Strandrosensommer

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Pfahlbauten, kilometerweiter weißer Sandstrand, blühende Strandrosen und das Rauschen vom Meer - fast hätte Inga vergessen, wie schön es in St. Peter-Ording ist. Nachdem ihr Freund sich zur Selbstfindung nach Indien aus dem Staub gemacht hat, ist Inga ebenfalls reif für eine Auszeit. Sie besucht Tante Ditte, die auf einem wunderschönen alten Pferdehof an der nordfriesischen Küste lebt. Doch Inga macht eine böse Überraschung, denn der Hof steht kurz vor der Pleite. Der einzige Ausweg scheint eine zündende Geschäftsidee oder ein mittelgroßes finanzielles Wunder zu sein. Inga krempelt die Ärmel hoch - und das Glück ist mit den Fleißigen …

"Herrliche Lektüre für den Strandkorb!" Neue Woche

"Ein locker leichter Sommerroman für Fans des Seebades St. Peter-Ording." Der Landbote

"Eine Geschichte über das Schicksal von zwei Frauen, inklusive Nordseeluft, die man förmlich riechen kann." Glückspost


  • Erscheinungstag 02.05.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768263
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch ist für Simone, weil wir 1997 zu Pfingsten spontan nach St. Peter-Ording gefahren sind und ich ohne diesen Trip wohl nie mein Herz an den schönsten Strand der Welt verloren hätte.

Prolog

Ditte

Ditte fuhr mit ihrem mintgrünen Hollandrad über den Steg zum Strand. Bei jedem Tritt in die Pedalen gab das in die Jahre gekommene Rad ächzende Laute von sich, die selbst der kräftige Gegenwind nicht übertönen konnte. Doch weder das Ächzen noch der kühle Wind von vorn störten Ditte. Sie hielt weiterhin stoisch Kurs auf ihr Ziel: die Badestelle Ording-Nord, die an der Spitze von St. Peter-Ording auf der Halbinsel Eiderstedt lag.

Es war noch früh an diesem diesigen Morgen im März gewesen, als sie in St. Peter Dorf aufgebrochen war. Nun lag der weite Strand von Ording vor ihr, abgesehen von ein paar Möwen, die durch den Sand spazierten oder sich kreischend und mit ausgebreiteten Flügeln vom Wind durch die böigen Lüfte tragen ließen, war niemand zu sehen. Zu dieser Jahreszeit verirrten sich außer Vögeln und Einheimischen nur wenige Touristen in das im Sommer beliebte Urlaubsziel an der nordfriesischen Küste. Die blau-weißen Strandkörbe befanden sich noch in ihrem Winterquartier, und auch das DLRG-Häuschen des Schwimmmeisters, der den Strandabschnitt sonst bewachte, war in der ungemütlichen Nebensaison nicht besetzt. Das war kaum verwunderlich, denn wer wollte sich schon an einem kalten Märztag wie diesem freiwillig in die Fluten der aufgewühlten Nordsee werfen? Niemand außer Ditte, die ganz ohne Schwitzstube und dampfende Tees auskam.

Für sie war das Bad im Meer von März bis November zu einem liebgewonnenen Ritual geworden. Ob zur Neben- oder Hauptsaison, das war ihr ziemlich schnuppe. Schließlich war Ditte mit ihren sechsundsechzig Jahren und als echtes Nordseekind abgehärtet und nicht zimperlich, was das raue Seeklima mit seinen unbequemen Launen betraf. Ihre Mutter hatte ihr damals das Schwimmen am nördlichen Strandabschnitt von St. Peter-Ording beigebracht. Ditte war noch keine sechs Jahre gewesen, als sie die ersten Schwimmzüge im flachen Wasser getan hatte.

Sie war an dem Pfahlbau der DLRG angekommen, lehnte ihr Rad an eine der hölzernen Stelzen und schaute zum aufgewühlten Meer hinüber, das in einiger Entfernung hin und her wogte. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich nur auf das Rauschen, das fast gänzlich vom pfeifenden Wind übertönt wurde. Sie lauschte angestrengt, und nach einer Weile konnte sie leise die brandenden Wellen vernehmen. Sie öffnete die Augen wieder, entledigte sich im zügigen Tempo ihrer Kleidungsstücke, die sie achtlos in den Fahrradkorb beförderte, der vor dem Lenker ihres Drahtesels befestigt war, bis sie nur noch mit einem schlichten dunkelblauen Badeanzug bekleidet war.

Ihre Schwimmeinteiler kaufte sie seit Jahren in derselben Größe, worauf sie heimlich ein kleines bisschen stolz war. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters hatte sie nach wie vor eine athletische Figur, die sie zum einen ihrem Schwimmtraining und zum anderen ihren täglichen Reiteinheiten zuschrieb. Wer rastet, der rostet, hatte schon ihre Mutter gepredigt und damit recht gehabt.

Eisiger Wind wehte vom Meer zum Strand herüber und wirbelte Sand auf. Ein salziger Geruch lag in der Luft. Ditte fröstelte. Kurz dachte sie daran, das Bad heute ausfallen zu lassen, doch dann sprintete sie los, Richtung Meer. Sie spürte den kalten Sand unter ihren Füßen und wie ihr Blut in Wallung kam. Ihr Blick war direkt auf die schäumende Brandung gerichtet, die gleichmäßig weißflockig an den Strand perlte, um sich dann wieder zurückzuziehen und das Schauspiel zu wiederholen.

