Verküsst & zugenäht!

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Diese grünen Augen, der markante Mund - für einen Mann, den sie in Gedanken bereits mehrfach erwürgt hat, sieht Jake Bradshaw noch ziemlich lebendig aus. Und so unverschämt gut, dass Jenny mit ihren Fingern am liebsten etwas ganz anderes...
Aber dafür ist ihre Verachtung für den Rabenvater viel zu groß. Denn während er als Fotograf um die Welt gereist ist, hat Jenny sich um seinen Sohn gekümmert! Da kann er nicht einfach so wieder in Razor Bay auftauchen und davon ausgehen, dass ihn alle mit strahlendem Lächeln und offenen Armen begrüßen. Jenny zumindest will ihm die kalte Schulter zeigen. Auch wenn ihr Körper da plötzlich komplett anderer Meinung zu sein scheint und sie sich nur zu gern an Jakes schmiegen würde...


  • Erscheinungstag 10.06.2013
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783862787814
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Andersen

Verküsst & zugenäht!

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Tess Martin

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MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

That Thing Called Love

Copyright © 2012 by Susan Andersen

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ebook-ISBN 978-3-86278-781-4

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

23. Februar, Razor Bay, Washington

Himmel, Jenny, hauen die eigentlich irgendwann mal wieder ab?“

Jenny Salazar zuckte ein wenig zusammen, als sie hinter sich die halb ärgerlich, halb flehend klingende Frage hörte. Draußen peitschte ein scharfer Wind den Regen über das Wasser und pfiff um die altehrwürdige Villa auf den Klippen. Jenny gönnte sich gerade eine kurze Pause, um den Regentropfen dabei zuzusehen, wie sie sich an dem Bleiglasfenster zu Prismen formten.

Sie drehte sich um. Der dreizehnjährige Austin stand leicht gekrümmt in der Tür zwischen Küche und Esszimmer, seine in dem schwarzen Jackett breit wirkenden Schultern passten so gar nicht zum Rest des schlaksigen Körpers.

Sie zog ihn an sich, ohne sich allzu weit von ihrem Posten wegzubewegen, damit bloß niemand sie sah und auf die Idee kam, den Kopf in die Küche zu stecken und nach ihr zu rufen. Austin erwiderte ihre Umarmung.

„Das werden sie“, versicherte sie ihm. „Dem Wetter nach zu urteilen sogar sehr bald.“ Sie trat einen Schritt zurück, um ihn anzulächeln. „Emmett war eine Institution, Kumpel. Die Leute wollen ihm die letzte Ehre erweisen.“

Austin war fast so etwas wie ein Bruder für sie, doch momentan wusste sie nicht so recht mit ihm umzugehen. Es brach ihr fast das Herz, wie er unter dem Verlust seines Großvaters litt, der ihn aufgezogen hatte. Emmett Pierce hatte seine Frau nur um wenige Monate überlebt, diesen doppelten Schlag schien der Junge kaum zu verkraften.

Austin war in letzter Zeit unberechenbar, in der einen Sekunde ein ausgeglichenes Kind, dann wieder unglücklich und wütend. Zwischendurch klopfte er große Sprüche. Emmett und Kathy hatten ihn schamlos verwöhnt – unter anderem hatten sie ihm zum dreizehnten Geburtstag ein brandneues Boot geschenkt, einen Bayliner Bowrider.

„Dem Nächsten, der mich ‚du armer Junge‘ nennt, knall ich eine, ich schwör’s“, murrte er. „Und Maggie Watson hat mir in die Wange gekniffen, als wäre ich vier Jahre alt.“

Sie wusste nicht, ob sie sich wegen dieses Mangels an Sensibilität ärgern oder über die Empörung in seiner Stimme lachen sollte. „Ich denke, sie wollen einfach ihr Mitgefühl ausdrücken, wissen aber nicht wie.“

„Glauben die, ich vielleicht? Ich meine, soll ich sagen, ‚ist schon okay‘, wenn sie behaupten, dass Opa jetzt an einem besseren Ort ist? Ist er nämlich nicht. Außerdem, welches Genie glaubt eigentlich, dass mir ein ‚du armer Junge‘ irgendwie hilft – ich meine, die kennen mich doch schon mein Leben lang. Und ich werde mit denen mit Sicherheit nicht darüber sprechen, wie es sich anfühlt, dass er tot ist.“ Seine Stimme brach, ungehalten räusperte er sich. „Meine Gefühle sind … sie sind …“

„Deine Gefühle gehen niemanden etwas an.“ Jenny nickte verständnisvoll. Dieses Phänomen war ihr nur zu gut bekannt. Als ihre Welt zusammengebrochen war, war sie nur ein paar Jahre älter gewesen als er.

„Genau“, murmelte er.

Jenny rieb sich kläglich lächelnd den Nacken, der zu schmerzen begann, weil sie den Kopf zurücklegen musste, um Austin in die Augen zu sehen. „Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass du größer bist als ich, geschweige denn so viel größer. Du überragst mich sogar jetzt, obwohl ich Zehn-Zentimeter-Absätze trage.“

Zum ersten Mal seit Emmetts Tod in der vergangenen Woche lächelte Austin sie strahlend an, so wie früher – ein gewinnendes Grinsen, das kleine Grübchen neben seine Mundwinkel zauberte.

„Ich sage das ja nur ungern, Jenny, aber selbst Heuschrecken sind größer als du.“

„Kleiner Klugscheißer.“ Sie schlug ihm auf den Arm, ließ sich jedoch nicht vom Thema abbringen. „Wann bist du dermaßen gewachsen? Ich könnte schwören, dass du gestern noch nicht so groß warst.“ Tatsächlich hatte sie manchmal schon befürchtet, er könnte ähnlich klein ausfallen wie sie. Sie war weiß Gott nicht begeistert von ihrer Größe, gerade mal knapp eins sechzig, die sie auch nur durch eine tadellose Haltung erreichte. Doch für einen Jungen wäre das wesentlich schlimmer.

Nachdem er offenbar über Nacht zehn Zentimeter oder mehr gewachsen war, konnte sie sich künftig über andere Dinge Sorgen machen.

Austins gute Laune war schon wieder verflogen, er zuckte mit den Schultern und sagte: „Was wird jetzt aus mir, Jenny?“

„Nun, da Emmett mir in seinem Testament das vorübergehende Sorgerecht übertragen hat, wirst du weiterhin bei mir im Resort wohnen. Wenn es dir lieber ist, kann ich aber auch …“ Sie stockte einen Moment. „Ich schätze, ich könnte auch hier einziehen.“

„Oh Gott, nein!“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Es war schon schwer genug, nach Grandmas Tod hier zu wohnen – und darauf waren wir wenigstens irgendwie vorbereitet.“

Richtig. Die alte Frau war ein paar Jahre lang krank gewesen.

