Tatsächlich Weihnachten

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Vier Menschen, vier Schicksale, ein berührendes Weihnachtswunder:Catherine graut es vor den Festtagen. Ihr Leben in London ist unerträglich. Die Ehe liegt in Scherben.Noel verliert ausgerechnet vor den Feiertagen seinen Job und damit jeglichen Lebensmut.Marianne versucht sich im idyllischen Örtchen Hope Christmas auf Weihnachten zu freuen, doch alles um sie herum erinnert sie an ihre verlorene Liebe.Gabriel ist verzweifelt, seine Frau ist auf und davon. Doch seinem Sohn will er ein glückliches Fest bereiten.Nur das Eingreifen eines rettenden Engels kann diesen vier beweisen, dass zu Weihnachten Wunder wahr werden können.


  • Erscheinungstag 01.11.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783956494994
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia Williams

Tatsächlich Weihnachten

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Sonja Sajlo-Lucich

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Last Christmas

Copyright © Julia Williams

erschienen bei: Avon Books, New York

Published by arrangement with

HarperCollins Publishers, New York

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Christiane Branscheid

Titelabbildung: Shutterstock

Autorenfoto: © Robert Brady

ISBN eBook 978-3-95649-499-4

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Prolog

Marianne lehnte sich in die bequemen Polster von Lukes brandneuem BMW M5 zurück. Hier im Wagenfond war alles in Leder gehalten, jeder Zentimeter der pure Luxus. Was die Innenausstattung betraf, so fand sich hier nur das Neueste vom Neuen an technischen Spielereien und Design. Luke strotzte nur so vor Selbstbewusstsein, während er den Wagen souverän mit einer Hand am Lenkrad steuerte. Marianne warf ihm einen Seitenblick zu und stieß einen glücklichen Seufzer aus.

„Was ist?“ Lachend schaute er zu ihr hinüber.

„Kneif mich mal“, erwiderte sie. „Ich kann noch immer nicht fassen, dass das alles wirklich wahr sein soll.“

„Vielleicht bist du einfach nur ein wenig begriffsstutzig?“ Luke grinste breit und drückte das Gaspedal durch.

Es war nicht das erste Mal, dass Marianne das Gefühl hatte, zu träumen, seit sie und Luke ein Paar waren. Von Anfang an hatten sein Charme und sein Aussehen sie ins Schwärmen gebracht, auch wenn sie fest davon überzeugt gewesen war, dass er sie nicht einmal wahrnahm. Um genau zu sein, Luke war so weit von dem Typ Mann entfernt, auf den sie bisher immer geflogen war, dass sie die Intensität ihrer Gefühle selbst überrascht hatte. Aber die Kombination aus seinen haselnussbraunen Augen und dem hellen Haar, das er immer aus dem Gesicht zurückgekämmt hatte und dadurch seine klassischen männlichen Züge noch mehr zur Geltung brachte, hatte etwas Hypnotisierendes.

Unter normalen Umständen wäre Marianne jemandem wie Luke nicht einmal begegnet. Aber dank ihren beiden reichen Freundinnen Carly und Lisa, die trotz Wirtschaftskrise noch immer geradezu unanständig viel Geld in Londons Bankenviertel verdienten, war sie in den Winterferien in den Genuss eines Skiurlaubs gekommen, den sie sich von ihrem Lehrergehalt niemals hätte leisten können. Carly war nämlich in letzter Minute abgesprungen und hatte ihre Reservierung großzügigerweise Marianne überlassen. Und so hatte Marianne eine berauschende Woche auf den Hügeln und Pisten eines fantastischen Skiresorts verbracht. Niemals hätte sie sich träumen lassen, einmal so etwas zu erleben.

Sie hatte Luke gleich am ersten Tag getroffen. Unsicher und nervös, war sie vor den Augen der versammelten Gruppe geübter Skifahrer prompt flach auf den Rücken gefallen. Nicht, dass die allgemeine Erheiterung hämisch gewesen wäre, das nicht, aber Marianne fühlte sich so oder so schon komplett fehl am Platz unter all diesen Reichen und Schönen. Sie befand sich weit außerhalb ihrer eigenen Welt, und alle hier wussten es. Und mit diesem Sturz hatte sie sich als das ungelenke hässliche Entlein bewiesen, für das die anderen sie hier bestimmt alle hielten.

Luke hatte als Einziger nicht gelacht. Stattdessen hatte er ihr mit seinen starken Armen zurück auf die Füße geholfen und angeboten, ihr das Skifahren beizubringen. Die gesamte Woche hatte er sie mit Umsicht und Verständnis behandelt, ja, mit eindeutiger Zuneigung und Zärtlichkeit – und vor allem mit offenbar nie versiegender Geduld angesichts ihres augenscheinlichen Mangels an Talent, auf Skiern eine gute Figur zu machen. Marianne war ihm für seine liebevolle Art unendlich dankbar gewesen. Dass er so unglaublich attraktiv war und noch dazu offensichtliches Interesse an ihr zeigte, war natürlich auch eine große Hilfe gewesen. Bei ihm fühlte sie sich wie der anmutige schöne Schwan, obwohl sie wusste, dass sich das hässliche Entchen da irgendwo unter dem dicken Skianzug versteckte. Aber mit Luke zusammen zu sein war eine magische, berauschende, weltbewegende und lebensverändernde Erfahrung.

Seither hatte Marianne das Gefühl, nur noch auf Wolken zu wandeln. Luke führte sie in eine Welt, die ihr völlig fremd war. Er nahm sie mit nach Henley zur Regatta, zum Finale nach Wimbledon, zum Grand Prix nach Silverstone. An den Wochenenden fuhr er mit ihr hinaus aufs Land, wo sie in schicken Luxushotels wohnten und Marianne sich jedes Mal wie ein Filmstar fühlte. Jeder einzelne Tag mit Luke war ein Abenteuer, aber heute hatte er sich selbst übertroffen.

Gestern Abend hatte er angerufen. „Hast du Lust, das Wochenende bei meinen Eltern auf dem Land zu verbringen?“, hatte er ohne Einleitung vorgeschlagen, und Mariannes Herz hatte einen erwartungsvollen Hüpfer getan. Luke fiel immer von einem Extrem ins andere. Hungersnot oder Festbankett – entweder er musste das ganze Wochenende arbeiten und sie sahen sich überhaupt nicht, oder aber er riss sie spontan mit ins nächste Abenteuer. Es war wirklich wunderbar. Trotzdem hätte Marianne sich manchmal einfach eine etwas ausgeglichenere Beziehung gewünscht.

Und diese Einladung fürs Wochenende … bedeutete das nun, dass er sie endlich seiner Familie vorstellen wollte? Ihre Eltern hatte er bereits zweimal getroffen. Beide Male war Marianne vor Nervosität halb umgekommen. Aber Luke war so charmant wie immer gewesen und hatte sich begeistert von ihrem eher kleinstädtischen Elternhaus gezeigt. Und natürlich hatte er ihre Eltern komplett für sich eingenommen. Marianne hatte ihre Mum mehrfach erst im letzten Moment davon abhalten können, ihn offen heraus zu fragen, ab wann sie ihn denn nun offiziell zur Familie zählen dürfe.

Marianne hatte immer auf eine Gegeneinladung gewartet – bisher jedoch vergeblich. Luke schien es zu genießen, bei ihrer Familie ein und aus zu gehen, aber wenn es um seine eigene ging, wich er aus. Marianne wusste, dass er vermögend war und dass er im Familienunternehmen arbeitete, das Landerschließungen und Projektentwicklungen übernahm. „Wir bauen Ökostädte“, so nannte er es. Aber ansonsten hielt er sich mit Informationen eher zurück. Vielleicht hätte sie schon viel eher viel mehr nachgefragt, wenn sie nicht so hingerissen von ihm wäre. Außerdem würde er es ihr schon erzählen, wenn er es für angebracht hielt, hatte sie entschieden. Sie wollte nicht neugierig erscheinen.

Und so fuhren sie also jetzt über die gewundene Landstraße dahin, während die warme Sonne bereits lange Schatten warf. Auf den Feldern stand das erntereife Getreide mannshoch, die sanfte Sommerbrise wiegte die schweren Ähren, Kühe grasten auf den Weiden und Vögel zwitscherten in den Hecken entlang der Straße. Genau so hatte Marianne sich die ländliche Idylle immer vorgestellt, davon hatte sie geträumt. Als Kind war sie regelrecht besessen von den Abenteuergeschichten gewesen, die Kinder auf dem Land erlebten. Die Bücher über die Fünf Freunde sowie andere wie Swallows and Amazons und Lone Pine Club hatte sie regelrecht verschlungen. Das Leben auf dem Land war ihr so viel aufregender erschienen als das in der Vorstadt im Norden Londons. Ihre Lieblingsserien im Fernsehen waren Die Waltons und Unsere kleine Farm gewesen, und die hatten ihre Überzeugung noch bestärkt, dass ein gemütliches Haus auf dem Land, ein Mann, der sie anbetete, viele pausbackige Kinder und natürlich diverse Haustiere zu ihrem perfekten Bild von der Zukunft dazugehörten. In dem winzigen Garten hinter dem Haus ihrer Eltern hatte es keinen Platz für Haustiere gegeben, und so war Marianne schon früh fest entschlossen gewesen, dass sie sich als Erwachsene selbst dafür entschädigen würde.

Sie war in einer grauen Londoner Straße aufgewachsen und hatte immer das Gefühl gehabt, die Stadt würde ihr die Luft abschnüren und sie einengen. Wirklich wohl fühlte sie sich nur, wenn sie lange Spaziergänge im Grünen machen konnte. Dann atmete sie tief die frische Luft ein und genoss das Gefühl, den Elementen ausgesetzt zu sein. Sie hegte schon lange den Traum, irgendwo zu leben, wo es aussah wie hier.

„Es ist wunderschön“, sagte sie jetzt. „Es muss großartig sein, hier zu Hause zu sein.“

„Vermutlich ist es ganz okay“, tat Luke ab. „Aber ehrlich gesagt bin ich es leid, als Landei zu gelten.“

„Wirklich?“ Marianne würde nie verstehen, warum jemand, der all das hier hatte, jemals mit dem Gedanken spielte, es hinter sich zu lassen und wegzugehen.

„Wir sind gleich da.“ Sobald Luke einen langsam tuckernden Traktor überholt hatte, trat er das Gaspedal durch und brauste mit atemberaubendem Tempo über die Landstraße. Der Wind spielte mit Mariannes Haar, die Sonne schien ihr warm auf die Schultern … das Leben war einfach großartig!

Und dann, ganz plötzlich, als sie um eine Kurve bogen, lag das beeindruckende Tudor-Haus direkt vor ihnen. Ein zweiflügliger Bau in schwarz-weißem Fachwerk, geschmückt mit Zinnen, Türmchen und Giebeln, umgeben von großen gepflegten Rasenflächen, auf denen tatsächlich Pfaue – Pfaue! – majestätisch einherschritten.

Marianne stand der Mund offen. Jetzt bekam sie es also endlich zu Gesicht: Hopesay Manor – seit Generationen Stammsitz der Familie Nicholas und möglicherweise ihr zukünftiges Heim. „Das ist dein Elternhaus?“, entfuhr es ihr ungläubig.

