Das Gesicht der Anderen

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Ungeduldig schaut die junge Amy auf die Uhr. Wo bleibt Dante? Er wollte sie doch abholen! Aber ihr Freund kommt nicht. Stattdessen hält ein Fremder neben ihr am Straßenrand. Wenig später ist Amy spurlos verschwunden ... Siebzehn Jahre später starrt Detektive Dante Moran auf das Foto eines jungen Mädchens: Leslie Anne, Enkelin eines Millionärs, wird vermisst! Besessen macht Dante sich daran, sie zu finden: Vielleicht kann er so einen Teil der Schuld begleichen, die er seit Amys Verschwinden spürt - Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Sein erster Weg führt ihn zu Tessa Westbrook, Leslie Annes Mutter. Und geschockt sieht er, dass nicht nur der Fall eine verblüffende Ähnlichkeit mit Amys hat …


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955761387
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Beverly Barton

Das Gesicht der anderen

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Worth Dying For

Copyright © 2004 by Bevarly Beaver

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Corbis GmbH, Düsseldorf

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-138-7

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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Zum Andenken an meine Eltern,
Doris und Dee Jr.,
die viel zu früh auseinandergerissen wurden.
Sein Herz ist ihr schon vor vielen Jahren gefolgt,
und nun ist auch seine Seele für immer mit ihr vereint.

PROLOG

Es ist besser, Liebe empfunden
und Verlust erlitten zu haben,
als niemals geliebt zu haben.

Lord Alfred Tennyson

Wo ist er?, fragte sich Amy.

Es sah Dante gar nicht ähnlich, sie warten zu lassen. In den zehn Monaten, in denen sie jetzt zusammen waren, hatte er sich als absolut vertrauenswürdig und zuverlässig erwiesen. Sie war Menschen gegenüber generell immer etwas misstrauisch, doch er hatte es geschafft, ihr Vertrauen zu gewinnen. Dabei hatte sie ihm erst nach zwei Monaten erlaubt, sie zu küssen.

Er würde sicher bald kommen. Immer wenn sie Spätschicht hatte, wie an diesem Abend, legte er Wert darauf, sie abzuholen und nach Hause zu bringen. Amy wippte nervös auf den Zehenspitzen und sah erneut auf die Uhr. Jetzt war er schon zehn Minuten zu spät.

Der kühle Novemberwind frischte auf und ließ sie frösteln. Sie hätte besser eine Jacke mitgenommen. Aber natürlich war man hinterher immer klüger. Ein Fetzen Papier wirbelte durch die Luft und landete auf dem Bürgersteig. Vielleicht sollte sie wieder reingehen und dort warten, wo es wärmer war.

Gerade als sie die Tür des Dairy Dip öffnen wollte, wo sie nach der Schule dreimal in der Woche abends und jeden Samstag ganztags arbeitete, kam Jerry Vinson heraus und schloss hinter sich ab. Jerry war der Manager und einer der Besitzer des einzigen Schnellrestaurants in Colby, Texas.

“Ist Dante noch nicht da?”, fragte Jerry. “Das ist das erste Mal, dass er dich nicht abholt.”

“Ich weiß.” Amy rieb ihre Handflächen an den Oberarmen, um sich zu wärmen. “Irgendwas muss passiert sein. Wahrscheinlich hat er Probleme mit dem Wagen. Er bastelt die ganze Zeit an seinem alten Mustang herum, damit das Ding überhaupt noch fährt.”

“Soll ich hierbleiben und mit dir auf ihn warten?”

Jerry und seine Frau Lorna waren gerade Eltern geworden, und Amy wusste, dass Jerry so schnell wie möglich nach Hause zu ihr und seinem sechs Wochen alten Sohn wollte.

“Nein, fahr ruhig”, sagte sie. “Dante ist bestimmt gleich da. Außerdem sind wir ja nicht in Dallas oder Houston, sondern in Colby. Hier sind die Straßen auch nach zweiundzwanzig Uhr noch sicher.”