„Aber bei Grandpa …“ Austin wischte sich verstohlen eine Träne weg und sah Jenny düster an, weil sie es bemerkt hatte. „Immer wenn ich mich umdrehe, habe ich das Gefühl, ihn gleich zu sehen – verstehst du? Also, ich würde lieber bei dir wohnen.“

„Dann ist das abgemacht.“ Jenny wäre selbst gern in Tränen ausgebrochen. Sie vermisste Kathy und Emmett wahnsinnig, sie waren während all der Jahre so gut zu ihr gewesen.

Sie beide so kurz hintereinander zu verlieren war fast nicht auszuhalten, doch sie musste stark sein, für Austin.

„Ich war beim Anwalt, um das dauerhafte Sorgerecht für dich zu beantragen, aber er will noch etwas warten.“ Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: „Er bemüht sich, Kontakt mit deinem Vater aufzunehmen.“ So gerne sie diese Tatsache für sich behalten hätte, Austin hatte ein Recht, davon zu erfahren.

Er presste die Lippen zusammen, sein Blick wurde hart. „Dem ist das doch scheißegal.“

Sie brachte es nicht über sich, ihn wegen seiner Wortwahl zu rügen. Schließlich hatte sein Vater all die Jahre, die sie Austin kannte, tatsächlich nicht das geringste Interesse an ihm gezeigt.

Und doch. „Offenbar ist er irgendwo bei Fotoaufnahmen für den ‚National Explorer‘. Wo genau, scheint in der Redaktion niemand zu wissen, aber Mr Verilla hofft, ihn bald aufzuspüren.“

„Klar. Ich kann’s kaum erwarten, dass er hier auftaucht.“

Austins Stimme triefte vor jugendlichem Sarkasmus. Doch der Ausdruck in seinen Augen zeugte von Trauer, wie immer, wenn es um seinen Vater ging.

Einen Moment lang wünschte Jenny sich glühend heiß, diesen Mann, der seinen Sohn so oft enttäuscht hatte, endlich einmal zwischen die Finger zu bekommen. Leider standen die Chancen dafür äußerst schlecht.

Aber zumindest etwas konnte sie tun, nämlich Kate Ziegler unterbrechen, die gerade ihr graues Haupt in die Küche steckte, Austin mit tränengefüllten, blassblauen Augen ansah und begann: „Oh, du armer, armer …“

Jenny trat mit solcher Autorität auf Kate zu, dass die mitten im Satz innehielt und erschrocken zurückwich.

„Mrs Ziegler!“, rief Jenny freundlich, packte die Nachbarin am Arm und schob sie zurück in den Gang Richtung Speisezimmer. „Ich wollte Ihnen ein Kompliment für den herrlichen Ambrosia-Salat machen, den Sie mitgebracht haben. Wenn ich mich nicht irre, ist die Schüssel bereits leer.“

Während die Frau hastig zurückeilte, um nachzusehen, warf Jenny Austin über die Schulter ein schiefes Lächeln zu.

Es brach ihr fast das Herz, als er zurückzulächeln versuchte, es aber nicht so ganz hinbekam.

1. KAPITEL

Jake Bradshaw tauchte fast zwei Monate später in der Stadt auf, um Viertel vor drei an einem stürmischen, aber sonnigen Aprilnachmittag.

Nicht, dass Jenny dieser Tatsache besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Himmel, sie hatte genug mit ihrem Kram zu tun. Als es an der Tür klingelte, putzte sie gerade das Fenster über der Küchenspüle und dachte darüber nach, dass die Fensterläden vom „Sand Dollar“, dem luxuriösen Cottage auf der anderen Seite des Parkplatzes, dringend mal wieder gestrichen werden müssten. Nur zufällig warf sie einen Blick auf die Uhr, um dann seufzend an sich herabzublicken. Ihr T-Shirt hatte schon bessere Zeiten gesehen, die Jeans war zerrissen. Wieso kam eigentlich nie jemand unangekündigt vorbei, wenn sie mal so richtig aufgedonnert war?

Murphy’s Law vermutlich. Achselzuckend legte sie das alte Geschirrtuch zur Seite, stellte den iPod ab, zog die Ohrstöpsel heraus und ging zur Haustür. Die Schule war bereits aus. Wahrscheinlich ein Freund von Austin, obwohl der noch nicht zu Hause war.

Als sie die Tür aufzog und den Mann erblickte, setzte ihr Verstand kurz aus. Heiliger Strohsack, wie sehr man sich doch irren konnte. Vor ihr stand nun wirklich kein Schuljunge, sondern ein vollkommen Fremder, und das war etwas, das man zu dieser Jahreszeit im Gegensatz zur Sommersaison in dieser Gegend nur selten zu sehen bekam.

Zudem war der Typ ein Gott.

Okay, nicht wirklich. Aber zumindest beinahe. Sein Haar, das sie auf den ersten Blick für blond gehalten hatte, war in Wahrheit mittelbraun und hatte von der Sonne oder einem Weltklasse-Friseur helle Strähnchen verpasst bekommen.

Sie vermutete Ersteres, da jeder Mann, den sie kannte, sich lieber kastrieren ließe, als mit einem Dutzend Stanniolpapierstreifen auf dem Kopf gesehen zu werden. Zwar hatte sie bisher noch keinen leibhaftigen metrosexuellen Großstadttypen kennengelernt, war aber ziemlich sicher, dass dieser Prachtkerl nicht zu der Sorte gehörte.

Seine gebräunten Hände waren zu rau, seine Haut wirkte ein wenig zu verwittert. Seine Schultern unter dem schicken grauen Jackett waren muskulös, unter der Jacke trug er ein olivgrünes Kapuzenshirt. Seine Levi’s mit geknöpftem Hosenschlitz schien schon einiges durchgemacht zu haben.

Die Augen konnte sie hinter den Gläsern seiner Sonnenbrille nicht erkennen, doch hatte er den herrlichsten Mund, den sie jemals bei einem Mann gesehen hatte, voll, jedoch mit klaren Konturen. Leicht vorstellbar, wie diese Lippen einen küssten.

„Ist deine Mutter da?“

„Im Ernst jetzt?“ Schön, das war vielleicht nicht die höflichste Antwort, aber bitte! Sie hatte sich schließlich gerade vorgestellt, was er mit seinen Lippen alles anstellen konnte, während Marvin Gaye in ihrem Kopf dazu leise „Let’s Get It On“ sang. Dass er sie für ein Kind hielt, hatte auf sie die gleiche Wirkung, als würde man mit einer Nadel über eine Vinyl-Schallplatte kratzen. Ihr kleiner Tagtraum – woher zum Teufel der auch immer gekommen war – zerplatzte wie eine Seifenblase.

