Was mein Herz berührt

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Sterne funkeln am samtschwarzen Himmel, in der Ferne glitzert der zugefrorene Willow Lake, und die Familie versammelt sich im Camp Kioga, um das Jahr gemeinsam ausklingen zu lassen. Genau so hat sich Logan O’Donnell das perfekte Weihnachtsfest für seinen kleinen Sohn vorgestellt. Wäre da nicht ein unerwarteter Gast, der das Familienidyll stört. Sosehr sich der alleinerziehende Vater auch nach einer Frau sehnt, die sein Leben mit ihm teilt - die scharfzüngige, unabhängige Darcy Fitzgerald ist leider gar nicht sein Typ.
Bei Spaziergängen im tief verschneiten Wald und an Abenden vor dem knisternden Kaminfeuer berühren ihre Seelen einander. Wird die Magie der Weihnachtszeit alte Wunden heilen und zwei Menschen helfen, neue Bande zu knüpfen?


  • Erscheinungstag 10.11.2014
  • Bandnummer 9
  • ISBN / Artikelnummer 9783956493683
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Wiggs

Was mein Herz berührt

Aus dem Amerikanischen von Ivonne Senn

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Candlelight Christmas

Copyright © 2013 by Susan Wiggs

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN eBook 978-3-95649-368-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. TEIL

Weihnachtsgurken

Der Ursprung der Tradition, als letzten Schmuck eine Gurke an den Weihnachtsbaum zu hängen, ist in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Die mundgeblasenen Anhänger in Form einer Gewürzgurke sollen, so heißt es in den Vereinigten Staaten, ursprünglich aus dem thüringischen Lauscha in Deutschland kommen und bis ins Jahr 1847 zurückverfolgt werden können. In vielen Familien auf der ganzen Welt wurde dieser Brauch von Generation zu Generation weitergegeben. Das erste Kind, das die im Grün des Weihnachtsbaums gut versteckte Gurke entdeckt, bekommt ein zusätzliches Geschenk, und der erste Erwachsene, der sie sieht, kann sich auf ein Jahr voller Glück freuen. Vermutlich dient dies alles nur dem Ankurbeln des Verkaufs, aber wer hätte nicht gerne ein Geschenk mehr oder sogar Glück?

Das folgende Rezept für sauer eingelegte bunte Gurken wurde von der Legende der Weihnachtsgurken inspiriert. Wegen der Verwendung nicht behandelter Zutaten ist es sehr leicht verdaulich, aber nur begrenzt haltbar.

Letzteres gilt auch für die Liebe einer Frau.

1 Tasse Wasser

1 Tasse Weißweinessig

2 TL Salz

1 TL Zucker

1 Handvoll frischer Dill

ganze Pfefferkörner und gepellte Knoblauchzehen

kleine Gurken (oder normale Gurken der Länge nach geviertelt)

in feine Scheiben geschnittene Radieschen

Die Gurken und die Radieschen abwechselnd in durchsichtige Gläser füllen, sodass ein schönes rot-grünes Muster entsteht. Gewürze und Kräuter hinzugeben. Wasser, Essig, Zucker und Salz in ein Gefäß mit Deckel geben und gut schütteln. Die Mischung auf die Gurkengläser verteilen. Gläser fest verschließen und kühl stellen. Am nächsten Morgen sind die Essiggurken bereits fertig zum Genießen. Sie halten ungefähr einen Monat, danach sollte man sie sicherheitshalber entsorgen. Je länger die Gurken ziehen, desto weicher werden sie, und wenn Sie diese Metapher nicht verstehen, dann kann ich Ihnen leider auch nicht helfen. Wie auch immer, wenn Sie es lieber frisch und knackig mögen, sollten Sie mit dem Verzehr nicht allzu lange warten.

(Quelle: Original; adaptiert von den Ohio State University Extension Guidelines, 2009)

PROLOG

Vergangene Weihnachten

E s gibt Schlimmeres, als Weihnachten mit dem Exmann zu verbringen, dachte Darcy Fitzgerald, als sie in die Auffahrt vor dem Haus einbog.

Eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung zum Beispiel. Das wäre vermutlich schlimmer. Oder mit einem Kleinflugzeug abzustürzen. Oder in der neunten Klasse George Eliots „Silas Marner“ zu lesen. Erfrierungen, von einem Krokodil angegriffen zu werden, eine faule Auster zu essen. Kopfläuse.

Sie ging im Geiste all die Dinge durch, die schlimmer wären, während sie sich für die vor ihr liegenden Stunden wappnete. Die Reifen ihres Autos wirbelten den schmelzenden Schnee von letzter Nacht auf, als sie ihren Volkswagen in die enge Parklücke manövrierte.

Ihre Kleidung hatte sie heute mit großer Sorgfalt ausgewählt. Sie wollte, dass Huntley sah, dass er etwas ganz Besonderes verloren hatte. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das lächerlich war. Huntley Collins hatte sie schon seit langer Zeit nicht mehr wirklich wahrgenommen.

Um die Tüte mit den Geschenken aus dem Kofferraum zu holen, musste sie in den knöcheltiefen grauen Schneematsch treten. Der zog sofort in ihre wildledernen Lieblingspumps ein, und die Eiseskälte, die sich daraufhin in ihren Knochen ausbreitete, ließ ihren Atem stocken. Sie machte einen Schritt zurück, rutschte dabei auf dem glatten Untergrund aus und landete mit dem Hintern voraus in einer schmutzigen Schneewehe. Die Tüte mit den Geschenken riss, und ihre festlich eingepackten Pakete fielen zu Boden.

„Na super“, murmelte sie und rappelte sich auf. Vergeblich versuchte sie, den Schmutz von ihrem Rock zu wischen.

Der vielleicht dusseligste Teil an der ganzen Sache war, zu wissen, dass sie dieser Schmierenkomödie auch noch zugestimmt hatte. Huntley hatte sie überredet, die Feiertage gemeinsam zu verbringen, um nicht allen anderen das Fest zu verderben.

