe ich die Sache immer vor mir hergeschoben – bis jetzt.“

„Die Sache?“ Agneta runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, worauf ihr Vater hinauswollte. „Wovon sprichst du?“

„Vom Himmelska Sockerdrömmar, der Zuckerbäckerei dei-ner Tante.“

Überrascht schaute sie ihn an. Tante Mia … In ihrer Back-stube hatte Agneta schon als junges Mädchen ihre Liebe zur Zuckerbäckerei entdeckt. Die jüngere Schwester ihres Vaters war für sie stets so etwas wie ein Vorbild gewesen. Es hatte sich wie von selbst ergeben, dass sie bei Mia ihre Ausbildung zur Konditorin absolviert hatte. Und irgendwie hatte wohl jeder damit gerechnet, dass sie das Himmelska Sockerdrömmar Himmlische Zuckerträume – eines Tages übernehmen würde, nicht zuletzt auch sie selbst. Doch das war gewesen, bevor die Sache mit Jonas ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte …

„Was ist mit dem Laden?“, fragte sie vorsichtig. „Ich dachte, du hättest ihn nach Tante Mias … nach ihrem Tod verkauft.“

Tief seufzend fuhr Gustaf sich durch das schüttere, inzwischen mehr silbergraue denn silberblonde Haar. „Das Himmelska Sockerdrömmar war Mias Lebensinhalt – ich habe es bisher einfach nicht über mich gebracht, es zu verkaufen, obwohl ich ein ziemlich gutes Angebot von jemandem aus dem Ort bekommen habe.“ Schief lächelnd schaute er Agneta an. „Nun bin ich es wohl, der ziemlich albern klingt, wie?“

„Nichts, was meinen pappa beschäftigt, könnte für mich jemals albern klingen“, entgegnete sie ernst und benutzte dabei absichtlich dieselben Worte wie er. „Außerdem verstehe ich dich gut. Tante Mia war einfach fabelhaft. Ich bedaure sehr, dass ich nicht zu ihrer Beerdigung kommen konnte.“

Es war ein weiterer Punkt, den Agneta der Negativliste ihrer Ehe hinzufügen konnte. Vor anderthalb Jahren war Mia beim Auswechseln einer Glühbirne in ihrer Konditorei so unglücklich gestürzt, dass sie sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen hatte. Sie hatte mehrere Monate im Koma gelegen, bis ihr Herz schließlich aufgehört hatte zu schlagen. Sie war gestorben, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.

Als Agneta damals die Nachricht vom Tod ihrer Tante erhalten hatte, hatte sie sofort nach Sjöråhamn aufbrechen wollen. Doch Kristoffer hatte mit seiner Werbeagentur gerade in schwierigen Verhandlungen gesteckt, ein wichtiges Dinner mit seinem potenziellen Geschäftspartner und dessen Ehefrau hatte bevorgestanden. Kristoffer hatte wortreich erklärt, dringend ihre Hilfe zu benötigen, da er sich unmöglich um beide Gäste gleichzeitig kümmern und die Verhandlungen vorantreiben konnte. Ihm zuliebe – um den Erfolg seiner monatelangen Arbeit nicht zu gefährden – hatte sie sich dazu durchgerungen, in Stockholm zu bleiben.

Ein sehr schmerzliches Opfer, das, wie sich im Nachhinein herausstellte, vollkommen unnötig gewesen war. Denn Kristoffers Geschäftspartner war ohne seine Ehefrau angereist, und Agneta hatte den Abend damit verbracht, fast gänzlich unbeachtet den Gesprächen der beiden Männer zuzuhören.

„Mia wusste, dass du sie gernhattest“, entgegnete ihr Vater. „Sie hat es immer gewusst. Und sie hätte ganz sicher gewollt, dass du …“

„Dass ich was?“, fragte sie nach, als Gustaf nicht weitersprach. „Was hätte Tante Mia gewollt?“

„Sie hätte gewollt, dass du das Himmelska Sockerdrömmar in ihrem Sinne weiterführst.“

„Was sagst du da?“ Einen Moment lang konnte Agneta ihren Vater nur überrascht anstarren. Dass er annehmen konnte, sie wolle dauerhaft in Sjöråhamn bleiben … „Aber …“ Sie stockte.