Als Ditte die Uferzone erreicht hatte, waren ihre Wangen angenehm durchblutet, und die Gischt spritzte unter ihren Füßen an ihrem Körper empor. Sie rannte noch sechs Schritte weiter ins Meer und stürzte sich kopfüber in die eisigen Fluten. Angenehme Ruhe umfing sie sogleich, als wäre sie in eine andere Welt eingetaucht. Sie tauchte noch tiefer und schwamm drei kräftige Züge unter der Meeresoberfläche, dann brach ihr Kopf durch das Wasser, und sie schnappte nach Luft. Ditte schwamm weiter im Kraulstil auf die offene See hinaus. Durch kräftige Wellen, an denen Surfer große Freude gehabt hätten. Sie hatte keine Angst vor dem Meer, dafür kannte sie es zu gut. Außerdem: Was hatte sie schon zu verlieren? Nach einer Weile schwamm sie auf dem Rücken und blickte in den zugezogenen, grauen Himmel.

Ditte ließ sich mit dem Kopf voran wieder zurück zum Strand treiben, bis ihr Rücken den sandigen Untergrund berührte. Sie stand auf und lief zurück zum Pfahlbau der DLRG. Wasser tropfte ihr von den Haaren ins Gesicht. Sie leckte sich über die Lippen, die salzig schmeckten. Auf halbem Weg drehte sie sich um und blickte wieder zum Meer. Sie entdeckte ein Schiff am Horizont. Vermutlich ein Krabbenkutter. Die Fischer mussten bei Wind und Wetter raus aufs Meer. Das Gleiche galt für Seemänner. Das wusste sie nur zu gut. So war es auch bei ihrem Mann Matthias gewesen, wenn er von Hamburg aus mit einem Containerschiff auf große Fahrt gegangen war, die oft ein halbes Jahr gedauert hatte.

Gute drei Jahre waren vergangen, seitdem ein Orkan über der Nordsee gewütet und auch auf den Inseln und dem Festland eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hatte.

Es war eine Sturmflutnacht gewesen, mit Windstärke elf. Gleich nach dem verregneten Neujahrstag. Das Containerschiff, auf dem ihr Mann Matthias gearbeitet hatte, war in Seenot geraten. Fünfzehn Seemeilen westlich von Borkum riss plötzlich der Funkverkehr zum Schiff ab, und ein paar Minuten später war noch ein letztes, per Hilfsfunkgerät abgesetztes »Mayday, Mayday« zu hören. Danach herrschte Stille.

»Wir gehen davon aus, dass das Schiff von einer Grundsee erfasst worden ist«, hatte Bert Koch, der Einsatzleiter der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, ihr am nächsten Tag am Telefon erklärt.

Ditte hatte nach Luft geschnappt und war in den Sessel gesunken. Sie hatte gewusst, was das bedeutete. Eine Grundsee war so ziemlich das Schlimmste, was Seeleuten passieren konnte. Es war eine unvorhersehbare und vor allem unbeherrschbare Wasserlawine. Eine Urgewalt, eine Riesenwelle.

»Eine haushohe Wasserwand hat vermutlich das Schiff Ihres Mannes erfasst, ist über ihm zusammengestürzt und hat es durchgekentert. Die geladenen Container treiben in der Nordsee. Doch von der Besatzung fehlt im Moment noch jede Spur.«

Ihr Atem hatte sich beschleunigt, und in ihrem Hals hatte sich ein Kloß gebildet. »Was bedeutet das?«, hatte Ditte fast tonlos gefragt, obwohl sie die Antwort schon kannte. Sie hatte den Kunststoffhörer ihres alten grauen Telefons, das noch eine Drehscheibe hatte, fest an ihr Ohr gepresst, ihr schlug das Herz vor Aufregung bis zum Hals, und sie konnte das Rauschen ihres eigenen Blutes hören.

»Wir gehen zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass die Besatzung von der tobenden See mitgerissen wurde. Die Nordsee ist zurzeit sieben Grad kalt, was unsere Hoffnungen, die Mannschaft lebend zu finden, deutlich verringert. Wir werden natürlich weiterhin unser Bestes bei der Suche geben, doch wir müssen uns unter den Umständen auf das Schlimmste gefasst machen«, hatte Bert Koch mit einer Art einfühlsamen Sachlichkeit erklärt.

»Ich verstehe«, Dittes Antwort war so beherrscht wie möglich ausgefallen.

Rückblickend konnte sie nicht genau sagen, wie lange sie in dem Sessel gesessen und sich gefragt hatte, ob der Anruf gerade tatsächlich stattgefunden oder sie sich alles bloß eingebildet hatte. Zu unwirklich war ihr das Gespräch vorgekommen.

Zwei Tage war die Nordsee von Rettungsschiffen durchpflügt worden, in der Luft hatten Rettungshubschrauber gekreist, auf der Suche nach der vermissten Mannschaft des Containerschiffs. Vergebens. Bis auf weitere Container und das schwer beschädigte Schiff hatten sie nichts entdeckt. Die Besatzung war verschollen. Verschluckt von der Nordsee, zugedeckt vom Meer, als hätte es sie nie gegeben.

Der Krabbenkutter war nun fast am Horizont verschwunden. Erst jetzt merkte Ditte, dass sie vor Kälte bibberte. Sie rieb sich über die Arme, holte tief Luft und sagte mit zitternder Stimme: »Matthias. Warum hast du mich verlassen?«

Der Wind verschluckte ihre Worte und trug sie auf die See.