Jerry kicherte. “Das kannst du laut sagen. Aber falls Dante nicht bald auftaucht, ruf mich von der Telefonzelle an der Ecke an, dann hole ich dich ab. Ich kann dich aber jetzt auch gleich mitnehmen und bei den Morrisons absetzen.”

Amy schüttelte den Kopf. “Ich warte auf Dante. Wenn ich nicht mehr hier bin, wenn er kommt, macht er sich Sorgen. Und wenn er dann zu den Morrisons fährt, machen die wieder einen Aufstand. Sie sind lieb und nett und haben mich freundlich aufgenommen, aber sie finden, ich bin zu jung für eine ernsthafte Beziehung. Vor allem mit einem Typen wie Dante.”

“Wie du willst”, sagte Jerry und warf ihr einen besorgten Blick zu. “Aber deine Pflegeeltern haben nicht ganz unrecht. Dante hat schon so einiges hinter sich, und du bist erst unschuldige siebzehn.”

“Dante ist auch erst neunzehn.”

“Ja, aber von der Erfahrung her fünfunddreißig …”

Amy seufzte. Diese Sprüche kannte sie alle schon – von den Morrisons, von Jerry und sogar von ein paar ihrer Lehrer. Wie konnte sie den Menschen nur begreiflich machen, dass Dante Moran ein wunderbarer Mann war? Der Mann, den sie liebte. Der Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.

“Fahr ruhig nach Hause. Ich komme schon zurecht.” Amy lächelte Jerry an. “Du musst nicht den großen Bruder spielen.”

Sie wusste, dass er es nur gut meinte – wie alle anderen um sie herum, die ihr dauernd Ratschläge gaben. Aber keiner von ihnen konnte sich vorstellen, wie sie sich fühlte. Sie hatte ihre Eltern verloren, als sie noch in der ersten Klasse war. In den folgenden elf Jahren war sie dann von einer Pflegefamilie in die nächste gekommen. Jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine eigene Familie. Und mit Dante würde sie diese Familie haben.

“Aber ruf an, wenn er nicht kommt.”

“Er wird schon kommen. Keine Sorge.”

Jerry nickte, grinste sie an und verschwand um die Ecke, wo er seinen Wagen in einer kleinen Seitenstraße hinter dem Dairy Dip geparkt hatte.

Amy stellte sich in den Hauseingang, um besser vor dem Wind geschützt zu sein. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und sah die Straße hinunter in der Hoffnung, dort endlich Dantes Wagen auftauchen zu sehen. Bitte beeil dich. Wenn er nicht bald käme, hätten sie heute Abend kaum noch Zeit füreinander. Unter der Woche musste sie spätestens um halb elf zu Hause sein. Das hieß, ihr blieb ohnehin immer nur eine halbe Stunde mit Dante. Und auf diese halbe Stunde lebte sie hin. Dann hielt er sie im Arm, und sie küssten sich, und er sagte ihr, wie sehr er sie liebte.

Schon bald würden sie und Dante für immer zusammen sein. Dann müsste sie sich nicht mehr an die Vorschriften anderer Leute und die strengen Ausgangszeiten ihrer Pflegeeltern halten. Dante und sie hatten ein Geheimnis, das sie niemandem verraten durften. Sie hatten sich verlobt und wollten heiraten, wenn Amy im Mai achtzehn wurde und die Highschool abgeschlossen hatte. Vor zwei Wochen hatten sie Verlobungsringe getauscht, Symbole ihres Versprechens. Dante hatte ihr einen Diamantring von einem halben Karat geschenkt und gescherzt, er würde bis zur Rente an diesem Ring abzahlen. Sie hatte ihm den Diamant- und Onyxring ihres Vaters gegeben, den sie, seit sie sechs Jahre alt war, an einer Kette um ihren Hals getragen hatte. Er war in dem Beutel mit persönlichen Gegenständen ihrer Eltern gewesen, den ihr ein Mitarbeiter des Sozialamts damals ausgehändigt hatte.

