Bis tief in die Seele

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Anna Dunning hat Angst. Ein unheimlicher Fremder flüstert mit seiner schrecklichen rauen Stimme obszöne Fantasien in ihr Telefon. Sie spürt voller Entsetzen, dass er sie beobachtet, verfolgt - um bis tief in ihre Seele einzudringen. Um sie zu verletzten. Um sie zu töten. Auch ihr Bodyguard Mark Righter kann nicht verhindern, dass der gefährliche Psychopath immer neue Möglichkeiten findet, Anna in die Enge zu treiben. Er weiß nur, dass er ihn stellen muss, bevor der Jäger seine Beute in Besitz nehmen kann.


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955761653
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lynn Erickson

Bis tief in die Seele

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Night Whispers

Copyright © 1997 by Carla Peltonen and Molly Swanton

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Übersetzt von Margret Krätzig

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Getty Images, München,

Mauritius Images GmbH, Mittenwald

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-165-3

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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1. KAPITEL

Der Jäger wartete mit unendlicher Geduld. Er verharrte in der halbdunklen, höhlenartigen Parkgarage reglos im Schatten hinter einem Betonpfeiler. Wenn nötig, konnte er stundenlang so warten. Mit den Jahren hatte er sich trainiert, hatte Geist, Instinkt und körperliche Fähigkeiten geschliffen, bis er das wahre, das perfekte Raubtier war.

Kälte herrschte in der Garage, die dunkle, nach Motoröl riechende Kälte, die normale Menschen frösteln ließ und zur Eile antrieb. Nicht so den Jäger. Er lief in der Kälte zur Hochform auf. Und es war erst September in Denver. Bis der Winter einsetzte, wurden seine Fähigkeiten noch stärker.

Er wartete, beobachtete den Wagen. Sie musste gleich kommen. Es war fast acht, und das Tabor Center, das Einkaufscenter über der Tiefgarage, würde schließen. Er war schon über zwei Stunden hier, beobachtete und lauerte mit dem absoluten Vertrauen des Raubtieres: Die Beute kam bald, ihr Schicksal war besiegelt.

Ihr Wagen. Er richtete die hellblauen Augen darauf. Er kannte ihn gut. Ein metallicperlgrauer Toyota Camry. Er hatte ihn viele Male gesehen, war ihm bis heute etliche Male gefolgt. Er war ihm so vertraut wie ihr Gesicht: der Kratzer an der Beifahrertür, der Thule Ski- und Fahrradträger, der Aufkleber vom Denver-Zoo im Rückfenster.

Er mochte, wie sie fuhr, sicher und schnell, ungeduldig, immer in Eile. Eine eifrige Lady. Er rief sich ihr Gesicht in Erinnerung, und die Haut um seinen Kopf schien enger zu werden, wie immer, wenn er sich die Frau vorstellte. Sein Herz schlug schneller, und er spürte sich hart werden, wenn er an sie dachte – schon beim bloßen Gedanken an sie.

Sie hieß Anna Dunning. Anna. Dunning. Ein süßer Name. Und auch ein hässlicher Name. Seine widersprüchlichen Gefühle für sie verunsicherten ihn. Frauen waren Schlampen und grausame, kapriziöse Piranhas. Er hasste Frauen. Er tat ihnen gerne weh. Er ließ sie schreien, kreischen und um Verzeihung betteln vor ihrer endgültigen – und gerechten – Bestrafung. Aber mit dieser war es irgendwie anders.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn kaum bemerkt. Es war fast sechs Monate her. Sie war höflich gewesen. Sie hatte gelächelt, ein sorgloses, zerstreutes Lächeln, dann war sie plaudernd in der Sommersonne vorbeigegangen, in Shorts, mit langen, gebräunten Beinen.

Und der Jäger hatte sich verliebt. Wie der Blitz einschlägt in völlige Dunkelheit.

Es war ein bizarres Gefühl für ihn. Es brachte ihn aus dem Gleichgewicht, ließ seinen gewöhnlich methodisch arbeitenden Verstand sich in Phantasien ergehen, weckte den Zwang, sie zu sehen, ihre Stimme zu hören, sie – das wagte er nach all den Monaten zu hoffen – zu berühren.

Nicht etwa, weil sie so hübsch war, obwohl andere Männer sie vielleicht hübsch fanden. Es war die Art, wie sie sich bewegte, ihre geschmeidige Selbstsicherheit, ihre athletische Körperhaltung, die Neigung des Kopfes, eine undefinierbare Herausforderung im Blick. In der steckte Mut. Eine lohnende Beute. Ja, Anna Dunning war die perfekte Beute für ein perfektes Raubtier.

Natürlich hasste er sie auch. Schließlich war sie eine Frau. Hinterhältig, bösartig, verräterisch, nur dazu da, Männer zu kränken, sie ihrer Männlichkeit zu berauben.

Du musstest stark sein, dachte der Jäger, als er im Schatten stand. Du konntest dich nicht einfangen lassen, konntest dich nicht herumführen lassen an deinem … nun, ja, Ding. Und Anna hatte einmal etwas gesagt, das ihn sehr geärgert hatte. O ja, sie hatte schon etwas Dominantes. Auf diese herablassende, sorglose Art hatte sie gesagt: “Wenn ich Sie wäre, würde ich diesen Haufen Abfall beiseiteschaffen. Sonst stolpert noch jemand darüber.”

Dieser unverhohlene Befehl hatte ihn wie ein Dolch ins Herz getroffen. Und dann hatte sie ihm ein leeres Lächeln geschenkt. Er hatte Rot gesehen.

Sie verdiente eine Strafe, und die würde sie bekommen. Er wollte sie besitzen, er wollte sie nach Belieben strafen können. Wann immer er wollte. Sie musste sein Besitz werden wie seine Gewehre und seine Jagdmesser, das Zielfernrohr, das Schneemobil und die Hütte. Sie gehörten ihm, das war’s.

Er liebte sie.

Der Jäger hörte den Fahrstuhl im Schacht. Er kam. Anna. Die zerkratzten gelben Türen glitten auf, und sie trat heraus. Er blinzelte. Nein. Es war ein Mann. Er eilte auf seinen Wagen zu, die Schultern unter dem Jackett eingezogen. Seine Schritte auf dem fleckigen Beton hallten laut. So laut, dass der Jäger fast den anderen Fahrstuhl überhörte.

Sein Herz klopfte im Hals, sein Magen zog sich zusammen. Sie war es. Sie trug zwei große Einkaufstüten. “Casual Corner". “Brooks Brothers".

Er wich weiter zurück. So unbekümmert in ihrer zarten Haut, so kraftvoll in ihrer Weiblichkeit. Forschen Schrittes kam sie näher, ging auf ihren Wagen zu. Er hörte ihre Schritte und das gedämpfte Dröhnen des Automotors, als der Mann hinausfuhr. Die Reifen quietschten auf dem Beton. Dann war es wieder still bis auf Annas leichte, rasche Schritte, die immer näher kamen.

Schweißperlen sammelten sich auf der Oberlippe des Jägers. Er beugte sich eine Winzigkeit vor, um Anna zu sehen.

Sie suchte in der Tasche ihrer braunen Wildlederjacke. Er kannte sie gut, kannte jedes ihrer Kleidungsstücke. Die Hände voll, fingerte sie im Gehen nach ihren Schlüsseln.

Ein metallisches Klirren. Sie hatte die Schlüssel fallen lassen. Ein gemurmeltes “Verdammt.” Der Klang ihrer Stimme ließ ihn erschauern. Schmerz und Freude durchrieselten ihn. Er schloss für einen Moment die Augen.

Er öffnete sie wieder, als sie sich hinabbeugte und mit einer Hand die große Tragetasche festhielt. Er sah ihr Haar wie einen dunklen Schleier vor ihr Gesicht fallen, sah, wie sich die Waden anspannten, als sie in die Knie ging und nach den Schlüsseln griff. Ihr Hintern war rund, die Jeans spannten sich straff über ihren Hüften. Er atmete rasch tief ein, als sie sich, die Schlüssel in der Hand, wieder aufrichtete und sich das Haar zurückschob.

Jetzt war sie an ihrem Wagen. Er hörte das Piepen der Fernbedienung, als sie die Türen entriegelte. Er hatte sie diese Einrichtung oft benutzen sehen. Sie ging sorgfältig mit ihrem Wagen um.

Jeden Moment würde sie davonfahren. Er hörte, dass sie die Tüten ins Auto warf. Ihre Füße scharrte auf dem Boden. Er spürte unbeschreibliche Trauer.

Er konnte sie nicht gehen lassen.

Unfähig, sich zu beherrschen, kam er hinter der Säule hervor und ging auf sie zu. Zwanzig Yards, nicht mehr. Und sonst war niemand da, keine Menschenseele in der halbdunklen, verlassenen Urzeithöhle, dem Lager des Jägers.

Sie drehte ihm rasch den Kopf zu. Wachsam, ja, gefahrenbewusst, fluchtbereit. Er erinnerte sie an ein Reh. Er konnte sich vorstellen, wie ihre Flanken unter dem Stoff zitterten. Ihre Augen waren aufgerissen. Der Jäger spürte sich anschwellen vor Machtgefühl, als er das ungewohnte Aufleuchten in ihren Augen sah. Denselben Ausdruck hatte er in den Augen von Tieren gesehen, wenn er sie im Fadenkreuz hatte.