Aber was? Was spricht denn eigentlich dagegen, hierzubleiben? Was zieht dich noch zurück nach Stockholm?

Es stimmte schon. Da Kristoffer keinen gesteigerten Wert auf gesellschaftliche Kontakte legte, war die Verbindung zu den meisten ihrer früheren Freunde und Bekannten längst abgerissen. Ihr Job im Hotel Rosenträdgården bereitete ihr zwar Spaß, doch die Erfüllung war er nicht. Dazu fühlte sie sich, was ihre Kreativität betraf, zu sehr eingeschränkt. Denn letztlich musste sie für jede noch so kleine Entscheidung die Zustimmung von Birger Johanssen einholen. Wie lange sehnte sie sich schon danach, eigenverantwortlich ihre Kreativität ausleben zu dürfen? Eine eigene Zuckerbäckerei würde ihr doch genau diese Möglichkeit eröffnen!

„Nun, was sagst du dazu, min solstråle?“, fragte ihr Vater nach einer Weile des Schweigens unsicher. Zweifellos ahnte er, was ihr gerade durch den Kopf ging. „Könntest du dir vorstellen, hier in Sjöråhamn noch einmal ganz von vorn anzufangen?“

Agneta zögerte. Ihr erster Impuls war es gewesen, einfach Ja zu sagen. Doch sie wusste auch, dass sie sich in einer Ausnahmesituation befand. Wenn sie sich jetzt leichtfertig für etwas entschied, das ihr ganzes Leben beeinflusste …

„Ich … Ich weiß es nicht“, erwiderte sie zögernd. „Ich kann das nicht einfach so übers Knie brechen.“

„Das verstehe ich“, sagte er nickend. Der Klang seiner Stimme verriet deutlich, wie froh er war, dass sie das Angebot überhaupt in Betracht zog.

„Gibst du mir also ein bisschen Zeit?“

Ihr Vater nickte. „Aber natürlich. Förlåt, bitte entschuldige. Ich hätte dich nicht derart überrumpeln dürfen. Komm du erst mal zu Hause an – ich richte in der Zwischenzeit dein altes Zimmer für dich her, ja?“

Agneta nickte, obwohl die Worte ihres Vaters sie erneut nachdenklich stimmten. Er sprach von zu Hause und Ankommen – aber wo und was war das überhaupt? Hier in Sjöråhamn, wo sie aufgewachsen war? Oder doch in Stockholm, wo sie die letzten dreizehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte?

Oder gab es einen solchen Ort für sie womöglich überhaupt nicht?

2. KAPITEL

Während du geduscht hast, war Petter Sonsby hier und hat dein Gepäck gebracht. Dein Wagen steht bereits in der Werkstatt, der Schaden scheint weniger schlimm zu sein, als es zunächst aussah. Ach, und es hat endlich aufgehört zu regnen“, verkündete Gustaf Holmquvist, als Agneta später am Abend die Küche betrat. Er war gerade dabei, Zwiebeln für sein wunderbares pytt i panna zu würfeln. „Das Essen ist etwa in einer Stunde fertig. Willst du nicht ein bisschen hinausgehen und die frische Luft genießen?“

Durch das große Küchenfenster blickte Agneta nach draußen. Es dämmerte bereits, und die Sonne färbte das Meer tiefrot, während am Himmel über dem Klippanhus bereits die ersten Sterne glitzerten. Ihr Vater hatte recht: Was sie jetzt brauchte, war ein wenig Bewegung, um den Kopf freizubekommen. Sie bedauerte, bei ihrem überstürzten Aufbruch nicht daran gedacht zu haben, ihre Laufschuhe einzupacken. Sie hätte sie sofort gegen die sündhaft teuren Pumps von Christian Louboutin eingetauscht, die stattdessen in ihrem Koffer gelandet waren.

