Das Arrangement

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Jeden Morgen ergreift sie dieselbe eiskalte Panik, dieselbe Ungewissheit: Wer ist sie wirklich? Vor sechs Monaten hatte Millionenerbin Alison einen schrecklichen Unfall. Angeblich ist sie von der Jacht ihres Mannes ins Meer gestürzt. Wie durch ein Wunder wurde sie später an den Klippen gefunden, ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Nach einer OP ist Alison wieder so schön wie zuvor, doch wenn sie in den Spiegel schaut, sieht sie das Gesicht einer Fremden. Aus ihrer Familie schlagen ihr Wellen des Hasses entgegen, und auch ihr angeblicher Ehemann Andrew kommt ihr unheimlich vor. Wie soll sie herausfinden, was damals wirklich geschah, wenn sie sich doch an nichts mehr erinnern kann? Und wem darf sie jetzt noch vertrauen?


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955761684
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

SUZANNE FORSTER

Das Arrangement

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Arrangement

Copyright © 2007 by Suzanne Forster

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Übersetzt von Constanze Suhr

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung & Autorenfoto:

© by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-168-4

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

New York, sechs Monate später

Alison Fairmont-Villard schlug widerstrebend die Augen auf. Sie befand sich in ihrem privaten Schlafzimmer und trotzdem verwirrte sie der Anblick um sie herum. Andrew hatte darauf bestanden, dass sie sich weit weg von der kalifornischen Heimat an der amerikanischen Ostküste in seinem Haus am Oyster Bay auf Long Island erholte. Das war jedoch nicht der Grund für ihr Durcheinandersein. Vielmehr begann jeder Tag seit dem Unfall mit einer Erkenntnis, die sie fast körperlich spürte. Es war, als müsse sie ihr ganzes Denken und Empfinden zurechtrücken, es in die neue Zeit und an den neuen Ort verpflanzen, in eine Welt, die sie kaum kannte. Und über die sie doch mehr wusste, als ihr lieb war.

Ihre Amnesie war nicht so umfassend, wie die Ärzte vermuteten. Sie erinnerte sich nicht daran, wie sie auf die Felsen aufgeschlagen und fast ertrunken war, und auch nicht, wie sie in das rasende Gewässer des Ozeans gestürzt war, doch sie besaß noch genug Erinnerungen an das, was sich davor ereignet hatte, um sich zu fürchten.

Diese aufblitzenden Bilder aus der Vergangenheit erschienen ihr wie blendende Scheinwerferlichter, die sie blind für alles andere machten. Alles darum herum schien wie ein Ring aus tiefer Finsternis.

Vielleicht kam das von den Tabletten, die sie reihenweise nahm, um schlafen zu können und um sich ihrer Träume zu erwehren. Egal, ob es Tag oder Nacht war, wenn sie eine winzige blaue Pille schluckte, wurde sie an einen kühlen, sicheren Ort transportiert, eine schattige tropische Lagune, an der ihre Gedanken frei von allen Wirren und jedem Aufruhr waren. Dann schlief sie unschuldig wie Eva vor dem Sündenfall.

Sie umklammerte den kleinen verbeulten Kupferring, der an ihrem Armband hing. Er war ein hässliches Stiefkind unter all den zierlichen goldenen Anhängern, doch sie war erleichtert, ihn nicht verloren zu haben. Immer wieder hatte sie danach gegriffen, es war schon ein Reflex. Eine peinliche Angewohnheit. Aber dem Tod so nahe gewesen zu sein, hatte sie abergläubisch werden lassen, und dieser alte Kupferpenny hatte ihr buchstäblich das Leben gerettet, als er sich an diesem Stück Treibholz verfing. Seine Talismanfunktion war damit bewiesen.

Sie rollte sich auf die Seite und setzte sich auf, ohne darauf zu achten, dass sie nackt war. Es konnte sie ohnehin niemand sehen. Sie teilte diese wunderschöne Suite, in der sie ihre Tage verschlief, nicht mit Andrew, und soweit sie wusste, war das auch immer so gewesen. Vor dem “Unfall”, wie sie es nun nannten, hatten sie in seinem Apartment in Manhattan gelebt. Hier in seinem beträchtlich größeren Anwesen in Oyster Bay lagen ihre Schlafzimmer in verschiedenen Gebäudeflügeln. Jeder hatte seine privaten Räume. Jeder führte sein eigenes Leben.

In den letzten Tagen hatte sie kaum Kontakt zu ihrem Ehemann gehabt, bis auf die hin und wieder stattfindenden Besprechungen von gesellschaftlichen Veranstaltungen, zu denen sie ihn begleiten sollte. Doch das waren sehr wenige. In den ersten Wochen nach dem Unfall hatte er stundenlang damit verbracht, ihre Wissenslücken bezüglich ihres Lebens mit ihm auszufüllen, ebenso die aus ihrem Leben davor. Er erzählte ihr alles, was er aus ihrer Vergangenheit wusste, doch was er von ihrer Beziehung berichtete, machte ihr klar, dass sie vor dem Unfall kurz vor der Scheidung gestanden hatten – und Andrew schien nicht die Absicht zu haben, ihre Ehe jetzt wieder zu kitten.

Er schien sie nicht einmal zu mögen, was ihr ein seltsam leeres Gefühl gab und sie irgendwie wütend machte. Dabei war sie sich gar nicht sicher, wie sie selbst früher zu ihm gestanden hatte. Die intimen Einzelheiten ihrer Beziehung wollte er nicht erläutern, wodurch er sie gleichzeitig neugierig und misstrauisch machte. Hauptsächlich aber fühlte sie sich verloren. Wie sollte sie Puzzleteile zusammensetzen, wenn ihr die Hälfte fehlte?

Sie waren zurzeit nur aufgrund jener Vereinbarung zusammen, die sie getroffen hatten – ihre Beziehung war rein geschäftlich. Sobald sie sich genug erholt hatte, um alleine zurechtzukommen, hatte er sie auch allein gelassen. So wollte er es. Was sie wollte, schien nicht von Belang zu sein, obwohl sie fairerweise zugeben musste, dass er sie zumindest einmal danach gefragt hatte.

Was willst du mit deiner zweiten Chance anfangen?

Ihre Antwort hatte ihn überrascht. Sie hatte ihm nämlich erklärt, dass sie nie um eine zweite Chance gebeten hatte.

Sie stand auf und reckte sich, streckte die Arme aus und spürte die Spannung im ganzen Rücken. Statt ihrer Trägheit machte sich plötzlich ein leichtes Schuldgefühl in ihr breit, als ihr der Zustand ihres Schlafzimmers und des anschließenden Wohnraumes auffiel, den sie teilweise durch den offenen Türbogen sehen konnte. Überall hatte sie irgendwelche Kleidungsstücke fallen gelassen, Bücher und Magazine lagen verstreut auf dem Boden und den Ablagen.

War sie schon immer so nachlässig gewesen? Vielleicht lehnte sie sich unbewusst gegen seinen Ordnungswahn auf. Er hatte einmal von unterwegs angerufen, als er auf Reisen gewesen war, und sie gebeten, nach einem Dokument in seinem Arbeitszimmer zu suchen, das sich neben seinem Schlafzimmer befand. Sie war erstaunt gewesen, wie er sein Leben organisiert hatte.

Bei ihr war überhaupt nichts organisiert. Im Vergleich zu ihm kam sie sich ziemlich schlampig vor.

“Du bist ein Zombie”, murmelte sie vor sich hin und erschrak über ihre heisere Stimme. Bis auf eine leichte Veränderung durch die Operation hatte sie offensichtlich immer so geklungen. “Tu doch was”, sagte sie zu sich. “Irgendwas, nur nicht ständig schlafen.”

Sie ging ins Bad, um zu duschen und sich anzuziehen. Vielleicht würde sie sich anschließend aus der Küche etwas zu essen holen. Immerhin war es schon spät am Morgen, und sie sollte eigentlich hungrig sein. Allerdings verspürte sie selten Appetit, vor allem nicht auf die Biokost, die Andrew bevorzugte.

Zweimal die Woche kam jemand zum Saubermachen und Einkaufen, doch darüber hinaus gab es keine Hausangestellten. Kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er die Leute beurlaubt. Er fürchtete neugierige Beobachter und die Sensationspresse.

Er hatte sich in der Musikbranche einen Namen gemacht, nicht nur durch die hochkarätigen Veranstaltungen, die er organisierte, sondern auch wegen der Talente, die er entdeckt hatte. Dass er dazu noch ein großer, eleganter dunkelhaariger Typ war, konnte auch nicht schaden. Vor Jahren war er mit einer seiner Entdeckungen verlobt gewesen, eine Popdiva namens Regine, die unter offensichtlich äußerst mysteriösen Umständen in seinem Swimmingpool ertrunken war.

Noch ein Unfall. Die Frauen in Andrews Leben schienen dafür anfällig zu sein.

Die Medien nannten es den Villard-Fluch, doch Andrew wollte nicht darüber reden und gab ihr lediglich ein paar dürftige Informationen, die sie auch in der Zeitung hätte lesen können. Seine Mutter war ein aufsteigender Star der New Yorker Oper gewesen, als sie während einer Probe einen tödlichen Unfall erlitt. Sie hatte mit Andrew, der zu dieser Zeit noch ein Teenager war, und mit ihrem Mentor, dem künstlerischen Leiter der Oper, zusammengelebt, und Andrew war nach ihrem Tod bei ihm geblieben, um seine Schulausbildung abzuschließen. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als er noch ein Baby war, und seine Mutter hatte sich sehnlich gewünscht, dass er in einem kulturellen Umfeld aufwuchs. Niemand hatte etwas dagegen gehabt, am allerwenigsten Andrews Vater, der in die Wildnis von Wyoming gezogen war und inzwischen eine neue Familie gegründet hatte.

Als Alison ihn einmal bedrängte, mehr über Regine zu erzählen, war sie erschrocken, wie brüsk er darauf reagierte. Offensichtlich schmerzte ihn der Verlust noch immer, obwohl das Unglück schon fünf Jahre zurücklag. Er hatte ihr befohlen, nie wieder nach Regine zu fragen, jedoch angedeutet, dass es eine Dreierverbindung gegeben habe, bei der sie, Alison, eine der Beteiligten gewesen sei. Julia, ihre Mutter, hatte die Beziehung zwischen Alison und Andrew nicht gebilligt und dafür gesorgt, dass sie sich trennten. Damals war Alison achtzehn gewesen. Soweit sie wusste, war Andrews Verhältnis zu Regine bis dahin rein geschäftlich gewesen, hatte sich dann allerdings nach der Trennung von Alison und Andrew zu einer Affäre entwickelt. Es war ziemlich schnell etwas Ernstes daraus geworden, doch bevor sie hatten heiraten können, war Regine verunglückt.

Ein Jahr danach hatten Andrew und Alison heimlich geheiratet … und nun das.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Eine ungewisse Angst nagte an ihr, so sehr sie sich auch bemühte, sie zu verdrängen. Gab es Männer, für die es bequemer war, sich einer Frau zu entledigen, als sich von ihr zu trennen? Das wäre krankhaft, und sie weigerte sich, solche Gedanken über ihren Ehemann zuzulassen. Nach wie vor fühlte sie sich desorientiert und verwirrt. Im Moment gab es nichts, an das sie sich klammern konnte, keinen Bezugspunkt, der ihr Halt gab. Aber das würde sich ändern.