Die Fitzgeralds und die Collins waren seit Jahrzehnten beste Freunde und Nachbarn. Die beiden Collins-Jungs und die fünf Mädchen der Fitzgeralds waren gemeinsam aufgewachsen, hatten an langen Sommerabenden Verstecken gespielt, waren am Cupsogue Beach gesurft, hatten einander Streiche gespielt, vor dem Schulball Bier aus dem Kühlschrank geklaut, um sich Mut anzutrinken, hatten einander Geheimnisse erzählt – und Lügen. Huntleys älterer Bruder war mit Darcys großer Schwester verheiratet. Die Familienvermögen sollten für immer miteinander verbunden sein.

Unglücklicherweise umfasste Huntleys Vorstellung von „für immer“ ungefähr fünf Jahre. Vor Thanksgiving hatte Darcy von seiner Affäre erfahren – seiner Affäre mit seiner Exfrau, um die Sache noch schlimmer zu machen. Dennoch war Darcy heute aus Rücksicht auf ihre Stiefkinder Amy und Orion gekommen; allerdings erwartete sie von den mürrischen, gereizten Teenagern nicht viel.

Fünf Jahre lang hatte sie für die beiden zu deren Leben gehört; ihre Geschenke hatte sie mit Sorgfalt ausgesucht. In einem schwachen Moment hatte sie sogar eine Kleinigkeit für Huntley gekauft, damit er unter dem Baum ein Geschenk von seinen Kindern finden würde, die zu egoistisch und, zumindest im Moment, zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um etwas für ihn zu besorgen.

Sie sammelte ihre Geschenke ein und fand auch noch das kleinste Päckchen im Schneematsch: eine jodelnde Plastikgurke. Es herrschte der Brauch, dass der Erste, der die Gurke am Weihnachtsbaum entdeckte, eine besondere Überraschung bekam. Sie schob den kleinen Schalter an der Rückseite der Gurke hoch. Es erklang ein kurzes gurgelndes Geräusch, dann verstummte es.

„Was für eine Überraschung!“, murmelte Darcy und trottete mit finsterer Miene die Stufen zur Eingangstür hinauf.

2. TEIL

Alleinerziehender Vater zu sein ist keine Entschuldigung dafür, seinem Kind ungesundes Essen vorzusetzen. Irgendwann muss man sich wie ein Mann zusammenreißen und kochen lernen.

 

Die Wirkung einer Schüssel voller umwerfend leckerer Spaghetti sollte man nie unterschätzen.

1 Dose geschälte Tomaten (400 g), in grobe Stücke geschnitten

115 g Butter

1 große Zwiebel, fein gehackt

Parmesankäse, gerieben

250 g Spaghetti, al dente gekocht

Die ersten drei Zutaten für ungefähr 45 Minuten zugedeckt in einem Topf schmoren lassen und danach mit einem Zauberstab pürieren. Über die heißen Spaghetti geben und mit Parmesan bestreuen.

(Quelle: San Marzano Tomatenfabrik)

1. KAPITEL

Sommerende

Logan O’Donnell stand auf einer Plattform gute dreißig Meter über der Erde und rüstete sich dafür, seinen zehnjährigen Sohn hinunterzuschubsen. Eine leichte Brise fuhr durch die Baumkronen und wirbelte weit unten am Waldboden Blätter auf. Das Kabel einer Seilrutsche, so dünn wie ein Faden in einem Spinnennetz, hing zwischen den Plattformen in den Bäumen. Unter ihnen stürzte das Wasser der Meerskill Falls über die Felsen.

„Das mache ich auf keinen Fall!“ Charlie, Logans Sohn, zog die Schultern so weit hoch, dass sie beinahe den Rand seines Helms berührten.

„Komm schon!“, munterte Logan ihn auf. „Du hast mir versprochen, dass du es machst. Die anderen Kinder hatten so viel Spaß. Sie warten alle auf der anderen Seite auf dich. Und ich habe das Gerücht gehört, dass drüben eine Tüte mit Käsechips herumgereicht wird.“

„Ich habe meine Meinung geändert.“ Charlie setzte eine entschlossene Miene auf, die Logan nur zu gut kannte. „Auf keinen Fall. Auf gar keinen Fall!“

„Ach, Charlie. Es ist beinahe wie Fliegen. Du fliegst doch gerne, oder?“ Natürlich tat er das. Charlies Stiefvater war immerhin Pilot. Logan schob den Gedanken schnell beiseite. Es gab nur wenige Dinge, die deprimierender waren, als daran zu denken, dass sein Sohn einen Stiefvater hatte, selbst wenn dieser Stiefvater eigentlich ganz in Ordnung war. Da hatte Charlie wirklich Glück gehabt. Trotzdem war es deprimierend.

Charlie war den Sommer über bei Logan. Während des Schuljahres lebte der Junge mit seiner Mom und seinem Stiefvater in Oklahoma, Millionen Meilen entfernt von Logans Haus in Upstate New York. Es nervte ihn, sein Kind so weit weg zu wissen. Ohne Charlie fühlte er sich, als fehle ihm ein Arm oder ein Bein.

Wenn er seinen Sohn bei sich hatte, versuchte Logan immer, aus ihrer gemeinsamen Zeit das meiste herauszuholen. Er plante sein gesamtes Jahr um Charlies Besuche herum. Dazu gehörte auch, als freiwilliger Betreuer im Camp Kioga zu arbeiten und bei der Durchführung der Sommerprogramme für die Kinder aus dem Ort und die Stadtkinder aus benachteiligten Familien zu helfen. Die Seilrutsche über die Meerskill Falls war ganz neu, aber schon zum Lieblingsspielzeug aller geworden. Na gut, fast aller.