Ihr Blick traf ihn, wanderte weiter, wandte sich ab. Kein Augenkontakt. Sie drehte ihm jetzt den Rücken zu, machte sich bereit einzusteigen. Aber er war hinter ihr, direkt hinter ihr, nicht länger ein bedeutungsloser Passant auf dem Weg zu seinem Wagen. Er verfolgte eine Absicht. Er konnte sie riechen, er war ganz nah. Ihr Duft, o Gott, teures Wildleder, Shampoo, ein raffiniertes Parfum, leicht und schwer zugleich. Und ihr Haar, all diese üppigen Locken, Ponyfransen auf der Stirn, dunkel golden lag ihr Haar im Nacken, dann die Kurve der Wangen. Ein Ohr. Ein blasses, geschwungenes Ohr. Sein Herz wollte schier zerspringen.

Ruckartig drehte sie sich zu ihm um. Er sah, wie sich ihre Muskeln anspannten, merkte, wie das Adrenalin durch ihre Adern schoss. Er machte einen Schritt auf sie zu.

Das Geräusch kam aus seinem Mund, ein Flüstern entrang sich seiner Kehle. Es überraschte ihn.

“Anna”, sagte er.

Ihre Augen waren ängstlich geweitet. Sie stand mit dem Rücken zum Auto. Die Tür war weit offen. Er atmete ihren Duft ein.

“Hauen Sie ab!”, schrie sie.

Tapfer, ein mutiges Herz. Lohnend. Das Weibsstück.

Er würde es tun, jetzt sofort. Doch seine Raubtiersinne registrierten das Geräusch des Fahrstuhls. Er hatte immer noch genügend Beherrschung, um vorsichtig zu sein.

“Hilfe!”, schrie sie und schob die Autotür zwischen sich und ihn. “Hilfe! Hilf mir bitte jemand!”

Und dann rauschten die Fahrstuhltüren auf. Der Jäger wich zurück und zog sich die Baseballkappe tiefer über die Augen. Er ging rasch, verschwand in der Dunkelheit hinter einer Ecke und flüchtete in die hinteren Winkel seiner Höhle.

Hinter sich hörte er aufgeregte Stimmen, gefolgt vom Aufheulen ihres Motors und dem Quietschen ihrer Räder, als sie wegfuhr. Er blieb, in einer dunklen Ecke verborgen, stehen und beobachtete, wie ihr glitzernder grauer Wagen vorbeischoss Richtung Ausfahrtrampe, zu schnell, viel zu schnell.

Der Jäger trat mitten auf die Fahrbahn, um den letzten Hauch der Abgaswolke zu erhaschen, als ihr Wagen aus der Tiefgarage kurvte. Er sog ihn ein und nahm sie in Besitz.

Das nächste Mal.

2. KAPITEL

Mark Righter standen wieder alle Möglichkeiten offen. Jeder in Denver wusste das. Sogar Barry, der Bursche vom Coffeeshop, der ihm jeden Morgen in East Colfax Bagels und Espresso verkaufte. Mark war eine lokale Berühmtheit. Irgendwie.

“Wie sind die Jobaussichten?”, fragte Barry.

Mark nahm dem Ladenbesitzer achselzuckend die weiße Bageltüte ab. “Immer dasselbe. Es sei denn, ich würde mich nächtelang als Nachtwächter in irgendwelche Lagerhäuser setzen.”

“Es gibt Schlimmeres.”

“Sicher”, erwiderte Mark, “aber nicht für mich.”

Draußen kaufte er eine Tageszeitung. Er wollte wie jeden Morgen die Anzeigen studieren. Vielleicht musste er doch vorerst einen Job bei einer Sicherheitsfirma annehmen – zumindest, bis er wieder auf den Beinen war. Und dann gab es noch die Arbeitslosenschlange. Bei dem Gedanken zuckte Mark zusammen. Nicht nur, weil er kurz davorstand, zum Sozialfall zu werden, sondern weil man bei der Polizei davon hören würde. Und die Demütigung hätte er auf keinen Fall ertragen.

Ach, zum Teufel, dachte er, irgendwas wird sich finden. Es musste. Sein Humor, der wohltrainierte Polizistenhumor, der die schlimmen Dinge immer auf Distanz hielt, begann zu versagen.

Er ging über die Vintage Strip Mall auf den Tattoosalon zu und entdeckte Lil Martinelli, die Besitzerin – und seine Vermieterin –, die vor dem Haus den Bürgersteig fegte. Gerade rechtzeitig.

“Fertig?” Mark hielt die weiße Tüte hoch.

“Sicher”, erwiderte sie. “Geh schon mal nach hinten. Ich bin gleich da.”

Es war ein morgendliches Ritual geworden. Seit Mark vor vier Monaten die Polizei verlassen hatte, setzte er sich mit Lil bei Bagels und starkem europäischen Kaffee hinter ihrem Geschäft in die Sonne. Bald würde es morgens zu kalt sein, um draußen zu sitzen. Mark vermutete, dass sie ihr Ritual dann in den Tattoosalon verlegten. Oder ich habe bis dahin einen Job, dachte er hoffnungsvoll.

Lil war fertig mit Fegen und kam durch den Salon nach hinten in den Patio. “Hast du diesem Barry gesagt, er soll den Kaffee für mich verdünnen?”, fragte sie, setzte sich auf einen Plastikstuhl und nahm sich einen Teil der Zeitung.

“Gesagt habe ich’s. Ob er’s getan hat …” Mark zuckte gleichgültig die Achseln und bemerkte Lils Aufmachung: von Kopf bis Fuß schwarzes Leder. In den wärmeren Monaten hatte sie knappe schwarze Baumwollsachen getragen, aber nun, im September, verfiel sie wieder auf Leder: Weste, Minirock und hohe Stiefel. Und alles mit Nieten beschlagen, sogar der tiefe V-Ausschnitt ihrer Weste. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass ihr üppiges Dekolletee alterte. Es war fleckig und runzelig von zu viel kalifornischer Sonne, ehe sie nach Denver gezogen war. Ebenso auffällig war das Tattoo auf ihrer Brust, eine bunte Maisgöttin der Pueblo-Indianer, die Lil von einem Museumsplakat kopiert hatte.

Sie war sehr stolz darauf, doch Mark fand es, nun ja, ein bisschen viel. Lil hatte immer noch eine anständige Figur, schmal und straff. Doch da sie auf die Fünfzig zuging, war ihr Gesicht runder geworden, ihr Make-up wirkte zu schwer, und ihr schulterlanges Haar war durch jahrelanges Dauerwellen und Schwarzfärben ruiniert.

Abgesehen davon war Lil eine gute Freundin geworden. Sie hatte ihn aufgenommen, als er sich damals, vor fast einem Jahr, von seiner Frau trennte. Er lebte immer noch oben im Haus und würde wohl auch noch eine Weile bleiben. Die Miete war in Ordnung. Gering.

“Dein Telefon hat geklingelt, gleich nachdem du Kaffee holen gegangen warst”, sagte Lil und kaute an ihrem Bagel.

Mark sah von den Anzeigen auf. “Wahrscheinlich meine Ex”, bemerkte er trocken. “Sie heiratet in ein paar Wochen. Wahrscheinlich will sie mich zum Empfang einladen.”

“Hm”, machte Lil kopfschüttelnd. “Oder es war ein Jobangebot. Du bist hier wirklich populär, Righter.”

“Sicher.”

Lils erster Kunde kam genau um zehn. Sie stand auf, schlug die Krümel von den Händen und zwinkerte Mark zu. “Der Trottel will einen Drachen auf die linke Backe.”

“Einen Drachen im Gesicht?”, fragte Mark.

“Nein, Mann, auf die Backe.” Lil drehte sich um, schlug sich auf den Hintern und fing Marks amüsierten Blick auf.

“Du erwischst mich doch immer wieder”, sagte er ohne Verärgerung.

“Du bist ein leichtes Opfer.”

Sobald Lil im Haus verschwunden war, warf er die leeren Kaffeebecher und die weiße Tüte in den Abfalleimer jenseits des zerbrochenen Zaunes. Die Zeitung in der Hand, ging er über die Außentreppe des Backsteingebäudes nach oben. Auf halbem Weg sah er über die Stadt zu den im Westen aufragenden Bergen. Die Vorgebirge waren noch schneefrei. Doch die Viertausender dahinter, tief im Herzen der Rocky Mountains, glänzten weiß in der Morgensonne. Es war bald Jagdsaison, und Mark fragte sich, ob er sich den jährlichen Jagdausflug würde leisten können. Es würde im günstigsten Fall knapp werden. Er schlug mit der zusammengerollten Zeitung aufs Geländer, ging weiter und wollte sich heute keine Sorgen mehr machen.

Als er sein winziges Ein-Zimmer-Apartment betrat, sah er das rote Licht seines Anrufbeantworters blinken. Wieder sagte er sich, dass es entweder seine Ex-Frau war oder Hoagie, sein Ex-Partner, der sich nach ihm erkundigen wollte. Sie hielten weiter Kontakt, seit Mark den Dienst im Zorn quittiert hatte. Vielleicht fürchtete man, er würde sich eine 45er in den Mund stecken und dem Ganzen ein Ende bereiten. Polizisten taten das manchmal.