Nach einem überraschten Blick musterte er sie genauer. Dann verzog er die Lippen zu einem schiefen Lächeln. „Oh, tut mir leid. Ihre Größe hat mich einen Moment in die Irre geführt. Sie sind kein Kind.“

„Ach, meinen Sie?“

Sein Lächeln wurde breiter. „Ich bin wohl nicht der Erste, der diesem Irrtum erliegt.“

Okay, reiß dich zusammen, Schwester. Was war denn überhaupt ihr Problem? Normalerweise war sie nicht scharf auf fremde Männer. Und da sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr in der Tourismusbranche arbeitete, neigte sie auch nicht dazu, Leute mit schneidendem Sarkasmus zu begrüßen.

Zumindest keine Leute, die ich nicht kenne.

Innerlich zuckte sie ungeduldig mit den Schultern. Vielleicht handelte es sich bei ihm ja um einen Gast. Zwar war momentan so gut wie nichts los, weshalb sie es gewagt hatte, Abby an der Rezeption allein zu lassen und sich endlich mal einen freien Tag zu gönnen. Abs, wie sie genannt wurde, war noch feucht hinter den Ohren. Vermutlich hatte das Mädchen ohne Bedenken den Weg zu ihrem Haus auf einem der Hotelstadtpläne eingezeichnet, damit dieser Fremde sich auch bloß ja nicht verlief.

Jenny setzte ein freundliches Gesicht auf. „Kann ich Ihnen helfen?“

Er blickte zu ihr hinunter. „Ja. Man sagte mir, ich könnte Jenny Salazar hier finden.“

„Sie haben sie gefunden.“

„Ich komme wegen Austin Bradshaw, es geht um die Vormundschaft.“

Jennys Herz begann schneller zu schlagen, doch sie sagte nur: „Sie sehen nicht aus wie ein Anwalt.“

„Bin ich auch nicht. Mr Verilla hat mir erklärt, dass Sie die Person sind, mit der ich sprechen muss.“

Seufzend trat sie einen Schritt zurück. „Dann kommen Sie wohl besser herein. Bitte entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich habe heute meinen Putztag.“

Ihr Cottage war winzig, es dauerte nur ungefähr fünf Sekunden, bis man mitten im Wohnzimmer stand. Sie drehte sich zu ihm um und stellte fest, dass er die Sonnenbrille abgenommen und einen Brillenbügel in den Ausschnitt seines Sweatshirts geklemmt hatte. Als sie den Blick von seinem kräftigen, gebräunten Hals nach oben gleiten ließ, blickten sie sich zum ersten Mal in die Augen.

Ein Zittern lief durch ihren Körper. Oh Gott! Sie kannte nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der eine derart hellgrüne Iris hatte – die gleiche Farbe wie die Seichtgewässer im Hood Canal.

Austin.

Wut packte sie, schnell und umfassend, und sie richtete sich zu ihrer wenig beeindruckenden vollen Größe auf. „Lassen Sie mich raten“, sagte sie mit Eiseskälte in der Stimme. „Sie müssen Jake Bradshaw sein.“

Als sie ihn jetzt ansah, konnte sie nichts mehr von gutem Aussehen und Sex-Appeal entdecken. Sie musste vielmehr daran denken, wie oft Austin gehofft hatte, sein Vater würde anrufen oder vorbeikommen, und an die schreckliche Enttäuschung jedes Mal. Verächtlich verzog sie den Mund. „Wirklich toll von Ihnen, dass Sie endlich mal eine Minute Ihrer kostbaren Zeit für Ihr Kind opfern.“

Seit über einem Jahrzehnt gehörte es nun schon zu seinem Job, sich mit allen möglichen Leuten herumzuschlagen, und Jake hatte vor langer Zeit gelernt, sich über nichts mehr aufzuregen. Aus irgendeinem Grund ging ihm das Benehmen dieses weiblichen Zwergs trotzdem ziemlich gegen den Strich. Etwas, das er verdammt noch mal überhaupt nicht begreifen konnte.

Die Frau war vielleicht gerade mal eins sechzig groß, ihr glänzendes dunkles Haar trug sie zu zwei mädchenhaften Zöpfen geflochten, aus denen sich ein paar lange Strähnen gelöst hatten – nicht sonderlich erwachsen. Sie hatte kaum Rundungen, eine klare Haut mit einem Stich ins Olivfarbene und braune Augen, so dunkel, dass das Weiß drum herum im Kontrast dazu beinah bläulich wirkte, schön geschwungene dunkle Augenbrauen und eine schmale Nase mit einem leichten Höcker.

Er runzelte die Stirn. „Was zum Teufel glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, Lady?“

Okay, das hatte er nicht sagen wollen. Aber wieder in Razor Bay zu sein, wo er einen Großteil seiner Jugend damit verbracht hatte, Fluchtpläne zu schmieden, das machte ihm gehörig zu schaffen. Zudem war er nach der fast zweitägigen Reise von Minahasa über Davao, Manila, Vancouver und Seattle fix und fertig. Ganz zu schweigen von der Anspannung, weil er seinen Sohn nach all diesen Jahren wiedersehen und zum ersten Mal die Verantwortung für ihn übernehmen würde.

Nur zu verständlich also, dass er auf die Ablehnung in ihrem Ton und auf die Tatsache, dass ihm schon wieder jemand wegen Austin Vorhaltungen machte, entsprechend reagierte.

Er schob diese negativen Gefühle beiseite und fragte in einigermaßen freundlichem Ton: „Warum genau glauben Sie, das Recht zu haben, über mich zu urteilen?“ Das hatte er weiß Gott selbst bereits oft genug getan, dafür brauchte es nun wirklich keine kleinwüchsige Fremde.

Er sah, wie sie die Arme vor der Brust verschränkte und angriffslustig das Kinn hob.

„Nun, lassen Sie mich überlegen“, entgegnete sie kühl. „Vielleicht, weil ich die Frau bin, die in den letzten elf Jahren für Austin da gewesen ist, und ich Sie heute zum ersten Mal zu sehen bekomme.“

Jake hätte am liebsten aufgeheult, so unfair war ihr Vorwurf. Allerdings, wirklich falsch lag sie ja nicht. Auf der endlos erscheinenden Reise hierher hatte er genug Zeit zum Nachdenken gehabt. Aber er hatte nicht vor, sich einer vollkommen Fremden gegenüber zu verteidigen.