Luke warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Hatte ich das nicht erwähnt?“

„Nicht so direkt.“ Natürlich hatte sie sich vorgestellt, dass Luke in einem großen Haus lebte. Aber sie hatte da eher an eine Villa mit Swimmingpool und Tennisplatz gedacht, so eine Art Rockstar-Villa. Aber das hier … das war ja praktisch ein Schloss. „Groß“ reichte als Beschreibung nur ungenügend.

„Nun, genau genommen bin ich nicht hier aufgewachsen. Die Bude meiner Eltern liegt näher bei Hope Christmas. Hopesay gehört meinem Großvater, der nur selten hier ist. Verrückter alter Kauz. Er muss unbedingt noch immer um die Welt reisen, obwohl er eigentlich viel zu alt dafür ist. Ich denke, mehr als ein, zwei Tage im Jahr verbringt er nicht hier. Falls überhaupt.“

Luke sagte das mit solch ungewohnter Vehemenz, dass Marianne stutzte.

„Verstehst du dich nicht gut mit deinem Großvater?“

Luke lächelte. „Oh, der Alte ist eigentlich ganz in Ordnung. Nur ein bisschen wirr. Hat keine Ahnung, wie die Welt heute funktioniert. Besteht darauf, dass wir Verantwortung und Pflichten gegenüber ‚unserem Volk‘ haben, wie er es nennt. Er glaubt noch immer, wir würden in einer Art Feudalzeitalter leben, wo jeder sich die Kappe vom Kopf reißt, wenn der Gutsherr in Sicht ist. Er akzeptiert einfach nicht, dass die Welt sich weitergedreht hat.“

„Wie steht er denn dann zu euren Ökostädten?“

„Er weiß gar nichts davon“, gestand Luke. „Ich bin der Einzige in der Familie, der sich fürs Geschäft interessiert. Mum und Dad halten lieber ihre Bridgeabende ab, denen ist ihr Gin Tonic wichtiger. Sie sind ähnlich verbohrt. Was heißt, dass ich die Geschäfte in Großvaters Abwesenheit leite. Wenn es ihm nicht passt, wie ich die Firma führe, dann sollte er eben öfter zu den Vorstandssitzungen erscheinen.“

Er lenkte den Wagen auf die kreisförmig angelegte Kiesauffahrt vor dem Haus und stellte den Motor ab. Sie stiegen aus und gingen das letzte Stück bis zum Eingang zu Fuß. Die massive Eichenholztür war fast vier Meter hoch und wirkte sehr beeindruckend. Auf dem Steinbogen darüber konnte Marianne eine Inschrift ausmachen, irgendetwas über Glück und dass man Gott dafür danken müsse.

„Was steht denn da oben?“ Sie kniff die Augen zusammen, bemühte sich, die Worte zu entziffern.

„Nichts Wichtiges.“ Luke winkte ab, griff nach dem Messingtürklopfer und hämmerte damit laut an die Tür. Auch dieser Ring war äußerst ungewöhnlich. Marianne meinte einen Mann – war es denn tatsächlich ein Mann? – in einer langen Robe zu erkennen, der eine Schlange mit den Füßen zertrat. Zu gern hätte sie gefragt ob er eine Bedeutung hatte, aber bei Lukes so offensichtlichem Desinteresse an allem, was mit dem Haus zusammenhing, schwieg sie lieber. Ungeduldig betätigte Luke den schweren Messingring ein zweites Mal. Schließlich zog ein alter, leicht verstaubt aussehender Bediensteter die Tür auf.

„Ah, Mr Luke, Sir“, grüßte er. „Es ist lange her.“

„Hallo, Humphrey“, grüßte Luke zurück und übernahm die Vorstellung. „Das ist Marianne, eine Bekannte von mir.“ Warum sagt er nicht Freundin, dachte Marianne, und ein Stich der Enttäuschung durchzuckte sie. „Ich wollte ihr nur schnell den alten Kasten hier zeigen, bevor wir zur Familie rüberfahren.“

Humphrey nickte und verschwand irgendwo in den Tiefen des Hauses, während Marianne in der großen Empfangshalle stand und sich mit großen Augen umsah. Im Vergleich zu der Doppelhaushälfte am Londoner Stadtrand, die sie ihr Zuhause nannte, war das hier riesig. Die Halle war mit dunklem Eichenholz vertäfelt, entlang der breiten Treppe, die nach oben auf eine beeindruckende Galerie führte, hingen Gemälde von Menschen in altertümlichen Gewändern. Jeder Schritt, den sie auf dem weißgrauen Marmorboden tat, hallte wie ein Echo an den Wänden wider. In diesem großen leeren Raum kam sie sich vor wie auf dem Präsentierteller. Ihr Magen zog sich zusammen. Das hier war so gänzlich anders als das, womit sie aufgewachsen war. Wie sollte sie je hier hineinpassen? Und es war auch nur eine Frage der Zeit, bis es Luke ebenfalls auffallen würde, jetzt, wo er sie in diesem Umfeld sah, in dem er zu Hause war.

„Du lieber Himmel, wie dunkel es hier drinnen ist.“ Luke ging zu den Fenstern und stieß die Läden auf, um die letzten Strahlen der untergehenden Sonne einzulassen. Motten flatterten erschreckt auf und tanzten im Licht. In ehrfürchtigem Schweigen saugte Marianne das Bild in sich auf.

„Nun, was sagst du?“, fragte Luke.

„Absolut fantastisch“, murmelte sie.

Er zog sie an sich, und ihr Puls begann zu rasen, als er einen gierigen Kuss auf ihre Lippen presste. Prompt meldete sich das inzwischen vertraute Flattern in ihrem Magen. Nie hatte sie einen Mann so stark begehrt wie Luke. Es erschreckte sie, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Was, wenn er nicht das Gleiche für sie fühlte?

„Im Hauptschlafzimmer steht ein Himmelbett“, meinte er vielsagend.

„Doch nicht hier“, protestierte sie. „Wir können doch nicht …“

„Außer uns ist hier niemand. Wer also sollte es erfahren?“

„Nun, äh … der Butler?“ War sie tatsächlich mit einem Mann zusammen, der einen Butler hatte? Das Ganze kam ihr so surreal vor. Jede Minute würde sie aufwachen.

„Er wird schweigen wie ein Grab. Außerdem ist er stocktaub, du kannst also so viel Lärm machen, wie du willst.“

Sein Grinsen war unwiderstehlich. Sie kicherte, als er sie an der Hand die Treppe hinaufzog und ihr auf dem Weg nach oben in gelangweiltem Ton seine diversen Ahnen vorstellte.

„Der erste Ralph Nicholas, der zusammen mit Richard dem Ersten ins Heilige Land zog. Dann Gabriel Nicholas, der die Herrschaft Edward des Sechsten nur überlebte, weil er sich in einer Geheimkammer verkroch, und das hier ist Ralph der Zweite, der Charles dem Zweiten in der Schlacht von Worcester das Leben rettete … und so weiter und so weiter …“

„Wie kannst du das so herablassend abtun?“, rügte Marianne. „Ich meine, der historische Höhepunkt in meiner Familie ist das eine Mal, dass Großtante Maud in Windsor Park in der Nähe von George dem Sechsten stand. Ich entstamme einer noblen Linie von Arbeitern und Angestellten. Das hier … das ist einfach unglaublich. Ich wäre begeistert, eine solche Ahnenreihe vorweisen zu können.“

„Wärst du bestimmt nicht, wenn du meine Familie kennen würdest.“ Luke schnitt eine Grimasse. „‚Mit der Macht kommt auch die Verantwortung. Manieren machen Leute. Es ist unsere Verpflichtung, uns zu kümmern.‘ Wir haben sogar ein lateinisches Familienmotto: Servimus liberi liberi quia diligimus. Was so viel heißt wie: ‚Wir dienen aus freien Stücken, da wir aus freien Stücken lieben.‘ Wenn dir das von Geburt an eingetrichtert wird, kann das ziemlich erdrückend wirken.“

„Oh“, entfuhr es Marianne, als sie auf der Galerie ankamen und Luke auch hier die Fensterläden aufstieß. Damit gab er den Blick frei auf eine gepflegte Parkanlage mit Springbrunnen und Blumenbeeten. Weiter hinten war ein Rehgehege zu erkennen. „Das ist überwältigend. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen.“

„Ich schätze mich glücklich, dass ich dir begegnet bin“, erwiderte er, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Deshalb war sie mit ihm zusammen. Er betrachtete sie mit diesem Blick, als sei sie die einzige Frau auf der Welt für ihn. Er schaffte es, dass sie sich wie etwas ganz Besonderes fühlte. All ihre Zweifel und Unsicherheiten schwanden, als Luke ihre Hand nahm und vor ihr auf ein Knie niederging. „Eigentlich hatte ich das jetzt noch nicht vor, aber du siehst hier so unglaublich sexy aus, dass ich nicht länger warten kann.“

Oh mein Gott, dachte Marianne nur, er wird doch jetzt wohl nicht etwa …?

„Moment, ich habe noch etwas vergessen …“ Er richtete sich wieder auf, rannte zu einem gefalteten Stapel Vorhänge, die in einer Ecke zum Aufhängen bereitgelegt worden waren, löste einen der Ringe ab und kam wieder zurückgerannt, um erneut auf ein Knie niederzugehen. „Nun, wo war ich stehen geblieben?“

Marianne rührte sich nicht, reglos stand sie da, während Luke ihre Hand küsste und dann den Vorhangring auf ihren Ringfinger steckte. „Marianne Moore, willst du meine Frau werden?“

„Ja“, wisperte sie, ohne auch nur eine Sekunde nachdenken zu müssen. Das hier war alles, was sie sich ihr ganzes Leben gewünscht hatte. Zusammen mit einem Mann, den sie liebte, in einem so wunderbaren Haus wie diesem hier zu leben. „Ja, ich will.“ Und dann küsste er sie auch schon, und gemeinsam rannten sie lachend und jubelnd durch das Haus.

Erst als eine Tür laut zuschlug, brachte das sie beide wieder zur Vernunft.

„Was war das?“, fragte Marianne erschrocken.

Von unten in der Halle ertönte das hektische Gebimmel einer Glocke, und beide beugten sich über das Geländer, um hinunterzusehen.

Ein elegant gekleideter, drahtiger älterer Herr stand mit erzürnter Miene in der Halle.

„Großvater?“ Luke schien gleichzeitig verblüfft und entsetzt.

„Luke, mein Junge, bist du das?“, sagte der Mann. „Sieht so aus, als wäre ich gerade noch rechtzeitig gekommen.“

ERSTER TEIL

LAST CHRISTMAS
I GAVE YOU MY HEART

EIN JAHR ZUVOR
22. DEZEMBER

Sainsbury’s platzte aus allen Nähten. Catherine kam sich so oder so schon vor wie eine Heuchlerin, weil sie überhaupt hier war, und ihre Laune sank rapide, als sie die wilden Horden erblickte, die sich durch den Supermarkt kämpften. Die Leute griffen nach den Sachen in den Regalen, als stünde der Weltuntergang bevor, als wäre das hier ihre letzte Chance, um noch Proviant zu ergattern. Am liebsten hätte sie jeden Einzelnen angefahren, der mit seinem Einkaufswagen, bis zum Rand gefüllt mit ganzen Schinken und Truthähnen, mit Mince Pie und Brandy-Butter und natürlich Sekt- und Spirituosenflaschen, an ihr vorbeiratterte. Es war ja nicht so, als würde die nächste Hungersnot ausbrechen, oder? Aber dann riss sie sich zusammen. Schließlich war sie auch hier, oder etwa nicht?