1. Kapitel

Inga

Inga blinzelte gegen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne an, die einen Bilderbuchtag im Frühling verhießen. Als die Ampel auf Grün sprang, bog sie mit ihrem klapprigen Kombi links ab und fuhr die am frühen Morgen noch leere Straße entlang. Die Brücke über dem Kanal verschwand fast gänzlich im Morgennebel. Es war erst kurz nach fünf Uhr. Noch lag Ruhe über den Straßen von Gelsenkirchen, was sich aber in den nächsten eineinhalb Stunden ändern würde, wenn der Berufsverkehr die Straßen verstopfte. Doch bis dahin hatte sie längst alles erledigt – so wie jeden Tag.

Inga fuhr auf den Hof einer Großbäckerei im Gewerbegebiet, auf dem bereits ein weißer Kombi parkte, an dessen Fahrertür ein mittelgroßer Mann mit Glatze lehnte und genüsslich eine Zigarette rauchte.

»Morjän, Engelschen! Du siehst aber schick aus heute«, begrüßte er sie gut gelaunt.

Inga parkte, stieg aus dem Wagen und ging zu dem Mann. »Morgen, Hasan! Ja, ich bekomme heute hohen Besuch, mein Vermieter kommt!«, entgegnete sie gut gelaunt, musste dabei aber gähnen.

»Na, ich glaube, du brauchst erst mal einen Kaffee«, sagte Hasan lachend und zwinkerte ihr fröhlich zu.

»Unbedingt. Aber: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«

Eigentlich war sie nie eine Frühaufsteherin gewesen, sondern jemand, der die Nächte zum Tag gemacht und am liebsten erst gegen Mittag vorsichtig die Augen geöffnet hatte, um sich dann noch mal auf die andere Seite zu rollen und eine weitere halbe Stunde vor sich hin zu dösen. Eine notorische Langschläferin, die ohne einen starken Kaffee gar nicht in die Gänge kam. Typ Eule eben, niemand, der auch nur im Entferntesten die Lerchen verstehen konnte, die sich schon um fünf Uhr früh die Joggingschuhe anzogen und bereits um sieben Uhr geduscht und gefrühstückt hatten und mit bester Laune ihrer Arbeit nachgingen.

Doch Ingas Leben hatte sich vor knapp zehn Jahren von einem Tag auf den nächsten schlagartig verändert, als ihre ehemalige Nachbarin aus gesundheitlichen Gründen ihr Café in der Gelsenkirchener Altstadt hatte aufgeben müssen und nach einem Nachfolger für den Laden gesucht hatte. Damals war Inga gerade Mitte zwanzig und voller Tatendrang gewesen und noch dazu gelangweilt von ihrer Assistenzstelle bei einem großen Energieversorgungskonzern in einer Nachbarstadt von Gelsenkirchen. Da kam ihr die Chance nach einer neuen beruflichen Herausforderung, bei der sie zum einen kreativ sein konnte und zum anderen ihr eigener Chef, gerade recht.

Inga dachte nicht lange nach, sondern ergriff die Möglichkeit beim Schopfe und übernahm das alteingesessene Café am Neumarkt von ihrer Nachbarin. Sie war noch nie der Typ gewesen, der lange über Entscheidungen gebrütet hatte, sie entschied immer aus dem Bauch heraus und machte zügig Nägel mit Köpfen. So wurde aus dem etwas angestaubten Oma-Café am Neumarkt das Café Die Insel.

Seit dem Tag der Eröffnung vor zehn Jahren klingelte ihr Wecker spätestens um halb fünf, und der erste Weg des Tages führte sie immer zur Großbäckerei am Kanal, um frische Brötchen, verschiedene Brotsorten, Croissants, Kuchen und Gebäck für ihre Gäste zu besorgen. Dort traf sie täglich auf Hasan. Mit dem Beginn ihrer Selbstständigkeit war aus ihr eine umerzogene Lerche geworden – notgedrungen –, denn die meisten ihrer Gäste wollten zwischen acht und zehn Uhr frühstücken und nicht erst dann, wenn der Eintopf bei den Leuten auf dem Herd köchelte oder der Braten im Ofen schmorte.

Nachdem Inga und Hasan ihre Einkäufe erledigt hatten, standen sie an einem der Stehtische und tranken den wohlverdienten ersten Kaffee des Tages.

»Und was will dein hoher Besuch heute?«, wollte Hasan wissen.

»Ach, nichts Weltbewegendes. Der Pachtvertrag für die Insel läuft aus, und wir müssen einen neuen aufsetzen«, erklärte Inga.

»Ist das denn schon alles in trockenen Tüchern? Vielleicht erhöht er ja die Miete«, meinte Hasan. »Da musst du vorsichtig sein.«

»Da wird sich schon nicht so groß was ändern. Ich bin optimistisch. Er hat keinen Grund, mit mir als Pächterin unzufrieden zu sein.«

Sie unterhielten sich noch über die gestiegenen Preise für Bio-Brote und das letzte Derby-Ergebnis zwischen Schalke und dem BVB, bevor sie sich verabschiedeten, um ihre Gäste zu bedienen – Inga in der Insel und Hasan in seinem kleinen Lebensmittelladen, in dem es alles gab.