Zudem wollte er auf keinen Fall das Ansehen von Austins Großeltern beschädigen. Erstens, weil sein eigener Vater sich so verhalten hätte – er hätte nur an sich selbst gedacht und nicht etwa daran, dass sein Sohn diese Leute geliebt hatte – und zweitens war er Emmett und Kathy dankbar dafür, dass sie den Job übernommen hatten, den er nicht hatte übernehmen wollen.

Sie hatten Austin beschützt, leider Gottes auch vor ihm. Tja, Pech gehabt, find dich damit ab, du Genie.

Irgendwo über Midway Island war ihm aufgegangen, dass Emmett und Kathy anfangs eigentlich ziemlich nachsichtig mit ihm gewesen waren. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie ihn endgültig aus Austins Leben verbannt hatten.

Das war aber gar nicht der Punkt – zumindest nicht in diesem Moment. Der Punkt war, dass er endlich tat, was er schon vor Jahren hätte tun sollen: sich der Verantwortung stellen.

Also los.

Leider änderte sein Entschluss nichts daran, wie sehr das Verhalten dieser Frau vor ihm an seinen Nerven zerrte. Er trat unwillkürlich einen Schritt auf sie zu. „Tatsache ist, dass ich Austins Vater bin und dass ich jetzt hier bin.“

Damit hatte sie wohl nicht gerechnet, denn ihre langen, dichten Wimpern senkten sich, die zarten Lider legten sich kurz über ihre mandelförmigen Augen, dann sah sie ihn wieder an.

Das Ganze dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Hatte sie seine aufgestaute Wut bemerkt? Jake richtete sich langsam auf. Verdammt. Sie befürchtete doch nicht etwa, dass er sie schlagen würde.

Er trat einen großen Schritt zurück und stopfte die Hände in die Hosentaschen. In dem Moment flog die Hintertür laut polternd auf – und so, wie die kleine Miss Salazar zusammenzuckte, wusste er genau, wer da gekommen war. Sein Herz begann heftig zu hämmern, während er zur Küchentür starrte.

„Hey, Jenny“, hörte er eine jungenhafte Stimme aus der Küche. „Ich bin zu Hause.“

Die Kühlschranktür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, dann knallte etwas Blechernes auf einen harten Untergrund.

„Hey, Alter, lass mir noch einen Keks übrig!“

„Tausche einen gegen die Milch“, erklang eine zweite Jungenstimme.

„Ihr solltet lieber Gläser nehmen!“, rief Jenny warnend. „Wenn ihr direkt aus dem Karton trinkt, seid ihr tot!“

Gläser klirrten und eine Schranktür schlug zu. Danach herrschte einen Moment Stille und zwei Jungs kamen ins Zimmer gestapft. Der erste war hoch aufgeschossen, mit dunklen Haaren und – gütiger Herr im Himmel – genauso schlaksig wie er selbst in dem Alter.

Oh Gott, oh Gott. Jakes Mund wurde trocken und aus war es mit seiner Fähigkeit, immer alles um sich herum im Auge zu behalten – damit er nicht von einer Schlange gebissen, einem Insekt gestochen oder einem Tier zerfleischt wurde, das viel mehr Gewicht, Kraft und Zähne als er selbst hatte. Der gemütliche kleine Raum und alles darin verschwanden aus seinem Blickfeld, es existierte nichts weiter als sein Sohn.

Mein Sohn.

Von Glück und Panik überwältigt, von Schmerz und Bedauern, starrte Jake ihn an. Ein Gefühl, das er nie zuvor gekannt hatte, drückte auf seine Brust. Jesus. Er zitterte. Niemals hätte er gedacht, dass diese Begegnung ihm so viel bedeuten, ihn so tief treffen würde. Fühlte Liebe sich etwa so an?

Bei diesem Gedanken richtete er sich auf. Zum Teufel, nein.

Das konnte nicht sein. Erstens: Er war ein Bradshaw und was die Bradshaw-Männer unter Liebe verstanden, war so verdreht, dass es diese Bezeichnung in keiner Weise verdiente. Und zweitens: Ein Mann musste jemanden doch erst mal kennen, bevor er mit dem Wort Liebe herumspielen durfte.

Er holte tief Luft. Wahrscheinlich handelte es sich schlicht um ein Wunder, dass sein Sohn bereits so groß war. Er hatte Bilder von Austin als Zweijährigen und als Vierjährigen vor Augen. Himmel, auch als Sechsjährigen – so alt war er auf dem letzten Foto gewesen, das Kathy ihm geschickt hatte.

Das hier war kein kleines Kind – das war fast schon ein Erwachsener. Nicht, dass er nicht wüsste, wie alt der Junge war, natürlich wusste er das.

Er hatte einfach keine klare Vorstellung von seinem Sohn im Kopf gehabt.

Damals hatte er sich immer wieder gesagt, dass er das Richtige tat – hatte sich eingeredet, dass es Austin bei seinen Großeltern besser ging, die dem Jungen, im Gegensatz zu ihm, ein stabiles, strukturiertes Leben bieten konnten. Und er hatte recht gehabt.

Zu sehen, was er da gleichgültig einfach so weggeworfen hatte, ohne auch nur einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden, brach ihm jetzt fast das Herz.

Der Junge, der keine Ahnung von den Schuldgefühlen hatte, die ihn zu übermannen drohten, steuerte direkt auf Jenny zu und beachtete ihn überhaupt nicht.

„Kann ich heute bei Nolan übernachten?“, fragte er. „Seine Mom ist einverstanden.“

Sein Blick streifte Jake desinteressiert, dann wandte er sich wieder an Jenny: „Sie bestellt Pizza bei ‚Bella T’s‘. Nolan hat ein neues X-Box-Spiel, das wir ausprobieren wo…“

Auf einmal riss er den Kopf herum, um ihn anzustarren.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, fragte er, wobei sein erschütterter Gesichtsausdruck erkennen ließ, dass er es bereits wusste.

Jake schluckte, darum bemüht, trotz des Aufruhrs in ihm ruhig zu bleiben. Beinahe automatisch sagte er: „Dein Dad. Ich …“

Der Junge unterbrach ihn, indem er verächtlich schnaubte.

„Von wegen. Falls Sie es nicht wissen … und ich vermute, Sie wissen es nicht, weil ich Sie heute zum ersten Mal sehe …“ Geringschätzung sprach aus jedem einzelnen seiner Worte. „Ich bin dreizehn. Weder brauche noch will ich einen Dad in meinem Leben.“ Er drehte sich zu Jenny um und durchbohrte sie verärgert mit seinem Blick. „Kann ich jetzt bei Nolan übernachten oder nicht?“

Jake sah, wie sie eine Hand hob, um dem Jungen über die Wange zu streichen, sich dann aber sichtlich zusammenriss und es ließ. Ihr war wohl klar geworden, dass Austin sich für diese Zurschaustellung von Zärtlichkeit schämen würde. Stattdessen nickte sie und sagte: „Sicher.“

Ohne ein weiteres Wort – und ohne auch nur einen Blick in seine Richtung zu werfen – machte der Teenager auf dem Absatz kehrt und verschwand mit seinem Freund aus dem Wohnzimmer. Als er nach höchstens einer Minute zurückkam, steckte eine Zahnbürste in seiner Hosentasche. In einer Hand hielt er eine lange Pyjamahose.