Eine Minute stand er vor dem Gerät und flüsterte ein Stoßgebet: “Hoffentlich ist es der Durchbruch!”

Eine Männerstimme erklang. Es war nicht Hoagie. “Hier spricht Scott Dunning. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie zurückrufen würden. Es ist eine dringende Angelegenheit, Mr. Righter.” Dann hinterließ er eine Nummer.

Dunning, dachte Mark. Scott Dunning. Er kannte den Namen. Ein Bauunternehmer. Wolkenkratzer. Und war Dunning nicht mit dieser Verteidigerin verheiratet? Die, die bei dem Prozess so dezent im Hintergrund geblieben war?

Mark forschte in seiner Erinnerung. Richtig. Die Frau war in den Vierzigern. Klein und etwas untersetzt. Ein zartes Gesicht und üppige blonde Locken. Große, runde Brillengläser. Lydia Dunning. Er war sich dessen sicher. Und was wollte nun deren Mann von ihm?

Unwillkürlich und trotz der Bitterkeit, die er gegenüber dieser Frau empfand, die geholfen hatte, seine Karriere zu zerstören, war er neugierig.

Er wählte Scott Dunnings Nummer. Eine Stunde später war er geduscht, umgezogen und fuhr zu Dunnings exklusiver Cherry-Creek-Adresse.

Es war Mark zur Gewohnheit geworden, sich Sonderbares zu merken. Auf dem Weg nach Cherry Creek fragte er sich erneut, warum Scott Dunning ihn sehen wollte. Er hatte am Telefon nur wiederholt, dass es dringend sei. Und – noch sonderbarer – sie wollten sich bei ihm zu Hause und nicht in seinem Büro treffen. Noch etwas anderes nagte an ihm. Dieses Treffen musste etwas mit dem Prozess des Orchideenmörders zu tun haben. Aber was? Der Prozess war abgeschlossen, der Verurteilte saß in Canyon City hinter Gittern. Glücklicherweise hatten die Geschworenen die Taktik der Verteidigung durchschaut, die mit dem Finger auf Mark gezeigt und angedeutet hatte, er habe die Unterwäsche der ermordeten Frau in der Wohnung des Täters platziert.

Okay, dachte er, die Geschworenen haben sich alle Beweise angesehen und den Halunken trotz der Slip-Geschichte für schuldig befunden. Aber das hatte ihm nicht geholfen. Die Presse hatte ein Fest gehabt. Teilweise verfolgten die ihn immer noch. Und als sein eigener Captain sich damals nicht vor ihn gestellt hatte, dachte er, nur eines tun zu können, und war gegangen. Vierzehn Jahre beim Denver Police Department und dann nichts mehr. Er war sechsunddreißig Jahre alt und ohne Zukunft.

Mark fuhr südlich die University Street entlang, kam an der modernen Cherry Creek Mall vorbei und suchte die Straße, in der die Dunnings lebten. Er versuchte, seine Bitterkeit zu verdrängen, doch das fiel ihm in letzter Zeit immer schwerer.

Er bog nach links in die Belcaro und lenkte den grünen 76er Jaguar geschickt um die Ecke. Er liebte seinen Sportwagen. Der Jaguar war sein einziges Spielzeug, sein einziger Luxus. Er hatte ihn schon vor seiner Heirat gehabt. Er hatte ihn behalten, als die beiden Kinder geboren wurden und sie etwas zusätzliches Geld gut hätten gebrauchen können. Aber jedem stand etwas Freude im Leben zu, oder?

Er bog nach links in die Virginia, Richtung Polofelder, der Stadtteil der Reichen voller weitläufiger Villen. Das Haus der Dunnings stand am Polo Club Kreisel.

Herrenhaus wäre eine treffendere Beschreibung, dachte Mark, als er in die Einfahrt bog. Er passierte zwei beeindruckende offenstehende Eisentore, und die Schönheit des Anwesens nahm ihn sofort gefangen. Die Rasenfläche war ungefähr ein Acre groß. Die geschwungene Zufahrt wurde von schönen, ausladenden Eichen in beginnender Herbstfärbung gesäumt. Mehrere Gärtner harkten und jäteten. Ihre Lieferwagen waren kaum sichtbar hinter dem Haupthaus geparkt. Die Arbeiter sollen wohl nicht zu sehr auffallen, dachte Mark spöttisch. Als er parkte, stützte sich einer der Gärtner auf seine Harke und winkte. Mark erwiderte den Gruß.

Das Haus selbst war ebenso beeindruckend wie die Umgebung. Es war im englischen Tudorstil, vermutlich in den späten Fünfzigern, gebaut worden, nicht untypisch für diesen Teil von Denver – dem ersten echten Vorort der Stadt. Mit nur einem Golfplatz und einigen schönen Häusern hatte Cherry Creek einst sehr weit vom eigentlichen Stadtzentrum entfernt gelegen. Heute reichten die Vororte bis fast nach Colorado Springs, und Cherry Creek lag praktisch im Herzen der Stadt.

Mark betrachtete die imposante Villa. Ja, Dunning hatte es offenbar zu was gebracht. Er parkte den Jaguar und ging zum Portal.

Eine Hausangestellte öffnete die dunkle Holztür und geleitete ihn durch das Hauptgebäude in ein Treibhaus. Sie sprach ihn auf Spanisch an, und er antwortete in seiner dürftigen Straßenversion ihrer Sprache.

Scott Dunning erwartete ihn im Treibhaus. Nachdem er sich vorgestellt hatte, bot er Mark etwas zu trinken an, und Mark bat um Kaffee.

“Gärtnern Sie, Mr. Righter?”, fragte er, nachdem er ihm von einem Tablett, das an der Seite stand, eine Tasse Kaffee gereicht hatte.

Mark hob unter seinem besten Sportmantel leicht die Schultern. “Habe ich mal, ein wenig. Ich hatte ein Haus in Aurora. Bin jetzt geschieden.”

“Verstehe”, erwiderte Scott Dunning. “Ich fürchte, ich verbringe zu viel Zeit hier drin. Ich sollte mir die Arbeit für den Ruhestand aufheben.”

Scott Dunning war groß, knapp 1,90, kaum kleiner als Mark. Doch während man Mark als groß und kräftig beschreiben würde, war Dunning schmal und sehnig. Sein silbriges Haar war kurz geschnitten und seine Haut makellos. Ein nett aussehender Mann mit selbstsicherer Haltung.

“Ist das Ihr Wolkenkratzer, der da im Zentrum Ecke Larimer und Dreiundzwanzigste hochgezogen wird?”, fragte Mark.

“Das ist meiner.” Scott Dunning deutete auf zwei Stühle aus Gusseisen und setzte sich mit seinem Gast. “Er wird erst in zwei Jahren fertig werden.”

Mark trank einen Schluck Kaffee. “Ein wirklich beeindruckendes Gebäude.”

“Ja, nicht übel”, bestätigte Scott Dunning lächelnd. “Nun, Mr. Righter, Sie werden sich fragen, warum ich Sie hergebeten habe.”

“Allerdings. Und Sie können mich Mark nennen.”

“Okay, dann also Mark. Ich bin übrigens Scott. Sicher haben Sie inzwischen gemerkt, dass meine Frau Lydia im Prozess um den Vergewaltiger im Team der Verteidigung war.”

Mark nickte schwach lächelnd und fragte sich gespannt, was dieser wohlbetuchte Bauunternehmer von ihm wollte. Scott Dunning war, wie man hörte, ein echter Philanthrop und spendete großzügig für diverse Wohlfahrtseinrichtungen und Museen. Großer Gott, vielleicht wollte Dunning einen Hilfsfonds für ihn einrichten, um seine Schuldgefühle zu mildern, weil Lydia Dunning eine gewisse Mitschuld an seiner gegenwärtigen Arbeitslosigkeit trug.

“Lassen Sie mich auf den Punkt kommen”, schlug Scott Dunning vor. “Ich bin gern direkt.”

“Von mir aus, nur zu.”

“Okay, hier ist mein Anliegen. Meine Schwester, meine jüngere Schwester, wird verfolgt. Als sie einige unanständige Anrufe bekam, war sie zwar irritiert, hielt das aber für die Possen eines Ausgeflippten. Dann erhielt sie Briefe. Schreckliches Zeug, voller sexueller Anspielungen, was der Wahnsinnige mit ihr anstellen wollte. Sie brachte sie zur Polizei, aber die konnte nicht viel tun. Die Briefe waren auf gewöhnlichem Papier geschrieben mit einer Standardtastatur. Keine Fingerabdrücke, Ende.”

Mark nickte. Er hatte all das schon oft gehört. Zu oft.

“Sie ließ sich eine Geheimnummer geben und ergriff Vorsichtsmaßnahmen.”

“Zum Beispiel?”

“Nun, sie versucht, abends nicht allein auszugehen. Solche Dinge. Sie verriegelt das Auto, auch wenn sie fährt. Und bei der Arbeit …”

“Wo arbeitet sie?”