„Du hast nicht zufällig meine große gelbe Tasche noch?“, fragte sie ohne große Hoffnung. „Die mit meinen Trainingssachen für den Schulsport?“

„Natürlich“, erwiderte ihr Vater, beförderte einen Schwung Zwiebelwürfel in die Pfanne und nahm sich nun die Kartoffeln vor. „Es ist alles noch da, min solstråle. Schau mal im großen Garderobenschrank in der Diele nach. Oberstes Regalbrett links.“

Und tatsächlich – es war alles dort. Ihre alte Schultasche mit dem schweren Atlas darin, ein Tuschkästchen mit ineinander verlaufenen Farben und einem Pinsel, dessen Borsten in alle Himmelsrichtungen abstanden. Sie fand sogar einige leicht vergilbte Schulhefte, die Seitenränder mit Kritzeleien und Zeichnungen verziert. Und plötzlich hielt sie eine dünne Kladde in der Hand, auf deren weinrotem Einband in ihrer Handschrift Meine Freunde geschrieben stand.

Agneta schluckte. Sie hatte über die Jahre vollkommen ver-gessen, dass dieses Buch existierte. Damals hatte fast jeder in ih-rer Schulklasse so etwas besessen. Man reichte es immer weiter, und jeder, der es bekam, schrieb einen Spruch oder einfach ein paar nette Zeilen hinein.

Mit klopfendem Herzen schlug sie es auf. Gleich auf der ersten Seite hatte sich ihre damals beste Freundin Ann-Kristin Månsson verewigt. „Auf dass dein größter Herzenswunsch bald in Erfüllung geht“, stand dort geschrieben. Und dann, mit einem lachenden Smiley versehen: „Du weißt schon, wen ich meine!“

Was für jeden Außenstehenden wie ein merkwürdiger grammatikalischer Fehler aussehen musste, hatte für Agneta eine tiefere Bedeutung. Denn ihr größter Wunsch war nicht etwa ein eigenes Pferd oder eine Ferienreise nach Paris gewesen. Nein, sie hatte davon geträumt, dass eine gewisse Person sie endlich bemerken würde.

Jonas Arvidsson.

Beinahe hastig klappte sie das Buch wieder zu und schob es in den hintersten Winkel des Regals zurück. Sein Inhalt weckte zu viele Erinnerungen, mit denen sie sich im Augenblick lieber nicht herumschlagen wollte.

Die gelbe Tasche lag genau dort, wo ihr Vater gesagt hatte. Und darin befand sich, neben einem schreiend bunten Paar Shorts und einem Bandshirt von The Cardigans auch das, was sie gesucht hatte: ihre alten Laufschuhe.

Wie sie feststellte, waren ihre Füße seit dem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr nennenswert gewachsen, denn die Schuhe passten ihr noch immer wie angegossen. Auf die Shorts und das Shirt verzichtete sie jedoch. Die weite Nickihose und die dazu passende Kapuzenjacke, die sie trug, würden zum Joggen auch reichen.

„Warte nicht mit dem Essen auf mich“, rief sie ihrem Vater im Vorbeigehen zu. „Ich weiß noch nicht genau, wann ich wieder zurück bin.“

Kühle Abendluft schlug ihr entgegen, als sie auf die Veranda hinaustrat. Es roch nach Regen und feuchter Erde. Agneta hörte die Brandung, die sich unterhalb des Hauses schäumend gegen die Klippen warf. Möwen zogen am rasch dunkler werdenden Himmel ihre Kreise, auf der Suche nach einem letzten schnellen Happen, bevor die Nacht hereinbrach.

Ohne sich lange aufzuwärmen, lief Agneta los. Obwohl sie lange nicht gelaufen war, verfiel sie wie von selbst in einen leichten Trab, der sie körperlich gerade so weit anstrengte, dass in ihrem Kopf eine angenehme Leere entstand. Nachdem sie die Landzunge, auf der das Klippanhus errichtet war, hinter sich gelassen hatte, wandte sie sich nach rechts und folgte dem bewachsenen Trampelpfad, der sich direkt an der Küste entlangwand. Zum Glück hatten sich die Wolken verzogen. Der Mond schien hell und klar, sodass es Agneta nicht schwerfiel, dem Weg zu folgen.

Erst als sie die Abzweigung erreichte, die hinunter zu einem balkonartigen Felsvorsprung führte, erkannte sie, wohin ihre Schritte sie geführt hatten. Ihr Puls fing an, heftiger zu pochen, als sie dem schmalen Pfad nach unten folgte.