Aber nur, um die absolut nötigsten Dinge zu besorgen, die sie noch vergessen hatte, so wie Brandy-Butter und Christmas Pudding. Ihre Mutter hatte beides selbst zubereiten wollen, doch sie hatte es vergessen. Eigentlich war das völlig untypisch für sie. Aber deshalb sah Catherine sich jetzt gezwungen, sich auf den letzten Drücker ins Getümmel zu stürzen und unter diese Horden von Menschen zu mischen, deren mürrische Mienen genau das ausdrückten, was sie fühlte. Sie fragte sich schon, ob sie aufgeben und sich doch noch selbst an den Herd stellen sollte. Schließlich war es doch das, was diese verdammte „Glückliche Hausfrau“ allen wärmstens ans Herz legte, nicht wahr?

Nein, Cat, führte sie das Selbstgespräch weiter. Es gab noch genug zu tun: Geschenke einpacken, Truthahn auftauen, Gemüse putzen und alles im Haus für die Gäste vorbereiten – wozu eigentlich, wenn es doch genauso schnell wieder unordentlich werden würde, sobald sie alle zur Tür hereinkamen? Da blieb wirklich keine Zeit, auch noch einen Christmas Pudding zusammenzurühren. Nicht einmal den aus dem Kochbuch von Marguerite Patten, für den man angeblich nur einen Tag brauchte. Happy Homes und die „Glückliche Hausfrau“ konnten ihr allesamt gestohlen bleiben!

„Das klingt mir doch ausgesprochen vernünftig.“ Ein kleiner alter Mann in einem schicken Mantel, bestimmt schon Mitte siebzig, einen Korb am Arm, lüftete seinen Hut, als er an ihr vorbeiging.

„Entschuldigung?“ Verdattert starrte Cat den Mann an. Sie musste wohl wieder leise vor sich hin gewettert haben. Das war eine schlechte Angewohnheit von ihr, wenn sie in großen Supermärkten einkaufen ging.

„Ich dachte mir nur, dass Sie vollkommen recht haben und sich eine Pause gönnen sollten“, meinte der Mann. „Beim Weihnachtsfest geht es nicht nur um Perfektion, wissen Sie.“

„Oh, aber natürlich muss es perfekt sein“, widersprach Catherine. „Und dieses Weihnachten wird das perfekteste von allen.“

„Nun, das kann ich Ihnen nur wünschen“, sagte der Mann. „Ein glückliches und friedvolles Weihnachtsfest, genau das wünsche ich Ihnen.“ Und damit war er auch schon verschwunden, untergetaucht in der Menge. Catherine blieb zurück und fragte sich verwundert, wie, um alles in der Welt, ein Fremder so viel über sie wissen konnte. Sehr seltsam.

Mit einem tiefen Atemzug schob Catherine ihren Einkaufswagen weiter durch die Gänge. Schnulzige Weihnachtsmusik erklang aus unsichtbaren Lautsprechern, die die Kunden wohl in die richtige Stimmung bringen sollte. Aber da bestand keine Chance. Seit Monaten schon fühlte sie sich kein bisschen weihnachtlich. Lasst mich bloß alle in Ruhe damit, hätte sie am liebsten laut gerufen, als eine besonders kitschige Version von Have Yourself a Merry Little Christmas durch die stickige Luft schwebte. Seht euch doch nur die Leute hier an. Wirkt da auch nur einer von denen fröhlich?

Mit jedem Jahr schien Weihnachten früher anzufangen, und jetzt, da sie Kinder in drei verschiedenen Schulen hatte, war sie praktisch verpflichtet, alle möglichen Weihnachtsveranstaltungen zu besuchen (irgendwann würde sie Noel dazu bringen, ebenfalls zu erscheinen, und wenn sie ihn an den Haaren mitschleifen musste). Da war zum Beispiel die wirklich süße, aber komplett chaotische Verwandlung ihrer Vierjährigen in einen Esel, dann das völlig unverständliche Krippenspiel ihrer Sieben- und ihrer Neunjährigen, deren Lehrer es tatsächlich geschafft hatten, Diwali, Eid-al-Fitr und Chanukka mit in die Weihnachtsgeschichte zu packen (sicherlich eine stolze Leistung, das musste man ihnen wohl zugestehen), und dann noch das minimalistisch-moderne Weihnachtskonzert der weiterführenden Schule, in der ihre Elfjährige diesen Sommer angefangen hatte. Einer der Gründe, weshalb Catherine eine große Familie hatte haben wollen, war der, dass sie sich immer ein turbulentfröhliches Weihnachtsfest gewünscht hatte. Etwas, das sie als Einzelkind nie kennenlernen durfte. Sie hatte sich immer ausgemalt, wie viel Spaß es machen würde, die Weihnachtsfeiern ihrer Kinder in der Schule mitzuerleben. Dass es einmal zu einer nur mühsam zu bewältigenden Pflicht werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Niemand hatte sie gewarnt, wie viel Arbeit es war, ein Fest für sechs Personen vorzubereiten, von den Mitläufern, die am Weihnachtstag unbeirrbar wie Brieftauben den Weg zurück in den heimischen Schlag fanden, ganz zu schweigen.

„Nicht vergessen, nächstes Jahr vor Weihnachten auswandern“, murmelte sie in der Mince-Pie-Abteilung vor sich hin. Nicht zu fassen! Früher einmal waren die Leute in einen Laden gegangen und hatten Mince Pie gekauft (oder noch wahrscheinlicher, sie hatten ihn selbst gemacht), heute jedoch hatte Sainsbury’s eine ganze Abteilung voller Mince Pie. Da konnte man wählen zwischen Mince Pie de Luxe, Mince Pie mit Wein-brand, Mince Pie mit Kirschen, Mince Pie ohne Fett, Mince Pie glutenfrei, Mince Pie laktosefrei … Herrgott, wahrscheinlich Mince Pie frei von allem! Die Welt war völlig verrückt geworden.

„So sehe ich das auch.“ Die Frau, die neben ihr suchend die vollen Regale studierte, ließ ein zustimmendes leises Lachen hören. Dann musterte sie Catherine plötzlich genauer. Oh nein, nicht auch das noch …

„Sind Sie etwa …?“

„Ja.“ Catherine seufzte. „Ich fürchte, das bin ich.“

„Oh, ich bin ein Riesenfan von Ihnen“, begeisterte sich die Frau. „Ich sammle alle Ihre Rezepte. Ich weiß nicht, was ich ohne Ihre Zitronenrolle anfangen würde.“

„Vielen Dank.“ Mit schlechtem Gewissen hoffte Catherine, der Frau würde nicht auffallen, was alles in ihrem Einkaufswagen lag, denn dann wäre ihr Ruf als glühende Verfechterin hausgemachter Speisen und selbst hergestellter Nahrungsmittel wohl für immer dahin. „Ich würde ja gern weiterplaudern, wirklich, aber ich bin in schrecklicher Eile. Ich habe noch so viel zu erledigen, muss noch bei so vielen Leuten vorbeischauen … Das verstehen Sie doch sicher, nicht wahr? Ein frohes Weihnachtsfest wünsche ich Ihnen.“

Catherine fühlte sich miserabel, dass sie so hastig die Flucht ergriff. Die arme Frau … sie schien nett gewesen zu sein, und es war feige von ihr, so hektisch den Rückzug anzutreten. Aber konnte sie nicht einmal fünf Minuten in Ruhe gelassen werden, um der Mensch zu sein, der sie war, und nicht diese grässliche Person, die mehr und mehr ihr Leben zu übernehmen schien? Sie stellte sich in eine der endlos langen Schlangen an der Kasse, die sich offensichtlich in der Zeit aufgebaut hatten, während sie durch den Laden gelaufen war, als ihr Blick auf die letzte Ausgabe von Happy Homes fiel. Auf der Titelseite war sie selbst zu sehen, wie sie im Santa-Kostüm einschließlich Nikolausmütze mit Bommel strahlend in die Kamera lächelte (oh Gott, warum nur hatte sie sich bereit erklärt, sich in diesem Aufzug fotografieren zu lassen?), und in der Mitte prangte in großen Buchstaben der Titel „Tipps für das perfekte Weihnachtsfest von der ‚Glücklichen Hausfrau‘“.

Jeden Moment würde jemand in der Schlange die Verbindung zwischen der „Glücklichen Hausfrau“ und der abgehetzten Frau ziehen, die hier anstand. Und dann würden alle wissen, dass sie nichts als eine Betrügerin war. Catherine bezweifelte, dass sie das überleben würde. Abwägend sah sie zu den Selbstbedienungskassen hinüber. Aber da waren die Schlangen genauso lang, und dort ging es sogar noch schlimmer zu. Die Leute tobten und wüteten, weil die völlig überlasteten Scanner inkorrekte Kassenzettel ausspuckten oder die Preise falsch addierten.

Catherine sah prüfend in ihren Einkaufswagen. Eine halbe Stunde war sie im Sainsbury’s herumgelaufen, und alles, was im Wagen lag, waren zwei Schachteln Mince Pie, eine Tüte Zucker, ein Christmas Pudding … und noch immer keine Brandy-Butter. Wenn das in diesem Schneckentempo weiterging, würde sie in einer halben Stunde noch immer hier anstehen, bevor sie überhaupt bei der Kasse ankam. Es war also mehr als genügend Zeit, damit jeder Kunde hier im Sainsbury’s ihr Alter Ego erkennen konnte.

Verstohlen blickte Catherine sich um, dann schob sie den Einkaufswagen unauffällig in den nächsten Gang. Es war das gleiche Gefühl wie damals mit vierzehn, wenn sie sich hinter den Fahrradschuppen geschlichen hatte, um eine Zigarette zu rauchen, als sie den Wagen einfach stehen ließ und sich umdrehte. Dieses Jahr würden sie eben ohne Brandy-Butter auskommen müssen. Und Christmas Pudding aß sowieso keiner von ihnen gern.

Als sie aus dem Supermarkt floh, plärrte immer noch Have Yourself a Merry Little Christmas aus den Lautsprechern.

Pah, alles Humbug, dachte sie.

Gabriel saß im Salon, den Kopf in die Hände gestützt. Das Feuer im Kamin war schon lange ausgebrannt, und während der Winterabend Einzug hielt, sammelten sich die Schatten in den Ecken und Nischen des eigentlich gemütlichen Raumes. Er sollte neues Feuer machen, den Raum aufwärmen, bevor er Stephen abholte. Nie zuvor war die Atmosphäre in seinem Zuhause so kalt und leer gewesen.

Stephen.

Großer Gott, was sollte er ihm nur sagen? Glücklicherweise war Stephen den ganzen Nachmittag bei der Probe für das alljährliche Krippenspiel gewesen. So hatte er den letzten hässlichen Streit zwischen seinen Eltern nicht miterleben müssen. Seit sieben Jahren schon versuchte Gabriel, Stephen vor der Wahrheit über seine Mutter zu beschützen, aber heute wäre ihm das wohl nicht gelungen.

„Du verstehst es einfach nicht. Hast es nie verstanden“, hatte Eve gesagt, ihre Augen schimmernd voller ungeweinter Tränen, der Ausdruck in ihnen hart und leer, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Und ja, sie hatte recht, er verstand es nicht. Wie sollte er auch verstehen, was sie jeden Tag durchmachte? Die Qual, zu wissen, dass sie mit der Welt und deren Realität nicht mehr zurechtkommen konnte?