„Braucht ihr Geld für die Pizza?“, fragte Jenny.

„Nö“, antwortete der andere Junge. „Die übernimmt meine Mom.“

Austin steuerte auf die Küche zu, Nolan direkt auf seinen Fersen.

„Hey, warte mal kurz!“ Jake trat vor, doch die beiden Teenager waren bereits zur Hintertür hinausgestürmt. Er wusste nicht, ob er Enttäuschung oder Erleichterung verspürte.

Was immer es auch war, es warf ihn beinahe um. Gott, er hatte sich dieses erste Treffen vermutlich hundert Mal vorgestellt, seit er von Kathys und Emmetts Tod erfahren hatte, und sich mindestens genauso viele Szenarien ausgemalt. So etwas wie gerade war ihm allerdings nicht in den Sinn gekommen. Er hatte sich auf die Wut seines Sohnes eingestellt, darauf, mit zornigen Fragen bombardiert zu werden, die er wahrscheinlich nicht zufriedenstellend beantworten konnte.

Doch niemals hätte er damit gerechnet, einfach so stehen gelassen zu werden. Er sah Jenny an. „Soll das vielleicht ein Witz sein? Sie lassen ihn gehen?“

„Was erwarten Sie denn?“ Ihre Stimme war kalt, ihr Blick sogar noch kälter. „Austin hat gerade den Mann kennengelernt, der nie da gewesen ist, wenn er ihn am nötigsten gebraucht hat. Diese Tatsache muss er erst mal verdauen.“

Ja. Wahrscheinlich schon. Der Junge hatte es selbst gesagt, er war dreizehn – und in wenigen Jahren erwachsen. Und er, ein typischer Bradshaw, hatte die Chance vertan, ihm ein Vater zu sein.

Nein. Jake straffte die Schultern. Zur Hölle damit. Frühestens in fünf Jahren würde Austin auch nur ansatzweise als Erwachsener durchgehen. Egal, wie viel Zeit er verloren hatte, ab jetzt konnte er der Mann sein, der er längst hätte sein sollen. Der wichtigste Punkt auf der Tagesordnung war, irgendwie eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen.

Austins Reaktion nach zu schließen würde das nicht leicht werden. Tja, na und? Er hatte harte Arbeit noch nie gescheut.

Und doch. Verdammt schade, dass der Junge zu alt war, um ihm ein Pony zu schenken.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Jenny. „Ich stimme Ihnen zu, dass er Zeit braucht, das zu verdauen, aber eines möchte ich klarstellen. Ich habe mit meinem Anwalt gesprochen und alles Nötige eingeleitet, um das Sorgerecht für meinen Sohn zu bekommen.“

„Nein.“

Sie starrte ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen.

„Doch. Mein Anwalt setzt gerade, während wir hier sprechen, die Dokumente auf. Ich muss sie nur noch unterschreiben, wenn ich zurück in Manhattan bin. Und dann wird Austin dort sein, wo er hingehört. Bei mir.“ Okay, es war wahrscheinlich nicht clever, ihr das so direkt zu sagen – sie schien durchaus in der Lage zu sein, ihn mit aller Gewalt davon abzuhalten und es wie einen Unfall aussehen zu lassen.

In ihren Augen lag jedoch keine Mordlust, sondern etwas anderes. Sie wirkte am Boden zerstört. Kreuzunglücklich.

Da er sehr gut wusste, wie sich das anfühlte, sagte er sanft: „Hören Sie, ich habe nicht vor, Austin einzupacken und mit ihm wegzulaufen.“ Wobei seine erste Reaktion auf die Nachricht, dass Emmett und Kathy gestorben waren, genauso ausgesehen hatte: nach Hause fahren, Austin auffordern zu packen und ihn dann dahin zu schleifen, wo er für sich ein Leben aufgebaut hatte – zumindest für die paar Monate im Jahr, die er im Land war.

Das würde er natürlich nicht tun, er wollte auf keinen Fall wie sein Vater sein. „Ich bin nicht hier, um ihn einfach so aus seinem gewohnten Umfeld zu reißen. Ich weiß, dass er Zeit braucht, sich an mich zu gewöhnen und mich kennenzulernen.“

Sie atmete erleichtert auf und es ärgerte ihn, dass es ihm wichtig war, ihr die Angst zu nehmen. Schließlich war es für alle Beteiligten besser, keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen.

„Nicht, dass Sie mich missverstehen“, fuhr er mit seiner kühlsten Stimme fort. „Mein Leben spielt sich in New York ab und dorthin werden wir auch ziehen. Ich bleibe nur eine Weile hier, damit mein Sohn sich an den Gedanken gewöhnen kann. In der Zwischenzeit werde ich herausfinden, was mit Emmetts Vermögen geschieht.“ Als ihr Blick misstrauisch wurde, kniff er die Augen zusammen. „Fangen Sie bloß nicht so an. Ich bin nicht hinter Austins Geld her – ich habe selbst mehr als genug.“

„Und warum sollte ich Ihnen das glauben?“

Himmel! Am liebsten hätte er einen großen Schritt auf sie zu gemacht und sich drohend vor ihr aufgebaut. Ob sie ihn dann immer noch so geringschätzig behandeln würde?

Im nächsten Moment erschrak er. Wie zur Hölle kam er nur auf eine solche Idee? Nie im Leben hatte er eine Frau grob behandelt.

Als er jetzt in ihr niedliches Gesicht mit der kämpferischen Miene blickte, hätte er beinahe geschnaubt. Diese kleine Maus würde wahrscheinlich die Polizei rufen, sollte er auch nur einen falschen Schritt machen. Zu Recht, wenn man bedachte, dass sie allein mit ihm in ihrem Haus war – mit einem Fremden, dem sie nicht über den Weg traute.

Es wäre wirklich das Tüpfelchen auf dem verdammten i, wenn jetzt auch noch sein Halbbruder Max reingeschneit käme, um ihn festzunehmen. Der Mistkerl würde ihn mit Begeisterung ins Kittchen stecken, soviel stand fest.