Die Kühle des großen graugrünen und weißen Badezimmers wirkte beruhigend auf sie, als sie barfüßig auf die Kalksteinfliesen trat. Das hauptsächlich aus Glas und Stahl gebaute Haus hatte mehrere Ebenen mit bogenförmigen Oberlichtern und stand auf niedrigen Sanddünen. Es war eines der wenigen modernen Gebäude in Oyster Bay Cove, und Andrew hatte auch die Inneneinrichtung hell und schlicht gehalten, damit nichts von der Schönheit der Küstenlandschaft und des Meeres ablenken würde.

Als sie in die Duschkabine schlüpfte, klingelten die Anhänger an ihrem Handgelenk leise. In letzter Zeit hatte sie das Armband nie abgenommen, nicht mal zum Baden. Ohne das Schmuckstück fühlte sie sich zu verletzlich. Ein Teil ihres Lebens war verloren gegangen, und an bestimmte Einzelheiten ihrer Vergangenheit erinnerte sie sich nur noch verschwommen, doch sie sah sich selbst vor dem Unfall als eine abenteuerlustige Person. Manche hätten vielleicht sogar gesagt, leichtsinnig. Nun war sie ständig darauf bedacht, sich zu schützen. Auf ihrem Nachttisch neben dem Bett bewahrte sie einen Briefbeschwerer aus Marmor auf, und in der Schublade lag ein Küchenmesser, nur für den Fall.

Sie drehte an dem Hahn der glänzenden Stahlarmatur, und von oben rauschte dampfend heißes Wasser herunter. Sie liebte diese Regenwalddusche. Wenn sie darunterstand, hatte sie tatsächlich das Gefühl, als wäre sie in einen tropischen Wolkenbruch geraten.

Als sie ein paar Minuten später aus der Dusche stieg und sich ein Handtuch umwickelte, spürte sie, dass sich etwas im Raum verändert hatte. Doch alles sah genauso aus wie vorher, während sie noch tropfnass durchs Badezimmer lief.

Erst in ihrem Schlafzimmer entdeckte sie dann einen Brief auf dem Schreibtisch, zusammen mit einer handgeschriebenen Notiz. Der geprägte Umschlag war aus blassblauem Leinen und so zart und glatt wie Seide. Er war an sie adressiert, aber bereits geöffnet und auch gelesen. Das wusste sie, da Andrews Notiz neben dem Umschlag lag. Er hatte nur zwei Sätze geschrieben und seinen Namen mit dem üblichen geschwungenen großen “A” daruntergesetzt.

Alison, diesmal ist es unumgänglich. Wir müssen gehen. Andrew.

Sie zog den gleichfarbigen Briefbogen aus dem Umschlag und spürte, dass ihre Nerven zum Zerbersten angespannt waren. Sie verschlang den Inhalt des Briefes regelrecht.

Meine liebste Tochter,

dein Schweigen bricht mir das Herz. Bald wirst du achtundzwanzig, und obwohl keine Einladung notwendig ist, da dies hier immer dein Zuhause bleiben wird, werde ich trotzdem eine schreiben, damit du siehst, wie sehnlichst ich dich wiedersehen möchte.

Bitte komm nach Sea Clouds, um mit deinem Bruder und mir deinen Geburtstag zu feiern. Andrew ist natürlich auch eingeladen.

Ich vermisse dich so sehr.
Alles Liebe, deine Mutter

Alisons Kehle fühlte sich vollkommen ausgetrocknet an. Einladung? Das war eine Aufforderung, bei ihrer Mutter zu erscheinen. Sie hatte gewusst, dass es passieren würde, aber deshalb war es nicht weniger katastrophal. Andrew hatte ihre Mutter seit dem Unfall von ihr ferngehalten. Dies sei zu Alisons Schutz geschehen, um ihr Zeit zu lassen, sich zu erholen und darauf vorzubereiten. Doch Julia Fairmont hatte ihr wieder und wieder Zeichen ihrer Versöhnungsbereitschaft gesandt. Sie wollte ihre einzige Tochter sehen, und niemand konnte Alison jetzt noch schützen.

Am liebsten hätte sie den teuren Briefbogen in den Schredder gegeben und zu einem Haufen Papierstreifen verarbeitet. Doch nicht mal für diesen symbolischen Verzweiflungsakt hatte sie die Kraft. Sie fühlte sich, als hätte sie vollkommen die Kontrolle über ihr Leben verloren, als sei sie eine Schachfigur, die von Meisterspielern herumgeschoben wird, und einer davon war ihr Ehemann.

Der Brief war nur ein Beispiel. Er war an sie adressiert, aber Andrew hatte ihn geöffnet, gelesen und ihr gesagt, wie sie darauf reagieren würden, auch wenn die Entscheidung ihr Leben betraf, ihre Familie – und deshalb von ihr hätte getroffen werden sollen. Nun da er glaubte, es sei an der Zeit, die Beziehung zu ihrer Mutter ins Reine zu bringen, würde dies auch geschehen. Obwohl es ein Teil der Abmachung war, die Alison mit ihm getroffen hatte, gefiel ihr der Gedanke nicht, unter diesen Umständen nach Mirage Bay zurückzukehren.

Sie hatte nur aus gewissen persönlichen Gründen eingewilligt, die ihr sehr wichtig waren. Aus genau denselben Gründen blieb sie auch hier in diesem Haus und ertrug Andrews ständige Einmischungen. Unglücklicherweise musste sie ihn nun ins Vertrauen ziehen, denn sie würde in Mirage Bay seine Hilfe benötigen. Doch es war nicht der richtige Zeitpunkt für einen Besuch dort.

Die Einladung ihrer Mutter hing gewiss mit dem Fünfzig-Millionen-Dollar-Treuhandvermögen zusammen, das an Alisons achtundzwanzigstem Geburtstag an sie hätte übertragen werden sollen, wenn sie nicht auf die Reichtümer ihrer Familie verzichtet und Andrew geheiratet hätte. Julia Fairmont hatte vor Wut fast einen Schlaganfall bekommen. Sie hatte für vier Jahre jeden Kontakt zu ihrer Tochter abgebrochen, und Andrews Berichten zufolge war das nicht einseitig gewesen. Auch Alison hatte lange keinen Versuch unternommen, diese Kluft zu überwinden.

Doch im vergangenen Februar hatte Alison in einem Anfall von Gewissensbissen ihren Mann überredet, den Winter in Mirage Bay zu verbringen, sodass sie sich mit ihrer Mutter aussöhnen könne. Anfang des Jahres hatte Andrew dann die Bladerunner für Ausbesserungen zurück an die Westküste gebracht, damit sie auch dort nicht auf sein geliebtes Schiff verzichten mussten.

Alles hätte so schön sein können, doch Alisons Mutter hatte das Friedensangebot brüsk zurückgewiesen – und dann auf einer ihrer Segeltouren hatte es diesen dramatischen Wetterumschwung gegeben, bei dem Alison ins Wasser gestürzt war. Nun plötzlich sollte alles vergeben und vergessen sein. Ihre Mutter wollte sie zurück. Irgendetwas daran erschien Alison merkwürdig, und Andrews Drängen verstärkte den Druck auf sie nur noch.

Es störte Alison, dass er in ihr Zimmer gekommen war, während sie geduscht oder möglicherweise auch während sie geschlafen hatte. Es war nicht das erste Mal gewesen. Mindestens zweimal hatte sie Anzeichen dafür gefunden, dass er unbemerkt in ihrem Zimmer gewesen war. Eine offen gelassene Tür oder wie heute eine Nachricht.

Es würde sie nicht überraschen, wenn er sie von seiner ständigen Anwesenheit wissen lassen wollte, damit sie sich nie vollständig in Sicherheit wiegte, auch nicht im Schlaf. Ihre Tabletten, von denen er nichts ahnte, lösten jedoch dieses Problem. Die Ärzte und Krankenschwestern, bei denen sie in Behandlung war, stellten ihr stillschweigend weiterhin die Rezepte aus oder versorgten sie mit Ärztemustern.

Manchmal fühlte sie sich in diesem Haus wie eine Geisel. Beizeiten hatte sie dieser Gedanke so sehr beschäftigt, dass sie sich im Internet ausgiebig über die Dynamik der Geiselnahme informiert hatte. Der Widerstand einer Gefangenen – und ihr Wille – können systematisch gebrochen werden, wenn man immer wieder ihre Privatsphäre stört. Wenn man in den persönlichsten Bereich eines Menschen eindringt, steigt das Angstgefühl – was den paradoxen Effekt hat, dass sich die Geisel von ihrem Geiselnehmer noch abhängiger fühlt.

Zuerst hatte sie das nicht wahrhaben wollen. Andrew unterdrückte sie nicht. Er schützte sie. Er hatte ihr das Leben gerettet. Doch irgendwann musste sie sich die Wahrheit eingestehen. Sie wusste nicht, wie oft er in ihrem Zimmer gewesen war, ohne dass sie es bemerkt hatte, und auch nicht, was er in dieser Zeit machte – allein schon bei dem Gedanken daran hätte sie am liebsten gleich noch eine Beruhigungspille geschluckt. Wenn sie ihr Leben nicht bald wieder in den Griff bekam, würde sie womöglich noch tablettensüchtig werden.

Ihr begehbarer Schrank hatte die Ausmaße eines kleinen Schlafzimmers. Es gab darin Unmengen an Outfits, die ihr zur Auswahl standen, doch sie wählte dasselbe, was sie am Tag zuvor bereits getragen hatte, ein Paar weiße Shorts und ein schwarzes Tanktop. Mit Shorts konnte man an einem Julimorgen am Strand nichts falsch machen. Wenn die Sachen ein bisschen locker saßen, dann lag das daran, dass sie nach ihrem Martyrium die verlorenen Pfunde nicht wieder zugenommen hatte.

Ihr Haar war noch von der Dusche nass und würde sich in wilde Locken kringeln, wenn sie es einfach so trocknen ließ. Zumindest hatte sie ihre Naturhaarfarbe zurück. Entgegen Andrews Wünschen hatte sie vor einiger Zeit aufgehört, sich das Haar zu blondieren und es in ihrem natürlichen Ton gefärbt. Nun war die Tönung beinahe vollständig herausgewachsen und ihr Haar erstrahlte wieder in einem satten Rehbraun. Endlich hatte sie das Gefühl, wieder sie selbst zu sein.

Sie stellte den Föhn auf die höchste Stufe. Das gehörte zu dem Teil ihres Morgenrituals, den sie am wenigsten mochte – Haare trocken föhnen, sich schminken und zurechtmachen. Nichts von alldem interessierte sie besonders – und wen würde sie denn schon treffen? Sie lebte im selben Haus mit einem Mann, von dem sie seit über einer Woche keine Spur gesehen hatte. Die Chance, sich zu begegnen, war gering. Vielleicht sollte sie sich einfach nur einen Apfel aus dem Kühlschrank holen und dann am Strand spazieren gehen.