Inga parkte ihren Kombi direkt vor dem Bistro in der Fußgängerzone und öffnete den Kofferraum. Sie hielt für einen Moment inne und stellte eine Kiste mit Einkäufen auf dem Boden ab. Ihr Blick blieb am Ladenschild hängen, das über dem Eingang des Bistros angebracht war. Auf ihm war ein rot-gelber Leuchtturm auf einer Düne zu sehen, und daneben prangte in großen Lettern der Name ihres Cafés: Die Insel. Neben dem Eingang lud ein blau-weißer Strandkorb zum Verweilen ein. Zum Laden führte eine kleine Holzrampe mit Geländer, die an einen Steg erinnerte. Ein Bistro im friesischen Stil, im Herzen vom Ruhrgebiet.

Ein Ort, an dem die Leute sich wie im Kurzurlaub fühlen und das Meer förmlich riechen sollen, obwohl es mehrere Hundert Kilometer entfernt ist. Das war Ingas Wunschvorstellung damals gewesen. Sie hatte an ihre Sommerferien als Kind bei ihrer Tante Ditte in St. Peter-Ording gedacht und an ein bestimmtes Café im Ortsteil Bad, in dem sie in ihrer Erinnerung den besten Kuchen der Welt gegessen hatte. So sollte ihre Insel auch werden.

Was sich zunächst wie eine Schnapsidee angehört hatte, war eingeschlagen wie eine Bombe. Am Tag der Eröffnung war das ehemalige Lokal nicht wiederzuerkennen gewesen. Aus dem Café, das den verstaubten Charme von Gelsenkirchener Barock verströmt hatte, in das sich nur hartgesottene Stammkunden verirrten, war ein wahrer Traum von einem Bistro im Nordsee-Stil geworden mit Möbeln aus hellem Holz und maritimen Accessoires.

Neben der Theke befand sich die sogenannte »Friesen-Ecke«, ein großes Regal, in dem sie Tees, verschiedene Teezucker, Teebonbons, Romane, die an der Nordsee spielten, Teetassen, Küstenfruchtaufstriche und kleine Nordseetaschen aus Filz ihren Kunden zum Kauf anbot. Inga liebte ihr Café, und bei dem Gedanken an ihre Gäste musste sie lächeln. Sie hatte keinen einzigen Tag der letzten Jahre bereut, ihre gut bezahlte Stelle bei dem Energieversorger aufgegeben zu haben.

Zugegeben, es war ein harter Job, ein Café zu führen, jeden Tag mit dem gleichen Elan für seine Gäste das Beste zu geben, kaum Freizeit zu haben, und reich wurde man in der Gastronomie auch nicht. Doch diese Arbeit gab ihr so viel, dass sie für kein Geld der Welt eine andere hätte haben wollen. Inga griff nach der Kiste mit frischen Brötchen und marschierte auf den Eingang des Bistros zu.

Um Punkt neun Uhr betrat ein untersetzter Mann in den frühen Fünfzigern, mit einer braunen Cordhose und einem blauen Hemd bekleidet, die Insel. Ihr Vermieter. Inga hatte ihn nicht gleich bemerkt. Ihre Freundin Konny, die seit fast neun Jahren regelmäßig die Frühstücksschicht übernahm, entdeckte den Mann zuerst. »Herr Seifert ist gerade reingekommen«, raunte sie Inga zu.

»Oh, alles klar, danke.« Inga drehte sich um und begrüßte ihren Vermieter. »Setzen Sie sich doch«, bot sie ihm einen Platz an einem Tisch am Fenster an. »Möchten Sie was trinken?«

Herr Seifert setzte sich. »Danke. Einen Kaffee bitte. Schwarz.«

»Bringt meine Kollegin Ihnen sofort. Ich hole derweil die Unterlagen.« Inga gab Konny ein Zeichen und verschwand in ihrem Büro.

Inga griff nach der Mappe mit den Unterlagen und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ihr Blick blieb an den dunklen Schatten unter ihren braunen Augen hängen. Inga schminkte sich notdürftig über, dann kämmte sie ihre schulterlangen blonden Haare und strich ihr blaues Shirt glatt, das mit weißen Ankern bedruckt war. Sie drehte sich prüfend vor dem Spiegel hin und her und betrachtete ihre schlanke Figur. So geht’s, stellte sie zufrieden fest. »Dann mal auf in den Kampf«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, wobei dieses Gespräch eigentlich nur reine Formsache sein würde und es schlimmstenfalls zu einer leichten Mieterhöhung für den Laden kommen konnte. Sie hatte in den letzten zehn Jahren immer pünktlich ihre Pacht bezahlt und auch sonst nie Probleme mit ihrem Vermieter gehabt. Und trotzdem war sie etwas nervös – warum auch immer. Sie atmete tief durch.

Herr Seifert las in einer der Zeitungen, die in der Insel für die Gäste auslagen.

»So, da bin ich wieder«, sagte Inga, setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber und legte den Pachtvertrag vor sich hin.

»Ah, gut.« Herr Seifert faltete die Zeitung zusammen und trank noch einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

»Tja, so schnell gehen zehn Jahre vorbei«, versuchte Inga, einen Gesprächseinstieg zu finden. Sie faltete ihre Hände über dem Pachtvertrag und schaute ihren Vermieter erwartungsvoll an.

»So schnell, ja«, sagte Herr Seifert und kratzte sich umständlich am Kopf.