Jake atmete tief durch. „Ich verlange nicht, dass Sie mir glauben, aber im Interesse der guten Sache tue ich Ihnen einen Gefallen.“ Er fischte eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihr. „Das ist die Nummer meiner Assistentin – rufen Sie sie an, dann soll sie Ihnen meine letzten Bankauszüge zufaxen.“ Er sah sie direkt an. „Wir haben hier einige echte Probleme zu lösen. Dass ich meinem Kind Geld stehlen könnte, ist aber keins davon.“ Wieder verschränkte sie die Arme unter ihren kleinen Brüsten.

„Was wollen Sie von mir?“

Ihre Stimme klang ruhig, seine Schultern entspannten sich. „Sie sind Austin offensichtlich sehr wichtig. Ich möchte, dass Sie zwischen uns vermitteln.“

Sie lachte ihm ins Gesicht. „Wie in aller Welt kommen Sie darauf, dass ich das tun würde?“

„Weil ich bereit bin, die nächsten ein oder zwei Monate hierzubleiben, damit er das Schuljahr abschließen kann. Danach werden wir auf jeden Fall nach Manhattan ziehen.“ Er strich sich durchs Haar. „Ich bilde mir nicht ein, dass er sich darüber besonders freuen wird. Aber wenn er Ihnen irgendetwas bedeutet, dann helfen Sie ihm. Sie können natürlich auch weiterhin kratzbürstig sein und es ihm dadurch umso schwerer machen. Ich schätze, das ist Ihre Entscheidung.“

„Na schön, ich werde darüber nachdenken.“

Eine Weile sah sie ihn an, dann senkte sie diese unglaublichen Wimpern über ihre kaffeebraun schimmernden Augen.

„Austin zuliebe“, betonte sie. „Egal wie ich mich entscheide, ich tue das nicht für Sie.“

„Was Sie nicht sagen“, murmelte er und streckte ihr die Hand hin, um den Deal zu besiegeln. Ihre schmalen Finger waren warm, ihr Griff fest.

Auf die Wirkung bei der Berührung, die wie ein Stromschlag durch seinen Körper jagte, war er nicht vorbereitet. Dennoch gelang es ihm, sich nichts anmerken zu lassen und sein eigentlich immer funktionierendes schiefes Lächeln aufzusetzen.

„Glauben Sie mir, ich würde keine Sekunde lang etwas anderes annehmen.“

2. KAPITEL

N achdem sich Jake Bradshaw verabschiedet hatte, ging Jenny zwischen Couch, Kamin und Panoramafenster auf und ab. Das sowieso schon kleine Wohnzimmer schien von Minute zu Minute zu schrumpfen.

Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als ihr rastloses Herumgewandere schließlich vor dem Fenster endete. Blind starrte sie über das Hotelgelände hinweg auf die berühmte Doppelspitze der Olympic Mountains, The Brothers, nach denen das Hotelresort benannt war. „Oh Gott.“ Sie stieß die Stirn zwei, drei Mal gegen das kalte Glas. „Was zum Teufel soll ich jetzt bloß machen?“

Ihr fiel nichts ein. Schon das war einfach unglaublich – normalerweise hatte sie für alles einen Plan. Zumindest seit ihr Vater damals ins Kittchen gewandert war. Im Moment jedoch war nichts als weißes Rauschen in ihrem Kopf, während es in ihrem Bauch giftig brodelte. Allein würde sie mit diesem Durcheinander nicht zurechtkommen.

Sie brauchte Tasha.

Bereits beim Gedanken an ihre beste Freundin legte sich der Aufruhr in ihrem Magen etwas. Sie stürzte ins Schlafzimmer, riss die Handtasche aus dem oberen Regal des Schranks, wo sie immer lag, und wollte gerade zur Haustür flitzen, da fiel ihr Blick in den Ganzkörperspiegel an der Innenseite der Schranktür.

Heiliger Bimbam. Sie hatte ja noch ihre Putzklamotten an. Ganz zu schweigen davon, dass sie kein Make-up trug und auch nichts, was einer Frisur ähnelte. „Das kann ich bestimmt besser.“

Also schleuderte sie die Tasche auf die Kommode, zog die Keds aus und kickte sie in den Schrank. Dann schälte sie sich aus der Jeans und zerrte das T-Shirt herunter.

Sie suchte eine Feincordhose heraus, einen dünnen roten Pulli und ihre hohen schwarzen Lederstiefel. Nachdem sie sich umgezogen hatte, tupfte sie etwas Lipgloss auf, tuschte sich die Wimpern, zog die Gummibänder aus ihrem Haar und bürstete es ordentlich.

Das musste reichen.

Zwei Minuten später war sie aus der Tür, zog auf dem Weg nach draußen eine Military-Jacke an und eilte zur Uferpromenade, die an der kurvigen Küste entlang in die Stadt führte.

Der Wind zerrte an ihrem Haar, daher nahm sie eine Strickmütze aus der Jackentasche, stülpte sie über und steckte die Strähnen darunter. Es war eher stürmisch als kalt, und das Gute an der böigen Brise war die klare Luft und dass die Wolken fortgeblasen wurden. Majestätisch erhoben sich die Olympics hinter den grünen Gebirgsausläufern auf der anderen Seite des bewegten Wassers, die schneebedeckten Gipfel blendend weiß vor dem klaren blauen Himmel.

Zwei Blocks vom Strand entfernt schnitt die tatsächliche Razor Bay, nach der die Stadt benannt war, einen weiten Halbkreis in das Land. Die Uferpromenade ging in die Harbor Street mit den bunt gestrichenen Hausfassaden über. Als Jenny sich der Bucht näherte, legte sich der Wind, das Wasser wurde ruhiger.

Jemand klopfte an die Scheibe, als sie am „Sunset Café“ vorbeikam, und sie winkte Kathy Tagart und Maggie Watson zu, die an einem Tisch direkt am Fenster saßen. Sie spazierte an der „Razor Bay Jetski & Fahrradvermietung“ vorbei, die unbeleuchtet war, weil der Laden zu dieser Jahreszeit nur an den Wochenenden geöffnet hatte. Das türkis, blau und grün gestrichene Haus daneben war ihr Ziel, das „Bella T’s“, die Pizzeria.

Jenny riss die Tür auf und der herrliche Duft von Pizzasoße waberte aus dem Steinofen und wärmte sie wie eine Wolldecke. Es war noch etwas zu früh für den Andrang zum Abendessen, nur ein älteres Paar, das sie nicht kannte, saß am Fenster und eine Gruppe lachender, quatschender Teenager hatte zwei Tische in der Nähe des Raums, in dem die Spiele standen, in Beschlag genommen. Als sie auf die Theke zusteuerte, öffnete und schloss sich die Tür zu diesem Zimmer, aus dem das elektronische Piepen und Dröhnen der Videospiele schallte.