“Sie ist selbstständig, führt ein Geschäft für Innendekoration. Sie hat viele der alten viktorianischen Häuser in der Gegend neu gestaltet. Sie macht sich allmählich einen guten Namen.

“Hm”, machte Mark. “Demnach hat sie viel Kontakt mit Handwerkern.”

“Ständig.”

“Hat sie irgendeinen Verdacht? Ein abgeblitzter Freund, ein gefeuerter Angestellter?”

“Nein, das ist das Problem. Anna, meine Schwester, hat keinen Anhaltspunkt. Sie geht auch kaum je mit Männern aus. Sie war nie verheiratet – es gab mal eine ernste Beziehung, aber der Mann kam ums Leben. Seither ist sie ein gebranntes Kind. Wenngleich ihr das selbst wohl nicht bewusst ist.”

“Hm”, machte Mark wieder.

“Kürzlich”, fuhr Scott Dunning fort, “kaufte sie abends noch im Tabor Center ein, und ein Mann näherte sich ihr in der Tiefgarage. Sie hat ihn nicht besonders gut beschreiben können, aber er war noch jung. Es war dunkel, er trug eine Kappe und hatte den Kragen hochgeschlagen. Sie glaubt, er sei Anfang Dreißig gewesen. Ein unauffälliger Typ wie Millionen andere auch. Sie sagte der Polizei alles, was sie wusste, konnte aber keine genaue Beschreibung geben …”

“Und sie hat wirklich nicht die leiseste Idee, wer dieser Mann ist?”

“Wie gesagt, nicht die geringste. Das Einzige, was die Polizei vorschlagen konnte, war, einen Leibwächter zu engagieren.”

Mark begann zu verstehen.

“Ich habe die Sache mit meiner Frau besprochen”, fuhr Scott Dunning fort, “und sie schlug Sie vor.”

Mark hob ruckartig den Kopf.

“Glauben Sie es oder nicht, meine Frau hält große Stücke auf Sie. Sie könnten als Beschützer fungieren und nebenbei noch die Identität dieses Burschen aufdecken. Sollte es jemals zu einer wirklichen Konfrontation mit dem Täter kommen, glauben wir, dass Sie die Sache meistern können.”

“Nun ja”, erwiderte Mark, “in meinen besten Zeiten zweifellos. Inzwischen bin ich etwas außer Form.”

“Jede Wette”, erwiderte Scott Dunning lächelnd.

Mark dachte einen Moment über den Vorschlag nach und fragte: “Warum bespreche ich das mit Ihnen und nicht mit Ihrer Schwester?”

“Um ehrlich zu sein, Anna nimmt eine, wie meine Frau es ausdrückt, Verweigerungshaltung ein.”

“Kann passieren.” Auch das noch, dachte Mark bei sich.

“Sie sagte sogar, sie habe die Situation in der Garage vielleicht falsch gedeutet. Außerdem steckt sie derzeit finanziell in einer etwas heiklen Lage. Sie und ihre Partnerin beginnen gerade ihren Schuldenberg abzutragen. Anna fürchtet, dass sie sich keinen Bodyguard leisten kann. Diese Frage haben wir jedoch geklärt. Falls Sie den Job annehmen, und wenn Anna einverstanden ist, schreibe ich Ihnen die Schecks aus, bis sie es mir zurückzahlen kann.”

“Das ist ja alles wunderbar und prima, aber für mich klingt das, als wäre Ihre Schwester von der Notwendigkeit, einen Bodyguard zu haben, nicht überzeugt.”

“Das stimmt. Sie gehört zu dieser Sorte Frauen, nun ja, sie hält sich selbst für tough und unabhängig. Sie wissen schon, eine moderne Frau eben.” Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: “Sie will um keinen Preis zugeben, dass sie Angst hat. Deshalb hatte ich gehofft, Sie könnten sich mit ihr treffen, mit ihr reden und ihr ein paar Sachen klarmachen. Ich fürchte, Lydia hat recht: Anna versucht dieser Geschichte zu entfliehen, indem sie sie herunterspielt. Nennen Sie es Verleugnung oder wie auch immer. Auf jeden Fall sollte sie mit jemandem reden, der über Ihre Kenntnisse und Ihre Erfahrung verfügt.”

Mark dachte darüber nach. Dieser Deal klang nach einer Menge Ärger.

“Anna könnte sich heute Abend mit Ihnen treffen”, fuhr Scott Dunning fort. “In ihrer Wohnung, in Lower Downtown. Sie wissen schon, LoDo. Sie lebt da in einem Loft.”

“Sehen Sie …”, begann Mark, bereit abzulehnen, zumal er sich daran erinnerte, dass vor allem Lydia Dunning an seiner gegenwärtigen Misere Schuld war.

“Stimmen Sie zu”, drängte Scott Dunning. “Treffen Sie sich mit ihr, erspüren Sie, was los ist. Außerdem bestehe ich darauf, Ihnen einen Scheck auszuschreiben, gleichgültig, wie das Treffen ausgeht.”

Mark wollte schon ablehnen und sagen, dass er ohnehin mit Anna reden würde, ohne dafür eine Entschädigung zu verlangen, doch Scott Dunning war bereits aufgestanden und ging ins angrenzende Büro, um einen Scheck auszustellen. Mark entschied, das Geld zu nehmen. Im Augenblick konnte er sich zu großen Stolz einfach nicht leisten. Er folgte Dunning ins Büro.

“Ich hoffe, das reicht.” Scott Dunning reichte ihm den Scheck.

Mark sah auf die Summe. Fünfhundert Dollar. Das war mehr als genug. Er nahm den Scheck. “Das ist okay.”

“Wir können Ihr endgültiges Gehalt festlegen, falls Anna – wenn Anna – einverstanden ist, sich der Realität zu stellen. In Ordnung?”

“Natürlich.”

Scott Dunning schrieb ihm Annas Anschrift und Telefonnummer auf einen Zettel und reichte ihn Mark. “Gegen acht heute Abend?”

“Ist mir recht”, erwiderte Mark. Beim Abschied fragte er sich, ob Lydia Dunning daheim war und ihm aus dem Weg ging. Sie hätte allen Grund dazu. Wieder eine dieser Ironien des Lebens – die Frau geht ihm im Prozess an die Gurgel, macht dann eine Kehrtwendung und empfiehlt ihn wegen genau der Wesenszüge, die sie angeblich verabscheut.

Der Septembertag wurde noch angenehm warm, und bevor Mark losfuhr, ließ er das Verdeck des Jaguar herunter. Er hörte irgendwo einen Hund bellen und den Lärm einer Kettensäge. Nachbarschaftsgeräusche, die irgendwie angenehm waren. Er stieg ein, setzte zurück und sah wieder einen der Gärtner. Später würde er sich an den Burschen erinnern, im Augenblick bemerkte er jedoch nur, dass der Mann an einer langen, beeindruckenden Reihe von Rosenbüschen vom Nachtfrost braun gewordene Blätter entfernte.

Es muss schön sein, genügend Geld zu haben, sich alles leisten zu können, überlegte Mark. Und während er Gas gab, fragte er sich, an welchem Punkt sein Leben begonnen hatte, aus dem Ruder zu laufen.

Lydia Dunning ließ die Gardine los und wandte sich an ihren Mann. “Nun, was denkst du?”, fragte sie.

“Er ist genauso, wie du gesagt hast. Ein harter Bursche. Dem möchte ich nicht in einer dunklen Gasse begegnen.”

“Genau”, bestätigte Lydia.

“Die Frage ist, was wird meine Schwester von ihm halten? Mark Righter schüchtert sie vielleicht mehr ein als dieser Irre, der sie verfolgt.”

“Wir können nur abwarten”, befand Lydia.

Nach einem Moment fragte Scott versonnen: “Hast du wirklich geglaubt, dass Mark Righter das Beweisstück in diese Wohnung gelegt hat?”

Lydia schob sich die Brille mit den großen, runden Gläsern den Nasenrücken hoch. “Ich kann nur sagen, dass er fähig ist, so etwas zu tun.”

“Aber alle wussten, dass die Cops den Richtigen verhaftet hatten”, erwiderte Scott. “Ich frage mich wirklich, ob es etwas ausmacht, wenn jemand, sagen wir Mark Righter, versucht hat, sicherzustellen, dass der Bursche nicht durch die Maschen des Gesetzes schlüpft. Ist es nicht besser, wenn ein Vergewaltiger und Mörder hinter Gittern sitzt?”

“Du fragst mich, ob der Zweck die Mittel heiligt?”

“Sicher, warum nicht? Was, wenn das Opfer unsere Tochter gewesen wäre? Oder wenn sie das nächste Opfer des Orchideenmörders geworden wäre?”

“Oh Gott, frag mich bloß nicht so was!”, stöhnte Lydia.

“Ich frage aber. Du bist Anwältin, aber du bist auch die Mutter einer Tochter im Teenageralter.”

“Also gut”, seufzte Lydia. “Ich hätte die Beweise vielleicht selbst dort platziert. Wolltest du das hören?”

“Ich weiß es nicht. Ich mag diesen Cop, Ex-Cop, Mark Righter. Ich denke, ich möchte glauben, dass er etwas Gutes getan hat.”

“Das wollten alle, Scott, alle.”