Sie stellte den Haartrockner wieder aus, ohne ihn benutzt zu haben, und hängte ihn zurück in die Halterung. Diese ständigen Kontrollen ihres Ehemannes verstand sie nicht. Er war derjenige, der darauf bestanden hatte, dass sie bis auf die gesellschaftlichen Verpflichtungen beide ihr eigenes Leben führten. Sie waren sich darüber einig gewesen, dass Sex ausgeschlossen war, also konnte es nicht ihre eheliche Treue sein, die ihm Sorgen bereitete. Und trotzdem schien er das Bedürfnis zu haben, sie ständig zu kontrollieren.

Sie hätte ihn herausfordern sollen, aber das war ein Kampf, den sie sich wohl für später aufheben musste. Im Moment konnte sie die Energie dafür nicht aufbringen. Genauso wenig konnte sie die Fahrt nach Mirage Bay antreten. Sie benötigte mehr Zeit. Sie hatte ja gerade mal die Klavierstunden einigermaßen gemeistert, auf die Andrew bestanden hatte. Früher hatte sie ganz gut Piano gespielt, doch jetzt stellten die Noten eine Fremdsprache für sie dar.

Trotz aller Verdächtigungen und mulmiger Gefühle, die sie Andrew gegenüber hegte, verspürte sie durchaus auch Dankbarkeit. Er hatte ihr das Leben gerettet, dafür schuldete sie ihm etwas. Doch er erwartete einfach zu viel. Und sie hatte bereits beschlossen, wie sie damit umgehen würde.

“Andrew, bist du da? Was soll ich mit den ganzen offenen Konzertterminen machen?”

Die Stimme seiner frustriert klingenden langjährigen Assistentin Stacy ließ Andrew von seinem Millimeterpapier auf dem Zeichentisch aufschauen. Er wandte sich zur Gegensprechanlage, aus der jetzt ein tiefer Seufzer ertönte.

“Wenn du die Bestätigung für McGraw, Crow und Alvarado hast”, erwiderte er, “kannst du die restlichen US-Termine festmachen. Vergiss nicht, den Leuten zu sagen, dass wir keine Sonderkonditionen ausmachen. Der gesamte Erlös geht an Wohlfahrtseinrichtungen. Die Musiker bekommen Karrottenstäbchen und Leitungswasser.”

“Wirklich? Leitungswasser?”

“Wirklich.” Andrew rieb mit dem Daumen über das Millimeterpapier, als wolle er damit symbolisch eine Blockade beseitigen. Er war mit dem Drang aufgewacht, etwas zu entwerfen, und das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Es sollte natürlich etwas werden, das einen Rumpf und Segel besaß und sich durch Gewässer bewegte. Bisher hatte er nur Segelboote entworfen, und ein solches versuchte er auch jetzt zu zeichnen, aber dies hier schien ihm nicht zu gelingen.

“Andrew, bist du noch da? Christina Alvarados Manager wollen nicht mit mir reden. Sie möchten dich persönlich sprechen – sonst wird sie bei dem Konzert nicht auftreten.”

“In diesem Fall wäre sie die einzige amerikanische Popmusikerin von Weltklasse, die bei dieser Benefizveranstaltung fehlt. Sag den Leuten, dass 'Rock Rescue' noch größer wird als 'We Are The World'. Wenn sie sich das entgehen lassen will, ist das ihre Entscheidung.”

“Ich kann doch Christina Alvarado nicht als Popmusikerin bezeichnen!”

“Stacy, du verrennst dich in Nebensächlichkeiten. Hier geht es um eine Wohltätigkeitsveranstaltung. Die Stars sind dazu eingeladen. Ihre Egos nicht.”

Er riet ihr, ordentlich durchzuatmen, und hielt dann seine übliche aufmunternde Rede über Megastars mit ihrem überdimensionalen Liebesbedürfnis. Am Ende erinnerte er sie daran, dass er sie aufgrund ihres Schneids angeheuert hatte. Als Antwort erhielt er ein weiteres tiefes Seufzen, das er als Zustimmung deutete: “Was immer du tust, du hast meine volle Unterstützung.” Dann unterbrach er die Verbindung.

Andrew stand vom Zeichentisch auf. Stacy würde die Alvarado-Truppe mit verbundenen Augen handhaben. Das wusste sie nur noch nicht. Man konnte nicht immer allen gefällig sein. Manchmal musste man ihnen etwas entgegensetzen. Zu viele junge Stars entwickelten sich zu Ekelpaketen und Tyrannen, nachdem sie plötzlich zu Berühmtheit und Reichtum gelangt waren, und genauso wurden dann ihre Agenten. Wenn das passierte, half nur noch ein ordentlich eisiges Bad in der Realität. Man konnte jeden ersetzen. Das war ein trauriges Nebenprodukt des sogenannten American Dreams.

In Andrews Büro gab es eine Reihe von Fenstern, die einen herrlichen Blick auf den Atlantik mit seinen wogenden Wellen und den weißen Sandstrand gewährten. Er ging zur Fensterfront hinüber, zog die Sonnenblenden vollständig hoch, öffnete die Fenster und ließ sich die salzige Seeluft über das Gesicht und durchs Haar wehen. Er atmete tief den frischen Duft ein, der von den grünen und goldenen Seegräsern auf den Dünen herüberwehte.

Während die Sommerhitze in den Raum drang und er von dem hellen Glitzern des endlosen blauen Ozeans fast geblendet wurde, wünschte er, er wäre auf dem Wasser. Die Sehnsucht danach spürte er beinahe körperlich. Er musste segeln. Seit Alisons Unfall vor sechs Monaten war er nicht mehr auf der Jacht gewesen.

Die Bladerunner hatte sich bereits in Mirage Bay befunden, als sie im vergangenen Februar zurückgekommen waren. Andrew hatte sie wegen ein paar Verbesserungen in die Werft geschickt und nach dem Unfall dort gelassen, wo sie auf dem Trockendock repariert wurde. Jetzt war er nicht unglücklich, dass er sie nicht hatte herbringen lassen. Er wollte die Jacht dort haben, wenn er mit Alison zurückging, selbst wenn er nicht damit rausfahren sollte.

Das Segeln war inzwischen nicht mehr dasselbe. Allein der Gedanke daran erinnerte ihn sofort an die schrecklichen Erlebnisse des letzten Winters. Er fühlte sich beinahe ebenso isoliert wie sie – die fremde, stille Frau am anderen Ende des Hauses. Er hatte sich schon seit einiger Zeit von seinen Geschäften zurückgezogen und Stacy mehr und mehr Verantwortung übertragen, doch das war von ihm so beabsichtigt. Ebenso hielt er sich größtenteils aus dem Gesellschaftsleben heraus. Es war fürchterlich, allein auszugehen. Immer wieder musste er Fragen zu Alison beantworten.

Interessant, wie alles letztendlich zu ihr führte. Es schien offensichtlich unmöglich, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, doch was hatte er erwartet …? Sie stellte den Mittelpunkt all dieser rätselhaften Ereignisse dar, die zurzeit sein Leben bestimmten. Womöglich war sie das eigentliche Rätsel.

Sein Magen knurrte laut, und er blickte automatisch zu dem Teller hinüber, den er auf der eingebauten Ablage mit den Schränken hatte stehen lassen. Über dem Versuch, etwas Kreatives zustande zu bringen, hatte er doch glatt sein Frühstück vergessen, das aus leckeren Sommerfrüchten und einem Vollkorncroissant bestand.

Er ging zum Kühlschrank, den er mit Säften, Früchten und frischem Gemüse gefüllt hatte. Seit er nach Regines Tod das Trinken aufgegeben hatte, bevorzugte er mehr und mehr gesundes Essen. Eigentlich war er nie jemand gewesen, der bis zum Umfallen trank, doch irgendwann schien täglich eine höhere Dosis notwendig zu sein, um die geistlosen Gespräche mit den Stars und Sternchen sowie ihrer Gefolgschaft erträglich zu machen. Andrew hatte sich durch zu viele Mittagessen getrunken und zu viel Mist während zahlloser Dinnerpartys und Preisverleihungen von sich gegeben.

Müll rein, Müll raus. Immer wieder die gleichen Worthülsen. Eines Tages hatte er den Überblick verloren und irrtümlich eine neue Göttin am Rockhimmel angerufen und ihr zu dem Preis gratuliert, der an ihre verhasste Gegnerin gegangen war. Die Diva hatte Andrew mit einem Schwall von Schimpfwörtern bedacht, was dieser ziemlich komisch fand. Vor lauter Lachen war ihm der Hörer aus der Hand gefallen. Als er hinterher aufstand, um sein Glas neu zu füllen, war die Schnapsflasche leer.

Für Andrew war das ein Zeichen gewesen.

Er beschloss daraufhin, Stacy so viel wie möglich von diesen Promotion-Geschäften zu überlassen. Sie waren gerade dabei, alles so umzuorganisieren, dass der größte Teil von seinen Mitarbeitern in Manhattan erledigt werden konnte. Um den Rest würde er sich von dort aus kümmern, wo er sich gerade aufhielt, wie zum Beispiel in Oyster Bay. Stacy würde die Belegschaft vergrößern müssen, was die Kosten erhöhte, doch das war in Ordnung. Im Moment benötigte er vor allem Zeit, nicht Geld.

Er nahm sich eine Flasche mit Karotten-Ananas-Saft heraus und ging damit zu seinem Zeichentisch, immer noch in Gedanken an seinen neuen Entwurf. Hier schien in letzter Zeit alles anzufangen und zu enden, bei Entwürfen. Er kam nie dazu, seine Kreationen zu bauen, schaffte es nicht mal, das Design zu vollenden, obwohl das seine größte Leidenschaft war.

Die Wände seines Büros hingen voll mit Fotografien und Zeichnungen von klassischen Schiffen, die meisten davon aus Holz gearbeitet und seiner Meinung nach Kunstwerke. Heutzutage wurden die richtigen Rennjachten aus Kunststoffen hergestellt, und obwohl ihre Linienführung wundervoll und ihre Geschwindigkeit beeindruckend war, fehlte ihnen die Seele ihrer anmutigen Vorfahren.

Er stellte die Saftflasche ab, ohne sie geöffnet zu haben, nahm seinen Bleistift und skizzierte den Rumpf mit wenigen Strichen. Das entsprach schon eher seinen Vorstellungen. Ein schnelles und elegantes Boot, eine kleine, wendige Segeljacht. Genau wie sie.

Ungewollt wanderten seine Gedanken geradewegs zu Alison. Wie ein Wagen, der in der Kurve immer wieder von der Straße abkommt, musste er andauernd an diese Frau denken, die selbst tagsüber nackt in einem kühlen dunklen Raum mit heruntergezogenen Jalousien schlief.

Mehrmals schon war er zu ihr gegangen, um mit ihr zu reden, doch sie öffnete nie die Tür, wenn er anklopfte. So war er unaufgefordert hineingegangen, hatte sie auf dem Bett vorgefunden, mit zerknüllten Laken, ausgestreckt wie ein Akt auf einem Gemälde.