Hier, genau an dieser Stelle, hatte Jonas sie zum ersten Mal geküsst.

Jonas …

Es war wie in einem Märchen gewesen, so süß und so wunderschön, dass sich die Erinnerung daran für alle Zeit in ihrem Gedächtnis festgebrannt hatte. Dasselbe aber galt leider auch für die Geschehnisse, die nur kurz darauf alles zerstört hatten.

Das Herz zog sich ihr schmerzhaft in der Brust zusammen, als die Geister der Vergangenheit mit einem Mal auf sie einstürmten. Und als sie plötzlich seine Stimme hinter sich hörte so fremd nach so langer Zeit und zugleich so vertraut –, glaubte sie zunächst, einer Sinnestäuschung aufgesessen zu sein.

Sie drehte sich um und erblickte seine hochgewachsene Gestalt im Mondlicht. Agneta stockte der Atem. Er war es tatsächlich.

Jonas Arvidsson.

„Du bist es also wirklich“, sagte er und schüttelte ungläubig den Kopf. „Nach all den Jahren …“

Jonas konnte noch immer nicht glauben, dass Agneta tatsächlich zurück war, selbst als sie direkt vor ihm stand.

Er wusste nicht einmal, was ihn dazu getrieben hatte, heute Abend zu ihrem alten Treffpunkt hinauszufahren. Es war wie ein inneres Drängen gewesen. Fast ein Zwang, der ihm ein-fach keine Ruhe gelassen hatte, bis er ihm schließlich nachge-geben hatte. In der Hoffnung, dass er dann endlich aufhören könnte, trotz aller guten Vorsätze immer wieder über sie nach-zugrübeln.

Es war schon eine ganze Weile her, seit er zuletzt den Gedanken an sie zugelassen hatte – zumindest bis zu diesem Déjà-vu heute Vormittag, das, wie sich nun herausstellte, gar kein Déjàvu gewesen war.

Agneta Holmquvist – die einzige Frau, bei der er jemals versucht gewesen war, sein ehernes Prinzip über Bord zu werfen: eine Beziehung stets zu beenden, wenn die Dinge ernst zu werden drohten. Sie hatte allerdings dafür gesorgt, dass es gar nicht erst so weit gekommen war.

Stirnrunzelnd sah er sie an. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, sondern war noch genauso schön wie in seiner Erinnerung. Nein, noch schöner sogar! Das Mondlicht verlieh ihrem blonden Haar einen silbernen Glanz, und ihre Haut schimmerte wie Alabaster. Diese Lippen … Er wusste noch immer genau, wie es sich anfühlte, sie zu küssen, ihren warmen Atem an seinem Hals zu spüren und …

Fan!

„Es ist lange her“, sagte er und widerstand dem Verlangen, sie bei den Schultern zu packen und zu schütteln. Ihm lagen unzählige Fragen auf der Zunge, doch er sprach keine einzige davon aus. Es war zu gefährlich, denn er wusste nicht, ob er die Antworten wirklich hören wollte. Stattdessen bemühte er sich um ein unverfängliches Thema. „Bist du hier, um deinen Vater zu besuchen?“

„Ich …“ Sie räusperte sich angestrengt. „Ja, das auch.“

Er ließ es dabei bewenden. Wenn sie nicht darüber sprechen wollte – schön, ihre Entscheidung. Sie hatte schon immer ihren eigenen Kopf gehabt. Ohne Rücksicht auf Verluste hatte sie ihren Willen durchgesetzt. Im Grunde sollte er ihr inzwischen dankbar sein. Er war drauf und dran gewesen, sich auf eine ziemliche Dummheit einzulassen, kurz bevor sie damals einfach verschwunden war. Jäklar, er hatte ihr sogar einen Heiratsantrag gemacht – ausgerechnet er! Doch alles, was Jonas empfand, wenn er an jenen Abend im Wald dachte, an dem er vergeblich auf Agneta gewartet hatte, war Zorn. Zorn – und grenzenlose Enttäuschung.

„Hast du vor, länger zu bleiben?“, erkundigte er sich.