Tasha, die gerade etwas schnippelte, sah auf und begann breit zu grinsen. „Ja hallo, Freundin!“, rief sie. „Ich habe gar nicht mit dir gerechnet. Dachte mir, du würdest deinen freien Tag mit Schoko-Popcorn und einem Liebesroman verbr…“ Ihr Lächeln erstarb und sie senkte die Stimme. „Was ist denn los? Ist was mit Austin?“

„Nein, Austin geht es gut.“ Jenny stieß ein Lachen aus, das sich jederzeit in alles Mögliche verwandeln konnte. „Na ja, gut ist vielleicht etwas übertrieben, wenn man bedenkt, dass sein Vater in der Stadt ist und beschlossen hat, den Jungen mit nach New York zu nehmen.“

„Wie bitte?“ Tasha legte das Messer weg und wischte sich die Hände an der Schürze ab, die sie um ihre schmale Taille gebunden hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, warte, lass uns an den Tisch dort gehen, wo wir etwas Ruhe haben. Magst du einen Schluck Rotwein?“

„Oh ja, das wäre sooo herrlich.“

„Kommt sofort.“ Sie wählte ein großes Weinglas aus und goss ordentlich von dem Hauswein ein. „So, bitte, Süße.“ Sie schob ihr das Glas hin, während sie sich selbst etwas weniger großzügig einschenkte, dann musterte sie sie kurz von Kopf bis Fuß. „Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?“

„Zum Frühstück, schätze ich.“ Jenny wusste es nicht mehr.

Tasha hatte sich schon abgewandt. „Ich mache dir was.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich was runterbekomme“, sagte sie, doch ihre Freundin hatte bereits Teig aus dem Kühlschrank genommen, legte ihn auf eine Holzplatte und träufelte Soße darauf.

„Wenn es so schlimm ist, wie es klingt, dann brauchst du Energie. Kanadischen Schinken und Ananas, so wie du es am liebsten magst, obwohl ich nicht begreifen kann, wie irgendjemand Ananas auf …“ Sie winkte ab. „Bring unsere Gläser schon mal zu unserem Platz, ich komme gleich mit der Pizza nach.“

„Scheiße, Alter!“

Eine ungestüme Jungmännerstimme schallte durch den Raum, das ältere Paar starrte schockiert zum Tisch der Teenager. Jenny drehte sich nicht einmal um. Stattdessen beobachtete sie ihre Freundin dabei, wie die sich die große Pistole schnappte, die sie immer unter der Theke bereitliegen hatte. Tasha zielte und drückte den Abzug.

Der Tischtennisball, der aus dem Lauf schoss, traf den Hinterkopf des fluchenden Teenagers, prallte dort ab und hüpfte über den Linoleumboden.

„Was zum …“

Der Junge presste eine Hand auf die Stelle, schob den Stuhl zurück und wirbelte herum, das Gesicht vor Ärger verzerrt. Kaum hatte er Tasha erblickt, überlegte er es sich anders.

Zum ersten Mal seit Jake Bradshaw aufgetaucht war, verspürte Jenny so etwas wie Belustigung. Tasha hatte diesen Effekt auf den männlichen Chromosomen-Pool. Das hatte sie schon immer interessant gefunden, denn an der Figur ihrer Freundin konnte es nicht liegen. Sie war nicht gerade wie eine Sexgöttin gebaut, sondern groß und schlaksig, hatte normale Brüste und keine nennenswerten Hüften. Mit ihren graublauen Augen, der vollen Oberlippe und den präraffaelitischen rotblonden Locken sah sie eher exotisch als schön aus, wie aus einem Michael-Parks-Gemälde – und haute jeden Mann einfach um. Der Blick, den Tasha dem Jungen zuwarf, hatte nichts von seiner sonstigen Wärme.

„Das hier ist ein Familienrestaurant“, sagte sie ruhig. „Also achte auf deine Wortwahl, sonst fliegst du raus. Und ich warne dich nur einmal.“

Er zögerte, wahrscheinlich wollte er sich mit den üblichen vorhersehbaren Teenager-Macho-Allüren verteidigen, doch dann schluckte er, sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. „Ja, Ma’am“, murmelte er. „Tut mir leid.“

„Ja, entschuldige, Tasha“, rief Brandon Teller. „Mein Cousin ist zum ersten Mal hier. Er kennt die Regeln noch nicht.“

„Aber jetzt.“ Tasha warf dem Jungen ein Lächeln zu. „Und da ich Männer klasse finde, die bereit sind, sich zu entschuldigen, kann ich dir versichern, dass du mit der Situation besser umgegangen bist als die meisten. Willkommen im ‚Bella T’s‘.“

Als Jenny und sie sich kurz darauf an einem Tisch in der hintersten Ecke setzten, platzte Tasha heraus: „Mal im Ernst, seit wann bin ich eine Ma’am?“ Sie machte eine abwehrende Handbewegung, bevor Jenny überhaupt etwas entgegnen konnte „Egal. Das ist jetzt nicht wichtig. Ich möchte, dass du ein Stück Pizza isst.“

„Ich glaube, ich kann wirklich nicht …“

„Versuch es.“

Also biss Jenny einen winzigen Happen ab. Sie befürchtete, ihr Magen würde rebellieren, so übel war ihr bei dem Gedanken, dass Austin ans andere Ende des Landes gezerrt werden sollte, doch dann explodierte der herrliche Geschmack auf ihrer Zunge. Die goldene Kruste, die schmackhafte Soße und der geschmolzene Käse – das alles war himmlisch tröstlich.

Für sie war Pizza gleichbedeutend mit Tasha und Tash war seit ihrem zweiten Schultag auf der Razor Bay High ihre beste Freundin. Damals hatte Tasha sie gegen einige Mädchen verteidigt, die sich wegen des landesweiten Skandals, den das aufgeflogene Schneeballsystem ihres Vaters verursacht hatte, über sie lustig machten. Dabei hatte Tasha in der Schule sogar einen schlechteren Stand als sie, in ihrem Fall wegen ihrer Mutter. Die meisten Teenager, die bereits auf der Abschussliste standen, hätten die Klappe gehalten und sich nicht auch noch für ein fremdes Mädchen eingesetzt.

Jenny lächelte. „Habe ich dir in letzter Zeit mal gesagt, wie stolz ich auf dich bin? Du hast es geschafft, Tash. Du machst nicht nur die weltbeste Pizza, sondern dein Laden brummt, selbst wenn nicht Saison ist.“

Seit „Bella T’s“ vor zehn Monaten eröffnet hatte, war es von Anfang an gut angenommen worden. Nicht nur von den Touristen, auch von den Einheimischen.