„Hey, heute ist der letzte Tag vom Sommercamp. Deine letzte Chance, die Seilrutsche auszuprobieren.“

Charlie atmete zitternd ein. Er beäugte das Geschirr aus Gurtband und Metallösen, das man ihm umgeschnallt hatte. „Es sah wirklich nach Spaß aus – so lange bis ich angefangen habe, darüber nachzudenken, es auch zu tun.“

„Erinnerst du dich noch daran, dass du Angst hattest, vom Steg am Willow Lake in den See zu springen? Dann hast du es irgendwann einfach getan, und es war großartig.“

„Hal-lo-ho! Das war ja wohl was ganz anderes“, widersprach Charlie.

„Du wirst es lieben. Vertrau mir.“ Logan tätschelte Charlies Helm. „Sieh dir doch nur all die Sicherheitsvorkehrungen an. Das Geschirr, die Karabiner, das zweite Seil. Es kann gar nichts schiefgehen.“

„Hey, Charlie!“, rief eines der Kinder von der anderen Plattform herüber. „Mach es einfach!“

Die Ermutigung kam von André, Charlies bestem Freund. Die beiden waren den ganzen Sommer lang unzertrennlich gewesen, und wenn irgendjemand es schaffen konnte, Charlie von etwas zu überzeugen, dann war es André. Er war über ein Projekt für sozial schwache Familien in der Bronx ins Camp gekommen, und für ihn hatte dieser Sommer aus lauter ersten Malen bestanden: Er war das erste Mal mit dem Zug gefahren, hatte das erste Mal Ulster County besucht, wo das Camp Kioga sich an das nördliche Ende des Willow Lake schmiegte. Er hatte das erste Mal in einem Bungalow geschlafen, hatte das erste Mal Wildtiere aus der Nähe gesehen, war das erste Mal geschwommen und auf dem kristallklaren See gepaddelt … Und er hatte das erste Mal in seinem Leben seinen Freunden am Lagerfeuer Gespenstergeschichten erzählt. Logan fand es gut, dass im Camp alle Kinder gleich waren, egal, aus welchen Verhältnissen sie kamen.

„Ich will es ja irgendwie tun“, sagte Charlie.

„Es ist deine Entscheidung, Kumpel. Du hast gesehen, wie es geht. Du musst dich an die Kante stellen und einen Schritt nach vorn machen.“

Charlie wurde ganz still. Er starrte auf den Wasserfall, der in die felsige Schlucht stürzte. Der feine Sprühnebel der schäumenden Kaskaden kühlte die Luft.

„Hey, Kumpel!“ Logan wunderte sich über den abwesenden Blick seines Sohnes. „Was geht dir gerade durch den Kopf?“

„Ich vermisse Blake.“ Charlies Stimme war über dem Rauschen des Wasserfalls kaum zu hören. „Wenn ich zu Mom zurückgehe, wird Blake nicht mehr da sein.“

Logans Herz zog sich zusammen. Blake war der geliebte Hund seines Sohnes gewesen. Eine kleine braune Terrierhündin, die sehr alt geworden war. Am Sommeranfang war sie dann gestorben. Offensichtlich graute Charlie davor, in das hundelose Haus seiner Mutter zurückzukehren.

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Logan. „Aber du hattest Glück, Blake so lange als beste Freundin gehabt zu haben.“

Charlie starrte auf die Planken der Plattform. „Ja.“ Er klang nicht überzeugt.

„Es tut weh, einen Hund zu verlieren“, gab sein Vater zu. „Da gibt es kein Vertun. Deshalb haben wir keinen. Es schmerzt zu sehr, sich irgendwann von ihm verabschieden zu müssen.“

„Ja“, sagte Charlie erneut. „Aber ich mag es trotzdem, einen Hund zu haben.“

„Erzähl mir etwas Schönes über Blake“, forderte Logan ihn auf.

„Ich brauchte mir morgens nie einen Wecker zu stellen, um rechtzeitig für die Schule aufzustehen. Sie ist einfach in mein Zimmer gekommen und unter die Decke gekrabbelt, wie ein Hase, und hat mich dann so lange angestupst, bis ich aufgestanden bin.“ Ein winziges Lächeln breitete sich um seine Mundwinkel aus. „Sie ist älter geworden und ruhiger und sanfter. Und dann konnte sie irgendwann nicht mehr aufs Bett springen, sodass ich sie hochheben musste.“

„Ich wette, du warst ganz vorsichtig mit ihr.“

Er nickte. Nach einer Weile des Schweigens sagte er: „Dad?“

„Ja, Kumpel?“

„Ich glaub, ich will einen neuen Hund.“

Ah, verdammt! Logan tätschelte ihm die Schulter. „Darüber kannst du morgen mit deiner Mom reden, wenn ihr euch wiederseht.“

Ja, dachte er. Soll Charlies Mom sich mit dem Ärger und Stress, den ein Hund bedeutet, herumschlagen.

„Okay“, sagte Charlie. „Aber Dad?“

„Ja?“

„Gestern Abend haben die Kinder in der Hütte abends noch Gespenstergeschichten erzählt.“

„Du bist im Sommercamp. Da sollen Kinder abends Gespenstergeschichten erzählen.“

„André hat eine erzählt von den Menschen, die Selbstmord begangen haben, indem sie von der Klippe über den Wasserfällen gesprungen sind.“

„Die Geschichte habe ich auch schon gehört. Sie reicht in die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts zurück.“

„Ja. Na ja, die Geister sind immer noch hier.“

„Aber sie werden keinen Unfug mit der Seilrutsche treiben.“

„Woher weißt du das?“

Logan zeigte auf die Gruppe Kinder und Betreuer auf der anderen Plattform. „Sie alle sind problemlos nach drüben gekommen. Du hast es selber gesehen.“ Die anderen Camper schienen die tollste Zeit ihres Lebens zu haben; sie aßen Chips und taten so, als wären sie Tarzan.

„Zeig es mir noch mal, Dad“, sagte Charlie. „Ich will sehen, wie du es machst.“

„Klar, Kumpel.“ Logan hakte Charlies Geschirr in die Sicherheitsleine und sich selber in das Hauptkabel. „Es wird dir gefallen.“ Grinsend trat er von der Plattform einen Schritt nach vorn in die Luft. Dabei machte er mit der freien Hand die Daumen-hoch-Geste in die Richtung seines Sohnes.