Manchmal hätte er schwören können, sie schlief mit offenen Augen, wie eine Sphinx. Er wusste einfach nie, wie er sich dieser Fremden gegenüber verhalten sollte, die er aus dem Meer gefischt hatte. Auf jeden Fall musste er sich vorsehen, um nicht dem Bann der Sirene zu erliegen und selbst an den Felsen zu zerschmettern.

Jemand hatte versucht, ihm etwas anzuhängen, indem er den Unfall seiner Frau wie Mord aussehen lassen wollte. So viel stand fest. Kurz vor dem Unglück hatte man in seinem Namen eine Lebensversicherung über zwei Millionen Dollar für Alison abgeschlossen. Alles war per Fax und Telefon arrangiert worden, inklusive der Vorlage der Ergebnisse ihrer jährlichen medizinischen Untersuchung. Jeder konnte das gewesen sein, auch Alison selbst. Stimmen waren am Telefon einfach zu verstellen.

Wenige Tage vor dem Unfall hatte er ihr erklärt, dass er die Scheidung wolle. Laut Ehevertrag standen ihr für jedes Ehejahr eine Million Dollar zu, wenn die Scheidung von ihm ausging, und nichts, wenn sie sie eingereicht hätte. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte sie das Geld verlangt. Er hatte es auf das von ihr genannte Konto überweisen lassen, und achtundvierzig Stunden später war sie von seinem Schiff verschwunden.

Das reichte, um einen Mann nachdenklich zu stimmen. Die Frau, von der er sich scheiden lassen wollte, verschwand zusammen mit einer netten Summe Bargeld, und er wurde des Mordes angeklagt? Wenn tatsächlich seine Frau dahinterstecken sollte, war das Rache, wie sie im Buche steht. Zum Glück war der Plan nach hinten losgegangen.

“Andrew?”

Beim Klang ihrer Stimme zuckte er erschrocken zusammen. Es war nicht Alisons. Aber das hing selbstverständlich mit all den Operationen zusammen, rief er sich selbst in Erinnerung.

Er blickte auf und sah sie in der Tür zu seinem Büro stehen, geschmeidig und gebräunt in weißen Shorts, ihr dunkles, leicht zerzaustes Haar über ihre Schultern fallend. Sie hielt seine Nachricht in den Händen. Gut, dachte er, sie hat es gelesen.

Sie war auf, lief herum und redete.

Sie schlief nicht wie die Sphinx.

Sehr gut.

2. KAPITEL

Sie blickte an sich hinunter, um sich zu vergewissern, dass ihr Wickeltop weit genug heruntergerutscht war, um ihre Brüste zur Geltung zu bringen. Ihr Fransenrock reichte bis zur Mitte der Oberschenkel, was hier an dieser Straßenecke ein Witz war. Die meisten Mädchen ließen ihren Hintern aus den Klamotten aufblitzen, und bei manchen zeigte sich widerlich wabbeliges Fleisch. Nicht gerade ein netter Anblick im hellen Tageslicht. Wenigstens hatte sie noch Klasse. Und sie war schlau genug, einen Rock zu tragen, die Uniform eines arbeitenden Mädchens. Miniröcke waren nicht nur sexuell aufreizend, sondern auch äußerst praktisch.

Ein glänzend silberner Porsche hielt am Straßenrand. Nicht gerade sehr diskret von diesem blöden Mistkerl, dachte sie, als sie zur Fahrertür hinüberging. Das Fenster wurde heruntergelassen, und das Milchgesicht eines Mittdreißigers musterte sie.

“Ich suche eigentlich eine Blondine, die jünger und gut ausgestattet ist”, sagte er.

“Na, da hast du aber Glück.” Sie blinzelte ihm kokett zu und zog sich den Seidenschal vom Kopf, um ihre platinblonden Locken zu enthüllen, um die sie selbst eine Gwen Stefani beneidet hätte. Es war eine Perücke, aber dem Typ würde das egal sein. Er wollte sich ja lediglich einen runterholen lassen, und das hieß, seinen Fantasien so weit wie möglich Genüge zu leisten.

Mit “jünger” hatte er leider Pech, aber was die gute Ausstattung betraf, konnte sie zu Diensten sein. Sie umfasste ihre Brüste und drückte sie nach oben, während sie sich zum Wagenfenster vorbeugte. Schwachsinniger Idiot, dachte sie, als sie sein lüsternes Grinsen sah.

“Steig ein”, befahl er.

Sie hatte kaum die Tür geschlossen, als er mit quietschenden Reifen losfuhr und eine stinkende Spur verbrannten Gummis hinter sich ließ.

“Der perfekte Ort”, kündigte er an, als er ein paar Blöcke weiter in eine verlassene Seitenstraße einbog und am Straßenrand parkte. Wieder erschien dieses Grinsen, als er den Reißverschluss seiner Hose öffnete und sich in Position brachte.

“Jetzt kannst du dich abarbeiten”, sagte er.

Für diese Bemerkung wird der freche kleine Mistkerl bezahlen, nahm sie sich vor.

Er machte weiter Witze und lachte, während sie es ihm besorgte, ihn mit Händen und Mund erfreute, bis er plötzlich aufhörte zu lachen. Er bettelte sie an aufzuhören. Natürlich verdoppelte sie daraufhin ihre Anstrengungen, und innerhalb von Sekunden quiekte er wie ein Ferkel.

“Verdammtes Weib, lass mich ran”, keuchte er.

Er wollte in seiner Ekstase nach ihr greifen, aber sie schob ihn weg. “Kein Verkehr! So ist die Abmachung.”

“Ja, aber ich muss noch eine Nummer schieben. Du machst mich dermaßen an, Julia.”

“Nenn mich nicht beim Namen!”

“Oh, Pardon.” Er zeigte an ihr vorbei zu einem schlecht gepflegten Park, der an die Straße grenzte. “Da ist eine Parkbank. Lass uns die mal ausprobieren.”

“Du meinst es wirklich ernst.”

“Ja, du wirst es nicht bedauern, Süße. Mach, dass du deinen hübschen Arsch auf diese Bank bekommst. Weil ich so ein richtig netter Kerl bin, werde ich dir aus meinem Mantel ein Kissen machen.”

Kurz darauf saß Julia mit weit gespreizten Beinen auf der Bank. Sie versuchte nicht vor Lust aufzuschreien, als er sie flink wie ein Turner bestieg. Er hätte genauso gut Liegestütze machen können. Mit beiden Händen auf die Rückenlehne der Bank gestützt, lehnte er über ihr und stieß wild zu.

Sie unterdrückte die ekstatischen Seufzer, die ihr in der Kehle brannten, dieser kleine Schuft sollte nicht wissen, dass er ihr den besten Sex bot, den sie je erlebt hatte. Sie hatte sich geweigert, es sich von ihm besorgen zu lassen, bis er ein Kondom übergestreift hatte, doch danach schaltete sich ihr Verstand aus. Hier saß sie nun, auf einer öffentlichen Parkbank unter einem Baum, und wenn eine Streife vorgefahren wäre, hätte es sie wahrscheinlich nicht einmal gekümmert.

“Sag, dass ich der Größte bin”, keuchte er, “sag mir, dass ich der Größte bin! Sag es!”

Sie sagte es, und er verzog das Gesicht. “Oh mein Gott”, flüsterte er. “Oh Himmel!”

Julia schrie auf, als er sich blitzschnell zurückzog, das Kondom wegzerrte und über ihren Brüsten ejakulierte. Das gefiel ihr nun allerdings weniger. Er hätte ruhig auf sie warten können, wie es ein verdammter Gentleman tat. Ihre Worte waren wohl sehr wirksam gewesen.

Mit dem Stofftaschentuch, das sie sich in den BH gestopft hatte, versuchte sie die Sauerei, die er veranstaltet hatte, wieder wegzuwischen. In ihren Gedanken unterschied sie sich durch dieses Stück feinster Spitze von der Rolle, die sie spielen musste. Ihr war bewusst, wie verdorben die Situation für jemanden aussehen musste, der keine Ahnung hatte, was los war. Doch sie kannte die Wahrheit und klammerte sich daran. Für sie war das keineswegs normal, kein heimliches Nachmittagsstelldichein. Es war ein Mittel zum Zweck, um das zu erlangen, was er hatte und was sie unbedingt haben musste.

Sobald sie aufgestanden war und ihren Rock wieder zurechtgerückt hatte, machte sie ihren Zug.

“Okay, wir haben deine verfluchte Fantasie bedient. Du hast, was du wolltest. Wirst du jetzt deinen Teil erfüllen?”

Er war immer noch damit beschäftigt, sich wieder in Ordnung zu bringen. “Du bist ziemlich gut, aber nicht so gut. Ich brauche noch ein, zwei Mal, vielleicht auch drei.”

“Jack Furlinghetti, du dreckiger, verkommener Lügner.”

“He, ich bin schließlich Anwalt, oder?” Er lachte laut auf und streckte die Hand aus, um ihre Lippen mit dem Daumen zu streicheln. “Du brauchst dir keine Sorgen zu machen”, versicherte er ihr, “bald hast du deinen Anteil.”

Julia war am Kochen, und das nicht vom Sex. Das wollte sie doch verdammt noch mal gehofft haben. Sie hatte extra ihn engagiert, weil sie dachte, er wäre jung und naiv und würde ihr keine Probleme bereiten. Es wäre fatal, wenn sie sich in dieser Hinsicht geirrt haben sollte.

“Ich gehe nicht.” Alison hatte sich vor Andrew aufgebaut, zerriss den Brief in Fetzen und ließ diese wie blauen Schnee zu Boden flattern. “Ich bin noch nicht bereit für dieses Aufeinandertreffen, und das weißt du auch.”

Er hörte die Anstrengung in ihrer dunklen zittrigen Stimme. Sie spielte ihm etwas vor, eine Menge Entschlossenheit, doch im Grunde genommen war sie ängstlich. Darauf hatte er gesetzt.

Er legte den Bleistift beiseite, öffnete die Saftflasche und nahm einen Schluck. “Kein Grund dramatisch zu werden. Niemand wird dich dazu zwingen, nach Mirage Bay zurückzugehen.”

“Auf deiner Nachricht stand, wir müssen gehen, dass wir es nicht länger hinausschieben könnten.” Sie blickte ihn anklagend an, und das war bei dieser kleinen Frau keine Kleinigkeit. Das trügerische Babyblau ihrer Augen verwandelte sich in blitzende Feueropale, wenn sie wütend wurde.

“Alison, jetzt sei nicht albern.” Er stand auf. “Es ist deine Familie.”

“Genau. Es ist meine Familie. Die bekannt dafür ist, ihre Jungen zu fressen.” Ihr Armband klingelte leise, als sie nach dem verbeulten Kupferring griff. “Ich bin noch nicht bereit.”

“Für manche Dinge sind wir nie bereit – Heirat, Kinder, größere Operationen. Aber wir nehmen allen Mut zusammen und machen es schließlich doch. Und danach sind wir froh, dass wir es getan haben.”

“Andrew, bitte, du kennst sie doch. Sie werden mich ans Kreuz nageln.”

“Es sind deine Mutter und dein Bruder.”