Erst jetzt fiel Inga auf, dass ihr Vermieter keine Tasche oder irgendwelche Dokumente dabeihatte, die sie als neuen Mietvertrag hätte identifizieren können. Noch nicht einmal einen Kugelschreiber hatte er dabei. »Ich habe mal den alten Mietvertrag mitgebracht. Vielleicht können wir den ja einfach formlos verlängern«, schlug sie deswegen vor. »Sie scheinen ja den neuen Vertrag noch nicht dabeizuhaben?«

»Da haben Sie recht. Ich habe keinen neuen Pachtvertrag mitgebracht. Und ich muss Ihnen leider sagen, dass es auch keine Verlängerung des alten Vertrags geben wird«, ließ er die Bombe platzen.

»Wie bitte? Keine Verlängerung?«, fragte Inga verwirrt.

»Ja, stimmt. Der Vertrag wird nicht verlängert. Es gibt nämlich bereits einen neuen Pächter für das Ladenlokal.«

Inga runzelte die Stirn. »Entschuldigung, aber das verstehe ich nicht ganz. Ich bin doch Ihre Pächterin.«

Er zuckte bloß mit den Schultern. »Ich habe letzten Monat ein Angebot von einer Mobilfunkfirma für meinen Laden bekommen. Mit unschlagbaren Konditionen und einer Miete, die Sie mir nie zahlen könnten. Wir sind uns ziemlich schnell einig geworden. Das konnte ich unmöglich ablehnen. Wir müssen ja alle sehen, wo wir bleiben, nicht wahr?«, erklärte Herr Seifert. »Es tut mir leid, aber Sie müssen sich für Ihr Café neue Räume suchen. In Gelsenkirchen steht ja genug leer, da werden Sie bestimmt bald was Passendes finden.«

Inga war sprachlos. Sie sollte mit der Insel einfach woandershin?

»Der Vertrag läuft ja bis Ende nächsten Monats, da können Sie in Ruhe das Lokal räumen. Die Renovierung übernimmt übrigens der neue Pächter. Da haben Sie Glück, das fällt dann für Sie weg«, verkündete Herr Seifert gut gelaunt.

»Ja.« Inga nickte benommen und blieb, nachdem sich Herr Seifert von ihr verabschiedet und das Café verlassen hatte, wie betäubt auf dem Stuhl sitzen und schaute mit leerem Blick an die Wand, an der Fotos und Postkarten ihrer Gäste klebten, die sie ihr von ihren Nordseeurlauben geschickt hatten.

Konny setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. »Und hat alles geklappt?«, erkundigte sie sich arglos.

»Was?«, fragte Inga und schrak zusammen.

Konny schüttelte den Kopf. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Nein, der Pachtvertrag wird nicht verlängert«, sagte Inga mit heiserer Stimme und kaute auf ihrer Unterlippe.

»Bitte?«, fragte nun auch Konny mit weit aufgerissenen Augen. »Das kann doch nicht sein!«

Inga stiegen Tränen in die Augen. »Bis Ende nächsten Monats muss die Insel hier raus sein. Er hat einen neuen Vertrag mit einem Handy-Shop geschlossen.« Sie griff nach einer Serviette, die auf dem Tisch lag, und tupfte sich die Stirn ab.

»Ich kann das gar nicht glauben«, sagte Konny entsetzt.

»Er meinte, dass in Gelsenkirchen viele Ladenlokale leer stehen würden und ich bestimmt schnell was Neues finde.« Inga schüttelte fassungslos den Kopf. »Als ob das so leicht wäre. So eine Lage wie diese kriege ich doch nie wieder für die Insel, und dann noch zu dem Preis. Wie stellt er sich das denn vor? Am Neumarkt ist kein einziger Laden frei.«

»Was willst du denn jetzt machen?«

Inga zuckte mit den Achseln. »Der Laden trägt sich. Ich kann davon leben und auch dich beschäftigen, aber mehr ist nicht drin. Die Einrichtung und Renovierung eines neuen Ladenlokals kann ich mir nicht leisten. Dazu bräuchte ich finanzielle Reserven. Aber die habe ich nicht.«

Die beiden Frauen blieben noch einen Moment wortlos am Tisch sitzen. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach und konnte es nicht glauben, dass sich ihr Leben vom einen auf den anderen Moment so dramatisch verändert hatte.

2. Kapitel

Ditte

Ein leichter Wind strich über die Salzwiesen und wiegte den Strandhafer raschelnd hin und her, als Ditte am frühen Nachmittag auf ihrem Friesenpferd Henk Richtung St. Peter Dorf ritt. Sie kam von einem Ausritt am Strand. Nun ging es in gemächlichem Schritttempo über den Seedeich, vorbei an mit Kiefernwäldern bewachsenen Dünen und Sträuchern, in dem schon die ersten Strandrosen blühten. Immer weiter, Richtung Böhler Leuchtturm, dem über hundert Jahre alten Leuchtfeuer von St. Peter-Ording. Dabei genoss sie jedes Mal aufs Neue die einmalige Aussicht über die mit Prielen durchfurchten Salzwiesen, die sich bis hin zum riesigen Sandstrand erstreckten, auf dem die gestelzten Wahrzeichen, die Pfahlbauten von St. Peter-Ording, standen. Schaute man genau hin, konnte man am Horizont bis nach Büsum blicken und bei klarer Sicht nachts sogar das Licht des Helgoländer Leuchtturms erkennen.

Das Fell des Friesen dampfte noch immer von dem strammen Ausritt, als sie mit Henk links auf den Dünenweg einbog, der geradewegs zum Wilhelmshof führte. Den Pferdehof hatte Ditte nach dem Tod ihrer Schwiegereltern hauptsächlich allein bewirtschaftet, weil ihr Mann Matthias die meiste Zeit auf See verbracht und höchstens vier Monate im Jahr das Leben einer Landratte geführt hatte.