Der Wind spielte mit ihrem Haar, eine einzelne Strähne fiel ihr immer wieder ins Gesicht. Mit einer ungeduldigen Handbewegung strich Agneta sie sich hinters Ohr zurück. Diese Geste ließ Bilder aus der Vergangenheit vor seinem inneren Auge aufblitzen. Jonas sah sich selbst, wie er zärtlich die Konturen ihres Gesichts nachzeichnete. Er konnte ihre samtweiche Haut beinahe unter den Fingerspitzen fühlen, so als wäre es erst wenige Minuten her, dass er sie berührt hatte, und nicht mehr als dreizehn Jahre.

„… mir überhaupt zu?“ Stirnrunzelnd schaute sie ihn an.

Jonas zuckte zusammen. Er hatte sie die ganze Zeit nur angestarrt, ohne ein Wort von dem aufzunehmen, was sie sagte. Verdammt, er konnte sich ja nicht einmal mehr an seine Frage erinnern! Was stellte diese Frau bloß mit ihm an, dass sie ihn so die Kontrolle über sich verlieren ließ? Er wusste es nicht, und er wollte es auch gar nicht wissen. Denn eines stand fest: Agneta Holmquvist war nicht gut für ihn.

Sie war es nie gewesen.

Agneta hatte das Gefühl, sich auf sehr dünnem Eis zu bewegen. Überall um sie herum knirschte und krachte es, ganz gleich, wohin sie sich auch wandte. Und nur mit Mühe konnte sie dem Impuls widerstehen, einfach davonzulaufen. Doch diese Blöße wollte sie sich Jonas gegenüber nicht geben.

Natürlich hätte sie damit rechnen müssen, ihm hier in Sjöråhamn zu begegnen. Wenn nicht heute, dann doch irgendwann in den nächsten Tagen. Er wäre niemals einfach weggelaufen. Und warum sollte er auch? Ihm war damals schließlich nicht das Herz gebrochen worden so wie ihr.

Lass die Vergangenheit ruhen, Agneta. Du bist nicht mehr das unsichere, schüchterne kleine Mädchen von damals. Schau dich an, du hast es zu etwas gebracht.

Noch während sie das dachte, wurde ihr klar, dass sie sich nur selbst etwas vormachte. Was hatte sie in ihrem Leben denn schon erreicht? Tag für Tag ging sie im Hotel Rosenträdgården einem Job nach, der sie nicht ausfüllte. Ihr Mann wollte mit einer anderen Frau eine Familie gründen. Sicher würde er mit Grit in der schicken Stockholmer Penthousewohnung leben, die bis vor Kurzem Agnetas und sein Zuhause gewesen war, die ihm aber allein gehörte. Und sie, Agneta, würde nicht mehr sein als ein rasch verblassender Schatten, der einmal ein Bestandteil seines Lebens gewesen war.

Nichts hatte sie erreicht, rein gar nichts! Im Grunde genommen stand sie jetzt wieder genau an derselben Stelle wie vor dreizehn Jahren, als sie, eine Reisetasche und einen Berg unliebsamer Erinnerungen im Gepäck, Sjöråhamn den Rücken gekehrt hatte. Und damals wie heute war Jonas der letzte Mensch, mit dem sie reden wollte. Zugleich fühlte sie aber auch, sehr zu ihrem Ärger, ein leises Gefühl von Sehnsucht in sich aufsteigen.

Offenbar hatte er seine besondere Wirkung auf sie noch immer nicht verloren. Nicht einmal nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war. Was für eine Närrin musste man sein, sich nach so langer Zeit noch zu einem Mann hingezogen zu fühlen, der sich nur aus reinem Mitleid mit ihr abgegeben hatte?

Keine Frage, er sah noch immer sehr gut aus. Die Jahre schienen keine Spuren bei ihm hinterlassen zu haben. Allenfalls wirkte er heute – fast dreizehn Jahre nach ihrer letzten Begeg-nung – männlicher und damit noch attraktiver als mit Anfang zwanzig.

Sie hatte ihn wirklich geliebt. Umso schmerzhafter war es gewesen, die Wahrheit erkennen zu müssen: zu begreifen, dass seine Gefühle für sie denen, die sie ihm entgegenbrachte, nicht einmal ähnelten. Dass er nur aus falsch verstandenem Verantwortungsbewusstsein mit ihr zusammen gewesen war. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben.