Es war ihre Zerbrechlichkeit, die ihn überhaupt erst zu ihr hingezogen hatte. Eve war Gabriel immer vorgekommen wie ein kleiner verletzter Vogel. Vom ersten Augenblick an, als er sie getroffen hatte, hatte er sie beschützen und sich um sie kümmern wollen. Aber er hatte Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass er sie nicht vor sich selbst beschützen konnte. Oder sie von den erschreckenden Orten zurückzuholen, zu denen ihr Geist immer wieder wanderte.

„Bitte, lass es zu“, hatte Gabriel gefleht. „Wenn du mich immer ausschließt … wie soll ich dir dann helfen können?“

Eve hatte in diesem Haus gestanden, das sie immer gehasst hatte, mit ihren gepackten Koffern – sie wäre schon längst weg gewesen, ohne jeden Abschiedsgruß, wenn er nicht zufällig noch einmal hineingekommen wäre, um ihr Bescheid zu sagen, dass er Stephen nach der Probe bei seinen Cousins absetzen würde, weil sie zusammen deren Weihnachtsbaum schmücken wollten –, und hatte ihn ausdruckslos angesehen.

„Du kannst mir nicht helfen“, hatte sie schlicht gesagt, war zu ihm gekommen und hatte ihre Hand leicht an seine Wange gelegt. „Das hast du nie akzeptiert, nicht wahr? All das hier“, mit einer ausholenden Handbewegung hatte sie ihr ganzes Zuhause eingeschlossen, „und du … und Stephen. Das ist mir nicht genug. Und ich kann nicht länger vorgeben, als wäre es das. Es tut mir leid.“

In diesem Moment hatten Tränen in seinen Augen gebrannt. Dabei wusste er, dass sie recht hatte. Aber er wünschte sich, es wäre nicht so, wünschte, sie würde sich irren. Er wollte sich nicht der Wahrheit stellen. Doch es gab keine Entschuldigungen, keine Ausflüchte mehr. Er würde nie in der Lage sein, Eve zu geben, was sie brauchte. Sie war Welten von ihm entfernt. War es immer gewesen.

„Und was soll ich Stephen sagen?“

Der Laut, den sie von sich gab, klang wie ein ersticktes Schluchzen. „Du bist ein guter Mann, Gabe. Viel zu gut für mich. Du hast Besseres verdient.“

Sie hatte einen leichten Kuss auf seine Wange gedrückt und war aus dem Haus zu dem wartenden Taxi geflohen, während Gabe wie erstarrt stehen geblieben war. Er hatte immer gewusst, dass dieser Moment kommen würde, von Anfang an, sobald er sie unter seine Fittiche genommen hatte. Sie war ein wilder Vogel, er hatte geahnt, dass sie irgendwann wieder in die Freiheit davonfliegen und ihn verlassen würde. Aber nicht so. Nicht jetzt. Nicht so kurz vor Weihnachten.

Gabriel hatte die Zeit vergessen, während er hier in diesem Zimmer in der sich auf ihn herabsenkenden Dunkelheit saß. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es kälter geworden war. So kalt würde es von nun an immer sein, ohne Eve. Er fragte sich, wie es weitergehen sollte. Ob er sie jemals wiedersehen würde. Und wie, zum Teufel, sollte er das seinem Sohn erklären?

Noel Tinsall stand an der Theke in dem abgeschmackten Nachtclub, den die Firma in diesem Jahr für die Weihnachtsfeier gebucht hatte, und nippte an seinem Bier. Paul McCartneys Stimme drang aus den Lautsprechern, der Mann sang etwas über die „Wonderful Christmas Time“, die er verbrachte. Na, wenigstens einer hat fröhliche Weihnachten, dachte Noel. Er fragte sich, wann der richtige Zeitpunkt wäre, sich endlich aus dem Staub zu machen. Wohl kaum, bevor Gerry Cowley, der CEO, seine höchst peinliche Show auf der Tanzfläche abgezogen hatte, wobei er dann sämtliche Sekretärinnen unmissverständlich angrinsen würde. Es war erst acht Uhr, die Party hatte nicht einmal richtig angefangen, und schon jetzt konnte Noel sehen, dass einige der jüngeren Mitarbeiter mehr Alkohol getrunken hatten, als gut für sie war. Es würde ihn nicht wundern, wenn in den nächsten Tagen ein paar wirklich üble Fotos im Internet die Runde machen würden. Was hatten Firmenweihnachtsfeiern an sich, dass die Leute sich auf ihnen so idiotisch benahmen? Bacchantische Exzesse waren ja schön und gut, wenn man am nächsten Morgen nicht seinen Dämonen an der Kaffeemaschine in der Büroküche begegnen musste.

„Hey, Noel, mein Hübscher, warum kommst du nicht auf die Tanzfläche und tanzt mit mir?“

Julie, seine Sekretärin. Oder nein, nicht mehr seine Sekretärin. Nicht, seit dieser bornierte Emporkömmling Matt Duncan befördert worden war. Jetzt musste er seine Sekretärin teilen. Noch ein subtiles Zeichen, dass sein Stern in der Firma im Sinken begriffen war. Früher einmal hatte er dort den Takt angegeben, jetzt tanzten sie alle nach Matts Pfeife. Vermutlich war es an der Zeit, sich nach einem neuen Job umzusehen.

Noel tanzte nicht gerne, aber genauso ungern war er unhöflich, und so war vorauszusehen, dass es nicht lange dauern konnte, bevor er sich mitten auf der Tanzfläche wiederfand, umrundet von zuckenden, schwitzenden Körpern und unfähig, sich des Gefühls zu erwehren, dass sie alle heimlich über ihn lachten.

„Du weißt, dass du verboten sexy bist, oder?“ Julie schob sich im Rhythmus der Musik auf ihn zu und griff sich seine Krawatte. „So viel attraktiver als dieser Vollidiot von Matt.“

Oh nein! Nein, nein, nein. Sie hatten immer eine professionelle Beziehung zueinander gehabt, aber jetzt … Julie war eindeutig mehr als nur beschwipst. Und sie baggerte ihn an. Es war auch nicht so, als wäre sie unattraktiv, eher das genaue Gegenteil. Für einen Moment war Noel tatsächlich versucht. Würde Cat es je erfahren, und falls sie es erfuhr, würde es ihr überhaupt etwas ausmachen, wenn er ihr untreu war? Manchmal bezweifelte er das. Julie war hübsch, unkompliziert und verfügbar. Es wäre so einfach …

Was, um alles in der Welt, dachte er da überhaupt? Noel schüttelte den Kopf. Höchste Zeit, von hier zu verschwinden.

„Sorry, Julie, aber ich muss nach Hause“, brachte er hervor. „Catherine braucht mich. Die Kinder … du weißt ja, wie das ist.“ Catherine würde es wahrscheinlich egal sein, ob er zu Hause war oder nicht, so viel Aufmerksamkeit, wie sie ihm dieser Tage zukommen ließ. Aber das brauchte Julie ja nicht zu wissen.

Er duckte sich unter ihrem alkoholgetränkten Kuss hinweg und verließ den Club, trat hinaus in die kalte Londoner Dezemberluft und atmete erst einmal tief durch. Es war noch so früh am Abend, dass schon das dritte Taxi, dem er winkte, tatsächlich an den Straßenrand kam und stehen blieb. Gleich darauf war er auf dem Weg nach Clapton, in der beruhigenden Gewissheit, dass er sich trotz ein paar Gläsern Alkohol nicht zum Trottel gemacht hatte.

Das Taxi hielt vor seinem Haus an, einer beeindruckenden edwardianischen Doppelhaushälfte in einer im Sommer reich belaubten Allee. Die weihnachtlichen Lichterketten, die er mit den Kindern gestern Abend noch um das Haus herum angebracht hatte, blinkten hektisch. Da hatte wohl wieder jemand die Einstellung geändert. Beschwingten Schrittes eilte er die Außentreppe empor, öffnete die Tür … und stand mitten im Chaos.

„Ich hasse dich!“ Melanie, seine Älteste, stürmte tränenüberströmt an ihm vorbei und die Treppe hinauf, gefolgt von James, seinem Sohn, der ihr nachrief: „Ich hasse dich auch! Und wie!“

„In diesem Haus hasst niemand irgendjemanden“, ließ Noel sich streng vernehmen und wurde natürlich komplett ignoriert. Gleich darauf erschütterte das donnernde Schlagen von Zimmertüren das Haus.

„Ich will aber nicht ins Bett! Nein, ich gehe nichts ins Bett!“, jammerte Ruby, seine Jüngste, während Magda, die aktuelle Version der unzähligen unfähigen Au-pairs, sich vergeblich bemühte, Ruby vom Boden des Spielzimmers hochzuheben, wo sie weinend auf dem Rücken lag und sich strampelnd gegen Magdas Versuche wehrte. Noel registrierte, dass das Bücherregal zusammengefallen war – schon wieder. Da er bezweifelte, dass er jetzt in der Lage war, sich darum zu kümmern, warf er lieber einen Blick ins Wohnzimmer und ertappte Paige, seine mittlere Tochter, dabei, wie sie die Schokoladendekorationen vom Weihnachtsbaum stibitzte.

„Wo ist deine Mutter?“, wollte er wissen.

„Bei ihrem verdammten Blog“, kam die Antwort.

„Du sollst nicht fluchen“, ermahnte Noel automatisch.

„So nennt Mummy es aber immer“, verteidigte Paige sich.

„Und hör auf damit, die Schokolade vom Baum zu stehlen“, fügte Noel noch streng hinzu.

„Tu ich ja gar nicht“, behauptete Paige. „Außerdem hat Magda gesagt, ich darf.“

„Hat sie das also, ja?“ Catherine kam die Treppe herunter. Sie wirkte abgehetzt. „Jetzt komm, es ist Zeit fürs Bett.“

Zerstreut begrüßte sie Noel mit einem Kuss auf die Wange und ging dann ins Spielzimmer, um nicht nur die in voller Lautstärke heulende Ruby zu beruhigen, sondern auch eine halb hysterische Magda, die sich klagend in gebrochenem Englisch über „Kinder, direkt aus Hölle“ beschwerte.

Noel ging wieder in die Küche, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich auf die Couch vor den laufenden Fernseher, ohne wirklich hinzusehen. Manchmal kam er sich wie ein Geist in seinem eigenen Haus vor.

„Engel! Ich brauche mehr Engel!“ Diana Carew, korpulente Vorsitzende des Gemeinderats, fuchtelte hektisch mit den Armen in der Luft wie ein gestrandeter Wal. Es fiel schwer, sich vorzustellen, wie jemand mit ihren Ausmaßen es schaffte, sich durch das schmale und niedrige Türchen in den kleinen Raum neben der Bühne zu zwängen, in dem die Kinder auf ihren Auftritt warteten, aber irgendwie gelang es ihr.

Marianne schalt sich für den niederträchtigen Gedanken, trotzdem konnte sie den Blick nicht von Dianas ausladendem Busen losreißen. Etwas in dieser Größe war Marianne bisher noch nie untergekommen. Immerhin reichte das als Anreiz, um das Lächeln fest auf ihrem Gesicht zu halten, während sie hier in dem kleinen, eiskalten Gemeindesaal Zeuge werden durfte, wie das Hope-Christmas-Krippenspiel langsam Formen annahm – und sich dabei Frostbeulen holte. Nicht, dass ihre Anwesenheit oder ihre Anregungen vonnöten gewesen wären. In den letzten Wochen war Marianne endlich bewusst geworden, dass sie nur ins Team geholt worden war, weil jedes andere Gemeindemitglied mit auch nur einem Funken Verstand von vornherein dankend abgelehnt hatte, einschließlich ihrer Lehrerkollegen aus der kleinen Dorfschule.