Ditte ritt über den Hof, und die Geräusche von Henks eisenbeschlagenen Hufen hallten von den Stallgebäuden mit den grünen Schiebetüren wider. Der Wilhelmshof lag zwischen den Ortsteilen St. Peter Dorf und Böhl und bestand aus fünf Gebäuden: zwei großen Ställe, die in L-Form gebaut und in denen insgesamt rund dreißig Friesenpferde untergebracht waren, einer Scheune sowie zwei weißen reetgedeckten Friesenhäusern mit dunklen Sprossenfenstern, die etwas versetzt voneinander standen. Das vordere war das ehemalige Gutshaus, in dem früher die Besitzer des Hofes gelebt hatten und das Ditte nun allein bewohnte, seitdem ihr Mann Matthias auf See verschollen war. Das nach hinten versetzte Haus stand den Gästen des Wilhelmshofs als Urlaubsunterkunft zur Verfügung. Zu ebener Erde lag der Speiseraum mit Aussicht in den Garten. In der oberen Etage befanden sich Doppel- und Mehrbettzimmer mit Dusche und WC. Außerhalb der Ferien kamen die Schüler vom ortsansässigen Nordsee-Internat zu Reitstunden auf den Hof, und ein paar Jugendliche stellten ihre Pferde bei Ditte unter.

Ein kräftiger Mann mit dunkelblauer Mütze, unter der rote Haare hervorblitzten, trat aus den Stallungen. Er schob eine Schubkarre voller Pferdemist vor sich her, auf den er eine Mistgabel gelegt hatte. »Moin, Ditte«, grüßte er, als er sie sah, und setzte die Karre ab.

»Moin, Hauke«, erwiderte sie seinen Gruß und saß vom Pferd ab.

Hauke übernahm die Zügel des Friesen. »Na, du dampfst ja, als kämst du gerade aus der finnischen Sauna«, stellte Hauke fest und klopfte Henk den nassen Hals. Er war seit seiner Lehre auf dem Hof vor über fünfundzwanzig Jahren für den Stall und dessen Bewohner zuständig. Er kannte jeden Winkel und jedes Mauseloch im Mauerwerk der Stallungen. Hauke gehörte im Grunde zum Inventar, und Ditte konnte sich den Wilhelmshof nicht mehr ohne den Pferdepfleger vorstellen.

»Du meinst wohl eher aus der friesischen Sauna.« Ditte lachte und zog sich die blauen Reithandschuhe aus. »Wir sind im gestreckten Galopp fast über den Strand geflogen.«

Hauke nickte. »Dann wollen wir dich mal ordentlich mit Stroh abreiben«, sagte er und führte das Pferd auf das Stallgebäude zu. Mitten im Gang blieb er stehen und wandte sich um. »Ach, bevor ich es vergesse, Lilo hat vorhin auf dem Stalltelefon angerufen, ich soll dir ausrichten, dass es bei ihr eine halbe Stunde später wird.«

»Das trifft sich gut. Dann kann ich noch in Ruhe duschen gehen und muss mich nicht abhetzen. Danke!« Ditte winkte Hauke noch mal zu und ging ins Haus.

»Verflixt, jetzt habe ich gekleckert!«, ärgerte sich Lilo Ampütte und stellte schwungvoll die Tasse zurück auf den Untersetzer, wobei ihre langen Perlenketten, die sehr dekorativ zu ihrer farbenfrohen Tunika aussahen, klimperten.

»Aber das macht doch nichts«, versuchte Ditte sie zu beschwichtigen.

Lilo griff nach einer Serviette und wischte den Fleck weg.

»Wie geht es dir denn eigentlich? Und wie läuft es mit dem Hof? Bist du die Saison ausgebucht? Unsere Strandperle ist bis Mitte September komplett dicht. Da passt kein einziger Wohnwagen mehr dazwischen. Stell dir mal vor, ich musste gestern sogar einer Stamm-Kegeltruppe aus dem Münsterland absagen und sie auf die Nebensaison vertrösten.« Sie schüttelte den Kopf und brachte dabei wieder ihre Ketten zum Klimpern.

»Ich hätte noch Platz für einen Kegelclub«, meinte Ditte nachdenklich. »Aber freut mich zu hören, dass die Strandperle so gut läuft«, fügte sie etwas lauter an Lilo gewandt hinzu.

»Seitdem Insa und Stephanie mich auf dem Campingplatz unterstützen, brummt der Laden wie nix. Die zwei haben wirklich ein gutes Händchen für die Urlauber.«

»Gute Mitarbeiter sind das A und O und mit Geld nicht zu bezahlen. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne Hauke machen würde. Der kennt sich doch besser im Stall aus als ich. Oder ohne Babette. Ohne sie würden mir die Ferienkinder doch glatt auf der Nase herumtanzen.«

Lilo nahm sich mit einem Löffel einen weiteren Schlag Sahne aus der Glasschale. »Kommt sie denn wieder für die Ferienzeit als Betreuerin zu dir?«

»Das hat sie fest zugesagt. Und auf Babette ist stets Verlass.«

»Seit wie vielen Jahren macht sie das eigentlich schon?«, fragte Lilo nun.