“Und beide hassen mich. Meine Mutter ist sauer auf mich, seit ich auf den Treuhandfonds meiner Großmutter verzichtet habe – und wir verheiratet sind. Wen sie kontrollieren kann, hasst sie. Wen sie nicht kontrollieren kann, hasst sie noch mehr.”

“Und dein Bruder?”

“Bret hat seit seiner Geburt was gegen mich. Ich war die Ältere und die Bevorzugte, er war immer verzweifelt darauf aus, mich vom Thron zu stürzen.”

Er nickte ihr ermutigend zu. “Gratuliere. Das bringt eure Beziehung auf den Punkt. Du kannst dich gut daran erinnern.”

Sie schüttelte müde den Kopf. “Ich kann mich an gar nichts erinnern, vor allem nicht, wenn ich mich fürchte. Mein Kopf ist wie leer gefegt. Womöglich weiß ich nicht mal, welches Besteck ich benutzen muss. Was ist, wenn ich mir am Tisch einen Patzer erlaube? Die Situation wäre demütigend.”

Sie rieb immer noch den Kupferring zwischen den Fingern. Es war eine verzweifelte Geste, die ihre Nervosität verriet. “Ich habe dich gebeten, diesen Ring vom Armband zu entfernen”, sagte er, als sie ihn schließlich mit den Lippen berührte. “Der Anhänger ist nicht von mir, und das wird man sicher bemerken.”

Sie hob angriffslustig den Kopf. “Und was passiert dann, wenn man es bemerkt? Ich habe den Anhänger selbst dazugehängt, und er hat mir Glück gebracht. Ich werde ihn nicht abnehmen.”

Er hätte zu gern seinen Willen durchgesetzt, nahm sich aber vor, es erst mal dabei zu belassen. Es gab wichtigere Kämpfe auszufechten. “Niemand in Mirage Bay wird dich demütigen”, versicherte er ihr. “Dafür werde ich sorgen.”

“Tatsächlich?”, erkundigte sie sich sarkastisch. “Wie denn?”

“Überlass das nur mir. Ich habe dir bisher noch immerhin deine Familie vom Hals gehalten. Du wirst es schon überstehen. Ich komme mit dir.”

Er hatte Julias Besuche abgeblockt, als Alison im Krankenhaus gewesen war, und ihr erklärt, dass ihre Anwesenheit für ihre zerbrechliche, nur langsam genesende Tochter zu anstrengend sei. Julia hatte nachgegeben, schien verstanden zu haben, doch mit jedem weiteren Monat, der verging, bestand sie mehr darauf, Alison sehen zu wollen. Sie würde sich nicht mehr länger abwimmeln lassen.

Andrew bemühte sich, nicht zu den Aktenschränken zu blicken, die hinter Alison standen, vor allem nicht auf das verschlossene Schubfach, in dem sich das Schriftstück befand, das er Anfang der Woche erhalten hatte. “Ich habe die Einladung deiner Mutter angenommen”, erklärte er brüsk. “Inzwischen sind sechs Monate vergangen, es wird Zeit.”

“Das hättest du nicht tun dürfen.” Ihr traten Tränen in die Augen, die das Blau aufblitzen ließen. “Dazu hattest du kein Recht.”

Als er den Schmerz in ihrem Blick sah, musste er sich von ihr abwenden, um nicht weich zu werden. Ihren Augen gelang es immer wieder zu seiner Seele vorzudringen. Bis auf das dunkle Haar sah sie auf unheimliche Weise aus wie die Alison, die er vor dem Unfall gekannt hatte. Doch dieser Frau hatte er widerstehen können. Die, die jetzt vor ihm stand, war anders. Ihre Ängste waren nicht gespielt, sie wirkten glaubhaft. Himmel, sie gingen ihm ans Herz. Und wenn sie zusammenbrach, so wie jetzt, schaffte sie es irgendwie, ihn zu berühren, egal wie sehr er sich auch dagegen wehrte.

Deshalb war er auch stets bemüht, ihr aus dem Weg zu gehen.

Während er wartete, dass sie sich wieder fing, bemerkte er plötzlich, dass sie ihre Aufmerksamkeit schon längst auf etwas anderes gerichtet hatte. Der Teller mit seinem Frühstück, das er nicht angerührt hatte, stand direkt hinter ihr auf der Anrichte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sie einzelne Fruchtstücke stibitzte und verschlang wie ein verhungerndes Kind. Er war sich nicht sicher, ob ihr überhaupt klar wurde, was sie da tat.

Er drehte sich zu ihr um und überraschte sie dabei, wie sie drei Stück einer Orange auf einmal in den Mund steckte. Als er sie ansah, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Ihr schienen die Knie weich zu werden. Ihre Wangen röteten sich, und sie schluckte angestrengt, offensichtlich alle drei Stück in einem hinunter.

“Alison? Wenn du Hunger hast …”

“Nein, habe ich gar nicht. Manchmal vergesse ich mich einfach, wenn ich in Panik bin.” Wieder bekam sie diesen ängstlichen Blick. “Siehst du? Siehst du's jetzt? Ich bin noch nicht bereit.”

Er sah es, doch das änderte nichts. Sie mussten gehen. Julia machte nach vier Jahren des Schweigens ein Friedensangebot. Alisons Unfall war der Auslöser für Julias Einlenken. Sie wollte ihre einzige Tochter sehen, das Kind, das sie fast verloren hätte, aber es steckte noch viel mehr dahinter. Sie hatte beide eingeladen, nach Sea Clouds zu kommen, das Familiengefängnis der Fairmonts hoch auf den Klippen über Mirage Bay.

Die mediterrane Villa mit den drei Ebenen gehörte der Familie schon seit Generationen, war aber hauptsächlich als Ferienhaus genutzt worden, in dem man dem harten Winter an der Ostküste entfloh. Nachdem Julias Ehemann Grant gestorben war, hatte sie begonnen, mehr Zeit in Sea Clouds zu verbringen, und inzwischen war es ihr ständiger Wohnsitz.

Andrew brauchte diese Gelegenheit. Wenn Julia ihre Einladung wieder zurückzog, würde er womöglich nie wieder die Möglichkeit bekommen, ihr Haus zu betreten, in den inneren Kreis der Fairmonts vorzudringen – von denen einer, so vermutete er, versucht hatte, ihn zu Fall zu bringen.

Andrew benutzte den kleinsten der vielen Schlüssel an seiner Kette, um die Schublade aufzuschließen. Darin lag eine sechs Monate alte Ausgabe der lokalen Zeitung von Mirage Bay, die er gestern in seinem Postfach gefunden hatte, zusammengerollt und in einer Plastikhülle. Er ließ sich die Zeitung seit Alisons Unfall zuschicken, doch diese Ausgabe war nicht als Abonnementservice vom Verlag gekommen. Die hatte ihm jemand persönlich zukommen lassen. Jemand, der ihn provozieren wollte.

Er entrollte das Blatt und legte es auf die Ablage. Alison war gerade wutschnaubend aus seinem Zimmer gelaufen, und er erwartete sie nicht so schnell zurück, trotzdem verschloss er vorsichtshalber die Tür. Wenn sie das sah, würde er sie nie ins Flugzeug nach Südkalifornien bekommen. Die Ausgabe war vom dritten Februar, und der Aufmacher war Alisons geheimnisvolles Verschwinden von der Bladerunner. Der Artikel war von demjenigen, der ihm das Blatt geschickt hatte, mit Markierungen versehen worden. Einzelne Worte waren mit Filzstift eingekreist und ergaben zusammen eine ominöse Nachricht, die ganz offensichtlich an Andrew gerichtet war.

Weiß, was Sie getan haben. Die Polizei wird es auch bald erfahren. Diesmal kommen Sie nicht davon.

Wie viel ist Ihnen das Geheimnis wert?

Das sah sehr nach einer Erpressung aus, doch der Absender hatte keine Kontaktadresse angegeben. Andrew konnte es sich nicht leisten, die Sache einfach abzutun. Er hatte jede Menge zu verbergen, und es stand zu viel für ihn auf dem Spiel. Der Absender schien das zu wissen.

Er nahm die Plastikhülle, in der die Zeitung verpackt gewesen war, und sah sich das Postetikett genauer an. Es war kein Verlagslogo darauf, was seine Theorie bestätigte, dass es von einer Privatperson stammte. Wenn es sich nicht um eine Erpressung gehandelt hätte, hätte er schwören können, dass Julia Fairmont dahintersteckte. Es konnte kein Zufall sein, dass ihre Einladung fast zur gleichen Zeit eingetroffen war wie diese Zeitungsnachricht, und sie hatte mehr Grund als alle anderen, ihn aus dem Weg zu schaffen.

Er hatte sich zwischen sie und ihre einzige Tochter gedrängt, und selbst wenn sie nichts auf den ganzen Medienrummel um den Villard-Fluch gab, so war sie zweifellos um Alisons Sicherheit besorgt. Womöglich dachte sie auch, er versuchte durch Alison an den fünfzig Millionen schweren Treuhandfonds der Familie zu gelangen.

Wie viel ist Ihnen das Geheimnis wert? Dieser plumpe Erpressungsversuch ließ ihn an Bret Fairmont denken. Es gäbe keinen anderen Grund für Bret, ihn bloßzustellen, als Geld. Ihm ginge es ganz sicher nicht darum, seine Schwester zu schützen. Geschwisterliebe gab es zwischen den beiden nicht. Unglücklicherweise schloss die Tatsache der Erpressung eine Menge Verdächtiger ein, die Andrew vielleicht nicht einmal kannte. Jeder konnte irgendetwas gehört oder gesehen haben, andererseits, warum sollten sie so lange warten? Der zweite Satz bezog sich wohl auf Regine, was bedeutete, dass der Absender gewisse Dinge über seine Vergangenheit wusste. Allerdings, wer wusste die nicht?

Er legte die Zeitung zurück in die Schublade und schloss diese wieder zu, in Gedanken immer noch mit seinem Dilemma beschäftigt. Was waren denn seine Geheimnisse wert? Himmel noch mal, so viel Geld gab es gar nicht.

An seinem Zeichentisch vorbei ging er zum Fenster. Aus unerfindlichem Grund musste er beim Anblick des hellen blauen Horizonts an die erste Begegnung mit Alison vor zwölf Jahren denken. Er war an die Westküste geflogen, um sich einen Traum zu erfüllen und bei Voyager Yachts, einer der teuersten Werften des Landes, ein exklusives Segelboot in Auftrag zu geben. Andrew hatte damals keine Ahnung, dass Voyager im Besitz von Grant Fairmont war, dessen Tochter Alison sich oft auf dem Werftgelände aufhielt.

Auch an diesem Tag war sie dort, flatterte auf dem Gelände herum wie ein junger Schmetterling, eine schön gewachsene Sechzehnjährige im Bikini, die ausgiebig mit den Studenten vom Ruderklub nebenan flirtete. Sie war noch nicht volljährig und für Andrew viel zu jung, doch das hinderte sie nicht daran, ihm bei jeder Gelegenheit ein hingebungsvolles Lächeln zuzuwerfen.