Jeder außer der wirklich sehr netten und äußerst patenten Philippa. Marianne kannte Pippa, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, erst seit wenigen Wochen – seit sie sich ahnungslos bereit erklärt hatte, bei den Vorbereitungen für die Aufführung zu helfen. Und so war Pippa in den letzten Wochen schnell zu ihrer besten Freundin in Hope Christmas und zu einem weiteren Grund geworden, weshalb sie es so liebte, hier zu leben. Pippa, die Mühe hatte, sich das Grinsen zu verkneifen, kam jetzt mit einer Tasse heißem Tee auf sie zu, den Marianne dankend annahm. Zusammen sahen sie sich das Schauspiel an, wie Diana drei mürrische Engel auf die Bühne scheuchte, die sich dann zu einem Esel, zwei Hirten mit Schafen, dem Weihnachtsmann und mehreren Elfen gesellten, um Maria und Josef ihre Geschenke darzubringen.

„Ich muss gestehen“, murmelte Marianne Pippa zu, „das ist eine eher … äh … unkonventionelle Erzählung der Weihnachtsgeschichte. Ich kann mich nicht entsinnen, dass Elfen in der Bibel vorkämen.“

Pippa verschluckte sich fast an ihrem Tee. „Ich fürchte, die Elfen bleiben uns auf ewig erhalten. Jedes Jahr bringt Diana eine leicht abgeänderte Form des Krippenspiels auf die Bühne, aber die Elfen sind immer dabei. Das kommt noch aus der Zeit, als sie die Vorschule leitete. Irgendwie hat sich das dann festgesetzt. Und niemand hier traut sich, ihr zu sagen, dass sie das ändern sollte.“

„Werden auch Weihnachtslieder gesungen?“ Der einzige Gesang bei den bisherigen Proben war ein Kinderlied gewesen.

„Nicht anzunehmen. Immerhin verzichtet sie dieses Jahr auf ‚Frosty, der Schneemann‘.“ Pippa schien ehrlich erleichtert. „Es hat den gesamten Gemeinderat gebraucht, um ihr klarzumachen, dass es im Dezember in Bethlehem nicht unbedingt schneit. Aber diese Schneekanone hatte es ihr einfach angetan.“

Marianne konnte ein prustendes Lachen nicht unterdrücken, verstummte aber sofort wieder, als sie von Diana mit einem strengen Blick zur Ordnung gerufen wurde. Dann kommandierte die Regisseurin des Krippenspiels wieder ihre Darsteller herum und schalt sie ungeduldig, wenn etwas nicht sofort klappte. Ja, Diana war wirklich sehr beeindruckend, und ihre Krippenspielversion war sicherlich süß auf eine ganz eigene Art. Es war nur so … so lang. Und mit der eigentlichen Weihnachtsgeschichte hatte es wenig Ähnlichkeit. Marianne bevorzugte es, wenn die festliche Zeit … nun … festlich war. In der Weihnachtsgeschichte lag eine Reinheit und Schlichtheit, die im heutigen Leben oft fehlte. Zu schade aber auch, dass Diana nicht davon zu überzeugen war, etwas von dieser Stimmung einzufangen.

Die Kinder wurden langsam unruhig, die ersten Eltern kamen an, um ihre Sprösslinge abzuholen. Diana machte den Eindruck, als wollte sie den ganzen Abend weitermachen, bis Pippa sie leise daran erinnerte, dass ja die Generalprobe blieb, um noch einmal alles durchzugehen.

Marianne half den Kindern, die Kostüme gegen Mäntel, Schals und Mützen zu tauschen. Draußen fegte der Wind eiskalt durch die Straßen. Es roch nach Schnee. Vielleicht würden sie ja sogar eine weiße Weihnacht bekommen. Ihre erste Weihnacht in Hope Christmas, in das sie sich mehr und mehr verliebte. Ihr erstes Weihnachten als verlobte Frau. Und nächstes Jahr um diese Zeit wäre sie bereits verheiratet …

Fast alle Kinder waren abgeholt worden, nur ein kleiner Junge saß noch einsam auf der Bank. Stephen, so hieß er, wenn sie sich recht erinnerte. Und sie meinte, dass er irgendwie mit Pippa verwandt war. So lange war Marianne noch nicht hier, dass sie die genauen Verwandtschaftsverhältnisse und Beziehungen zwischen den Familien im Städtchen alle herausgefunden hatte. Manche von den Familien waren hier seit Generationen ansässig. Unterricht gab sie Stephen nicht, aber die Schule war klein und überschaubar genug, sodass sie inzwischen die meisten der Kinder kannte, zumindest vom Sehen her.

„Holt deine Mummy dich ab?“, fragte sie den Kleinen.

Der Junge sah auf, und sein trauriger Blick brannte sich direkt bis in ihr Herz. „Meine Mummy kommt nie“, antwortete er. „Aber mein Daddy kommt. Er muss gleich hier sein.“

Armer kleiner Wurm, dachte Marianne bei sich. Vermutlich waren seine Eltern geschieden. Er konnte nicht älter als sechs oder sieben sein. Vielleicht sollte sie Pippa Bescheid geben, dass er noch immer hier war.

Doch genau in diesem Augenblick hörte sie eine Stimme im Gang vor der Tür. Ein großer Mann in einem langen Trenchcoat über Jeans und dickem hellen Strickpullover, einen gestreiften Schal um den Hals gewickelt, kam in den Saal. Das musste wohl Stephens Dad sein.

„Daddy!“ Stephen flog seinem Dad in die Arme.

„Hoppla“, sagte der Mann. Mit dem Jungen auf dem Arm drehte er sich zu Marianne um und sah sie mit dunkelbraunen Augen an. Es waren seelenvolle Augen, und plötzlich erschauerte sie. In ihnen lag so viel Kummer und Schmerz. Sie meinte tatsächlich, einen Blick in seine Seele erhascht zu haben. Unangenehm berührt, senkte sie die Augen.

„Entschuldigen Sie die Verspätung, aber mir ist etwas dazwi-schengekommen.“

Die Art, wie er es sagte, erweckte maßloses Mitgefühl für ihn in Marianne. Dieser Mann machte den Eindruck, als trüge er das Leid der ganzen Welt auf seinen Schultern.

„Ist alles in Ordnung?“ Marianne deutete mit dem Kopf zu Stephen, der sich wie verzweifelt an den Hals seines Vaters klammerte.

Stephens Dad starrte sie jetzt mit dem gleichen durchdringenden traurigen Blick an wie sein Sohn. „Nicht wirklich, aber nichts, womit ich nicht fertig werde. Komm, mein Sohn, ich fahre dich schnell rüber zu deinen Cousins. Sieht aus, als würde es heute Nacht noch schneien.“

„Können wir dann einen Schneemann bauen?“

„Aber klar“, stimmte Stephens Dad sofort zu, dann drehte er sich wieder zu Marianne um. „Danke, dass Sie auf ihn aufgepasst haben.“

„Keine Ursache“, versicherte sie und sah den beiden nach. Sie fragte sich, was die beiden so bedrücken mochte, verdrängte den Gedanken jedoch gleich wieder. Was immer es war, es ging sie sicher nichts an.

DIESES JAHR

1. Kapitel

Mit ihrem Drink in der Hand stand Marianne in der Küche und betrachtete die fröhlichen Gäste, die in Pippas gemütlichem Bauernhaus zusammengekommen waren. Das Haus war ein altes Gebäude aus roten Backsteinen mit Schieferschindeln auf dem Dach, traditionell, rustikal und voll ländlichem Charme. Marianne hatte sich auf den ersten Blick in diese Küche mit den schweren Deckenbalken, dem langen antiken Eichentisch und dem Steinboden verliebt. Das war alles so ganz anders als ihr modernes Elternhaus. Sie hatte gehofft, dass sie einmal in genau so einem Haus leben würde, wenn Luke und sie erst verheiratet wären. Wenn sie verheiratet wären. Ein Traum, der in weite Ferne gerückt war.

Ohne Pippa, die sich in der letzten Woche als ein Fels in der Brandung erwiesen hatte, wäre Marianne heute gar nicht hier. Schon jetzt überlegte sie, wann sie sich wieder aus dem Staub machen konnte. Seltsam, wie taub und unberührt sie sich fühlte, so als hätte sie nichts mit den Leuten um sich herum zu tun. In ihren Adern floss kein Blut mehr, es war zu Eis erstarrt. Das Leben, von dem sie geträumt hatte … es hatte sich in Luft aufgelöst. Sie hatte gar kein Recht, hier zu sein, kein Recht, sich unter all diese fröhlichen, glücklichen Menschen zu mischen. Für sie bedeutete Silvester kein Neuanfang, sondern erinnerte sie nur an all das, was sie verloren hatte. Wie hatte sich ihr Leben innerhalb einer kurzen Woche so abrupt, so brutal verändern können? Sie sollte jetzt mit Luke in Antigua sein, so hatten sie es geplant. Stattdessen …

Nein, diese Richtung wirst du nicht einschlagen. Marianne hatte sich fest vorgenommen, heute Abend nicht in Tränen auszubrechen. Ihr war klar, dass sie zum allgemeinen Gesprächsthema geworden war. Wie sollte es auch anders sein? In einem so kleinen Ort war das unmöglich zu verhindern. Das war mit Sicherheit einer der Nachteile des Landlebens, einer, auf den sie liebend gern verzichtet hätte. Aber Pippa war unerbittlich geblieben, hatte auf Marianne eingeredet und sie schließlich davon überzeugt, mit hoch erhobenem Kopf auf der Silvesterparty zu erscheinen, die Dan und sie jedes Jahr gaben. Also war Marianne gekommen. Pippa zuliebe. Denn so, wie sie sich im Moment fühlte, war Pippa das Einzige, wofür es sich noch lohnte, in Hope Christmas zu leben. Lange würde sie ohnehin nicht mehr hierbleiben, nicht nach dem, was passiert war. Sobald die Schule nächste Woche wieder begann, würde sie sich nach einer neuen Stelle umsehen und nach London zurückkehren, dahin, wo sie hingehörte.

Marianne beobachtete, wie die Leute in dem gemütlichen Bauernhaus ein und aus gingen. Offensichtlich bot das Haus mehr Raum, als es von außen vermuten ließ. Pippa und Dan besaßen die beneidenswerte Fähigkeit, jedem Gast das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Dan sorgte dafür, dass alle mit Getränken versorgt waren, während Pippa mit den Gästen plauderte und sicherstellte, dass jeder zufrieden war und sich wohlfühlte. Sie sorgte dafür, dass die gestrenge und reizbare Miss Wood, die ehemalige Direktorin der Grundschule in Hope Christmas, die mit ihrem Stock auf den Boden klopfte und ihre Abneigung für Silvesterfeiern lautstark bekundete („Ich habe noch nie etwas dafür übriggehabt und werde auch nie etwas dafür übrighaben!“), mit Glühwein befriedet wurde. Oder dass die zurückhaltende Miss Campion, die zurzeit noch die Poststelle leitete, sich aber bald zur Ruhe setzen würde, und Mr Edwards, der jeden Sonntag die Orgel in der kleinen Kirche spielte, sich zusammentaten. Und sie achtete darauf, dass die Partylöwen, einschließlich Diana Carew, deren überdimensionaler Busen auf der Tanzfläche ein Eigenleben zu entwickeln schien, genug Platz zum Tanzen in dem neu angebauten Wintergarten

hatten.