Charlie stand mit verschränkten Armen und skeptischer Miene auf der Plattform. Logan ließ sich nach hinten fallen, sodass er kopfüber über die Seilbahn rutschte – eine verrückte Perspektive, um den Wasserfall unter sich zu betrachten, der gegen die Felsen donnerte. Wie konnte das einem Kind nicht gefallen?

Als Logan jung gewesen war, hätte er gerne einen Vater gehabt, der mit ihm Seilrutsche gefahren wäre. Einen Dad, der den Unterschied zwischen Spaß und Leichtsinnigkeit kannte, einen Dad, der eher ermutigte als forderte.

Er landete mit übertriebener Geste auf der anderen Plattform. Paige Albertson, eine weitere Betreuerin der Gruppe, zeigte auf Charlie. „Hast du nicht jemanden vergessen?“

„Oh ja, meinen einzigen Sohn. Wie konnte das nur passieren?“

„Warum ist Charlie noch drüben?“, wollte Rufus wissen, eines der Kinder.

„Ich wette, er hat Angst“, sagte ein anderes Kind.

Logan ignorierte sie. Charlie sah so weit weg auf der anderen Plattform ganz klein und verloren aus. Verletzlich.

„Ist alles in Ordnung?“ Paige berührte Logan sanft am Unterarm.

Logan wusste, dass sie ein wenig in ihn verknallt war. Er wünschte sich, genauso zu empfinden, denn sie war eine tolle Frau. Während des Schuljahres war sie Vorschullehrerin, und im Sommer arbeitete sie als ehrenamtliche Betreuerin im Camp Kioga. Sie hatte das typische Aussehen einer amerikanischen Cheerleaderin und eine fröhliche, unkomplizierte Art, der die meisten Männer nicht widerstehen konnten. Genau so eine Frau würden sich seine Eltern für ihn wünschen – hübsch, gefestigt, aus gutem Haus.

Vielleicht war das der Grund dafür, dass er nichts für sie empfand.

„Er fürchtet sich“, sagte Logan. „Und deswegen fühlt er sich richtig schlecht. Ich dachte, ihm würde die Seilrutsche gefallen.“

„Das liegt nicht jedem“, sagte Paige. „Vergiss bitte nicht, wenn er es nicht macht, geht davon die Welt nicht unter.“

„Da hast du recht.“ Logan salutierte kurz und sprang dann erneut von der Plattform, um zu seinem Sohn zurückzusausen. Das Sirren der Klemmen am Seil kitzelte in seinen Ohren. Verdammt, das wurde einfach nie langweilig.

„Genau wie Spiderman“, sagte er, als er auf der anderen Seite gelandet war. „Ich schwöre dir, das ist das Coolste auf der Welt.“

Charlie trippelte unsicher von einem Fuß auf den anderen. Logan griff nach den Klemmen, um ihn am Hauptseil zu befestigen. „Ein kleiner Schritt für Charlie“, sagte er. „Ein großer Schritt für …“

„Dad, warte kurz.“ Charlie zog sich zurück. „Ich habe meine Meinung geändert.“

Logan musterte seinen Sohn. Die hochgezogenen Schultern, die zitternden Knie. „Ehrlich?“

„Mach mich los.“ Charlies Gesicht unter dem Helm war blass, die grünen Augen waren groß, und der Junge blickte gehetzt.

„Es ist okay, seine Meinung zu ändern“, sagte Logan. „Aber ich möchte nicht, dass du es später bereust. Du erinnerst dich, wir haben uns übers Bereuen unterhalten.“

„Als du die Möglichkeit gehabt hattest, etwas zu tun, es dann doch nicht getan hast und das später bereut hast“, murmelte Charlie.

Was eine ziemlich gute Zusammenfassung von Logans Ehe war. „Genau“, sagte er. „Wirst du dir beim Abschiedsessen heute Abend wünschen, mit der Seilrutsche gefahren zu sein?“

Logan löste seine eigenen Klemmen vom Seil. Charlie betrachtete die Kabel mit einer gewissen Sehnsucht. Okay, Logan musste zugeben, dass es ihn ein wenig störte, dass Charlie den Sprung vom Steg in den See gemeinsam mit seiner Mutter bewältigt hatte, er selber es aber nicht schaffte, ihm die Angst vor der Seilrutsche zu nehmen. Ihn überkam der Drang, seinen Jungen zu nehmen, ihn anzuschnallen und von der Plattform zu schubsen, nur um ihm über sein Zögern hinwegzuhelfen.

Dann erinnerte Logan sich an seinen eigenen Vater, der ihn immerzu gedrängt hatte: Geh rein und kämpfe! Sei kein Feigling! Al O’Donnell war ein polternder, herrischer, strenger Dad gewesen. Logan war mit einem tiefen Groll auf ihn aufgewachsen, und auch heute war ihre Beziehung immer noch sehr angespannt und voller Widerspruch.

In dem Moment, in dem Charlie das Licht der Welt erblickt hatte, hatte Logan sich etwas geschworen: Er würde niemals so werden wie sein Dad.

„Okay, Kumpel“, sagte er und zwang sich zu einem fröhlichen Ton. „Vielleicht ein andermal. Komm, klettern wir gemeinsam hinunter.“

Das letzte Abendessen am Sommerende im Camp Kioga bestand aus einem üppigen Büfett im großen Speisesaal des Hauptgebäudes. Es gab Unmengen an Spaghetti mit allem Drum und Dran – Knoblauchbrot, Salat, Wassermelone, Eiscreme. Es wurden Preise verteilt und Lieder gesungen, Witze erzählt, Lobreden gehalten und Abschiedsworte gesprochen.

Zu diesem Ereignis waren die Familien der kleinen Camper eingeladen. Die Eltern kamen in Scharen und konnten es kaum erwarten, endlich wieder mit ihren Kindern vereint zu sein und zu hören, was sie den Sommer über so erlebt hatten.