Jetzt trug sie an der Kette um den Hals ihren Verlobungsring. Sie achtete darauf, dass er immer gut unter ihrer Kleidung verborgen war. Aber in siebeneinhalb Monaten würde sie ihren Verlobungsring stolz tragen dürfen – zusammen mit ihrem Ehering. Diesen Tag sehnte sie herbei wie keinen anderen. Sie wünschte sich nichts mehr, als endlich Dantes Frau zu sein. Sie liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt, mehr als ihr Leben. Egal, was die anderen sagten: Sie spürte, dass es wahre Liebe war, eine Liebe, die nie enden würde. In ihrem Innersten wusste sie, dass Dante und sie sich immer lieben würden.

Während sie weiter ungeduldig wartete, kamen mehrere Wagen vorbei, doch ansonsten war die Straße menschenleer. In Colby war nach Einbruch der Dunkelheit selbst auf der Hauptstraße nicht mehr viel los, und nach zehn Uhr war alles wie ausgestorben. Das Dairy Dip hatte bis zehn Uhr abends geöffnet – eine Stunde länger als die meisten anderen Lokale in der Stadt.

Amy hörte den Fremden, der sich ihr näherte, noch bevor sie ihn sah. Leise Schritte von Turnschuhen auf dem Bürgersteig. Wahrscheinlich nur ein Jogger auf seiner Abendrunde, dachte sie, als der Mann näher kam. Sie sah ihn lächelnd an. In Colby war man auch zu Fremden freundlich. Amy kannte den Mann nicht, der jetzt neben ihr stehen blieb.

“Guten Abend”, sagte er mit heiserer, leiser Stimme.

“Abend”, antwortete Amy.

Sie stellte fest, dass er nicht wie ein Jogger aussah. Er trug eine verwaschene Jeans und einen ausgebeulten Strickpullover. Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich. Sei doch nicht albern, sagte sie zu sich. Dieser Mann sieht nicht gefährlich aus. Sein braunes Haar war kurz geschnitten und etwas lockig. An seinen haselnussbraunen Augen und dem gut rasierten Kinn war auch nichts Außergewöhnliches. Ganz einfach irgendein Typ, dachte Amy. Er sah ganz normal aus und hatte nichts an sich, weswegen sie sich fürchten müsste.

“Warten Sie auf jemanden?”, fragte der Fremde jetzt.

“Ja. Mein Freund holt mich gleich ab.”

“Ein hübsches Mädchen wie Sie lässt man doch nicht warten.”

“Tut er sonst auch nicht. Er hatte wohl Probleme mit seinem Wagen.”

Der Mann kam näher. Amys Herzschlag beschleunigte sich. Eine dunkle Vorahnung ließ sie innerlich verkrampfen.

Der Mann lächelte. Sein Lächeln gefiel ihr nicht. Es war etwas Falsches an der Art, wie er sie ansah, als wüsste er etwas, was sie nicht wusste. Amy wich zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Eingangstür des Dairy Dip.

Ich brauche nur zu schreien, sagte sie sich. Irgendjemand wird mich hören.

Sie öffnete den Mund, um dem Mann zu sagen, er solle sie in Ruhe lassen, oder sie würde schreien, doch bevor sie ein Wort herausbekam, zog der Mann etwas aus der Hosentasche, packte Amy und presste ihr ein übel riechendes Taschentuch auf Mund und Nase.

Lieber Gott, hilf mir!

Amy versuchte, sich zu wehren, doch natürlich war ihr der Mann überlegen. Sie spürte, wie sie langsam ohnmächtig wurde.

Dante! Dante, wo bist du?

Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit raste Dante vom College in Richtung Innenstadt. Fünfundzwanzig Minuten hatte er Amy jetzt schon warten lassen. Wahrscheinlich war sie inzwischen total durchgefroren und krank vor Sorge. Sein letzter Kurs hatte fünfzehn Minuten länger gedauert als sonst, und auf dem Parkplatz entdeckte er, dass das rechte Vorderrad an seinem Mustang platt war. Er hatte versucht, von einer Telefonzelle aus im Dairy Dip anzurufen, aber offensichtlich war Jerry schon gegangen, denn er hatte niemanden erreicht.

Vielleicht hatte sich Amy ja von Jerry nach Hause bringen lassen? Nein, sie wartet, sagte sich Dante. Er holte sie jeden Abend ab, wenn sie arbeitete, damit sie ein bisschen Zeit zusammen verbringen konnten. Dreißig mickrige Minuten. Komisch, wie sein ganzes Leben um die Momente kreiste, die er mit Amy verbringen konnte. Amys Pflegeeltern, die Morrisons, waren nette Leute, aber sie schätzten es nicht, dass sie mit ihm zusammen war. Es störte sie, dass er ein paar Jahre älter war als Amy und deutlich erfahrener. Als er Amy kennenlernte, hatte er sich natürlich gefragt, wie lange es wohl bei ihr dauern würde, bis er ihr an die Wäsche gehen durfte. Mehr als Sex hatte er noch nie von einer Frau gewollt. Und Amy war eines dieser Mädchen, bei dem man allein schon vom Anblick eine Erektion bekam. Blaue Augen, blonde Haare und eine absolute Traumfigur.

Aber Amy Smith hatte sich ihm nicht so leicht hingegeben, wie er es von anderen Mädchen gewohnt war. Seit er vierzehn war, hatten es die Frauen auf ihn abgesehen. Was konnte er dafür, dass er so unwiderstehlich war? Dante musste lachen.

Als er Amy vor zehn Monaten kennengelernt hatte, konnte er bereits auf eine ganze Reihe gebrochener Mädchenherzen zurückblicken. Amy sollte nur eines mehr in seiner Sammlung werden. Aber sie hatte ihm zwei Monate lang nicht einmal erlaubt, sie zu küssen. Zuerst wollte sie nicht einmal Händchen halten mit ihm, sodass er schon beschlossen hatte, sie zu vergessen und bei einer anderen sein Glück zu versuchen. Aber sein Herz ließ ihm keine Chance – er hatte es von Anfang an an sie verloren. Dante war noch nie verliebt gewesen, doch die süße, unschuldige Amy verdrehte ihm völlig den Kopf. Erst nach acht Monaten hatte er sie überreden können, mit ihm zu schlafen. Er hatte geglaubt, wenn er sie einmal gehabt hätte, wäre er nicht mehr so scharf auf sie. Aber da hatte er sich gründlich geirrt. Je häufiger sie miteinander schliefen, desto mehr begehrte er sie. Und er wollte sie heiraten, sie für immer an sich binden. Nur ließen ihn die anderen Frauen nicht in Ruhe – manche musste er sich beinahe gewaltsam vom Hals schaffen. Sie interessierten ihn nicht mehr. Amy war alles, was er wollte. Jetzt und für immer.

Dante parkte seinen Mustang in einer Parklücke direkt vor dem Dairy Dip. Die Hauptstraße war völlig ausgestorben, kein Mensch zu sehen. Wo war Amy? Er öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen. Ein kalter Windstoß erfasste ihn, und er schloss den Reißverschluss seiner Lederjacke und schlug den Kragen hoch. Er legte die Hände neben die Augen und spähte durch die Scheibe ins Dairy Dip. Vielleicht wartete sie ja drinnen im Warmen. Doch das Lokal war leer. Dante ging die Straße hinunter, um Amy zu suchen. Als er sich wieder in die entgegengesetzte Richtung aufmachte, knirschte plötzlich etwas unter seinem Schuh. Er hob den Fuß und sah etwas Glänzendes auf dem Bürgersteig liegen.