3. KAPITEL

Das Haus war unheimlich. Anna parkte und überprüfte die Adresse: Osage Street, 3601. Ja, das war es. Sie blieb sitzen, betrachtete es eine Minute und versuchte das Gefühl und den Eindruck einzuschätzen, den ihr das Haus vermittelte. Jedes Haus hatte seine Persönlichkeit. Anna hielt es für ihre Aufgabe, die hervorzuheben und alles Falsche und Vorgetäuschte zu entfernen, damit die innere Schönheit der Struktur hervortrat.

“Die Haus-Psychologin”, hatte Scott sie lachend und scherzhaft genannt.

“Ja”, hatte sie ernst erwidert. “Warum nicht.”

Sie neigte den Kopf zur Seite und betrachtete die Fassade des um die Jahrhundertwende erbauten Gebäudes. Dunkler Stein in horizontalen Bändern, dazwischen Backstein. Ein halbrundes, gemauertes Portal mit einem dekorativen Mittelstein. Große, rechteckige Fenster wie leere Augen. Türme mit Giebeln und Spitzen, verzierte Rohre unter den Dachtraufen. Ein Schmiedeeisenzaun um den ganzen Kasten und große Bäume, die ihn beschatteten. Wasserspeier streckten unter den Giebeln die Zungen heraus.

Unheimlich.

Perfekt. Sie wusste, sie konnte in diesem Haus etwas Großartiges schaffen. Sie hoffte nur, dass die Fenders, das neue Besitzerehepaar, über genügen Geld verfügten. Sie wollten das Haus zu einer Frühstückspension umgestalten, komplett mit Geistergeschichten, knarrenden Treppen und vielleicht Mörderspielen als ganz besonderem Wochenendangebot.

Das klang, als könnte es Spaß machen. Benötigt wurden Geld und ihr Talent.

Anna gehörte zu den Menschen, die sich selbst genau einschätzten, die guten und die schlechten Seiten. Sie wusste, sie hatte Talent, und sie hatte es leicht gehabt. Ihr Leben war angenehm verlaufen, was sich in ihrem Lebensmut und ihrer Tatkraft niederschlug. Sie nahm die Dinge, wie sie kamen, wurde jedoch zur Tigerin, wenn es um ihre Arbeit und ihre Vorstellung von deren Erledigung ging.

Seit jener Tragödie vor zehn Jahren war sie jedoch zurückhaltender und in sich gekehrter. Ihr Überschwang war versiegt, und ihr Vertrauen ins Leben hatte einen gehörigen Dämpfer erhalten. Zwar hatte sie sich von ihrer ersten Verzweiflung längst erholt, trotzdem fand sie immer noch, dass dem Leben etwas fehlte – jene Würze, die es wieder lebenswert machte.

Manchmal dachte sie, dass sie vielleicht nur einsam war. Doch das leugnete sie vehement. Der Gedanke war zu unbehaglich, um ihn zu akzeptieren.

Augenblicklich dachte sie ohnehin nicht über Einsamkeit nach, sondern über Arbeit. Und über die Fenders. Wo steckten die überhaupt? Anna sah auf ihre Uhr: zehn nach fünf.

Sie stieg mit ihrem Skizzenblock aus und ging aufs Portal zu, vorbei an den runden Steinpfosten, die das Tor flankierten. An der Haustür blieb sie stehen, blickte die Straße hinauf und hinunter und betrachtete die Nachbarschaft.

Dieser Teil von Denver hieß jetzt West Side und war einmal fest in italienischer Hand gewesen – Arbeiterviertel, respektabel, mit solide gebauten viktorianischen Häusern, Bungalows, stattlichen Kirchen und vielen grünen Parks. Heute lag die Gegend mit ihrer Mischung aus Häusern und Geschäften aller Stilrichtungen, meistens jedoch hispanisch, absolut im Trend. Immer mehr alte Häuser wurden restauriert, und Anna war sehr froh, dabei einen Fuß in der Tür zu haben.

Ein staubiger Land Cruiser näherte sich, parkte hinter ihrem Camry, und ein Paar stieg aus.

Er war dünn, blond mit beginnender Glatze und Brille. Sie war untersetzt mit langem braunen Haar und Gesundheitsschuhen an den Füßen. Die Fenders. Eine Art späte Hippietypen, entschied Anna.

“Tut mir leid, dass wir uns verspätet haben!”, rief Bonnie Fender, als sie sich auf dem Gehweg entgegenkamen.

In dem Moment erschien auch Monica Brinson und sprang aus dem Wagen, dass ihr blondes Haar wippte. “Tut mir leid, dass ich zu spät komme”, sagte sie. “Verkehr.”

Sie stellten sich einander vor, standen dann in der Kühle des Septembernachmittags und betrachteten das Haus.

“Unheimlich, was”, sagte Bonnie liebevoll. “Ich finde es herrlich. Wir werden es Fenders Folly nennen.”

“Gehen wir hinein”, schlug Anna vor. “Ich kann es gar nicht erwarten.”

Gemeinsam marschierten sie auf den Eingang zu. Monica mit ihren Kalkulationsunterlagen, Anna mit Skizzenblock und ihrem Rucksack über einer Schulter.

“Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte”, begann Ted Fender, “wir haben einige Probleme mit dem Bauunternehmer. Er hatte ursprünglich gesagt, er könnte alle Umbauten vornehmen, aber nun ja, er ist nicht so vorangekommen, wie wir dachten.”

“Bauunternehmer”, murmelte Monica.

“Ein notwendiges Übel”, warf Anna ein.

Während Ted sich entschuldigend mit einem großen Schlüsselbund zu schaffen machte, unternahm Monica einen kurzen Gang durch den Garten und notierte einiges. Anna blieb auf der Veranda und skizzierte den Eingang.

“Wir können es uns wirklich nicht leisten, den Bauunternehmer zu feuern”, erklärte Bonnie Anna. “Das Problem ist, wie Sie gleich sehen werden, er steckt bis über beide Ohren in der Restaurierung. Ich wünschte, wir hätten von Ihnen beiden gehört, bevor er anfing.”

“Wo haben Sie von uns gehört?”, fragte Anna.

“Von Evelyn Carter. Sie haben in der Gegend von Capitol Hill eine Restaurierung für sie durchgeführt.”

“Erst letzten Winter”, bestätigte Anna.

“Ah, das hätten wir”, sagte Ted. “Wir haben dieses Schloss schon zweimal auswechseln lassen.”

Er öffnete die Tür, als Monica gerade von ihrem Erkundungsgang ums Haus zurückkehrte. Nacheinander traten sie ein. Monica, taktvoll wie immer, ließ beim Anblick von Eingang und Vestibül gleich ein paar Flüche los.

Monica!”, mahnte Anna.

“’tschuldige.”

Im Haus herrschte das reine Chaos. Offenbar hatte der Bauunternehmer, ein gewisser Ed Michaels, überall zugleich angefangen, anstatt schrittweise vorzugehen. Das Ergebnis waren aufgerissene Wände und Decken und heraushängende Leitungen. Neue und antike Installationsarmaturen lagen halb ausgepackt mitten im Raum, und die Böden waren teilweise schon aufgearbeitet. Die herrliche geschwungene Eichentreppe, die nach oben führte, hing allerdings halb aus der Wand.

Anna sah Monica an und verdrehte die Augen.

Bonnie sagte: “Ich weiß, es ist grässlich. Wir wissen nicht, wo wir anfangen sollen. Wir haben Ed Michaels gesagt, er soll die Arbeit unterbrechen, bis wir mit Ihnen gesprochen haben.”

“Das hat ihm sicher gefallen”, meinte Monica leise.

“Was denken Sie?”, fragte Bonnie hoffnungsvoll und stand immer noch zwischen Vestibül und Eingang.

“Oh, nichts ist unmöglich”, erwiderte Anna. “Aber Monica und ich müssen uns das ganze Haus ansehen, ehe wir ein Urteil abgeben können.”

“Wir haben immer noch eine Menge Arbeit vor uns, was?”, sagte Bonnie bedauernd.

“Es sieht jetzt nach einem unüberwindlichen Berg aus, aber letztlich wird sich alles regeln”, machte Anna ihr Mut.

Während Anna und Monica an die Arbeit gingen, blieben die Fenders im Vorderhaus und sahen Michaels Rechnungen und Lieferscheine durch. Anna skizzierte die Räume, während ihre Partnerin Zeit und Materialkosten abschätzte. Sie gingen von Raum zu Raum. Das Licht wurde allmählich schwächer. Da nur wenige Räume Arbeitsbeleuchtung hatten, schalteten sie Taschenlampen ein.

“Was für ein Durcheinander!”, schimpfte Monica, als sie, unentwegt schreibend, im Wohnzimmer über einen Haufen Gips stieg.

“Ja”, stimmte Anna zu. “Aber sieh dir das an.” Sie leuchtete mit der Taschenlampe den Kamin an. “Delfter Kacheln. Sie sind wunderschön. Und der gute alte Ed Michaels hat sie nicht mal heruntergerissen.”

Monica richtete den Taschenlampenstrahl auf die Wand. “Stimmt. Dafür haben seine Männer aus Täfelung Hackfleisch gemacht.”

“Das kann man reparieren.”

“Vermutlich”, bestätigte Monica, und sie gingen weiter in die Küche im hinteren Teil des Hauses.