Die Bedeutung dieser Sommercamps war in den bemalten Paddeln und bunt gewebten Decken zu erkennen, die an den Wänden hingen. Das Camp in den Catskills existierte seit den 1920er-Jahren. Menschen wie Logans Großeltern erinnerten sich noch mit Sehnsucht an die Sommer ihrer Kindheit, die sie in den zugigen Hütten aus Holz und Felssteinen verlebt hatten. An das Schwimmen in dem kalten, klaren Wasser des Willow Lake, an das Bootfahren an sonnigen Tagen, daran, sich allabendlich um das Lagerfeuer zu versammeln und Geschichten zu erzählen. In den letzten hundert Jahren hatten sich die Traditionen kaum verändert.

Aber die Kinder waren anders geworden. Damals, in den Zeiten der großen Sommercamps, waren Orte wie Camp Kioga Spielwiesen für die Ultrareichen gewesen – die Vanderbilts, Astors, Roosevelts. Heutzutage stammten die Jugendlichen aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen. In der diesjährigen Gruppe fanden sich die Kinder von Hollywoodgrößen und Tycoons aus Manhattan genauso wie Kinder aus Sozialhilfeprojekten und Arbeiterstädten im Staat New York.

Die Organisatoren des Kindersommerprogramms, Sonnet und Zach Alger, ließen es am letzten Abend noch mal so richtig krachen. Nach dem Essen gab es einen Auftritt von Jezebel, Hip-Hop-Künstlerin und Hauptdarstellerin einer erfolgreichen Reality-TV-Serie. Die Sendung war im Camp Kioga gedreht worden und hatte die Bemühungen des engagierten Stars begleitet, mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu arbeiten.

An diesem Abend gehörten die einzigen Kameras im Raum jedoch allein stolzen Eltern und Großeltern.

Charlie hüpfte vor Aufregung auf und ab, denn er wusste, dass er einen Schwimmpreis verliehen bekommen würde. Gemeinsam mit André setzte er sich an den ihnen zugewiesenen Tisch.

Paige, die in der Nähe stand und den Kindern half, ihre Plätze zu finden, lehnte sich zu Logan und sagte: „Die beiden sind ein tolles Team. Ich wette, sie werden einander nach diesem Sommer vermissen.“

„Ja, es wäre schön, wenn sie in Kontakt bleiben könnten. Das ist allerdings nicht so einfach. André wohnt in der Stadt, und Charlie kehrt auf die Airforce Base nach Oklahoma zurück.“

„Das muss für dich auch schwer sein.“

„Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Aber … wir kommen klar. Ich sehe ihn an Thanksgiving, und über Weihnachten gehört er ganz allein mir.“

In diesem Augenblick schien Weihnachten noch Lichtjahre entfernt zu sein. Logan fragte sich, wie er sich nach Charlies Abreise ablenken sollte. Er hatte seine Arbeit, ein gut gehendes Versicherungsbüro, das er in der nahe gelegenen Stadt Avalon eröffnet hatte. Wenn er ehrlich war, langweilte ihn die Arbeit zu Tode, auch wenn er gerne Freunden und Nachbarn half und bequem von seinem Einkommen leben konnte.

Der Gedanke, seine Firma in Avalon aufzumachen, war ursprünglich von dem Wunsch angetrieben worden, in Charlies Nähe zu sein. Doch nach der erneuten Heirat von Charlies Mom und dem Wegzug der Familie dachte Logan immer öfter daran, in seinem Leben etwas zu verändern. Und zwar etwas Großes.

Seine Schwester India war gekommen, um den Abschlussabend mit ihnen zu feiern, und Logan entschuldigte sich bei Paige, um sie zu begrüßen. Ihre Zwillinge Fisher und Goose hatten den Sommer ebenfalls hier verbracht. Charlie hatte viel Spaß mit seinen Cousins gehabt, die normalerweise auf Long Island lebten, wo India und ihr Mann eine Kunstgalerie leiteten.

Genauso rothaarig wie Logan und Charlie und ganz in fließende Seide gehüllt wie sonst niemand eilte India mit Tränen in den Augen auf ihre Jungen zu.

„Ich habe euch beide so vermisst“, sagte sie und zog sie an sich. „Hattet ihr eine schöne Zeit hier im Camp?“

„Die beste“, sagte Fisher.

„Wir haben dir Sachen gebastelt“, warf Goose ein.

„Ja, richtig hässlichen Schmuck, den du jeden Tag tragen musst“, ergänzte Fisher.

„Wenn ihr ihn gemacht habt, ist er sicher wunderschön“, erwiderte sie.

„Onkel Logan hat uns beigebracht, wie man Fürze anzündet.“

„Das ist genau mein kleiner Bruder, so wie ich ihn von jeher kenne“, sagte India. „So, ich muss euch zwar nicht vorstellen, aber ich tue es trotzdem.“ Sie zeigte auf die Frau, die mit ihr zusammen gekommen war. „Darcy, das ist mein Bruder, der vermutlich in die Ecke gestellt gehört wegen seiner Streiche, aber sich stattdessen hier als Betreuer verdingt hat.“

„Und als leitender Furzanzünder, wie ich höre“, sagte die Frau und streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Darcy Fitzgerald.“

Er nahm die Hand und schaute Darcy an. Ihr offener Gesichtsausdruck gefiel ihm. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihre braunen Augen schauten ihn klar und unverwandt an. Ihre Hand fühlte sich klein, aber fest an, und sie hatte ein verschmitztes Lächeln. Aus einem Grund, den er nicht benennen konnte, spürte er ein leichtes Interesse für sie in sich aufsteigen.

„Sind Sie auch hier, um Ihre Kinder abzuholen?“, fragte er. „Wer gehört zu ihnen?“

„Gott sei Dank keines“, erwiderte sie und schüttelte sich.

„Allergisch?“, fragte Logan.