Trotz all der Zeit, die seitdem verstrichen war, schmerzte der Gedanke an die Vergangenheit noch immer. Der Gedanke an Jonas.

Und nun stand er plötzlich wieder vor ihr. Nichts und niemand hatte sie auf diesen Augenblick vorbereiten können. Sie war hin- und hergerissen zwischen Wut und Sehnsucht. Ein Teil von ihr wollte ihn anschreien, ein anderer in seine Arme sinken. Es war so absurd, dass es ihr schon fast komisch vorkam. Doch darüber lachen konnte Agneta beim besten Willen nicht.

„Tut mir leid, ich war gerade nicht ganz bei der Sache“, riss Jonas sie aus den Gedanken. „Du sagst, du bist hier, um deinen Vater zu besuchen?“

„Ja, auch, aber …“ Sie räusperte sich angestrengt. „Um ehrlich zu sein, ich überlege, ob ich vielleicht längerfristig hierbleibe. Meine Ehe ist am Ende, und mein Vater hat mir angeboten, das Himmelska Sockerdrömmar zu übernehmen, daher …“

„Du willst bleiben? Hier in Sjöråhamn? Und den Laden deiner Tante übernehmen?“

„Nun, ich …“ Sein entsetzter Gesichtsausdruck irritierte sie. „Wäre das denn in deinen Augen so abwegig?“

Seine Miene verfinsterte sich. „Was bildest du dir eigentlich ein? Glaubst du wirklich, du kannst einfach zurückkommen, und alles ist vergeben und vergessen?“

Ohne ihr die Gelegenheit zu einer Entgegnung zu geben, wandte er sich ab und eilte mit steifen Schritten davon. Zornig schluckte Agneta die scharfe Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter und blickte ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Dann fluchte sie unterdrückt. Wie konnte er es wagen? Ausgerechnet er?

Seinetwegen hatte sie schon einmal alles zurückgelassen, was ihr lieb und teuer gewesen war. Doch dieses Mal nicht, nein! Sie würde ihre Wahl treffen, ohne sich von irgendjemandem beeinflussen zu lassen.

Und wenn dir meine Entscheidung nicht gefällt, Jonas Arvidsson, dann kannst du von mir aus dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst!

Goldenes Sonnenlicht sickerte durch die Jalousie vor Agnetas Fenster und ließ die Staubpartikel, die schwerelos in der Luft schwebten, auf fast schon magische Weise schimmern. Draußen auf dem Fensterbrett trällerte ein Schwarzspecht aus voller Kehle sein Lied. Der Wind fuhr raschelnd durch die Krone der alten Eiche hinter dem Haus, untermalt vom sanften Rauschen der Brandung. Ein Lächeln auf den Lippen, lauschte Agneta dieser wunderbaren Symphonie der Natur. In Stockholm hatte sie um diese Zeit allenfalls Verkehrslärm gehört, der mühelos bis in die achte Etage des Apartmentgebäudes hinaufdrang, wo sie gemeinsam mit Kristoffer lebte.

Gelebt hatte, korrigierte sie sich. Denn wenn sie eines mit Sicherheit sagen konnte, dann, dass dieser Abschnitt ihres Lebens vorbei war.

Ein für alle Mal.

Seufzend setzte sie sich in ihrem alten Bett auf und streckte sich. Sie fühlte sich wunderbar entspannt und ausgeruht, was ihr angesichts des Chaos, das über sie hereingebrochen war, sehr ungewöhnlich erschien. Nicht einmal die Begegnung mit Jonas am vergangenen Abend hatte ihren Schlaf stören können.

Na gut, ein- oder zweimal war er vielleicht in ihren Träumen aufgetaucht. Und womöglich hatte sie in ihrer Fantasie auch dem Drang nachgegeben, in seine starken Arme zu sinken und sich von ihm küssen zu lassen. Doch das waren nur Hirngespinste. Produkt ihrer völlig überreizten Nerven. In der Realität würde sie es natürlich niemals so weit kommen lassen.