Sie arbeiteten gut zusammen. Im College hatte Monica als Hauptfach Betriebswirtschaft gehabt. Sie hatte einen guten Kopf für Zahlen und Bilanzen. Anna, ihre Zimmergenossin im Studentenwohnheim, war künstlerisch begabt. Notgedrungen hatte sie auch alle sonst notwendigen Fächer belegt und abgeschlossen, doch ihre Hauptbegabung lag eindeutig im Künstlerischen. In ihren letzten Jahren an der University of Colorado hatten sie sich ein Haus außerhalb des Campus gemietet. Anna war zu dem Vermieter gegangen und hatte einen Handel abgeschlossen: Sie und Monica würden das Haus innen und außen streichen, wenn er ihnen dafür zwei Monatsmieten erließ. Er war mit dem Ergebnis so zufrieden gewesen, dass er sie an Freunde weiterempfohlen hatte. Das war die Geburtsstunde ihres Geschäftes “Local Color".

Seither waren zehn Jahre vergangen. Gemeinsam hatten sie einiges durchgestanden: den Tod von Annas Verlobtem und den frühen Tod von Monicas Mutter. Und auch mit dem Geschäft war es auf und ab gegangen. Bei einem ihrer frühen Projekte hatten sie sich völlig verkalkuliert und den Auftrag mit Schulden abgeschlossen. Es hatte zwei Jahre gedauert, bis sie finanziell wieder Land sahen.

Aber sie hatten überlebt. Inzwischen eilte ihnen ein guter Ruf voraus, und sie hatten mehr Arbeit, als sie allein schaffen konnten.

Von der Küche ging es zu den Räumlichkeiten der Dienstboten. Auch hier war alles aufgerissen. Überall lagen Abfallhaufen. Dicke Lagen alter Tapeten hingen von den Wänden, Stuck fehlte. Toiletten und Waschbecken in den Bädern waren herausgerissen und standen nun herum, alter Gipsstaub hing in der Luft.

Anna folgte Monicas schlanker Gestalt die Hintertreppe hinauf, wobei die Strahlen ihrer Taschenlampen unruhig auf und ab sprangen.

Die obere Etage hatte vier Schlafräume und drei Bäder, alle in traurigem Zustand. Sie arbeiteten sich durch die Räume, maßen, schätzten und skizzierten.

Sie gingen weiter in die zweite Etage. Die alte Eichentreppe knarrte, und die Taschenlampenstrahlen wiesen ihnen den Weg durch den Unrat. Auf dieser Etage gab es ebenfalls vier Schlafräume mit schrägen Wänden und zwei herrliche runde Wohnräume in den Türmen.

“Es wird wunderschön”, sagte Anna und trat über zerbrochene Gipsplatten. “Ich kann es fühlen.”

“Ich fühle nur ein gigantisch teures Projekt für die Fenders”, erwiderte Monica. “Sie können sich das, was notwendig ist, um es richtig zu machen, vielleicht nicht leisten.”

Während Monica die Schlafräume inspizierte, nahm Anna sich die Zeit, die Rundzimmer der Türme genau zu zeichnen. Sie war nicht gerne allein, besonders nicht bei einbrechender Dunkelheit, und die Räume wirkten plötzlich sehr kalt. Das Kratzen der Äste an den staubigen Fensterscheiben ging ihr auf die Nerven. Sie lauschte, um Monica zu hören, und wünschte, sie käme zurück. Doch dann ermahnte sie sich, nicht so nervös zu sein. Sie durfte sich von ihrem Verfolger nicht ins Bockshorn jagen lassen.

Es war fast sieben, als Anna und Monica die wackelige Vordertreppe herunterkamen und sich wieder zu den Fenders gesellten. Monica erklärte ihnen, dass es einige Tage dauern würde, bis sie eine fundierte Schätzung abgeben konnten.

“Glauben Sie, dass wir Ed Michaels mit der Fertigstellung der Arbeiten betrauen können?”, fragte Ted.

“Sicher, wenn er ein wenig Anleitung bekommt”, erwiderte Anna. “Es gibt keinen Grund, warum wir nicht alle zusammen an diesem Projekt arbeiten sollten.”

“Mein Gott, das will ich hoffen”, sagte Bonnie.

Man verabschiedete sich, und die Fenders fuhren davon.

Anna und Monica blieben bei Annas Wagen unter einer Laterne stehen und besprachen den Arbeitsplan für die nächsten Tage. Anna sah auf ihre Uhr und erinnerte sich, dass Scott sie gebeten hatte, sich heute Abend zum Treffen mit Mark Righter nicht zu verspäten. Nun, wenn sie sich nicht in Bewegung setzte, würde sie ihn verpassen. Und sie musste noch beim Supermarkt halten, um irgendetwas zum Dinner einzukaufen.

“Ruf mich später an”, bat Monica. “Ich will eine haargenaue Beschreibung eures Treffens. Und wenn du meinen Rat willst …”

“Will ich nicht”, erwiderte Anna und schloss ihren Wagen auf.

“Ich würde ihn einstellen. Du musst diesen Kerl, der dir nachstellt, loswerden. Und nach allem, was ich in der Zeitung gelesen habe, ist dieser Mark Righter der Mann, der das bewerkstelligen kann.”

“Ich möchte nicht darüber reden.”

“Wer will das schon. Aber Schweigen beseitigt das Problem nicht.”

Anna dachte über diesen Satz nach, als sie durch den Supermarkt eilte. Wenn sie aufhörte, über diesen Wahnsinnigen nachzudenken, der sie verfolgte, nahm sie ihm vielleicht die Macht, die er über sie gewann. Vielleicht war das der Schlüssel: Ignoriere die Sache, und sie erledigt sich von selbst. Doch als sie zu ihrem Wagen zurückkehrte, lief ihr wieder ein Schauer über den Rücken. War er hier draußen? Beobachtete er sie in diesem Moment? Sie stieg ein, verriegelte die Türen und konnte nicht verhindern, dass ein Gefühl des Entsetzens sie erfasste. Sie durfte nicht zulassen, dass er Kontrolle über ihr Leben gewann. Das würde sie nicht gestatten. Dieser Kerl würde nicht gewinnen.

Sie fuhr in die Gasse hinter ihrem Haus an der Blake Street in Lower Downtown von Denver. Heute war es das im Trend liegende “LoDo” oder das “historische LoDo". Anna gefiel das. Was noch vor wenigen Jahren ein verfallenes Stadtviertel rings um die Union Station gewesen war, beherbergte nun das Coors Field – Heimatstadion des Rockies Baseball Teams –, heiße Schuppen für die Nacht, den Elitches Vergnügungspark und jede Menge Sportbars, Brauereipubs, Kunstgalerien und Restaurants. Und Lofts. Viele Lofts unter den Dächern alter, einst prestigeträchtiger Backsteinlagerhäuser, für jene, welche die neue Stadtatmosphäre suchten. Diese Renaissance des alten Viertels war eine aufregende Sache für alte Denveraner, ein neues Highlight in der boomenden Stadt.

Anna hatte ihr Loft vor drei Jahren gekauft, als es noch erschwinglich gewesen war. Scott war dagegen gewesen, aber sie hatte recht behalten. Das hatte er sogar einmal zugegeben, geradeheraus.

Sie nahm ihren Rucksack, der ihr die Handtasche ersetzte, ihren Skizzenblock und die Einkaufstüte, verschloss den Wagen und ging durch die Gasse zur Vorderseite ihres Hauses.

Es war dunkel, und ihr Atem kondensierte in der kühlen Luft zu weißen Wolken. Sie ging rasch, die Schatten missfielen ihr. Es war ihr nie zuvor aufgefallen, aber es wirkte finster und bedrohlich in der Gasse, und sie eilte an Haufen leerer Kartons und an Abfalleimern vorbei. Sie schämte sich ihrer Nervosität und war froh, endlich vorne auf der Straße zu sein.

Das Gebäude, in dem ihr Loft lag, reichte von der Ecke Blake und Achtzehnte Straße den halben Block hinunter. Es war ein Baudenkmal mit einer offiziellen Plakette des Denkmalschutzkomitees von Denver. Es war zweistöckig mit Geschäften im Erdgeschoss und bestand aus rotem Backstein mit horizontal abgesetzten Kanten aus weißem Sandstein zwischen den Stockwerken. In den steinernen Blumenkästen auf Straßenniveau waren jetzt nur noch verblühte Petunien, aber sie hatten den ganzen Sommer über sehr schön ausgesehen.

Sie ließ sich zur Vordertür herein und fühlte sich sicher, sobald sie im Haus war. Erleichterung durchströmte sie, gepaart mit Verärgerung, dass diese Sache ausgerechnet ihr widerfuhr.

Anna öffnete ihren Briefkasten, stopfte den gesamten Inhalt in ihre Einkaufstüte und stieg die Stufen zu ihrem Loft hinauf. Endlich daheim. Nachdem sie ihre Wohnungstür geschlossen hatte, schaltete sie mit dem einzigen noch freien Finger das Licht ein und stellte seufzend ihre Sachen auf den Küchentresen.