„So in der Art.“

„Dann sind Sie hier am falschen Ort.“ Er deutete auf den Speisesaal, in dem es nur so vor aufgeregten und hungrigen Kindern wimmelte. Für ihn war es das Paradies. Er mochte Kinder. Er mochte große, laute, liebevolle Familien. Es war die Tragödie seines Lebens, dass ihm mit seinem einzigen Kind nur die Sommer- und Weihnachtsferien vergönnt waren.

„Ganz falsch bin ich nicht“, erwiderte Darcy und wandte sich der Bühne zu, auf der die Musiker gerade ihre Instrumente aufstellten. „Ich bin ein großer Jezebel-Fan.“

„Das müssen Sie wohl sein. Immerhin sind wir hier mitten im Nirgendwo.“

Sie nickte. „India hat mich eingeladen, sie zu begleiten. Ich dachte, es wäre nett, mal ein Wochenende auf dem Land zu verbringen.“

„Dann wohnen Sie also in der Stadt?“, riet er.

„In SoHo. Ich hatte an diesem Wochenende nichts anderes vor. Und ja, ich bin die bedauernswerte Freundin, mit der alle Mitleid haben; ganz allein und gerade dabei, mich von einem gebrochenen Herzen zu erholen.“ Sie sprach leichthin, doch er hörte durchaus den ernsten Unterton in ihrer Stimme.

„Oh, das tut mir leid. Also das mit dem gebrochenen Herzen. Es freut mich aber zu hören, dass Sie langsam darüber hinwegkommen.“

„Danke“, erwiderte sie. „Es braucht seine Zeit. Das sagen mir zumindest immer alle. Ich schaue mich derweil nach Ablenkungen um. Doch Herzen sind lustig, was das angeht. Sie lassen einen nicht lügen, nicht einmal sich selbst gegenüber.“

„Ja, zumindest nicht lange. Kann ich Ihnen dabei irgendwie helfen?“ Sofort bereute er das Angebot. Er hatte keine Ahnung, was er gegen das gebrochene Herz eines anderen Menschen unternehmen sollte.

„Ich erspare Ihnen die Einzelheiten.“

Gut.

Sie ließ ihren Blick durch den großen Raum schweifen, der von Lärm erfüllt war. „Wo kann ein Mädchen hier was zu trinken bekommen?“

„So eine Party ist das hier nicht.“

„Oh. Natürlich.“ Sie stellte ihre Handtasche ab und zog ihre Jacke aus. Darunter trug sie ein weites T-Shirt von einem Jezebel-Konzert im Madison Square Garden. „Ich schätze, wir setzen uns besser“, sagte sie. „Sieht so aus, als hätte India einen Tisch gefunden.“ Seine Neffen sowie Charlie und André hatten sich bereits ihre Teller am Büfett gefüllt und kauten mit vollen Backen.

„Hier entlang“, sagte er und legte ihr unbewusst eine Hand an den unteren Rücken, um sie durch den Speisesaal zu führen.

Sie schaute zu ihm auf, und er sah etwas in ihrem Blick. Erstaunen? Erkennen? Zugleich spürte er, wie sich etwas in ihm regte. Anziehung? Nein, das konnte nicht sein. Sie war nicht sein Typ. Wie Paige war sie eine Frau, die seine Familie zu gerne an seiner Seite sehen würde. Doch anders als Paige war sie nicht der süße, mädchenhafte Typ. Sie war … lustig und ironisch, und an ihr klang der Akzent der höheren Töchter irgendwie überhaupt nicht affektiert. Er hatte keine Ahnung, warum ihn das auf einmal so faszinierte.

Sie stellten sich in einer der beiden Büfettschlangen an.

„Das sieht nicht so aus wie das Essen, das es zu meiner Zeit im Sommercamp gab“, meinte sie.

„In welchem Camp sind Sie immer gewesen?“

„Walden in Maine.“

Noch ein Beweis mehr, dass sie zu der „richtigen“ Sorte Frau gehörte – zumindest in den Augen seiner Eltern. Aber Logan ermahnte sich, sich davon nicht beeinflussen zu lassen. „Ich habe eine Idee“, sagte er. „Wie wäre es, wenn wir …?“

„Hey, Dad!“ Charlie winkte ihn zu sich an den Tisch. „Guck mal. Ich bin Mr Potato Head.“

Charlie hatte sich mit Zutaten vom Salatbüfett geschmückt. Grüne Paprikaringe auf den Augen, eine Cherrytomate auf der Nase und Karottenstäbchen als Vampirzähne.

„Oh, das ist super“, sagte Logan. „Und so appetitlich.“ Er drehte sich wieder zu Darcy um, die ihren Teller gerade auf einen leeren Platz stellte. „Mein Sohn Charlie, das Genie. Charlie, das hier ist Darcy.“

„Schön, Sie kennenzulernen.“ Charlie schaute ihr in die Augen und streckte seine Hand aus, so, wie Logan es ihm beigebracht hatte. Weil sie aber furchtbar klebte, schmälerte dies den Effekt seines guten Benehmens.

Logan spürte, wie Darcy sich verspannte, als sie kurz die schmuddelige kleine Hand ergriff. „Hey, Charlie“, sagte sie. „Wer ist denn dein Freund?“

„Das ist André“, erwiderte Charlie. „Er hat einen Frosch in der Tasche, also sollten Sie lieber aufpassen.“

„Das solltest du doch nicht verraten“, sagte André, der aber trotzdem offensichtlich sehr stolz auf seinen Fund war.

„André und Charlie waren diesen Sommer beste Kumpel“, erklärte Logan.

„BFFI“, sagte Charlie. „Beste Freunde Für Immer. Wir haben sogar Blutsbrüderschaft geschlossen.“

„Das klingt wunderbar.“ Darcy wischte sich verstohlen die Hand an einer Serviette ab. „Sind deine Eltern auch hier, André?“

„Meine Mom kommt morgen. Ich wünschte, ich müsste nicht in die Stadt zurückfahren.“

Andrés Mutter Maya arbeitete als Kindermädchen in Manhattan. André beschwerte sich gern, dass sie mehr Zeit mit den Kindern ihrer Arbeitgeber verbrachte als mit ihren eigenen.