Tasha grinste schief. „Hab dir schon vor hundert Jahren gesagt, dass ich es schaffe.“

Das hatte sie – als sie ihr im Bauwagen ihrer Mutter zum ersten Mal eine selbst gemachte Pizza auftischte. An diesem Abend erzählte sie von ihrem Traum, eines Tages eine eigene Pizzeria zu besitzen.

Damals beschlossen sie gemeinsam, es trotz der widrigen Umstände zu etwas zu bringen. Tasha, die nur sechs Monate älter war, hatte zu der Zeit sogar bereits einen richtigen Businessplan ausgearbeitet, den sie in ihrer Unterwäscheschublade aufbewahrte. Sie, Jenny, hingegen lebte von einem Tag auf den anderen, versuchte, möglichst gute Noten zu schreiben und arbeitete nach der Schule als Zimmermädchen im „The Brothers Inn“, damit sie und ihre Mutter nicht auf der Straße landeten.

Jenny bewunderte Tasha für das, was sie erreicht hatte, und freute sich von ganzem Herzen für sie, weil niemand härter für seinen Traum gearbeitet hatte.

In instinktivem Einverständnis plauderten sie während des Essens über alles Mögliche, nur nicht über das, was Jenny hergeführt hatte. Schließlich griff Tasha nach der Weinkaraffe, die sie mit an den Tisch gebracht hatte, und goss nach.

„Jetzt siehst du schon etwas entspannter aus“, sagte sie. „Also atme ein paar Mal tief durch und dann erzähl mir alles, ohne dich aufzuregen.“

„Leichter gesagt als getan“, gestand Jenny. „Ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist.“ Sie beruhigte ihre Atmung, wie ihre Freundin empfohlen hatte, und erzählte in allen Details, was vorgefallen war.

„Mist“, sagte Tasha leise. „Was wirst du jetzt tun?“

Jenny stieß die Luft aus. „Ich weiß es nicht. Er hat sich seit dreizehn Jahren nicht um Austin gekümmert – ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass er irgendwann auftauchen könnte. Aber nicht nur das“, fuhr sie wütend fort, „er hat auch gleich noch einen Plan in der Tasche, wie er Austins Leben am besten zerstören kann. Nämlich indem er ihn aus allem rausreißt, was er kennt! Gott, ich würde am liebsten …“ Sie starrte auf ihre Hände, atmete erneut tief durch und öffnete die Fäuste, die sie unbewusst geballt hatte. Dann sah sie ihre Freundin an und lächelte schwach. „Ich würde ja gerne sagen können, dass ich in der Sache völlig selbstlos bin, dass ich mir ausschließlich Sorgen um Austins Wohlbefinden mache, aber, Gott, Tasha, ich dachte wirklich, ich würde das dauerhafte Sorgerecht bekommen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass er so weit weg sein wird!“

„Natürlich kannst du das nicht – du bist für ihn da, seit er zwei Jahre alt ist.“

„Erst seit er dreieinhalb ist, sind wir uns so richtig nahe.“

Tasha griff nach ihrer Hand, um sie zu drücken. „Vielleicht wird es ja gar nicht dazu kommen. Du hast gesagt, dass Bradshaw bis zum Schuljahresende hierbleibt, stimmt’s? Vielleicht wird es ihm schnell langweilig, den Daddy zu spielen, und er verschwindet bald wieder.“ Sie verdrehte die Augen. „Okay, es ist ziemlich mies, sich so was zu wünschen.“

„Ich weiß.“ Jenny presste eine Handfläche gegen ihre Stirn, hinter der sich bereits Kopfschmerzen zusammenbrauten. „Ich kann einfach nicht vergessen, wie lange Austin von einem Vater geträumt hat, bis er irgendwann diesen Traum begraben musste.“ Sie seufzte frustriert. „In dieser Situation kann keiner gewinnen. Entweder er oder ich oder wir beide werden verletzt.“ Sie beugte sich über den Tisch. „Aber ich muss wie eine Erwachsene denken, denn so schlimm es auch wäre, Austin zu verlieren, ich fürchte mich noch mehr davor, Bradshaw könnte es schaffen, dass der Junge ihm verzeiht – ihn mag –, nur um sich dann wieder aus dem Staub zu machen. Das würde Austin das Herz brechen.“

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, als ihr einfiel, wie Jake Bradshaws hellgrüne Augen bei Austins Anblick zu strahlen begonnen hatten. Das war überraschend bei einem Mann, der seinen Sohn ein Leben lang ignoriert hatte.

Na und? Sie schüttelte den Gedanken ab und richtete sich auf. „Wenn er die Wahrheit sagt, wird er das Sorgerecht für Austin bekommen.“

„Ich wüsste nicht, warum er in dieser Hinsicht lügen sollte, das ist doch leicht nachzuprüfen.“

„Das denke ich auch und du kannst sicher sein, dass ich es überprüfen werde, aber wenn es so ist … er sagte, falls mir Austin wirklich etwas bedeutet, müsste ich ihm helfen, mit der Veränderung klarzukommen, und da hat er recht.“ Am liebsten hätte sie bei diesen Worten aufgeheult.

Tasha nickte. „Tut mir leid, Jen, ich fürchte, das stimmt. Hör zu.“ Sie lehnte sich über den Tisch. „Heute Abend kannst du sowieso nichts mehr unternehmen, und der Gedanke, wie du allein zu Hause sitzt und vor dich hinbrütest, gefällt mir überhaupt nicht. Du hast doch gesagt, dass Austin bei Nolan übernachtet, oder?“

„Ja. Ich bin froh, dass ich ihm nichts vorspielen muss. Ich würde ja gerne behaupten, dass ich nicht vorhabe, vor mich hinzubrüten, aber du kennst mich einfach zu gut. Jetzt allein zu Hause zu sein wäre schrecklich.“

„Also gehst du nicht nach Hause. Nach sieben wird es hier ruhiger. Du bleibst so lange hier oder machst ein paar Besorgungen und kommst dann zurück, wie du willst. Ich sorge dafür, dass Tiff heute den Laden abschließt, und wir vergnügen uns im ‚The Anchor‘. Da kann man sich am besten ablenken. Entweder wir betrinken uns, oder wir füttern die Jukebox und spielen Darts. Was sagst du?“

Sie war nicht in der Stimmung, in eine Bar zu gehen, aber das war immer noch besser, als zu Hause nervös auf und ab zu tigern. Außerdem konnte sie sich auf eines verlassen: Mit Tasha zusammen zu sein, half auf jeden Fall. „Abgemacht. Ich glaube, ich hänge hier einfach so lange rum, bis du fertig bist. Das gibt mir genug Zeit zu überlegen, was ich lieber will, Darts spielen oder mich betrinken.“

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