„Noch mehr Sekt?“ Dan tauchte an Mariannes Seite auf und füllte ihr Glas nach. War das jetzt ihr drittes? Oder schon ihr viertes? Eigentlich müsste sie unbedingt etwas essen. Die ganze Woche schon hatte sie keinen Appetit, und der Sekt stieg ihr ganz schön zu Kopf. Bereits jetzt hatte sie das Gefühl, auf Wolken zu wandern. Aber vielleicht war ja alles überhaupt nicht so schlimm, wie sie dachte. Bisher hatte ihr niemand allzu große Aufmerksamkeit geschenkt. Vielleicht war sie ja doch nicht das Hauptgesprächsthema im Dorf.

Aber vielleicht machte sie sich da auch nur etwas vor. Als sie in die Diele hinaustrat, wo einige der Gäste in angeregtem Gespräch zusammenstanden, brach die Unterhaltung abrupt ab, sobald Marianne im Türrahmen erschien. Sie spürte, dass sie hier nicht erwünscht war, machte auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche zurück. Trotzdem entging ihr nicht die gezischelte Bemerkung eines der Umstehenden: „Nun, ehrlich gesagt, mir war das von Anfang an klar. Der Gutsherr und die Lehrerin? Das konnte doch nicht gutgehen.“

Es kostete Marianne all ihre Beherrschung, die Tränen zurückzublinzeln. Sie stürzte ihren Sekt auf einen Schluck hinunter, nahm einem völlig verblüfften Dan die Flasche aus der Hand und machte sich auf die Suche nach Pippa. „Was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend so richtig betrinken?“

„Hältst du das für eine gute Idee?“, gab Pippa zu bedenken.

„Aber auf jeden Fall, absolut!“ Die ersten Klänge von Girls Just Wanna Have Fun spielten an, und Marianne legte Pippa die Hand auf den Arm. „Wie meine Mum zu sagen pflegt … immer schön die Ohren steifhalten, und … auf die Konsequenzen wird gepfiffen. Komm, lass uns tanzen.“

Eine Stunde später hatte Marianne sich ausgetanzt und war inzwischen von Sekt auf Wodka-Orange umgestiegen. Hatte sie sich bisher wie ein Häufchen Elend gefühlt, so hatte sich ihre Gefühlswelt mithilfe des Alkohols in überdrehte Euphorie verwandelt, die gefährlich an Hemmungslosigkeit grenzte. Dann war ihre Verlobung eben geplatzt, na und? Sie war jung und frei und wieder ungebunden. Es wurde Zeit, dass sie die Zügel in die Hand nahm. Irgendwo hier auf dieser Party musste es doch bestimmt ein paar anständige Männer geben, oder?

Nachdem sie allerdings eine prüfende Runde durch Pippas gesamtes Haus gedreht hatte, musste sie feststellen dass es hier tatsächlich keine anständigen Männer für sie gab. Ihr forscher Plan für den Wechsel ins neue Jahr begann in sich zusammenzufallen. Es war wohl doch besser, wieder auf Plan A zurückzugreifen: früh nach Hause und ins Bett gehen. Sie war bereits auf dem Weg in Richtung Hausflur, als die Klingel ertönte. Niemand außer ihr schien es gehört zu haben, also ging Marianne zur Haustür und zog sie auf. Draußen auf der Schwelle stand ein dunkelhaariger Mann, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Auf jeden Fall hatte er die unglaublichsten dunkelbraunen Augen, die sie je gesehen hatte.

„Na, du tust es auch.“ Sie packte seine Hand und zog ihn hinter sich her in den Wintergarten.

„Äh, vielleicht sollte ich erst einmal Pippa und Dan wissen lassen, dass ich hier bin“, sagte der Mann, noch bevor es ihr gelang, ihn auf die Tanzfläche zu schleifen.

Klarheit zerriss den Schleier, in den der Alkohol ihren Kopf gewickelt hatte. Du lieber Himmel, was tat sie hier? So hatte sie sich noch nie benommen. Was musste dieser Fremde von ihr denken? Aber andererseits war da auch dieser leichtsinnige und verwegene Teil in ihr, und der sagte ganz eindeutig: Na und? Es war Silvester, und ihr Leben lag in Scherben. Was hatte sie schon zu verlieren? Also verdrängte sie die aufkommende Verlegenheit, griff sich den nächsten Wodka-Orange und stürzte sich in die Menge auf der Tanzfläche, um wild zu I Will Survive zu tanzen.

Plötzlich rief irgendjemand laut: „Hey, fast Mitternacht“, und Mariannes ungezügelte gute Laune verpuffte auf einen Schlag. Mitternacht. Der Countdown für das Neue Jahr lief an. Alle begannen zu singen – Auld Lang Syne –, und plötzlich ertrug Marianne es nicht mehr. Sie stolperte in den Garten hinaus, merkte kaum, wie eiskalt es eigentlich war. Der Alkohol, der durch ihr Blut rauschte, gaukelte ihr Wärme vor. Sie setzte sich auf eine Bank und sah zum Mond hinauf, der schweigend dort oben am Himmel prangte. Die Shropshire Hills ragten düster in die Dunkelheit, und zum ersten Mal, seit Marianne hier wohnte, kamen ihr die Hügel einzwängend und bedrohlich vor. Sie sah zu Pippas Haus zurück – warm, hell erleuchtet, voll mit fröhlichen Menschen. Alle amüsierten sich prächtig, und sie saß hier draußen, allein in der Kälte, und weinte sich die Augen aus dem Kopf.

Die Hintertür ging auf, eine dunkle Gestalt erschien und kam auf sie zu.

„Kann ich etwas für dich tun?“, fragte die Gestalt.

„Zehn, neun, acht …“

„Nein, nichts“, schluchzte Marianne. „Mein Leben ist eine einzige Katastrophe, mehr nicht.“

„Sieben, sechs, fünf …“

„Nun, wenn du sicher bist. Es ist nur … Du scheinst … Entschuldigung, geht mich nichts an. Ich gehe wohl besser wieder rein.“

„Vier, drei, zwei, eins! Frohes neues Jahr!“

Jubel und Applaus drangen aus dem Haus bis nach draußen, und plötzlich hasste Marianne all diese glücklichen Leute da drinnen, die sich so gut amüsierten und fröhlich feierten. Und sie ertrug auch die Freundlichkeit dieses Fremden nicht. Sie brauchte keine Freundlichkeit. Sie wollte Luke wiederhaben!

„Ja, solltest du wohl besser“, fauchte sie.

„Oh.“ Der Mann wirkte leicht verstimmt.

„Ich hasse alles.“ Marianne wollte aufstehen, schwankte … und fiel rückwärts in die Rosensträucher. Ihr unerwünschter Held eilte ihr zu Hilfe, um ihr wieder aufzuhelfen. Sie drückte den Rücken durch, blickte in seine wirklich faszinierenden dunklen Augen … und übergab sich direkt vor seine Füße.

Noel saß an seinem Schreibtisch und sah seine E-Mails durch. Die meisten davon waren völlig unwichtig. Brauchte er wirklich das Sitzungsprotokoll des Komitees für „Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz“? Drei E-Mails informierten über Arbeitskollegen, die Ende Januar aus der Firma ausschieden. Ihm fiel auf, dass der Grund wiederum „persönliche Gründe“ waren. Die Wirtschaftskrise traf vor allem seinen Industriezweig besonders hart. Neubauten waren immer das Erste, was eingestellt wurde. Und da es sich kaum noch jemand leisten konnte, die schicken neuen Apartments in den Stadtzentren zu kaufen, würde auch kein Bedarf mehr an den neuen umweltfreundlichen Heizungssystemen bestehen, die Leute wie er entwickelten. Schon Wochen vor Weihnachten war Gerry Cowley durch die Firma gelaufen und hatte ständig vor sich hin gemurmelt, dass die Firma schlanker und effektiver werden müsse. Bisher hatte Noel sich auf seinen Ruf als einer der fähigsten Ingenieure, die je für GRB gearbeitet hatten, verlassen können. Aber dann war Matt in die Firma gekommen. Matt, der niemanden hatte, für den er sorgen musste. Matt, der Speichellecker, mit seiner Aura des flotten jungen Mannes. Wenn es jemanden gab, der die Karriereleiter nach oben klettern würde, dann er. Und Noel hatte das wirklich schlechte Gefühl, dass das auf seine Kosten geschehen würde.

Es hat keinen Zweck, sich über ungelegte Eier aufzuregen. Fast konnte Noel die Stimme seiner Mutter hören, wie sie diesen Spruch immer wieder sagte. Damals, als sie noch eine Beziehung zueinander gehabt hatten. Damals, bevor sie sich in die Schwiegermutter aus der Hölle verwandelt hatte. Die Kinder nannten sie nur noch „die Grusel-Granny“. Nicht, dass seine Beziehung zu seiner Mutter je unkompliziert gewesen wäre. Den größten Teil seiner Kindheit hatte er mit dem Gefühl gelebt, dass er seine Mutter irgendwie enttäuscht hatte. Vor allem, nachdem seine kleine Schwester auf die Welt gekommen war, die scheinbar nichts falsch machen konnte. Er beneidete Cat um die entspannte Beziehung zu ihrer Mutter. Außerdem war Louise die Traumoma schlechthin.

Cat. Irgendetwas geschah da zwischen ihnen. Er hatte den Eindruck, dass ihm der Boden unter den Füßen wegbrach, dass die Welt sich veränderte, und zwar ohne ihn. Seit Cat mit ihrem Blog angefangen und diese Sache mit der „Glücklichen Hausfrau“ so richtig Fahrt aufgenommen hatte, war ihm aufgefallen, dass sie immer weniger Zeit für ihn hatte. Sie konzentrierte sich nur noch auf ihre Kinder und ihre Arbeit. Natürlich konnten sie das Geld, das sie verdiente, gut gebrauchen, vor allem jetzt, da es so aussah, als würde an seinem Stuhl gesägt, aber … eine ganze Woche war vergangen, in der er sie kaum gesehen hatte, geschweige denn sich mit ihr unterhalten. Manchmal fragte Noel sich wirklich, ob ihm der Platz in Cats Herzen überhaupt noch gehörte. Und so, wie er sich zu Weihnachten aufgeführt hatte, würde er ihr nicht einmal verübeln können, wenn dem nicht so wäre.

Das hatte doch alles keinen Zweck. Er musste sich zusammenreißen. Er hatte seine Arbeit zu erledigen. Er nahm sich die Pläne für die Klimaanlage in einem nahe gelegenen Erholungszentrum vor, die er noch vor Weihnachten aufgesetzt hatte. Die Anmerkungen, die das Architektenbüro an den Rand geschrieben hatte, ließen ihn entnervt aufseufzen. Warum er sich bei der Planung nicht an ihre genauen Vorgaben gehalten hätte? Weil die Realität sich nicht an die auf einem Plüschsofa in einem eleganten Büro gemachten Vorgaben und Maße hübsch schimmernder Metallkästen hielt, sondern sich ausschließlich nach mathematischen Parametern richtete, die wiederum den Gesetzen der Physik folgten. Deshalb! Ob sie das je begreifen würden?