»Lass mich mal kurz überlegen.« Ditte kniff die Augen zusammen. »Das müssten jetzt ungefähr fünf Jahre sein. Seit sie mit ihrem Studium angefangen hat. Und davor ist sie ja schon als Kind beziehungsweise als Jugendliche immer mit ihrer älteren Schwester als Feriengast auf dem Hof gewesen. Sie kennt den Wilhelmshof wie ihre Westentasche. Damals war das alles noch unkomplizierter, da gab es noch keine Eltern, die eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung für ihre Kinder wollten. Da reichte es, wenn ich da war und eine Reitlehrerin. Ja, ja, damals, die guten alten Zeiten … Oh, Moment mal …« Im Innern des Hauses klingelte das Telefon. Ditte beeilte sich, um rechtzeitig zu dem alten Fernsprechgerät zu kommen.

Ich muss mich bei Gelegenheit unbedingt mal um ein zeitgemäßes Telefon kümmern, dachte sie. Oder sich gar mit dem Thema Internet auseinandersetzen. Bisher war sie gut ohne dieses neumodische Zeug ausgekommen, doch die schwindenden Zahlen der Feriengäste gaben ihr zu denken. Hatte doch jede kleine Zimmervermietung mittlerweile eine E-Mail-Adresse oder eine eigene Homepage. Die Gäste gingen einfach wie selbstverständlich davon aus, dass jeder Vermieter nicht nur im Gastgeberverzeichnis zu finden war, sondern auch über eine eigene Internetpräsenz verfügte. Das Modernste, was es jedoch auf dem Pferdehof gab, war ein Faxgerät, das ihr Mann Mitte der Neunziger angeschleppt hatte, damit ihre Gäste auch Buchungsanfragen schicken konnten. »Wilhelm?«, meldete sich Ditte.

»Guten Tag, Frau Wilhelm. Hier ist Babette«, erklang die Stimme der jungen Frau am anderen Ende der Leitung, die Ditte trotz der vielen Jahre, die sie sich bereits kannten, immer noch siezte.

»Ach, wie schön, dass du anrufst. Ich habe gerade noch von dir gesprochen und erzählt, dass du bald wieder kommst«, sagte Ditte erfreut.

»Ja, also, deswegen rufe ich auch an«, sagte Babette etwas verhalten. »Es tut mir schrecklich leid, aber ich muss für diesen Sommer absagen«, platzte es aus ihr heraus.

»Ach?« Ditte stützte sich unwillkürlich an dem kleinen Tischchen ab, auf dem das Telefon seinen Platz hatte.

»Ja, ich kann ein Praktikum in einer Tierklinik machen, das mir für das Studium angerechnet wird«, erklärte Babette zerknirscht.

Ditte schluckte und ließ sich in den Ohrensessel sinken. Sie brauchte einen Augenblick, um diese Nachricht zu verdauen. »Natürlich, das verstehe ich«, sagte sie dann zu Babette und bemühte sich, nicht zu geschockt zu klingen.

»Da bin ich aber froh«, sagte die junge Frau erleichtert. »Sie finden bestimmt eine andere Betreuerin für die Ferienkinder. Ich wäre wirklich sonst sehr gerne gekommen.«

»Das weiß ich doch, Babette! Mach dir keine Sorgen! Natürlich werde ich jemanden finden. In der Hauptsaison kommen ja immer viele Leute zu uns nach St. Peter-Ording, um hier arbeiten zu können«, antwortete Ditte betont zuversichtlich, auch wenn sie das gar nicht war.

Nachdem Ditte sich von Babette verabschiedet hatte, blieb sie noch einen Moment im Sessel sitzen. Wo sollte sie für nächsten Monat so schnell jemanden für die Kinderbetreuung finden? Es stimmte zwar, dass in den Sommermonaten viele Saisonarbeitskräfte im Ort waren, etwas kurzfristig war es jetzt aber schon.

Als Ditte wieder zu Lilo auf die Terrasse zurückkehrte, hatte die derweil ein weiteres Stück Kuchen auf ihren Teller befördert. »Gut, dass du mich nicht jeden Tag zum Kaffee einlädst, dann würde mir bald keine Hose mehr passen«, verkündete Lilo gut gelaunt. »Oder nur die mit Gummizug.«

Ditte setzte sich wieder auf ihren Platz. »Iss nur, ich freue mich, dass es dir schmeckt.«

»Was ist denn los? Schlechte Nachrichten? Du siehst ein bisschen blass aus.«

Ditte seufzte. »Ach, frag lieber nicht … Babette hat für diesen Sommer abgesagt.«

»Du meine Güte.«

»Du sagst es«, stimmte Ditte zu.

»Und gerade haben wir noch über sie gesprochen.« Lilo machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, sieh das mal nicht so schwarz. Es wird sich was anderes ergeben«, meinte sie positiv gestimmt. »Ich höre mich für dich um. Wäre doch gelacht, wenn sich niemand finden würde, der nicht die schönste Zeit des Jahres auf dem Wilhelmshof verbringen möchte.«

Lilos Optimismus war ansteckend. Da musste sogar Ditte lächeln. »Dein Wort in Gottes Ohr.«

Ditte war dankbar, dass Lilo da war. Sie war doch ein wahrer Wirbelwind. Strotzte vor Tatendrang trotz ihrer mittlerweile achtundsechzig Jahre und hatte sich auch durch eine lästige Arthritis nicht ins Bockshorn jagen lassen. Vielleicht war das auch genau ihr Geheimrezept. Ihre positive Energie und dass sie nur das tat, was sie wirklich wollte und wovon sie überzeugt war. Ohne Lilo hätte Ditte damals nicht gewusst, wie sie die ersten Monate nach Matthias’ Verschwinden hätte überstehen sollen. Da war es Lilo gewesen, die ihr neuen Lebensmut und auch die Kraft gegeben hatte, um weiterzumachen. Und auch jetzt, nach Babettes Absage, wird es weitergehen, dachte Ditte. Zwar anders, aber irgendwie.