Großer Gott, es war schon halb acht. Ihr blieb noch eine halbe Stunde. Sie schüttelte die Schuhe von den Füßen, ging ins Wohnzimmer und warf ihre Lederjacke auf die Couch – praktisch das einzige Möbelstück –, die in einem Folkloremuster in Grün, Gold, Rost und Schwarz bezogen war. Die Couch stand mitten im Raum auf dem warmen Ahornboden, umgeben von weißen Backsteinwänden, sichtbaren Rohrleitungen und weißen Säulen. An den Wänden hingen einige gute Fotografien und bunte Drucke. Die Decke war zwanzig Fuß hoch und mit Lichtkuppeln versehen. Durch die beiden riesigen Fenster konnte Anna die Lichter vom Coors Field erkennen.

Ihr Schlafzimmer und das Bad lagen am anderen Ende, der Küche gegenüber. Sie ging hinüber, zog sich aus, warf ihre Kleidung aufs Bett und ging duschen.

In Jeanshose und -hemd, ein Handtuch um den Kopf gewickelt, marschierte sie barfuß in die Küche und schob die gekaufte Pizza in den Backofen. Sie schnappte sich Schuhe und Jacke, warf sie ebenfalls ins Schlafzimmer, sah rasch ihre Post durch und legte sie auf den Stapel Papiere auf ihrem eingebauten Arbeitstisch.

Schöne Haushälterin, dachte Anna, alles unter den Teppich kehren. Allerdings hatte sie den ursprünglichen, sorgfältig von ihr restaurierten Ahornboden bewusst nicht mit Teppichen zugedeckt.

Sie vermied es, ihren Anrufbeantworter anzusehen. Inzwischen verabscheute sie das Blinken des roten Lichtes. Er hinterließ Nachrichten auf dem Band.

Sie schauderte. Sie musste das Band abhören. Es konnten beruflich wichtige Mitteilungen darauf sein. Sie würde es später machen. Vielleicht, wenn dieser Cop, Mark Righter, hier war.

Aber brauchte sie wirklich Beistand, um dieses verdammte Gerät abzuhören? Außerdem waren zum Glück seit Wochen, seit sie die Geheimnummer hatte, keine Anrufe mehr von ihm eingegangen.

Großer Gott, vielleicht hatte er ihr deshalb in der Garage aufgelauert. Vielleicht wäre es besser, wenn er einfach anriefe.

Anna ging zu einem der großen Fenster, die ihr einen herrlichen Blick über die Stadt boten. Das Coors Field lag im Dunkeln. Heute Abend gab es kein Spiel, aber die Baseballsaison ging sowieso zu Ende. Eine Weile hatte es so ausgesehen, als würden die Rockies in der World Series mitmischen, aber das war vorbei. Baseball, Football, Hockey, Skifahren – Denver war eine großartige Sportstadt.

Auch für Bergsteiger natürlich. Aber daran mochte sie nicht denken. Sie hatte es nie mehr gemacht.

Plötzlich fiel ihr ein, dass er ihr vielleicht zusah. Sie wich zurück, als hätte sie einen Stoß erhalten. Verdammter Kerl!

Sie nahm das Handtuch vom Kopf und ging ins Bad, um das Haar auszubürsten. Es war noch nass. Auch gut. Make-up würde sie sowieso nicht auflegen. Schließlich wollte sie diesen Mark Righter nicht beeindrucken. Keine Chance. Sie würde sich mit ihm treffen und ihm höflich zuhören. Aber ein Mann in ihrem geliebten Loft? In ihrem Leben? Ein Leibwächter?

Sie kam aus dem Bad und blickte auf ihren Anrufbeantworter. “Okay, okay”, murmelte sie. “Stimmen können mir schließlich nichts anhaben.” Sie ging zum Gerät, drückte den Knopf und lauschte, die Arme verschränkt, den blechernen Stimmen, wobei sie mit einem nackten Fuß nervös auf den Boden trommelte.

Zwei mögliche neue Arbeitsaufträge. Eine Mitteilung von Scott wegen heute Abend. Eine Erinnerung der Vorsitzenden der Hauseigentümervereinigung wegen einer Sitzung. Dann elektronisches Rauschen und Klicken, und … sie erschrak, als stünde plötzlich jemand hinter ihr.

“Anna”, ertönte ein Flüstern. “Ich habe dich heute wieder gesehen. In diesem Auto. Aber du gefielst mir besser im Sommer in Shorts und so. Ich konnte mehr von deiner Haut sehen, deiner braunen Haut, deiner schönen Haut. Beine, Arme. Rasierst du deine Beine jeden Tag, Anna? Sind sie glatt? Ich möchte sie spüren, sie … lecken. Meine Zunge deine Haut hinaufgleiten lassen über die Knie, die Schenkel … bis ganz hinauf. Oh Anna, ich werde dich so sehr genießen. Und ich bin immer …”

Den Rest hörte sie nicht. Sie ging in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür. Laut vor sich hin summend, machte sie genügend Lärm, bis die Nachricht vorüber war. Den Tränen nahe, ging sie vor ihrer Kommode auf und ab. Sie würde nicht weinen, keinesfalls. Er konnte sie nicht zum Weinen bringen.

Als sie schließlich das Zimmer verließ, war ihr Mund trocken, und ihre Hände zitterten. Obwohl die Polizei ihr geraten hatte, alle Bänder aufzubewahren, drückte sie die Löschtaste des Gerätes. Sie stand neben dem Anrufbeantworter und atmete so heftig, als hätte sie gerade einen Dauerlauf hinter sich.

Er hatte ihre neue Nummer, ihre Geheimnummer! Wie war er daran gekommen?

Ein Geruch stach ihr in die Nase, und sie blickte rasch auf. “Mist!”, schimpfte sie. Die Pizza verbrannte.

Sie war bereits schwarz, und der Qualm, der ihrem Backofen entstieg, ließ ihren Rauchmelder losheulen. Anna brauchte eine Weile, ehe sie das Pochen an der Tür hörte.

“Verdammt!” Sie ließ die rauchende, brutzelnde Pizza auf dem Ofen stehen und öffnete die Tür. Zu spät fiel ihr auf, dass sie gar nicht den Türöffner betätigt hatte, um den Besucher unten einzulassen.

“Tut mir leid”, entschuldigte sie sich hastig. “Meine Pizza ist verbrannt, und dann ging der Rauchmelder los und …”

Der Mann, der vor ihr stand, war groß und breitschultrig mit dichtem, dunklem Haar. Ihr erster Eindruck war: ein bisschen lädiert, aber immer noch vital. Anna verstummte und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

“Anna Dunning?”, fragte er.

“Und Sie sind …?” Ihr kam der schreckliche Gedanken, dass er es sein könnte, dass sie ihrem Verfolger die Tür aufgerissen hatte.

“Mark Righter”, sagte er.

Ihre Angst verflog. Der Mann hatte ja auch eine völlig andere Statur als der in der Garage. Sie rang sich ein unsicheres Lächeln ab. “Kommen Sie herein, Mr. Righter.”

Aber er stand nur da und sah sie an.

“Möchten Sie nicht …?”

“Lady, zuerst öffnet mir ein Nachbar die Eingangstür”, sagte er vorwurfsvoll. “Dann öffnen Sie mir, einem Fremden, die Wohnungstür, ohne die Kette eingehakt zu lassen. Sie haben mich nicht mal nach meinen Ausweis gefragt. Ich könnte sonst wer sein.”

Anna stand in der Tür und erwiderte ruhig seinen Blick. “Okay”, erwiderte sie gelassen. “Darf ich bitte Ihren Ausweis sehen?”

Sie sah, wie er das Sportjackett zur Seite schob und aus der Innentasche eine Brieftasche holte. Er öffnete sie und reichte ihr eine Visitenkarte. Darauf stand: “Detective Mark Righter, Mordkommission.” Sie las es, ohne darauf hinzuweisen, dass er ein Ex-Detective war.

“Jetzt dürfen Sie hereinkommen”, sagte sie.

Er folgte ihr und schien mit seiner ungewohnten Größe ihr Loft auszufüllen. Mark Righter blieb stehen, sah sich um und schätzte ihre Wohnung offenbar ab. Er trug ein Tweedjackett zu Jeans und einem offenen weißen Hemd. Anna fiel auf, dass seine Augen unter den dunklen Brauen von einem überraschenden Blau waren. Insgesamt wirkte er kompetent und unerschrocken. Jemand, den man sich nicht unbedingt zum Feind machen sollte. Dann wandte er sich ihr zu, und die ganze Wucht seines einschüchternden Blickes traf sie. Um seine Mundwinkel zuckte es. “Die Pizza ist tatsächlich hin”, bemerkte er trocken.

Dann schritt er, ohne um Erlaubnis zu fragen, durch das Wohnzimmer zum Fenster, dass seine Stiefelabsätze auf dem Hartholzboden dröhnten. Am Fenster ergriff er den Kurbelstab und schloss die Jalousetten. Er wandte sich Anna wieder zu und bestimmte: “Von jetzt an bleiben die geschlossen.”