Logan kannte die Situation aus dem entgegengesetzten Blickwinkel. Er war einst das Kind des Arbeitgebers gewesen. Seine Eltern waren so mit Arbeit und ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen beschäftigt gewesen, dass sie in seiner Welt fast fremde Figuren waren, zu denen er kaum eine Beziehung hatte. Er war entschlossen, diese Erfahrung nicht an seinen Sohn weiterzugeben.

„Sie wirken wie ein tolles Team“, merkte Darcy an, die André und Charlie beobachtete, die gerade einen Kampf mit ihren Gabeln ausfochten.

Er nickte. „Sie werden einander nach diesem Sommer fehlen. Letzte Nacht habe ich beiden einen Skype-Account eingerichtet, damit sie miteinander telefonieren können.“

„Das ist nett.“

„Ich bin nett. Hat meine Schwester Ihnen das nicht erzählt?“

„Das musste sie nicht, das haben Sie ja gerade getan. Aber ehrlich, das ist eine schöne Geste für die beiden.“

Während des Essens gab es mehrere Reden, die zum Glück jedoch kurz gehalten waren. Olivia und Connor Davis, die Manager des Camps, begrüßten alle und reichten das Mikrofon dann gleich an Sonnet Alger weiter. Vor Begeisterung sprühend hieß Sonnet die Familien und Freunde der Camper willkommen.

Sonnet war die angeheiratete Tante von Charlie und die Stiefschwester seiner Mutter Daisy. Als junges Mädchen frisch vom College kommend war sie eine ernsthafte, ehrgeizige junge Frau gewesen, deren gesamtes Leben sich nur um ihre Karriere gedreht hatte. Doch erst jetzt, nachdem sie verheiratet war und sich mit ihrem Ehemann Zach ein Leben aufbaute, schien sie wirklich glücklich zu sein. Sie hatte das innere Strahlen einer verliebten Frau. Und Zach beobachtete sie von seinem Platz neben der Bühne, die Kamera in der Hand und ein hingerissenes Lächeln im Gesicht.

Logan freute sich für die beiden. Sie hatten kein leichtes Leben gehabt, das wusste er. Vielleicht funktionierte die Liebe so. Sie musste wieder und wieder neu auf den Prüfstand. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Logan meinte zu wissen, was wahre Liebe ist. Dann aber betrachtete er Pärchen wie Sonnet und Zach Alger und erkannte, dass er gar nichts wusste. Es war schön, die beiden so glücklich zusammen zu sehen, doch gleichzeitig warf es ein Licht auf die riesige schmerzende Leere in Logans Leben.

Jezebel sang einen ihrer Megahits, der wie üblich ziemlich viele Schimpfwörter enthielt. Die Kinder und auch einige Eltern flippten völlig aus und klatschten und stampften im Takt. Während einer besonders wütenden Interpretation von „Put Back The Things You Stole“ warf er einen Blick zu Darcy, die aufgehört hatte zu essen und mit vor Bewunderung weit aufgerissenen Augen zur Bühne schaute.

Logan wünschte sich, sie würde ihn nicht so faszinieren. Sie wirkte kompliziert, und mit komplizierten Frauen kam er nicht so gut zurecht.

Nachdem Jezebel mit tosendem Applaus verabschiedet worden war, strömten alle nach draußen zum Lagerfeuer am Seeufer. „Das ist unser letzter Abend hier“, sagte Sonnet an die Gruppe gewandt. „Wir hoffen, dass ihr ein wenig vom Camp Kioga mit nach Hause nehmt – die schönen Orte, die ihr gesehen, die neuen Fähigkeiten, die ihr erlernt, die Abenteuer, die ihr erlebt habt. Doch jetzt habe ich noch eine kleine Aufgabe für euch.“

Es folgte ein kollektives Stöhnen, doch davon ließ sie sich nicht beirren. „Es ist ganz einfach. Ich möchte, dass ihr jeder einen dieser Umschläge nehmt und euch selber eine Weihnachtskarte schreibt.“

„Eine Weihnachtskarte? Im Sommer?“

„Ja, an euch selbst.“ Sie reichte eine Schale mit Stiften herum. „Schreibt eure Adresse von zu Hause auf den Umschlag. Und hört auf, mich so anzusehen. Wenigstens wisst ihr so, dass ihr dieses Jahr zumindest eine Karte bekommt. Ich werde sie alle einsammeln und in der Woche vor Weihnachten verschicken. Auf die Karte selber sollt ihr einen Weihnachtswunsch schreiben. Behaltet ihn aber für euch, denn er ist nur für euch. Freunde und Eltern, wenn ihr mögt, könnt ihr gerne mitmachen.“

Die dünne Karte auf seinen Knien balancierend, machte Charlie sich daran, ohne zu zögern, loszuschreiben. Logan hielt inne. Ihm fiel auf, dass auch Darcy Fitzgerald flüssig dahinschrieb. Er wünschte sich eine ganze Menge, aber der einzige Wunsch, der wirklich zählte, war einer, den er nicht haben konnte – mehr Zeit mit Charlie. Ihm blieb nur, aus der gemeinsamen Zeit, die sie hatten, das Beste herauszuholen.

Und genau das schrieb er dann auch auf seine Karte: Ich wünsche mir, Charlie ein unvergessliches Weihnachtsfest zu bereiten.

Charlie klebte seinen Umschlag zu und schrieb seine Adresse darauf, dann warf er ihn in den bereitstehenden Korb. Darcy tat es ihm gleich und legte dann den Kopf in den Nacken, um zum Sternenhimmel aufzuschauen. „Es ist nicht leicht, an einem Abend wie heute an den Winter zu denken“, sagte sie.

„Stimmt. Wie ist Weihnachten bei Ihnen so?“

Sie spannte sich unmerklich an und schaute ihm in die Augen. „Lächerlich“, sagte sie. „Ich habe vier Schwestern. Weihnachten herrscht immer Chaos. Und dieses Jahr …“ Ihre Stimme verlor sich.