Dantes Herz setzte einen Schlag aus. Er bückte sich und hob eine Goldkette auf. Die Kette war zerrissen. Hatte er sie zerrissen, als er draufgetreten war? Nein, eher nicht. Der Verschluss war verbogen, als ob jemand die Kette abgerissen und weggeworfen hätte.

An der Kette baumelte ein kleiner Diamantring. Es war der Verlobungsring, den er Amy geschenkt hatte. Den sie um den Hals getragen und unter ihrer Kleidung verborgen hatte.

“Amy!”, rief Dante verzweifelt. “Amy!”

Er rannte die Straße hinauf und bog in die kleine Straße hinter dem Dairy Dip ein. Die Angst bohrte sich in seinen Magen. Voller Panik rief er ihren Namen, immer wieder, in der aussichtslosen Hoffnung, sie würde ihm antworten. Doch in seinem Unterbewusstsein war ihm längst klar, dass sie nicht antworten würde – dass sie ihm nicht antworten konnte.

Man soll nicht immer gleich das Schlimmste annehmen, versuchte Dante sich zu beruhigen. Ruf erst mal die Morrisons an. Ruf Jerry an. Wenn sie auch nicht wissen, wo Amy ist, ruf die Polizei an. Du wirst sie finden. Egal, was passiert ist, du wirst sie finden.

“Wenn ihr jemand etwas angetan hat, bringe ich ihn um!”, schrie er laut, als er wieder auf der Hauptstraße stand. “Ich werde dich finden, Amy! Ich schwöre es bei Gott, ich finde dich!”

1. KAPITEL

Siebzehn Jahre später

Dante Moran verließ den Aufzug, der ihn in den sechsten Stock befördert hatte, und betrat die Agentur Dundee. Als neuer Mitarbeiter der Privatdetektei und Sicherheitsfirma wollte er keinen schlechten Eindruck machen und gleich an seinem ersten offiziellen Arbeitstag zu spät kommen. Die Büros der Agentur nahmen das gesamte Stockwerk ein, und jeder Agent hatte sein eigenes kleines Büro. Dante kannte das Unternehmen schon aus seiner Zeit beim FBI. Er war mehrfach hier gewesen, daher waren ihm auch die Räumlichkeiten nicht fremd. Der Geschäftsführer der Agentur Dundee war Sawyer McNamara, selbst ein ehemaliger Geheimdienstmann, und die Art, wie er sein Unternehmen führte, überzeugte Dante davon, dass er selbst hier auch besser aufgehoben war als in dem Regierungsjob, den er zwölf Jahre gemacht hatte. Als Bundesagent hatte er sich immer eingeengt gefühlt, und mit seiner rebellischen, einzelgängerischen Art hatte er sich weiß Gott keine Freunde bei seinen Vorgesetzten gemacht. Als ihm klar wurde, dass er von einer Beförderung meilenweit entfernt war und beim Geheimdienst nichts mehr erreichen konnte, hatte er sich entschlossen, den Job an den Nagel zu hängen und sich neu zu orientieren.

“Guten Morgen, Mr. Moran”, begrüßte ihn die Sekretärin, Daisy Holbrook.

Die Kollegen hatten ihm verraten, dass Daisy übrigens auch gern Miss Effizienz genannt wurde. Sie verkörperte das Musterbild der jungen, dynamischen Angestellten in ihrem schicken beigefarbenen Kostüm. Als Frauenkenner, der er war, würde Dante Daisy nicht gerade als Schönheit bezeichnen. Sie war zwar hübsch auf eine frische, jugendliche Art, mit ihrem hellbraunem Haar, den braunen Augen und den Grübchen in den Wangen. Leider war sie etwas zu mollig, um dem aktuellen Schönheitsideal zu entsprechen. Vor hundert Jahren wäre sie mit ihren weiblichen Rundungen perfekt gewesen.

“Guten Morgen”, antwortete Dante. “Sie sehen heute besonders gut aus, Ms. Holbrook.”