4. KAPITEL

Earl versuchte immer, sich nur um seinen Kram zu kümmern. Er war ein Einzelgänger und blieb gern anonym, nur ein Gesicht in der Menge. Als Junge hatte er seinem Lehrer und seiner Mutter gehorcht, war für sich geblieben und hatte nie Ärger gemacht. Als Mann war er weder beliebt noch unbeliebt. Freunde waren unwichtig. Wenn man einen Kollegen nach ihm befragt hätte, wäre die Antwort gewesen: “Oh, wie war noch sein Name? Ja, der ist okay. Harter Arbeiter.” Earl mochte es, unauffällig zu sein.

Er mochte Routine. Sie gab ihm Sicherheit. Deshalb war seine erste Reaktion, als ihm die Lady im großen Cadillac auf dem Sixth Avenue Freeway hinten auf seinen Lieferwagen fuhr, Panik. Die Cops würden nach seinem Namen fragen, seiner Adresse und Telefonnummer und der Zulassung des Trucks. Das konnte er nicht hinnehmen. Es war völlig undenkbar. Er spürte ein Band seinen Kopf pressen, als zöge es jemand enger und enger. Gefahr! schrie sein Verstand. Er konnte das nicht dulden.

Er fuhr an den Straßenrand, gefolgt von der Frau, die bei ihm aufgefahren war. Sobald sie aus ihren Wagen stiegen, begann die Frau sich zu entschuldigen.

“Es tut mir so leid. Sind Sie verletzt? Ich hoffe, ich habe Ihren Truck nicht beschädigt.”

“Mir geht es gut”, erwiderte Earl. “Und machen Sie sich keine Gedanken um den Truck, der ist alt. Er kann nicht mehr beschädigt werden, als er schon ist.”

Aber sie ließ nicht locker. “Vielleicht kann ich den Schaden jetzt gleich bezahlen. Ich möchte meine Versicherung nicht damit behelligen, verstehen Sie. Meinem Mann werde ich einfach sagen, dass mir auf dem Parkplatz vom Shopping Center jemand gegen den Wagen gefahren ist. Oh, ich hoffe bloß, die Polizei zwingt mich nicht, es der Versicherung zu melden.”

Aber die Polizei war nicht da. Noch nicht. Earl wusste, wenn er diese Frau nicht zum Schweigen brachte und sich entfernte, ehe zufällig ein Polizeiwagen vorbeifuhr, kamen sie nicht weiter. Sie konnte ihrem Mann erzählen, was sie wollte, das ging ihn nichts an.

“Vielleicht tauschen wir besser unsere Adressen aus”, sagte sie nach einer Weile. “Sollen wir die Polizei holen?”

Earl dachte fieberhaft nach. Wenn er einfach in seinen Truck sprang und losfuhr, wurde die Frau vielleicht misstrauisch, notierte sich sein Nummernschild und gab das Kennzeichen an die Polizei weiter. Sie würden es überprüfen und feststellen, dass es gestohlen war. Das durfte nicht geschehen. Aber wenn er ihr Namen und Adresse gab und ihr sagte, er werde den Schaden an seinem Truck schätzen lassen und ihr die Rechnung zuschicken, konnten sie vielleicht beide wieder einsteigen und wegfahren.

Er blickte den Freeway entlang, so weit das Auge reichte. Keine Cops. Noch keine. “Sehen Sie”, begann er, “ich will auch keine Versicherung einschalten. Tauschen wir unsere Adressen aus, und ich lasse Sie wissen, wie viel Sie mir schulden. Werden nur ein paar hundert Dollar sein, Lady.” Sie musste darauf eingehen.

“Nun, wenn Sie wollen. Ich meine, ich bin eindeutig schuld.”

“Schon in Ordnung.” Beeil dich, Lady, los doch!

Sie tauschten die notwendigen Informationen aus, so schnell es ging. Immer noch keine Cops. Gut. Sie schrieb seinen Namen – den anderen Namen – von seinem Führerschein ab und nannte ihn auch so. Für einen Augenblick war er völlig irritiert, und sein Herz schlug heftig.

Er wollte schon sagen, nein, Lady, ich bin Earl, der freundliche junge Gärtner, der Niemand. Aber das konnte er ihr nicht sagen, oder? Also redete sie ihn wieder mit diesem anderen Namen an, mit dem, der auf seiner Sozialversicherungskarte und seinem Führerschein stand, und er ignorierte es. Ich bin Earl, du dumme Lady. Der andere Bursche ist schon lange tot. Der Jäger hat ihn umgebracht.

Sobald er konnte, fuhr er los und versuchte, die Geschwindigkeitsbegrenzung einzuhalten, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er merkte, dass er trotz des kühlen Septemberabends schwitzte. Außerdem hatte er noch etwas vor, er sollte noch etwas tun. Das Problem war, er konnte sich nicht erinnern, was. Er sollte irgendwo hingehen, aber wohin?

Earls Apartment war unauffällig. Er hatte eine winzige Einbauküche, einen bequemen Sessel, ein Bett, einen Tisch und ein Fernsehgerät. Neben dem Fernseher, ordentlich an die Wand gestellt, stand sein wertvollster Besitz, eine Soloflex-Gerät. In seinem Einbauschrank hingen Arbeits- und Freizeitkleidung und ein paar von Kates Sachen. Ja, dachte er, und sein Verstand fühlte sich träge an, als er die Tür aufschloss und eintrat, Kate ließ immer einige Sachen hier. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, warum … und wo sie jetzt war. Voller Unbehagen beschloss er, nicht darüber nachzudenken.

Er hatte Hunger. Der Vorfall auf dem Freeway hatte ihn aus dem Zeitplan gebracht. Earl erhitzte eine Dosensuppe und machte sich ein Sandwich. Er schaltete den Fernseher ein und setzte sich zum Essen. Der Drang, irgendwo anders sein zu müssen, lauerte noch in einem dunklen Winkel seines Hirns.

Er war bald gesättigt, stand auf, stellte Schüssel und Teller in den Ausguss und ging ins Bad. Während das Duschwasser lief, zog er sich aus und stellte sich dann unter den Strahl, um den Schmutz der Tagesarbeit abzuwaschen.

Danach ging er nackt und barfuß zu einem kleinen Koffer, der neben seinem Bett an der Wand stand. Er öffnete ihn, nahm ein Paar Kampfstiefel heraus, eine Tarnhose, ein grün-braunes T-Shirt, eine schwere braune Canvas-Feldjacke und eine olivbraune Baseballkappe.

Er zog sich mit automatischen Bewegungen an. Sein Verstand war neutral. Als er fertig war, ging er ins Bad zurück und wischte den niedergeschlagenen Wasserdampf vom Spiegel. Er sah sich an und sagte: “Schön, dich zu sehen.” Und der Jäger lächelte zurück.

Mark Righter war selten von einer Frau beeindruckt. In seinen sechsunddreißig Jahren hatte er alle möglichen Frauen kennengelernt: Prostituierte, Lesben, Athletinnen, sogar einen Filmstar. Seine Ex-Frau war das typische Mädchen von nebenan gewesen, dazu erzogen, eine gute Hausfrau und Mutter zu sein und zugleich einem damengemäßen Job nachzugehen.

Aussehen beeindruckte ihn nicht sonderlich. Eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte, war eine kaltblütige Mörderin gewesen. Intelligenz war gut bei einer Frau, aber kein unbedingtes Muss. Die Klügsten hatten oft den Kopf in den Wolken, und er hielt sich für einen unbeugsamen Realisten.

Doch diese Anna Dunning hatte etwas, das ihn berührte. Das erstaunte ihn, denn er hatte schon eine Weile nichts mehr mit Frauen gehabt, und seine Gefühle waren ungewohnt.

Er stand neben dem Küchentresen, während sie die verbrannte Pizza entsorgte, und kam nicht umhin, angenehme Kleinigkeiten an ihr zu bemerken, zum Beispiel, dass sie nach oben gebogene Mundwinkel hatte. Sie redete mit sich selbst, während sie schwarze Pizzakrumen in den Ausguss fegte, und schob sich mit dem Handgelenk die Ponyfransen aus den Augen.

“Aus mir wird nie eine Köchin”, sagte sie.

Ja, Mark begann zu verstehen, warum irgendein Verrückter da draußen so besessen von ihr war.

Sie drehte sich ihm zu und neigte den Kopf zur Seite. “Ich bin am Verhungern, und es gibt nichts Essbares mehr in der Küche. Haben Sie schon gegessen?”

“Einen späten Lunch.” Das war gelogen. Alles, was er gehabt hatte, war ein Hamburger gegen Mittag gewesen.

Sie hob kurz die Schultern. “Dann gehen wir aus, okay? Ich werde wirklich gleich ohnmächtig vor Hunger.”

Sicher, was soll’s, dachte Mark. Er hatte ein paar Dollar, er hatte Scott Dunnings Scheck bereits bei der Bank eingereicht.

Sie schnappte sich die Lederjacke aus dem Schlafzimmer, schlang den vielgebrauchten Rucksack über eine Schulter schlüpfte in braune Slipper und war fertig.

Auf dem Weg nach draußen konnte er sich nicht verkneifen zu fragen: “Kein Polizeischloss an Ihrer Tür?”

“Ich wollte eines anbringen lassen. Wirklich.”

Er schwieg dazu. Doch als sie unten an der Treppe waren, fragte er: “Öffnen Sie jedem die Haustür mit dem Summer?”

Sie sah ihn seufzend an. “Ich fürchte ja.”

Autor

Lynn Erickson
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