Sie hatte ihre Erfahrung mit Jonas gemacht. Und sie verspürte kein gesteigertes Verlangen danach, sich noch einmal von ihm wehtun zu lassen. Einmal reichte ihr vollkommen. Außerdem musste sie jetzt erst einmal über die Sache mit Kristoffer hinwegkommen, obwohl sie, wenn sie ehrlich sein sollte, nicht das Gefühl hatte, dass es ihr sonderlich schwerfallen würde.

Sein Verrat hatte sie verletzt, ja. Sie war enttäuscht und wütend, aber der große Schmerz, der einem die Luft zum Atmen raubt und den Boden unter den Füßen fortreißt, blieb aus.

So war es damals gewesen, als Jonas ihr das Herz gebrochen hatte. Denn genau das hatte er getan. In bester Absicht, schon möglich – was es auch nicht leichter zu ertragen gemacht hatte.

Wieder rührten sich die Geister der Vergangenheit, doch Agneta hatte inzwischen reichlich Übung darin, sie zurückzuscheuchen. Sie stand auf, ging zum Fenster und öffnete die Jalousien. Die Aussicht, die sich ihr eröffnete, war einfach traumhaft. Die düsteren Wolken vom Vorabend hatten sich über Nacht aufgelöst, und die Sonne stand strahlend am makellos blauen Himmel. Das Fenster ging nach Nordosten hinaus, sodass Agneta sowohl das Meer als auch die Ortschaft sehen konnte.

Sjöråhamn befand sich in einer geschützten Bucht mit einem natürlichen Hafen, von dem aus die Fischerboote noch vor Sonnenaufgang ausliefen, um in den späten Nachmittagsstunden mit ihrem Fang zurückzukehren. Früher einmal war es ein reines Fischerdörfchen mit kaum mehr als einhundert Einwohnern gewesen, von denen die meisten über verschiedene Ecken miteinander verwandt gewesen waren. Doch mit der Eröffnung der Tortenfabrik vor den Toren der Stadt hatte der Ort ein sprunghaftes Wachstum erlebt. Seit Bestehen der Fabrik war das Dorf zu einer richtigen kleinen Ortschaft herangewachsen, mit einer eigenen Bank, einer Kirche, einem Wochenmarkt und einer eigenen Polizeistation, deren Beamte abgesehen von Falschparkdelikten jedoch kaum etwas zu tun hatten.

Ein jähes Gefühl von Zuneigung flammte in Agneta auf. Nicht zu einem einzelnen Menschen, sondern zu diesem Ort, an dem sie aufgewachsen war. Komisch, dass ihr erst jetzt nach über dreizehn Jahren – auffiel, wie sehr sie Sjöråhamn vermisst hatte.

Sie öffnete das Fenster und sog die klare, würzige Luft tief in ihre Lungen. Stockholm war eine wirklich schöne Stadt, mit einem riesigen kulturellen Angebot und unzähligen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Doch bei Agneta hatte sich in all den Jahren nie das Gefühl von Heimat eingestellt, das Sjöråhamn nun nach nicht einmal vierundzwanzig Stunden in ihr weckte.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, einfach so von hier fortzugehen. Aber sie hatte damals einfach keine andere Möglichkeit gesehen. Der Gedanke, Jonas jeden Tag zu sehen … Das wäre einfach über ihre Kräfte gegangen.

Und heute? fragte sie sich selbst. Kannst du dir jetzt vorstellen, dich dem auszusetzen?

Sie horchte in sich hinein und stellte fest, dass die Antwort zu ihrer eigenen Überraschung Ja lautete. Viel zu lange hatte sie ihr Leben von anderen Menschen bestimmen lassen. Nun war es an der Zeit, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nahm.

Sie hielt inne. Es verwunderte sie selbst, dass sie jetzt so oft an die Enttäuschung dachte, die Jonas ihr seinerzeit bereitet hatte. Das furchtbare Erlebnis mit Kristoffer, ihrem Ehemann, ging ihr hingegen nur noch ab und zu durch den Kopf. Dabei war es doch viel frischer. Wie das wohl kam?