Ein Kopf erschien in der Tür. Matt Duncan. Er sah richtig zufrieden mit sich aus. „Schon gehört?“

„Was soll ich gehört haben?“

„Davy Chambers hat’s erwischt.“ Mit nur einem unzureichend kaschierten hämischen Grinsen zog Matt sich den Zeigefinger über den Hals.

Mist. Dave Chambers ging? Dave gehörte bei GRB praktisch zum Inventar. Wenn Dave gekündigt wurde, war niemand mehr sicher in der Firma.

Unwillkürlich erschauerte Noel. Der Januar hatte Kälte und Dunkelheit mitgebracht, und Noel hatte das Gefühl, dass ein eisiger Wind vom Horizont heranwehte.

So, Weihnachten ist nun vorbei, die Truthahnreste sind gegessen, überall im Haus liegen die Plastikspielzeuge verstreut – die meisten davon wahrscheinlich schon zerbrochen – und die Kinder gehen wieder zur Schule. Der Frühjahrsputz kann beginnen. Natürlich ist mir klar, dass wir noch mitten im Winter stecken, aber auf jeden Fall ist jetzt Schluss mit der festlichen Zeit. Und da die Neujahrsvorsätze noch frisch sind, sollten wir das ausnutzen. Es ist also eine gute Zeit, mit dem anzufangen, was wir das ganze Jahr über beibehalten wollen – Ordnung schaffen …

Catherine hörte mit dem Tippen auf und sah nachdenklich von ihrem Büro unter dem Dach des Hauses – ihrem Adlernest, wie sie es nannte – dabei zu, wie eine abgemagerte Krähe flügelschlagend über die frostigen Dachpfannen hüpfte. Verdammter Blog. Verdammte „Glückliche Hausfrau“. An manchen Tagen wünschte sie sich, sie hätte nie damit angefangen. Es hatte eigentlich nur eine Ablenkung sein sollen, ins Netz gestellt während Rubys Stillpausen. Damit sie nicht völlig durchdrehte und sich überlegen konnte, wie es mit ihrer Karriere weitergehen sollte.

Catherine, deren Vorstellung von Häuslichkeit darauf basierte, mit einem Minimum an Hausarbeit ein akzeptables Level an Hygiene zu erreichen, hatte die Idee gehabt, ein ironisches Bild vom Leben der Hausfrau im einundzwanzigsten Jahrhundert zu zeichnen – die „Glückliche Hausfrau“, ein Terminus, den sie zutiefst verabscheute. Also hatte sie sich an den Computer gesetzt und angefangen zu tippen:

Da sitzt ihr, einst erfolgreiche, abgehetzte Karrierefrauen, also nun mit einem quengelnden Baby und einem trotzigen Kleinkind zu Hause fest. Ist es überhaupt möglich, im einundzwanzigsten Jahrhundert Hausfrau zu sein und es auch zu überleben, vor allem, ohne dabei verrückt zu werden? Wenn ihr die gleichen organisatorischen Fähigkeiten, die ihr im Beruf genutzt habt, auch zu Hause anwendet, dann müsste es meiner Meinung nach ein Klacks sein. Ihr werdet die Herausforderungen, die das Leben zu Hause euch vor die Füße schleudert, nicht nur meistern, sondern sogar mit Begeisterung annehmen. Ein glückliches Heim ist mit militärischer Präzision durchorganisiert. Deshalb setzen wir uns hier jeden Sonntagabend mit der ganzen Familie zusammen und stellen den Plan für die kommende Woche auf, der dann – mit jedem Einzelnen zugeteilten Farben – an den Kühlschrank gehängt wird. So kann ich auch die Termine für die Kumon-Kurse und die Französisch-Nachhilfe nicht vergessen und weiß immer genau, wann der nächste Impftermin für das Baby bevorsteht. Ich habe sogar mein eigenes Zeit-Management damit perfektioniert. Und wenn es für mich funktioniert, dann funktioniert es für euch auch.

Damit war die „Glückliche Hausfrau“ aus der Taufe gehoben, und zu Cats Überraschung wurde der Blog sofort zum Hit. Leider war die Ironie am Großteil der Leserinnen glatt vorbeigegangen, die meisten nahmen das Ganze todernst. Irgendwie war sie damit offensichtlich auf eine neue Modeerscheinung gestoßen – hatte sozusagen den Zeitgeist getroffen. Es schienen tatsächlich Unmengen von Frauen zu existieren, die mit ihren Sprösslingen zu Hause saßen und praktisch darauf warteten, dass ihnen eine völlig Fremde sagte, wie sie ihren Haushalt zu führen hatten. Innerhalb von Tagen erhielt ihr Blog Hunderte von Aufrufen, und ihre treue Fangemeinde wuchs und wuchs. Der Blog wurde so berühmt, dass sogar die großen Zeitungen darüber berichteten, was Cat köstlich amüsierte – anfangs.

Ehe sie sichs versah, schrieb sie täglich neue Ratschläge für die „Glückliche Hausfrau“, und schon bald war ihr Blog landesweit bekannt. Unter anderem las auch Bev, ihre frühere Chefin bei Citygirl Magazine, ihren Blog. Bev rief sie an und bot ihr einen regelmäßigen Artikel im Happy Homes Magazine an, was sowohl Arbeit im Büro als auch von zu Hause aus bedeutete. Das Angebot war zu einer Zeit gekommen, als Catherine gerade kurz davor gestanden hatte, komplett durchzudrehen in ihrer Rolle als Chauffeur für die schulpflichtigen Kinder und mit den Ansprüchen, die ein Kleinkind an seine Mutter stellte. Deshalb hatte sie die Chance sofort beim Schopf gepackt. Sie hatte ein Au-pair eingestellt, sich ein Büro auf dem Speicher eingerichtet und sich darauf gefreut, ihr altes Leben zumindest teilweise wiederaufzunehmen.

Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre. Keiner bei Happy Homes, einschließlich Bev, hatte zu Hause so viele Verpflichtungen wie sie. Zwei von den Mitarbeiterinnen hatten ein Kind, sicher, aber vier? Cat kannte niemanden außer Noel und ihr, der tatsächlich vier Kinder hatte. Wie waren sie nur auf die Idee gekommen, sich vier Kinder anzuschaffen? Sie mussten verrückt gewesen sein.

Eigentlich hatte Cat sich vorgestellt, dass es ein Kinderspiel sein würde, wieder ins Berufsleben zurückzukehren, jetzt, da die Kinder älter waren. Aber mit dem stetig wachsenden Erfolg der „Glücklichen Hausfrau“ wuchs auch der Druck. Die Medien belagerten sie, sie schrieb Kolumnen für Tageszeitungen, war Gast in Radiosendungen und trat ab und zu sogar im Fernsehen auf. Hätte sie keine Verpflichtungen zu Hause, wäre das alles ganz wunderbar. So aber … Natürlich genoss sie ihren Erfolg und die Aufmerksamkeit, ganz zu schweigen von dem Einkommen, das ihr die Sache garantierte. Die Zeit, in der sie sich als Bürger zweiter Klasse gefühlt hatte, dem ein Taschengeld gewährt wurde, war vorbei. Jetzt allerdings geriet Cat ständig in Zeitnot und versuchte, ein Gleichgewicht zwischen beruflichem Erfolg und häuslichen Pflichten zu finden. Ihr war ständig bewusst, dass Noel dabei viel zu kurz kam. Für ihn hatte sie kaum noch Zeit, und er hatte wirklich Besseres verdient.

Auch die Kinder, obwohl sie jetzt älter waren, schienen sie mehr zu brauchen denn je. Vor allem Mel, die gerade kurz vor dem Wechsel von der Grundschule zur weiterführenden Schule steckte. Und Ruby … Ruby war eingeschult worden, ohne dass ihre Mum ihre Hand gehalten hatte – dafür hatte der Fototermin in dem idiotischen Weihnachtsmannkostüm gesorgt. Catherine hatte all ihren Kindern am Einschulungstag zur Seite gestanden, nur Ruby nicht. Sie hatte Ruby im Stich gelassen. Und ihr war bewusst, dass es nicht das einzige Mal war, dass sie die Kleine im Stich ließ. Nie hatte sie Zeit, ihr eine Gutenachtgeschichte vorzulesen (auch wenn Paige hier dankbarerweise ein guter Ersatz war), und zum (zugegebenermaßen grässlichen) Krippenspiel vor Weihnachten hatte sie es nur so gerade noch geschafft. Wenn sie bis abends spät noch arbeiten musste, schaffte sie es nicht, Ruby ins Bett zu bringen. Ihre Kinder wurden größer und älter, und im Moment sah es so aus, als täten sie das ohne sie.

Tja, und da erteilte sie anderen Frauen gute Ratschläge, wie sie ihr Heim zu organisieren hatten, wie sie ihre Kinder erziehen und generell den Alltag meistern sollten … Und dabei war ihr die Kontrolle über die eigene Situation längst entglitten.

Gabriel hielt Stephens Hand fest in seiner, als sie an dem kalten klaren Januarmorgen über die glatte Straße gingen.

„Sieh nur, Daddy, ein Rotkehlchen!“, rief Stephen aufgeregt. Ihr beider Atem bildete weiße Wölkchen in der frostigen Luft. Es war ein krasser Kontrast, aus dem warmen Kokon von Familie und Freunden, den Pippa und Dan in den letzten vierzehn Tagen um sie beide gesponnen hatten, herauszukommen. Ohne die beiden hätte Gabriel nicht gewusst, was er hätte tun sollen. Seine Eltern, die normalerweise immer einsprangen und sein Sicherheitsnetz waren, wenn es Ärger mit Eve gab, waren zu ihrer lang und sehnsüchtig erwarteten Weltreise aufgebrochen, mit der sie ihren Eintritt in die Rente feierten. Dass sie sich zur Ruhe setzen, war der Grund gewesen, weshalb Gabriel wieder nach Hope Christmas zurückgekehrt war – um die Farm zu übernehmen. Er wollte versuchen, das Geschäft auszubauen, zusammen mit Dan und Pippa, die Bioprodukte von ihrem Bauernhof anboten. Anscheinend hatte der Umzug nach Hope Christmas Eves aktuelle Depressionsepisode ausgelöst.

Gabriel seufzte still. Er hatte noch immer keine genaue Vorstellung, wie er die Zukunft meistern sollte, aber vermutlich war es gut, dass die Weihnachtszeit jetzt vorbei war, so war er gezwungen, sich der Realität zu stellen. Nicht, dass Schafe Rücksicht auf Feiertage nahmen, Stephen und er hatten die ganze letzte Woche immer wieder nach den trächtigen Muttertieren sehen müssen. Es war gut, dass Stephen es als Abenteuer betrachtete, mit seinem Vater auf die verschneiten Weiden zu kommen. Die Arbeit hatte Gabriel immerhin genug abgelenkt, sodass ihm weniger Zeit zum Grübeln geblieben war.

Außerdem war Gabriel froh, dass die Schule wieder anfing. Während der ganzen zwei Wochen Ferien hatte Eve sich kein einziges Mal gemeldet, und auch, wenn Stephen aufgehört hatte, nach seiner Mutter zu fragen, wusste Gabriel doch, wie sehr sein Sohn litt. Manchmal ließ Stephen einen tiefen Seufzer hören oder ging mitten im Spiel einfach weg. Gabriel wünschte, es gäbe etwas, das er außer den praktischen Dingen tun konnte, um seinem Sohn zu helfen.