Im Laufe des folgenden Jahres, während er ständig hin- und herreiste, um den Fortschritt des Segelbootes zu überwachen, sah er sie noch häufiger, und irgendwann hatte er sich in sie verknallt. Als er mit ihr ins Bett ging, hatte er ernste Absichten, doch als sie ihn zu ihrer Mutter nach Hause brachte, änderte sich alles. Niemand war für Julia Fairmonts Tochter gut genug.

Andrew traf Alison trotzdem weiterhin, auch als die Bladerunner fertiggestellt war und zurück nach Oyster Bay geschickt wurde. Zu ihrem achtzehnten Geburtstag schenkte er ihr das Armband mit den Musikamuletten, in Anspielung an ihren Wunsch, Sängerin zu werden. Julia Fairmont verlangte, er solle es zurücknehmen. Sie hatte ihm zu dieser Zeit bereits angeboten, einen Scheck für ihn auszustellen, wenn er nur seinen Preis nannte und aus Alisons Leben verschwand. Er wollte weder das Armband noch das Geld, dennoch trennte er sich von Alison. Julia hatte recht. Er war nicht gut genug.

Es war das letzte Mal, dass er Alison sah, bevor sie im folgenden Jahr nach Manhattan zog, um die Juilliard-Akademie zu besuchen. Zu jener Zeit hatte er eine Beziehung mit Regine, einer jungen Nachwuchskünstlerin, die bei ihm unter Vertrag stand. Alisons unerwarteter Besuch in dem Loft, das er mit Regine bewohnte, war nicht gerade eine willkommene Überraschung. Aber Alison schwor, sie wolle lediglich Regine kennenlernen, die sie sehr verehrte.

Andrew starrte aus dem Fenster auf den Horizont.

Wer hatte ihm diese Drohung geschickt? Und was bezweckte man damit?

Er hatte sogar schon in Erwägung gezogen, dass der Brief zu Alisons Plan gehören könnte, ihn fertigzumachen. Das setzte natürlich voraus, dass ein solcher Plan überhaupt existiert hatte. Vielleicht versuchte ein Komplize nun, das Vorhaben zu Ende zu bringen, mit oder ohne sie. Das schien ziemlich weit hergeholt, aber Andrew musste jeder Spur nachgehen – und er würde dort beginnen, wo alles angefangen hatte, in Mirage Bay. Ob Alison nun bereit war oder nicht.

Mit dem ersten Schuss jagte er ein Loch durch das Herz des Verbrechers. Kugel Nummer zwei traf den Gangster direkt zwischen die Augen. Und dann, zu guter Letzt, schoss Special Agent Tony Bogart dem Typ die Eier weg. Das war die falsche Reihenfolge. Wenn man jemanden schnell und sicher töten wollte, zielte man zuerst auf den Kopf. Ziele, die am Kopf getroffen wurden, schossen nicht zurück. Doch Tony ließ lediglich Dampf ab. Die Schießübungen waren sein Ventil. Besser, als es an lebenden Verdächtigen auszulassen, das wurde von seinen Vorgesetzten nicht so gern gesehen.

Ein weiterer Bandit sprang hervor, bevor Tony das leer geschossene Magazin seiner halb automatischen 40er Glock auswechseln konnte. Der Schurke kam direkt auf ihn zu. Der Abzug klemmte.

Tony riss den Kopf hoch, und von seiner Stirn flogen die Schweißperlen wie Sprühnebel. Mit einer entschlossenen Bewegung aus dem Handgelenk schleuderte er den Revolver auf das Trägersystem der Zielscheiben an der Decke. Er traf den Motor und unterbrach den Ablauf, die Pappfigur blieb mitten in der Angriffsbewegung stehen.

Lachend zog Tony eine 45er aus seinem Beinhalfter und pustete den Mistkerl damit weg. Vier Löcher in die Stirn. Er hatte wirklich ganze Arbeit geleistet.

Das Trägerlaufwerk war ebenfalls vollständig hinüber, aber Tony verzeichnete das als Betriebsunfall. Er befand sich auf einem privaten Schießplatz, und der Besitzer wusste, dass er bei Tony immer mit Reparaturen rechnen musste, würde es ihm aber wahrscheinlich nicht in Rechnung stellen. Der Job bei der Ordnungsmacht verschaffte ihm immer noch ein paar Vorrechte. Vielleicht würde er Goodwill die Glock spenden. Er gab einem Revolver, der versagte, keine zweite Chance – ebenso wenig wie den Frauen.

Er schob die Pistole zurück ins Halfter und griff nach einem Handtuch, um sich die Stirn abzuwischen. Zum Schießübungsplatz in Quantico ging er nicht mehr. Das FBI hatte etwas gegen Agenten, die ihre Einrichtungen zerstörten. Man hatte deshalb schon sein Honorar gekürzt. Jeder andere hätte sich daraufhin wahrscheinlich zusammengerissen, aber Tony war dieses Jahr der Erfolgreichste der Einheit gewesen. Selbst außerhalb der Polizeikreise kannte man ihn als den Agenten, der Robert Starr überführt hatte, einen gerissenen und gefährlichen Nachahmer des UNA-Bombers. Auch war es hauptsächlich ihm zu verdanken, dass in Oregon ein religiöses Kult-Massaker wie das in Waco verhindert werden konnte.

Ja, das FBI liebte Tony Bogart zurzeit, und zwar so sehr, dass sie ihn nur für sechs Wochen aus dem Dienst genommen und ihm nahegelegt hatten, eine Anti-Aggressions-Schulung zu machen. Und alles nur, weil er nichts unversucht ließ, sie zu überzeugen, ihn in das Trainingsprogramm des Kriseneinsatzteams aufzunehmen.

CIRG, die Critical Incident Response Group, entsprach in etwa den Spezialeinheiten der Armee. Laut seiner medizinischen Gutachterin besaß Tony alle körperlichen Voraussetzungen für diese Ausbildung, nicht aber die psychischen. Die Ärztin hatte bei ihm eine Neigung zu krankhaften Wutausbrüchen festgestellt, angeblich war er Choleriker. Und warum? Nur weil er sich von einigen abfälligen und anzüglichen Fragen seitens der Gutachterin angegriffen gefühlt und sie beschimpft hatte. Miese Schlampe! Sie hatte ihm vorgehalten, sich nicht einen Deut an bestehende Regeln zu halten. Ha! Wann hatte sie das letzte Mal nach dem Rhythmus von Maschinengewehrfeuer getanzt? Regeln waren etwas Wunderbares, solange sie einen nicht umbrachten.

In seinem ganzen Leben hatte Tony sich nur zwei Mal etwas wirklich sehnlich gewünscht – und war beide Male abgewiesen worden. Die CIRG war das eine, eine Frau in der Vergangenheit das andere. Zweimal hatte er nach dem Goldring gegriffen, und beide Male war er ihm aus den Fingern gerissen worden. Doch manchmal warf einem das Schicksal auch einen Knochen hin, und wenn es erst Jahre später war, und diesmal sah es so aus, als hätte er, was die Frau betraf, eine zweite Chance erhalten.

Er griff nach seiner Trainingstasche und stopfte das Handtuch hinein.

Es würde sie vollkommen unerwartet treffen.

Nach zehn Jahren “grandiosen Einsatzes”, wenn man seinem Führungszeugnis glauben durfte, legte Tony gerade notgedrungen eine Dienstpause ein. Das einzig Gute daran war, dass es gerade jetzt passierte, wo er einen äußerst privaten Job zu erledigen hatte. In den vergangenen zwei Wochen hatte er einige anonyme Nachrichten auf seinem Handy erhalten. Anscheinend hatte er in dem ungelösten Mord an seinem jüngeren Bruder die ganze Zeit über die falsche Person verdächtigt.

Butch starb vor sechs Monaten durch mehrere Wunden, die man ihm mit einer Mistgabel zugefügt hatte, und Tony hatte sich damals geschworen, das Monster, das seinen Bruder auf so grausame Weise getötet hatte, vor Gericht zu bringen. In seiner letzten Nachricht hatte der Informant freundlicherweise ein paar wichtige Einzelheiten des Tathergangs genannt, sodass Tony sich sicher sein konnte, dass es sich bei den Hinweisen nicht um einen schlechten Scherz handelte.

Tony stürzte durch die Eingangstür des Schießplatzes hinaus in die schwüle Hitze Virginias. Heute Abend würde er sich bereits auf dem Weg zurück nach Mirage Bay befinden, um den kaltblütigen Mörder seines Bruders zu fangen. Es blieb ihm gerade noch genug Zeit, um zu seinem Apartment zu fahren, kurz zu duschen, seine schon gepackten Koffer zu schnappen und in den Flieger nach L. A. zu steigen.

Er freute sich bereits auf diesen Trip, und das nicht nur, weil er die Gelegenheit bekam, seinen kleinen Bruder zu rächen. Butch war immer ein ziemlich mieses Stück gewesen, ein großes brutales Kind, das gern Unruhe stiftete, deshalb war Tony nicht sehr erstaunt darüber, dass er Feinde gehabt hatte. Butch hatte tatsächlich einen Denkzettel verdient, vielleicht mehr als das, aber er hatte sicher nicht verdient, auf diese Weise zu sterben.

Tony hatte in Mirage Bay noch eine andere Rechnung offen, und dank der anonymen Nachricht auf seinem Handy konnte er womöglich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Komplizierte Fälle waren seine Spezialität, und er befasste sich gern mit cleveren Psychopaten. In dieser Angelegenheit würde er also in jeder Beziehung auf seine Kosten kommen.

Ansonsten hatte er wirklich keinen Grund, in die Stadt zurückzukehren, in der er aufgewachsen war. Inzwischen gab es dort niemanden mehr aus seiner Familie. Butch und er hatten ihre Mutter früh durch einen Unfall verloren, der auch ein Selbstmord gewesen sein konnte. Sie war mit dem Wagen von der Autobahn in eine Abzweigung eingebogen und direkt in den Gegenverkehr gerast, mit ihren beiden kleinen Söhnen auf dem Rücksitz. Niemand konnte sich erklären, warum sie das getan hatte, allerdings vermutete man eine postnatale Depression. Sie war auf der Stelle tot gewesen. Tony und Butch waren durch die Sicherheitsgurte gerettet worden. Sie hatten nicht einen Kratzer abbekommen. Ihre Wunden waren psychischer Natur gewesen.

Ihr Vater hatte sie – mehr schlecht als recht – großgezogen. Er wachte über seine beiden Söhne mit großer Strenge, die sich allerdings unterschiedlich äußerte. Bei Tony, der als Teenager trotzig und aufsässig war, hatte er brutale Gewalt angewandt. Butch hatte er hingegen mit zu großer Nachsicht und Bestechung verdorben. Nach Butchs Ermordung war er weggezogen, wahrscheinlich waren die Erinnerungen zu schmerzlich gewesen. Tony hatte die Stadt schon Jahre davor verlassen, um FBI-Agent zu werden, war aber wegen eines fehlenden Hochschulabschlusses zunächst nicht angenommen worden. Er war in Virginia geblieben, hatte sich einen Nachtjob gesucht, tagsüber die Uni absolviert und sich nach zwei Jahren größter Plackerei mit dem Abschluss in der Hand noch einmal beworben. Nach den obligatorischen dreizehn Wochen Training beim FBI war er auf dem besten Weg gewesen, einen der eindrucksvollsten Führungsberichte einzuheimsen, den sich je ein Rekrut beim FBI verdient hatte.