3. Kapitel

Inga

Die letzten Wochen hatte sie wie eine Schlafwandlerin durchlebt. Seitdem sie wusste, dass die Tage der Insel gezählt waren, hatte sich eine Art unsichtbarer Schutzwall um sie aufgebaut, der das Leben nur noch wie durch Watte an sie heranließ. Selbst als ihr Freund Oliver ihr die nächste Hiobsbotschaft überbrachte, dass das Start-up-Unternehmen, für das er seit zwei Jahren als Controller arbeitete, insolvent war und er damit arbeitslos, drang diese Nachricht nicht wirklich zu ihr durch. Sie verstand zwar, was er ihr sagte, und auch, welche finanziellen Konsequenzen diese Entwicklung hatte, doch es berührte sie emotional nicht. Natürlich tat ihr Oliver leid, keine Frage. Doch Inga war wie betäubt durch ihre eigene Misere. Die sich unaufhaltsam nähernde Geschäftsaufgabe ihres Bistros hatte all den Platz in ihr eingenommen, der ihr zur Verfügung stand. Da passten einfach keine weiteren Probleme rein. Auch nicht, wenn sie sich bemühte.

Seitdem sie das Schild mit »Wir schließen zum 31. Mai« an die Eingangstür der Insel gehängt hatte, hatte sie gefühlt tausendmal die Geschichte erzählen müssen, wie es überhaupt zu dem plötzlichen Ende gekommen war.

»Gibt es denn gar keine Möglichkeit, das Café weiterzuführen?«, wurde sie ständig von ihren Kunden gefragt.

Doch sie wusste nicht, wie. Und dann war der 31. Mai gekommen. Schneller als befürchtet, es war ein schwarzer Tag für Inga. Sie konnte nicht glauben, dass die Insel nun bald nur noch in ihrer Erinnerung existieren würde.

»Ich könnte deine Hilfe beim Ausräumen des Ladens wirklich gut gebrauchen. Du hast doch Zeit.« Sie stand in der Tür des Schlafzimmers, ihr Blick glitt zum Radiowecker. Es war schon nach acht Uhr. Sie sah wieder ihren Freund an, der mit dem Laptop immer noch im Bett lag und wie hypnotisiert auf den Bildschirm des Gerätes starrte. »Und eine sinnvollere Beschäftigung, als den ganzen Tag im Internet abzuhängen, wäre es auch«, fügte sie hinzu, als er nicht reagierte.

»Hm«, brummte er nur teilnahmslos und tippte auf der Tastatur herum.

Inga stemmte die Hände in die Hüften. Er nimmt mich überhaupt nicht ernst, dachte sie verärgert. »Oliver, so geht das nicht«, setzte sie erneut an.

»Was ist denn? Ich bin beschäftigt«, entgegnete er im gereizten Tonfall.

Doch bevor sie antworten konnte, klingelte ihr Handy, das in der Küche lag. Sie wandte sich um und ging zur Küche. Als sie die Festnetznummer auf dem Display ihres Mobiltelefons sah, verflog ihr Ärger. »Hallo? Tante Ditte?« Inga setzt sich an den Küchentisch.

»Ingalein, das ist ja schön, mal wieder deine Stimme zu hören«, erklang Dittes Stimme. »Meine Güte, das muss ja eine halbe Ewigkeit her sein, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Ich hoffe, ich störe nicht?«

»Nein, nein, du störst gar nicht. Wie geht es dir denn, und was machen die Pferde?«

»Och, mir geht es gut, und die Friesen können auch nicht klagen«, sagte Ditte. »Ich habe gerade mit deiner Mutter telefoniert, und sie meinte, du musst dein Café aufgeben?«

»Ja, das stimmt leider. Heute muss ich die letzten Sachen aus dem Laden räumen.« Inga seufzte und erzählte dann ihrer Tante die ganze Geschichte.

»Du lieber Gott! Das tut mir sehr leid für dich«, sagte Ditte, nachdem Inga mit ihrem Bericht geendet hatte. »Und was willst du jetzt machen? Ich meine, hast du schon eine neue Arbeit in Aussicht? Ach was sage ich da? Du brauchst vermutlich erst einmal Urlaub, um dich von den Ereignissen zu erholen.«

»Schön wär’s! Für Urlaub fehlt mir leider das nötige Kleingeld. Ich brauche dringend einen neuen Job.«

»Hm«, machte Ditte, und man konnte durchs Telefon förmlich hören, dass sie nachdachte.

»Tante Ditte? Bist du noch da?«

»Ja, ja, ich bin noch dran. Ich habe nur gerade etwas überlegt … vielleicht hätte ich da was für dich.«

Autor

Tanja Janz

Tanja Janz wollte schon als Kind Bücher schreiben und malte ihre ersten Geschichten auf ein Blatt Papier. Heute ist sie Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen im Ruhrgebiet. Neben der Schreiberei und der Liebe zum heimischen Fußballverein schwärmt sie für St. Peter-Ording, den einzigartigen Ort an der...

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