„Er hat doch dich“, hatte Pippa gesagt. „Und uns. Er weiß, dass seine Mutter nicht stabil ist, genau wie er weiß, dass er sich auf jeden Fall auf dich verlassen kann. Solange du ihm Liebe und Stabilität gibst, wird er damit klarkommen.“

Weise, wunderbare Pippa. Eigentlich hatte sie genug eigene Probleme, aber sie war immer da, wenn sie gebraucht wurde, war immer diejenige, die eine stützende Hand reichte. Ohne die Hilfe seiner Lieblingscousine hätte Gabriel dem Stress vermutlich nicht standgehalten und wäre zusammengebrochen. Pippa war für ihn mehr eine Schwester als eine Cousine. Die Farmen ihrer Eltern hatten direkt aneinandergegrenzt, und so waren sie zusammen aufgewachsen. Sie hatten eine großartige Kindheit zusammen erlebt, waren auf Obstbäume geklettert, durch Bäche gewatet und über die Weiden getollt. Pippa, ein Jahr älter als er, war immer „die Große“ gewesen, hatte seine Wunden verarztet oder ein Pflaster auf seine Kratzer geklebt, wenn er aus einer Balgerei auf dem Spielplatz als der Verlierer davongetrottet war. Und heute tat sie noch immer das Gleiche. Ohne sie wäre er verloren.

Das Rotkehlchen flog davon, und Stephen rannte die Straße entlang, die Arme zur Seite gestreckt, und spielte Flugzeug. Es tat gut, den Jungen so unbeschwert zu sehen. Normalerweise war er viel zu ernst und still, und Gabriel sorgte sich ständig, welche Auswirkungen die Situation auf seinen Sohn haben könnte. Auch wenn Pippa es vielleicht anders sah … leicht würde es für den Jungen nicht werden, ohne seine Mutter auszukommen. So wankelmütig und launenhaft Eve auch sein mochte, sie liebte Stephen, und man sah deutlich, wie sehr der Junge sie vermisste.

Gabriel vermisste sie ja auch. Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals. Wenn er doch nur mehr für sie hätte tun können. Wenn sie es ihm doch nur erlaubt hätte. Wenn doch nur … Aber die eine Sache, die ihm jetzt mit schmerzhafter Klarheit vor Augen stand, war die, dass, ganz gleich, wie sehr er Eve auch liebte … es wäre nie genug. Eves Probleme waren viel zu groß, als dass er es schaffen könnte, sie zu richten. Manchmal musste man einen Menschen, wenn man ihn wirklich liebte, einfach ziehen lassen.

2. Kapitel

Am Samstag, bevor die Schule wieder begann, machte Marianne sich schweren Herzens von dem kleinen Cottage, das sie am südlichen Rand des Städtchens gemietet hatte, über die Hope Christmas High Street auf den Weg zur Post. Es heiterte sie nicht einmal auf, an Diana Carews Haus vorbeizukommen. In Dianas Garten standen ein übergroßer Plastikweihnachtsmann und mehrere Tonzwerge, und das Haus selbst war mit unzähligen Rentieren geschmückt, die selbst bei Tageslicht blinkten und blitzten. Stattdessen drehte Marianne den Brief, den sie wegbringen wollte, unablässig in ihren Händen. Das hier war ihre Fluchtmöglichkeit, um aus Hope Christmas wegzukommen und wieder zu ihrem alten Leben zurückzukehren. Zu einem Leben ohne Luke. War es das, was sie wollte? Würde sie das überhaupt ertragen können? Wenn sie erst gegangen war, konnte sie nie wieder hierher zurückkommen. Sie würde ihn nie wiedersehen, würde ihn nie wieder berühren, würde ihn nie wieder lachen hören. Nie wieder würde er sie mit diesem strahlenden Lächeln ansehen, bei dem sie sich jedes Mal vorgekommen war, als gehöre ihr die ganze Welt. Aber … wie sollte sie leben können, wenn alles hier sie jede einzelne Minute des Tages daran erinnerte, was sie verloren hatte?

Ein Teil von ihr wollte sich einfach nur bei ihrer Mum verkriechen und nicht jeden Tag über die Hauptstraße des Städtchens laufen müssen, immer in der Angst, Luke zu begegnen – oder seiner Mutter, falls sie sich einmal in die Stadt verirrte, um beispielsweise zum Friseur zu gehen. Marianne brauchte nur diese Bewerbung abzuschicken, die Bewerbung als Lehrerin in der Grundschule von Hendon. Eine alte Bekannte aus ihrer Londoner Zeit, die dort unterrichtete, hatte sie wissen lassen, dass man händeringend nach qualifizierten Lehrkräften suchte. Wenn sie also die Bewerbung abschickte, würde sie schon bald wieder zu Hause sein, dort, wo sie hingehörte. Sie würde es akzeptieren müssen. Luke war ein Fehler gewesen. Nach Hope Christmas umzuziehen ein noch größerer.

Es war ein nass-grauer Tag. Der klare Dezember war einem trüben Januar gewichen. Bleigraue Schneewolken hingen über den Hügeln, verdeckten sie die meiste Zeit des Tages sogar. Passend zu ihrer Stimmung. Noch nie in ihrem Leben hatte Marianne so erbärmlich gefroren. Es war eine Kälte, die ihr die Kraft raubte, die ihr bis ins Mark, bis ins Innerste ihres Wesens gefahren war und sich dort festgesetzt hatte. Selbst der Anblick von Miss Woods, der ehemaligen Direktorin der Grundschule von Hope Christmas, wie sie auf ihrem Motorroller mit fliegenden Mantelschößen gefährlich schwankend die Hauptstraße hinunterbrauste, reichte nicht aus, um Marianne auch nur das kleinste Lächeln zu entlocken. Allerdings zuckte es dann doch um ihre Mundwinkel, als Miss Woods eine Kurve zu rasant nahm und hektisch gegenlenken musste. Ja, ein paar Dinge würden ihr fehlen, wenn sie wegging, dazu gehörten auch so exzentrische Charaktere wie Miss Woods.

Vera Campion von der Poststelle war ebenfalls so jemand. Immer ein Lächeln und ein nettes Wort auf den Lippen, stand sie hinter dem Schalter und bot allen Einwohnern des Städtchens Trost und Hoffnung. Mit ihrer schüchternen, lieben Art und vor allem wegen ihrer starken Kurzsichtigkeit erinnerte sie Marianne immer an einen Maulwurf. Aber an einen Maulwurf, der dem ganzen Städtchen nur Gutes tat.

„Marianne, wie schön, Sie zu sehen“, grüßte Vera, aber ihr Lächeln schien heute eher … gekünstelt, anders als sonst. „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich hätte gern ein Blatt Briefmarken, Vera.“ Marianne reichte das Geld über den Tresen und studierte Vera genauer. Irgendwie schien sie aufgeregt zu sein. Marianne hatte nicht die Angewohnheit, sich in das Leben anderer Leute einzumischen, aber Vera war immer so nett zu ihr gewesen, seit sie nach Hope Christmas gezogen war, und Marianne sorgte sich ehrlich. „Vera, ich hoffe, Sie legen es mir nicht als Unhöflichkeit aus … ich meine, ich will nicht aufdringlich sein, aber … fühlen Sie sich nicht wohl?“

„Oh je, ist es mir denn wirklich sofort anzusehen?“ Vera wand sich verlegen. „Ich habe soeben erfahren, dass man die Poststelle hier schließen will. Vorgabe der Regierung, behaupten sie. Weil wir nicht profitabel genug sind, behaupten sie. Ab dem Sommer gibt es nur noch die Poststelle in Ludlow.“

„Aber das ist ja schrecklich!“, entfuhr es Marianne. „Wie sollen denn dann Ihre alten Leutchen ihre Rente abholen können?“

Veras „alte Leutchen“ bildeten den Hauptkundenstamm, und sie verteidigte sie mit der Vehemenz einer Glucke. „Genau meine Rede! Und da ist ja auch noch die Stadt als solche, nicht wahr? Der Pub und die Post, das sind die Pfeiler unserer Gemeinde. Ohne sie fällt doch das gesamte Gemeinwesen zusammen. Aber jetzt sagen sie, dass mit dem Bau der neuen Ökostadt, die näher an Ludlow liegt, die Leute nicht mehr hier ihre Post abgeben, sondern lieber in den Wagen steigen und bis nach Ludlow fahren.“

„Wie umweltfreundlich“, meinte Marianne ironisch. „Gibt es denn nichts, was Sie tun können?“

„Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall werde ich mich gegen die Schließung wehren. Mr Edwards meinte, ich solle ein Bürgerbegehren organisieren.“

Bei der Erwähnung von Mr Edwards’ Namen errötete Vera … Es war ein offenes Geheimnis in Hope Christmas, dass sie zarte Gefühle für den Kirchenorganisten hegte. Er war vermutlich der Einzige, der nichts davon ahnte … oder vielleicht war er auch einfach zu schüchtern, um etwas in diese Richtung zu unternehmen. Wie auch immer … bisher waren Veras Gefühle unerwidert geblieben.

„Eine gute Idee“, meinte Marianne.

„Vielleicht können Sie uns ja dabei helfen!“

„Oh, ich würde ja gerne“, stammelte Marianne, „aber ich weiß nicht, wie lange ich noch hier bin.“

„Sie verlassen uns also?“ Vera sah ehrlich enttäuscht aus. Marianne verspürte einen Stich. Jemand machte sich also tatsächlich etwas aus ihr. Trotz allem, was mit Luke passiert war, hatte sie begonnen, Wurzeln in dem Städtchen zu schlagen. Luke war ja nicht der einzige Grund, der sie von der Stadt aufs Land hinausgezogen hatte. Gleich auf den ersten Blick hatte Marianne sich in Hope Christmas verliebt. Das idyllische Städtchen mit seiner High Street, auf der sich die hübschesten kleinen Krimskramsläden und eine ganz wunderbar altmodische Buchhandlung angesiedelt hatten, mit dem Marktplatz, auf dem regelmäßig ein Wochenmarkt abgehalten wurde, wo man die Erzeugnisse der umliegenden Farmen kaufen konnte. All das zusammen mit den kleinen Cottages verkörperte genau das Bild, das sie vom Leben auf dem Land immer gehabt hatte. Sie würde die Herzlichkeit der Einwohner und die fröhliche Zuneigung, die ihr die Kinder in der Schule entgegenbrachten, vermissen … und natürlich Pippa. Pippa würde sie ganz schrecklich vermissen. Sie hatte das Städtchen mit jedem Tag mehr lieben gelernt, und je länger sie blieb, desto schwerer würde es werden, das alles hinter sich zu lassen. Ja, der Abschied würde ihr schwerfallen.

„Vielleicht.“ Sie formulierte die Antwort bewusst vage. Das Postamt war nicht nur ein Pfeiler des Gemeinwesens, es war auch die Quelle für Klatsch und die neuesten Gerüchte. Sie wollte nicht schon wieder zum Hauptthema des Dorftratsches werden.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung eilte Marianne aus dem Postamt, fest entschlossen, ihren Brief draußen in den alten Briefkasten einzuwerfen.

„Oh …“ Jemand kam zur Tür herein, gerade als sie auf die Straße treten wollte. Fast wären sie zusammengestoßen.

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