Sein leidenschaftlicher Wunsch, FBI-Agent zu werden, hatte alle, die ihn kannten, erstaunt. Am meisten verblüfft darüber war jedoch er selbst. Er mochte weder Kinder noch Hunde. Er war, wie er sich selbst eingestehen musste, kein geselliger Typ. Und in der Schule hatte man ihm prophezeit, dass er wahrscheinlich irgendwann in San Quentin landen würde. Nichts hatte sich geändert, doch er hatte sich dabei hervorgetan, Kriminelle und Straffällige zu fangen, je absonderlicher sie waren, desto besser. Vielleicht weil er wusste, wie sie dachten.

Der Kragen seines Baumwollhemdes war durchgeschwitzt, als er bei seinem Wagen ankam. Er freute sich auf die trockene Hitze in Kalifornien. Wie wohl die Chancen standen, dass irgendjemand in diesem Sonnenstaat ihn sehnsüchtig erwartete?

Schlecht. Ganz sicher sehr schlecht.

Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Das würde eine aufregende Reise werden.

3. KAPITEL

Alison ging in ihrem Schlafzimmer auf und ab, das Handy ans Ohr gepresst, und lauschte dem monotonen Klingeln. Niemand antwortete. In den letzten zwei Wochen hatte sie es immer wieder und zu den unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten versucht, doch niemand hatte sich gemeldet. Inzwischen machte sie sich fürchterliche Sorgen. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn der einzigen Person in Mirage Bay, an der ihr etwas lag, etwas zugestoßen sein sollte.

Vielleicht funktionierte das Telefon nicht mehr, vielleicht war auch das Kabel herausgezogen oder es war einfach nur niemand zu Hause, doch sie konnte nicht mehr länger auf eine Antwort warten. Keines von Andrews Argumenten überzeugte sie so sehr von der Notwendigkeit heimzukehren wie das Schweigen am anderen Ende dieser Leitung.

Für sie war Mirage Bay die Hölle auf Erden, ein Friedhof am Meer, wo all die Dämonen ihrer Vergangenheit lauerten. Doch genauso wie man sich seinen Ängsten stellen musste, um sie zu überwinden, musste sie diesen Dämonen entgegentreten, um sie ein für alle Mal loszuwerden. Wenn du vor ihnen davonrennst, heften sie sich für die Ewigkeit an deine Fersen.

So wie ungefähr neunzig Prozent der männlichen US-Amerikaner unter dreißig mit Computer und Internetanschluss besaß Bret Fairmont ein gewisses Faible für virtuelle Pornos. Besonders die Seiten mit Sexfilmchen hatten es ihm angetan. Doch anders als die meisten Anhänger dieser Websites machte er sich nicht die Mühe, seine kleine schmutzige Angewohnheit vor anderen zu verbergen. Es gefiel ihm, das Ganze auf dem Bildschirm zu lassen, sodass es für alle Welt, vor allem für seine Mutter, sichtbar war.

Bret stellte sich vor, wie sie bei dem Anblick so weiß wurde wie die Schlankheitspillen, die sie schluckte, und vor Abscheu fast erstickte. Nicht dass es tatsächlich passieren würde. Hinter ihrer Fassade von perfekten Umgangsformen und Designerkleidung steckte nämlich ein glubschäugiger Barrakuda. Doch ein einziges Mal nur hätte er gern gesehen, wie seine Mutter zusammenbrach. Er konnte sich kaum etwas Besseres vorstellen.

Trauriges Bild, Bret, sehr traurig. Wie alt bist du jetzt? Fünfundzwanzig oder zwei?

Tief im Bauch der Hängematte verborgen, die im Garten hinter dem Haus hing, gähnte er und streckte sich. Langeweile überkam ihn, während er nach oben in das Geäst des riesigen Maulbeerfeigenbaums blickte. Desinteresse und Trägheit zeigten ihre ganz eigenen Schmerzsymptome. Den gesamten Morgen über lag er nun schon in T-Shirt und Shorts herum, schlürfte Eiskaffee und hatte auch für den Rest des Tages nicht die Absicht, irgendetwas anderes zu tun.

Er wusste, wie sehr Julia Fairmont Müßiggang hasste.

Und wo er gerade an sie dachte, wo war diese Oberschlampe überhaupt?

Du bist krank, Bret. Ein armseliger kranker Typ. Warum zum Teufel hasst du sie so? Sie hat dir nie was getan …

Doch wenn er die Augen schloss, sah er vor sich, wie sich ihr schönes Gesicht bei seinem Anblick vor Verachtung verzog. Dieser Blick ließ ihn einfach nicht los.

sich nur gewünscht, du würdest nicht existieren. Das ist alles.

Er lachte auf, und das Geräusch hatte etwas Abstoßendes, wie ein stinkender Aschenbecher. Ihre Ablehnung tat ihm nicht mehr weh. Er fühlte nichts. Vielleicht lag ganz tief in ihm noch eine Spur von Verletztheit, aber an der Oberfläche war er genauso kühl und sarkastisch wie sie. Er scherte sich einen Dreck darum, was sie dachte. Warum sollte er auch?

“Bret! Wo bist du?”

Das war sie, wahrscheinlich rief sie von einem der Balkone herunter. Ihre schrille Stimme ließ ihn zusammenzucken. Das war ihm seit seiner Kindheit nicht mehr passiert. An ihrem Tonfall erkannte er, dass sie stocksauer war, doch er hatte nichts anderes erwartet. Er hatte sein Vorstellungsgespräch heute Morgen, das von ihr arrangiert worden war, versäumt, es vollkommen verschwitzt.

“Bret? Warum antwortest du nicht?”

Er sah sie auf sich zukommen, wie sie in ihren gebügelten Caprihosen, der schulterfreien Bluse und den strassbesetzten Sandaletten über den grünen Rollrasen gelaufen kam. Sofort legte er den Arm über die Augen, tat so, als schliefe er, konnte sie aber noch weiter beobachten.

Offensichtlich ärgerte sie sein Schweigen, denn als sie vor ihm stand, tat sie etwas völlig Unerwartetes. Sie packte den Rand der Hängematte mit beiden Händen und zog diesen ruckartig nach oben, sodass Bret herausfiel und auf dem Boden landete.

Er kam mit einem Plumps auf. “He! Was zum Teufel soll das? Ich krieg die Grasflecken nie wieder aus der Hose raus!”

Sie hielt einen Brief hoch. “Ich habe eine wichtige Nachricht, die auch dich was angeht.”

“Du stirbst und ich werde alles erben?” Er stand auf und klopfte sich das Gras von der Kleidung.

“Sei nicht albern. Deine Schwester kommt zu Besuch, und ich brauche deine Hilfe, um alles vorzubereiten.”

Ihre Stimme war wirklich sehr schrill. Sie zitterte auch leicht, aber verärgert wirkte sie nicht. Sie war eindeutig nervös. Verdammt, das war ja wie ein wahr gewordener Traum. Julia Fairmonts perfekte Fassade bekam Risse.

Während er dastand und seine Mutter beobachtete, dämmerte ihm langsam, was sie gesagt hatte. “Alison? Sie kommt her?”

“Ja, und ich will etwas ganz Besonderes machen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie meine Einladung annimmt oder dass er ihr erlaubt zu kommen. Das ist meine Chance, sie zurückzugewinnen, Bret.”

Brets Knie wurden weich. Ihm wurde übel, aber irgendwie schaffte er es zu antworten. “Sie ist verheiratet, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest.”

“Er hat sie mir weggenommen. Das weißt du genauso gut wie ich.”

“Sie weggenommen? Das verdammte Erbe hat sie sausen lassen, um mit ihm zusammen zu sein. Warum kapierst du das nicht? Sie hat sich für Andrew entschieden.”

Julias Gesichtszüge wurden eisig. “Er begleitet sie, und wenn du mir nicht dabei helfen willst, alles für ihren Aufenthalt vorzubereiten, dann sei zumindest hier. Ich habe gerade mit Andrew telefoniert, und er hat mir versichert, dass sie dich sehr gern sehen will.”

Das konnte nun wirklich nicht stimmen, dass Alison ihn sehr gern sehen wollte, aber Julia hatte auf Freundlichkeit umgeschaltet, und Bret spielte mit, obwohl ihm immer noch so übel war, dass er sich am liebsten übergeben hätte.

“Also dann hat sie sich wohl erholt, nehme ich an?”

Unbewusst schob Julia ihren riesigen mit Smaragden und Diamanten besetzten Ehering mit dem Daumen zurecht. Den Ring legte sie nie ab, obwohl ihr Mann bereits seit Jahren tot war. Allerdings ging es dabei nicht um ergebene Erinnerungen an ihre verstorbene Liebe. Sie wollte, dass die teuren Steine sichtbar waren, denn sie repräsentierten alles, was sie sich vom Leben erhofft und doch nie bekommen hatte. Das war jedenfalls Brets Theorie.

“Andrew meint, sie sei noch ziemlich schwach”, sagte Julia, “aber das war zu erwarten. Sie ist durch die Hölle gegangen, und wer weiß, was sie in den vergangenen sechs Monaten durchmachen musste. Er hat mich ja nie mit ihr sprechen lassen, dieser Mistkerl.”

Bret zweifelte nicht daran, dass seine Mutter sich sehnlich wünschte, Alison wieder in den Kreis der Familie aufzunehmen, doch er fragte sich, wie weit ihre Besorgnis tatsächlich ging. Sie hatte immer seine Schwester bevorzugt, bis zu einem Grad, der schon fast einer Besessenheit glich, als wäre sie die Mutter eines kleinen aufstrebenden, unglaublich schönen Jungstars. Manchmal fragte sich Bret, ob Julia in Alison ihre eigene zweite Chance sah – worauf auch immer, das wusste er nicht.

Es war auch nur eine Vermutung. Es könnte auch mit dem Treuhandfonds zusammenhängen, der eigentlich an Alison gehen sollte. Julia erzählte ihrem missratenen Sohn nie etwas, deshalb hatte er keine Ahnung, welches ihre tatsächlichen Motive waren.

“Ich werde hier sein”, versprach er, hauptsächlich um sie loszuwerden. “Kann ich jetzt meinen Mittagsschlaf machen?”

Für Bret gab es nichts weiter zu dem Thema zu sagen. Das erinnerte ihn alles zu sehr an das Programm im Science-Fiction-Kanal. Seine Mutter stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs – ein Moment, auf den er jahrelang gewartet hatte, und nun, da er da war, hatte es alles nichts mit ihm zu tun. Sondern nur mit seiner verlorenen Schwester. Was für ein Scheiß.

Julia sah auf ihre Uhr. “Hattest du nicht heute Morgen einen Vorstellungstermin?”

Er grinste gequält. Sie ließ nie locker. “Es war ein Marketing-Job, Mutter. Das ist nicht mein Ding.”

“Offensichtlich ist gar nichts dein Ding.” Sie rieb mit dem Daumen hektisch über ihren Ring. “Es ist eine Schande, Bret.”