„Was ist mit diesem Jahr?“

„Ich denke nicht, dass ich den Wahnsinn noch einmal durchstehe.“

„Gibt es denn eine Alternative?“

„Ich könnte in einen Ashram gehen. Wie sieht es bei Ihnen aus? Gibt es in der O’Donnell-Familie ein typisches Weihnachten?“

„Meine Eltern verbringen den Winter gerne in Paradise Cove, Florida. Normalerweise verbringen wir dort alle gemeinsam die Feiertage. Charlie liebt es, seine ganzen Cousins zu treffen.“

„Und Sie? Was lieben Sie?“

Die Frage überraschte ihn. Es war lange her, seit ihn das jemand gefragt hatte.

„Was ich mag? Familie. Freunde und gutes Essen. Ich möchte einfach nur mit Charlie zusammen sein“, erwiderte er. „Ehrlich gesagt gehe ich auch gerne zum Snowboarden, doch das ist in Florida ein wenig schwierig.“

„Snowboarding klingt nach Spaß. Gibt es hier in der Nähe ein Skigebiet?“

„Ja, am Saddle Mountain“, erklärte er. „Es ist mit dem Auto keine zwanzig Minuten von hier entfernt. Einige meiner schönsten Erinnerungen mit Charlie habe ich von dort. Ich hoffe, das Gebiet bleibt in Betrieb.“

„Finanzielle Probleme?“

„Nicht dass ich wüsste. Es befindet sich schon seit Jahren in Privatbesitz und wird von einer Familie geleitet. Jetzt will der Eigentümer in den Ruhestand gehen und sucht einen Käufer.“

„Dann sollten Sie es kaufen.“

Er drehte sich ein wenig, sodass er sie anschauen konnte. „Sind Sie Hellseherin? Ich hatte den gleichen Gedanken, und es ist auch durchaus im Bereich des Möglichen. Ich glaube, ich würde genügend Investoren zusammenbekommen.“

„Die verrücktesten Ideen sind oft die besten.“

Er grinste. „Mir gefällt Ihre Art, zu denken.“

Tüten mit Marshmallows wurden herumgereicht. Logan suchte sich und Darcy einen Stock, um die süßen schaumigen Teile über dem Feuer zu rösten. „Wie lange kennen Sie India schon?“, wollte er von Darcy wissen.

„Seit dem ersten Collegejahr. Wir waren zusammen im Gleeclub und im Skikurs.“

Ein Bennington-Mädchen also, dachte er. Er versuchte, nicht zu verallgemeinern, aber das war schwer, denn jedes Bennington-Mädchen, das er bisher getroffen hatte, schien aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein. „Also singen Sie und laufen Ski.“

„Machen Sie krächzen und snowboarden daraus.“

„Sie fahren Snowboard?“

„Ja. Vor allem an einem klaren Wintermorgen, wenn der Himmel blau ist und die Sonne auf den frisch gefallenen Schnee scheint. Oder auch an jedem anderen Tag. Ich brauche die Bewegung wie andere die Luft zum Atmen.“

Eine Sportskanone, dachte er. Er mochte weibliche Sportskanonen. „Und nach dem College?“, hakte er nach. Die Frau interessierte ihn immer mehr.

„Ich habe ein paar Umwege gemacht“, wich sie einer klaren Antwort aus und wandte den Blick ab. „Also … Avalon, hm? Wunderschön, aber winzig klein. Wie sind Sie hier gelandet?“

„Durch Charlies Mom.“ Er zeigte auf seinen Sohn, seinen ganzen Stolz, der gerade eine Handvoll Marshmallows auf einen Stock spießte. „Ich bin hergezogen, um bei ihm zu sein. Das Ironische ist, seine Mutter hat wieder geheiratet und ist weggezogen. Jetzt sitze ich immer noch hier und sehe Charlie nur im Sommer und in den Ferien. Das ist nicht leicht.“

„Das tut mir leid. Kinder sind das Komplizierteste im Leben, oder?“

„Und das Schönste.“

Sie lachte leise. „Das muss ich Ihnen unbesehen glauben.“

Er versuchte, die Marshmallows langsam zu rösten, doch schnell züngelten Flammen an ihnen empor. Er pustete sie aus und bot Darcy die süße Schweinerei an. „Ich hoffe, Sie mögen es knusprig?“

„Mir egal, Hauptsache, lecker.“ Sie nahm einen ganzen Marshmallow auf eine Weise in den Mund, die er unglaublich sexy fand. „Köstlich“, sagte sie.

Er mochte es, sich mit ihr zu unterhalten. Sie hatte etwas Leichtes an sich, etwas Ehrliches. „Erzählen Sie mir von Ihrem Leben in SoHo.“

„Das ist ganz in Ordnung“, sagte sie. „Ich bin kürzlich in eine kleine Dachgeschosswohnung gezogen – Betonung auf ‚klein‘. Und ich arbeite an der Madison Avenue.“

„Werbung?“ Er aß die restlichen, inzwischen schmelzenden Marshmallows und genoss ihren süßlich verbrannten Geschmack.

„Gut geraten und vollkommen richtig.“

Ihre Schultern berührten sich. Er spürte es erneut, dieses angenehme Prickeln.

Sie schaute leicht fragend zu ihm auf.

„Okay, hören Sie zu“, schlug er vor. „Wenn die Kinder nachher alle im Bett sind, hätten Sie dann Lust, mit mir paddeln zu gehen?“

Sie lachte. „Im Dunkeln?“

„Eine Paddeltour im Mondlicht auf dem Willow Lake. Da es Ihr erster Besuch hier ist, wollen Sie den See im Mondschein garantiert nicht verpassen.“

„Nur wir beide?“

„Das liegt an Ihnen. Wir können India einladen, uns zu begleiten, oder nicht … Falls Sie schon ausreichend über ihr gebrochenes Herz hinweg sind.“

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