Die Erkenntnis, dass ihre Vergangenheit mit Jonas sie wohl nie wirklich losgelassen hatte, traf Agneta wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Wie konnte es sein, dass sie sich nach mehr als dreizehn Jahren noch immer so stark zu ihm hingezogen fühlte wie am Tag ihrer ersten Begegnung? Und das, nachdem er sie damals so schlecht behandelt hatte! Im Gegensatz dazu war Kristoffer doch die meiste Zeit über freundlich und zuvorkommend zu ihr gewesen – jedenfalls, bis die Dinge angefangen hatten, sich so negativ zwischen ihnen zu entwickeln …

Aber war die Sache mit Kristoffer womöglich von Anfang an zum Scheitern verurteilt? fragte sie sich grübelnd. Weil ich nie wirklich über Jonas hinweggekommen bin?

Sie beschloss, dass es nichts brachte, jetzt weiter darüber nachzudenken. Ganz gleich, was in ihrer Ehe auch schiefgegangen sein mochte – nichts von all dem konnte eine Entschuldigung dafür sein, was ihr Ehemann ihr angetan hatte.

Um sich ein wenig abzulenken, beschloss sie, in den Ort zu gehen. Vom Klippanhus aus war es nur ein kurzer Fußmarsch bis nach Sjöråhamn. Agneta ging die Fiskaregatan entlang, die hinunter zum Hafen führte, und stellte fest, dass sich hier im Laufe der Jahre so gut wie nichts verändert hatte. Die Fassaden der Holzhäuser mit ihren Schindeldächern und Sprossenfenstern erstrahlten in den herrlichsten Eiscremefarben. Die Palette reichte von Pistaziengrün über Zitronengelb, hellem Mokkabraun bis hin zu leuchtendem Erdbeerrosa. Und natürlich durfte auch das klassische Falunrot, das so typisch war für Schweden wie das Blau-Gelb der Landesflagge, nicht fehlen.

In den Vorgärten blühten Pfingstrosen, Glockenblumen und Sonnenhut in üppiger Pracht, während hinter den Häusern frisch gewaschene Wäsche an langen Leinen im Wind flatterte. Fröhliches Kinderlachen und die Klänge eines leicht verstimmten Klaviers erfüllten die Luft. Möwen zogen am Himmel ihre Kreise und hielten nach den Fischerbooten Ausschau, bei deren Rückkehr in den Hafen auch immer ein paar Brocken für sie abfielen.

Lange hatte Agneta sich nicht mehr so entspannt und gelöst gefühlt. Es war, als wäre ein zentnerschweres Gewicht von ihren Schultern gefallen, dessen Existenz über die Jahre vollkommen in Vergessenheit geraten war.

„Agneta? Agneta Holmquvist, bist du das wirklich?“

Als sie ihren Namen hörte, blickte sie sich um. Im ersten Moment erkannte sie die etwas rundliche Frau nicht, an deren Rockzipfel zwei kleine Mädchen hingen. Erst auf den zweiten Blick wurde ihr klar, wen sie da vor sich hatte. „Ann-Kristin, bist du das etwa?“

Ein Strahlen ging über das Gesicht ihrer alten Schulfreundin. „Mensch, ist das aber eine Überraschung! Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Zehn Jahre? Elf?“

„Ich war zur Beerdigung meiner Mutter kurz in Sjöråhamn“, begann Agneta, verstummte jedoch, als die Erinnerungen an jenen traurigen Tag in ihr hochkamen.

Ann-Kristin schlug den Blick nieder. „Mein Gott, wie dumm von mir. Ich war damals gerade mit meinem Mattias auf Hochzeitsreise. Es tut mir so leid, dass ich nicht für dich da gewesen bin.“

Tröstend legte Agneta ihr eine Hand auf die Schulter. „Du konntest ja nicht wissen, dass es passieren würde. Ganz davon abgesehen bedauere ich es mindestens ebenso sehr, dass ich es nicht zu deiner Hochzeit geschafft habe.“ Sie schenkte den beiden Kindern, die sich schüchtern an Ann-Kristins Beine klammerten, ein Lächeln. „Und wer seid ihr kleinen Mäuse?“

Die Mädchen kicherten leise, antworteten aber nicht.

„Das sind meine Jüngsten, Alice und Alva. Ihr älterer Bruder Elias geht jetzt schon zur Schule“, erklärte Ann-Kristin lächelnd. Ihre blassblauen Augen leuchteten regelrecht, und eine leichte Röte überzog ihre Wangen.

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