“Für wen? Ich schäme mich nicht.” Tatsächlich hatte er bereits Jobs gehabt, meist als Model. Nichts, das ihren Ansprüchen genügte.

“Nein, offensichtlich nicht.”

Ihr Gesicht hatte sich bereits in eine gleichgültige Maske verwandelt. Wahrscheinlich war er ihr so egal, dass sie nicht einmal Verachtung spürte. Er hätte am liebsten gelacht, doch ein heißer, stechender Schmerz, als würde ihm jemand ein Messer in der Brust herumdrehen, hinderte ihn daran.

Sie stürmte mit dem Brief davon, während er eine Schachtel Zigaretten aus seiner Shorts zu fischen versuchte.

Er zündete sich eine an, nahm einen tiefen Zug und hielt den Rauch einen Moment in der Lunge. Wenn er genug qualmte, teerschwarze Lungen bekam und begann, Blut zu spucken, würde es ihr auffallen?

Die Antwort darauf wusste er. Er könnte sich direkt vor ihr im Wohnzimmer den Bauch aufschlitzen, und sie würde nicht mit der Wimper zucken, es sei denn, er beschmutzte dabei den Teppich. Wahrscheinlich war das genauso seine eigene Schuld wie ihre. Er hatte sie schon so lange verhöhnt, dass sie den Köder nun nicht mehr schlucken wollte. Er war wie eine Krankheit, und nach all den Jahren hatte sie nun ein Immunsystem dagegen entwickelt.

Er sank auf die wacklige Kante der Hängematte, die nackten Füße auf dem Boden, und schüttelte heftig den Kopf. Das würde sein blondes Haar so wunderbar unordentlich aussehen lassen. Er gab sich jede Mühe, möglichst schmuddelig und verwahrlost auszusehen, doch leider war er genauso makellos wie sie. Ihre Familie war eine regelrechte Ralph-Lauren-Werbung, und nur er schien zu wissen, wie hässlich die Realität sein konnte.

Die Haken der Hängematte knarrten unter seinem Gewicht. Das war wirklich absurd. Er war ein Vierteljahrhundert alt. Langsam sollte er sich zusammenreißen, seine Sachen packen und sehen, dass er dieses Haus endgültig verließ. Er vergammelte hier. Die Fliegen kreisten schon um seinen Kopf.

“Verdammter Mist.” Er stöhnte gleichzeitig wütend und hilflos, ließ sich in das Netz zurückfallen und starrte durch die Äste des Baums in den wolkenlosen blauen Himmel. Ja, er sollte abhauen, aber wie konnte er das ausgerechnet jetzt machen, wo seine Schwester auftauchte? Er hegte bezüglich ihrer Motive genauso viel Misstrauen wie seiner Mutter gegenüber. Abgesehen vom Aussehen hatten er und seine Schwester einiges gemeinsam. Es gab immer irgendwas, das sie wollten, immer stand etwas auf der Tagesordnung. Und dann war da ihr Ehemann. Bret hatte Andrew Villard nur verteidigt, um seine Mutter zu nerven.

Er wollte nach seinem Glas Eiskaffee greifen und stellte fest, dass es umgekippt war. Das Gras würde wohl entweder durch das viele Koffein einen Wachstumsschub erleben oder morgen abgestorben sein. Er nahm das Glas und drehte es in den Händen, während seine Gedanken umherschweiften. Ja, seine Mutter konnte sich darauf verlassen, dass er hier war. Die Möglichkeiten, die sich durch Alisons Besuch hier auftaten, waren einfach zu gut, um sie sich entgehen zu lassen.

“Alison, der Wagen ist da. Bist du so weit?”

Andrews Stimme kam vom Ende des Flurs. Sie stand in Unterwäsche vor ihrem Ankleidespiegel – in weißem Spitzenmieder und einem Slip, der merkwürdig fremd an ihrem schlanken Körper wirkte.

Sie betrachtete ihr Ebenbild, versuchte sich vorzustellen, wie sie von ihrer Familie aufgenommen werden würde, wo sie sich selbst kaum ansehen konnte. Die Chirurgen hatten ein Wunder vollbracht. Alle Narben waren geschickt verborgen, und ihre Gesichtszüge sahen bemerkenswert natürlich aus, obwohl einige Stellen ihrer Haut sich noch immer taub und abgestorben anfühlten. Ihr Lächeln stimmte irgendwie nicht, aber sie lächelte sowieso selten.

Sie fuhr sich mit dem Finger über den Nasenrücken und die glänzenden Lippen, versuchte sich mit dem Bild, das sie da sah, anzufreunden. Es war fast unheimlich, wie sehr sie der Frau auf den Schnappschüssen ähnelte, die Andrew den Ärzten gegeben hatte. Nur war alles eine Illusion. Sie war aus so vielen unterschiedlichen Teilen zusammengenäht worden, dass sie sich kaum wie eine vollständige Person fühlte.

Außenstehende mochten sie vielleicht schön finden, doch sie selbst empfand sich eher als eine Art weiblicher Frankenstein. Im Dunkel der Nacht fühlte sie sich oft wie eine Missgeburt, und manchmal sah ihr Ehemann sie an, als wäre sie genau das.

“Alison?”, rief er wieder. “Kann ich den Fahrer nach oben schicken, damit er die Koffer holt?”

Sie war nicht angekleidet, und die Koffer lagen auf dem Boden, leer. Sie hatte den Versuch zu packen vor einer Stunde aufgegeben und gehofft, wenn sie eine Pause einlegte, sich anzog und fertig machte, würde sie anschließend in der Lage sein, es zu Ende zu bringen. Diese ganze Reise wuchs ihr über den Kopf. Sie wusste nicht einmal, welche Sachen sie mitnehmen sollte.

Sie hörte, wie jemand den Flur entlangkam, und war doch unfähig, sich zu bewegen. Sie berührte das Bettelarmband, den Pennyring. Sieh zu, dass du dich anziehst. Bedeck dich irgendwie.

In ihrem begehbaren Schrank befanden sich Stangen voller schöner Kleider, aber sie hingen an ihrem überschlanken Körper wie Säcke. Nicht einmal die Schuhe passten richtig. Sie versuchte sich auf die ungeheure Menge von Kleidung zu konzentrieren. Alles war nach Farben geordnet, nach Stil und Jahreszeit, aber sie war einfach zu durcheinander.

“Das ist zu viel für dich, was?”

Sie blickte erstaunt hoch und sah Andrew hinter sich stehen. Er wirkte wie ein riesiger Schatten auf ihrem Spiegel, fast geisterhaft, nicht wie ein Mensch. Was sie verblüffte, war sein Tonfall. Sie hätte nicht erwartet, einen Anflug von Besorgnis herauszuhören. Allerdings musste sie zugeben, dass er alles getan hatte, um ihr diese Reise zu erleichtern. Er hatte sogar einen Privatjet gechartert, damit sie nicht die Unannehmlichkeiten eines Linienfluges mit all den Sicherheitsvorkehrungen auf sich nehmen mussten.

Trotzdem vermied sie es, ihn direkt anzusehen. Sie wusste nicht, was sie in seinem Blick erwarten würde. Verachtung hätte sie nicht ertragen, aber Mitleid wäre noch schlimmer. Ihre Ehe war nie perfekt gewesen, und vor dem Unfall hatten sie sich sogar scheiden lassen wollen. Man hätte annehmen können, dies sei ein neuer Start für sie beide, doch nichts schien ferner zu liegen. Sie hatten ein Arrangement, und zwar ein ziemlich kaltblütiges.

“Ich kann nicht … es gelingt mir einfach nicht zu packen.” Sie hätte fast gelacht, das war eine so lächerliche Untertreibung. Sie hatte das Gefühl, nicht mal atmen zu können.

“Lass mich dir helfen”, bot er an. “Kannst du dich fertig anziehen?”

“Ja, natürlich.”

“Gut. Dann mach das, während ich deine Koffer packe.”

“Du weißt, was ich mitnehmen muss?”

Er grinste ironisch. “Ich habe eine ziemlich gute Vorstellung davon. Außerdem ist es in Mirage Bay Hochsommer.”

Als sie sich nicht bewegte, legte er ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie leicht, offensichtlich, um sie zu beruhigen. Aber sie fühlte sich zu entblößt, und er berührte sie so selten, dass ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Angst. Es war ein Gefühl, das ihr inzwischen nur zu vertraut war, genau wie ein Tier einen gefährlichen Geruch kannte. Doch sie würde nicht zulassen, dass es – oder er – die Kontrolle über sie gewann.

Sie blickte zu ihm hoch. “Dem Tod ins Auge zu sehen war hart. Das hier ist noch härter.”

“Familienzusammenkünfte? Es wird schon nichts schiefgehen.”

“Ich weiß nicht, was sie erwarten”, entgegnete sie frustriert. Er behandelte sie wieder so gönnerhaft, als wäre sie einer seiner Klienten. Die ganze Zeit hatte er sie so intensiv vorbereitet, dass sie sich noch gut an seine aufmunternden Worte erinnerte. Du hast eine vorübergehende Amnesie, also kann man nicht von dir erwarten, dass du dich an mehr als nur Bruchstücke aus deiner Vergangenheit erinnerst. Es wird keine Verhöre geben, also mach dich nicht verrückt. Ich habe deiner Mutter bereits gesagt, wie schwierig es für dich ist.

Er bückte sich, um ihren weißen Seidenkimono aufzuheben, der dort auf dem Boden lag, wo sie ihn fallen gelassen hatte. “Du bist eben nicht mehr dieselbe Person”, sagte er. “Wie auch? Das werden sie sofort erkennen.”

Sie nahm ihm den Umhang ab, bevor er ihr beim Anziehen behilflich sein konnte. Als sie ihn übergeworfen hatte, drehte sie sich um und schnürte den Gürtel fest. Er interessierte sich nicht für sie, nicht richtig. Er war darauf aus, denjenigen zu finden, der versucht hatte, ihm einen Mord anzuhängen. Das war jedenfalls der Grund, warum er nach Mirage Bay zurückkehren wollte. Zumindest hatte er ihr das gesagt. Doch sie hatte so ein Gefühl, dass es da noch mehr gab, dass er ihr etwas verschwieg.

Langsam drang seine Stimme zu ihr vor, tief und angespannt. “Wir müssen uns wie ein verheiratetes Paar verhalten, Alison.”

Sie blickte zu seinem Spiegelbild hinüber. Er begegnete ihrem Blick, und es fiel ihr schwer, sich diesem zu entziehen. In seinen Augen konnte sie keine Spur von Ablehnung oder Mitleid erkennen. Er wirkte sehr konzentriert, neugierig und einfühlsam, wie ein Mann, der an einer Frau interessiert ist. Doch das war alles Illusion und gehörte zu ihrer Abmachung.

Autor

Suzanne Forster

Schon während ihrer Schulzeit war es Suzanne Forsters Traum Psychiaterin zu werden. Doch sie stammte aus einer Arbeiterfamilie, in der Geldsorgen zum Alltag gehörten. Keiner ihrer Vorfahren hatte ein College besucht und als ihr klar wurde, dass auch ihr dieses Privileg nicht vergönnt sein würde, fügte sie sich den Wünschen...

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