“Bitte sagen Sie doch Daisy zu mir.” Als sie ihn freundlich anlächelte, vertieften sich ihre Grübchen. “Und falls Sie irgendetwas brauchen, wenden Sie sich ruhig an mich.”

“Ich gehe mir noch schnell einen Kaffee holen. Und dann sehe ich mich wohl erst mal in meinem Büro um.”

“Nehmen Sie den Kaffee gleich mit in Mr. McNamaras Büro”, erwiderte Daisy. Als Dante sie fragend ansah, erklärte sie: “Er ist schon vor etwa einer Stunde reingekommen. Ich soll alle verfügbaren Agenten zusammentrommeln.”

Interessant, dachte Dante. Es schien etwas Wichtiges anzustehen. “Sie wissen nicht zufällig, worum es geht?”

“Ich weiß nur, dass er heute bereits mit dem Gouverneur von Mississippi und beiden Staatssenatoren telefoniert hat.” Sie senkte die Stimme. “Drei Agenten sitzen schon bei ihm drin, und wir warten noch auf zwei weitere.”

Dante nickte. “Dann verkneife ich mir den Kaffee wohl besser und gehe direkt in sein Büro.”

“Gute Idee.”

Als Dante vor dem Büro des Geschäftsführers stand, war die Tür geschlossen, und McNamaras Privatsekretärin saß nicht an ihrem Platz. Vielleicht war sie noch gar nicht im Haus, es war schließlich gerade erst acht Uhr dreißig. Dante zögerte einen Moment, dann klopfte er und wartete.

Vic Noble, ein großer, schlaksiger Mann und ebenfalls früher beim FBI, öffnete ihm. “Kommen Sie rein.”

Dante nickte und betrat McNamaras geräumiges Büro. Es war von einer smarten Eleganz – ganz wie der Mann selbst. Hinter seinem Rücken nannten seine Mitarbeiter ihren Chef den “Dandy”, denn er sah immer aus wie aus dem Ei gepellt. Aber das Aussehen eines Menschen kann täuschen, und so war es auch in McNamaras Fall. Wer ihn nicht besser kannte, könnte ihn einfach für einen intelligenten, gut aussehenden Mann halten. Doch es steckte mehr hinter ihm als Intelligenz und gutes Aussehen. Er besaß das Herz und den Geist eines gefährlichen Kämpfers.

“Kommen Sie dazu, Moran”, forderte Sawyer McNamara ihn nun auf und zeigte auf einen leeren Stuhl. “Sobald Dom und Lucie hier sind, fangen wir an. Ich habe Lucie heute Morgen nicht persönlich erreicht, also habe ich Dom vorbeigeschickt, um sie abzuholen.”

Dante bemerkte die Verärgerung in Sawyers Miene und vermutete, dass Lucie Evans der Grund dafür war. Bevor er zu der Agentur gestoßen war, hatte er von der fortdauernden Fehde zwischen Sawyer und Evans gehört, die ebenfalls beide ehemalige FBI-Agenten waren. Und in seinem mehrwöchigen Orientierungskurs hatte er dann selbst mitbekommen, wie die beiden aneinandergerieten. Immer wenn sie sich trafen, flogen die Fetzen.

Nachdem er Platz genommen hatte, sah Dante sich um, nickte den beiden anderen anwesenden Kollegen höflich zu und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück. Sein Blick wanderte hinüber zu J. J. Blair. Als sie seinen Blick bemerkte, lächelte sie ihn an und blinzelte. Grinsend blinzelte er zurück. Eine wirklich hübsche Frau! J. J. war klein und zierlich, hatte rabenschwarze Haare und große Augen, die fast auch schwarz wirkten, in Wirklichkeit aber tief dunkelblau waren. Seine Erfahrung mit der Damenwelt sagte ihm, dass Ms. Blair eine Frau war, die nicht leicht unterzukriegen war. Sie war der Typ Frau, die einen Mann mit einem Bissen verschlingen konnte, um ihn dann in kleinen Stückchen wieder auszuspucken.

“Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.” Ein kräftiger Kerl mit groben Zügen, militärisch kurzen Haaren und freundlichem Lächeln streckte Dante seine mächtige Hand entgegen. “Geoff Monday. Ich war im letzten Monat in London im Einsatz.” Der Mann sprach ganz eindeutig mit einem britischen Akzent, aber nicht ganz rein. Vielleicht war er Schotte?

Dante stand auf und schüttelte Monday die Hand. “Dante Moran. Ich bin der Neue.”

“Sie waren auch beim Geheimdienst, richtig?”

In diesem Moment flog die Tür auf, und Lucie Evans stürmte herein. Ihr langes rotes Haar hing wild über ihre Schultern, und ihre grünen Augen schossen Pfeile in Sawyers Richtung. Hinter ihr tauchte Domingo Shea auf und blieb im Türrahmen stehen, als wollte er sich von der Szene, die sich gleich abspielen würde, distanzieren.

“Was fällt Ihnen ein, Dom loszuschicken, um mich abzuholen?” Lucie stützte sich mit beiden Händen auf Sawyers Schreibtisch und blickte ihn finster an. “Ich bin erst letzte Nacht aus D.C. zurückgekommen und habe jetzt eigentlich fünf Tage Urlaub!”

“Ihr Urlaub ist gestrichen!”, erwiderte Sawyer knapp.

“Das wüsste ich aber!”

“Setzen Sie sich, und halten Sie den Mund!” Sawyer stand auf und sah Lucie an, die jetzt ihre Einsachtzig zu voller Größe aufrichtete und ihn feindselig anstarrte. “Wir haben einen brisanten Fall zu bearbeiten. Ich brauche jeden verfügbaren Agenten hier, um zu entscheiden, wer am besten geeignet ist, den Job zu übernehmen und das Team zu leiten, das ich noch heute Morgen nach Mississippi schicke. Mit Ihrem Hintergrund in Psychologie und Ihrer Erfahrung als Profiler für den Geheimdienst sind Sie vielleicht die Beste für den Job.”

Lucie wandte den Blick ab und bleckte die Zähne. Sie drehte sich um und ließ sich in den freien Stuhl fallen, der am weitesten von Sawyer entfernt stand. “Aber wenn ich mich als nicht geeignet herausstelle, nehme ich meine fünf Tage Urlaub.”

Sawyer gab keine Antwort, sondern wandte sich an Dom Shea. “Schließen Sie die Tür und nehmen Sie Platz, damit wir anfangen können.”

Dom tat, was sein Chef verlangte, und als Nächstes packte Sawyer einen Stapel Aktenordner auf den Tisch. Diese Ordner enthielten die Hintergrundinformationen zu dem brisanten Fall, vermutete Dante.

Das war eine gute Chance für ihn, sich als der neue Mann zu bewähren. Vermutlich würde man ihn auswählen, das Team zu unterstützen. Ihm sollte es recht sein. Irgendwann wäre er ohnehin dran – warum also nicht gleich an seinem ersten Arbeitstag?

“Wir haben es hier mit einem ganz besonderen Fall zu tun”, eröffnete Sawyer McNamara ihnen. “Beide Staatssenatoren von Mississippi und der Gouverneur persönlich haben sich heute Morgen an Sam Dundee gewandt und ihm mitgeteilt, dass sie es uns hoch anrechnen würden, wenn wir diesen Auftrag annähmen.”

Lucie Evans stieß einen leisen Pfiff aus. “Um wen geht es denn? Scheint ja eine ziemlich wichtige Person zu sein.”

“G. W. Westbrook ist einer der wohlhabendsten Geschäftsleute im Süden, und seine Familie ist in Mississippi sehr bekannt.” Sawyer griff nach dem Stapel Aktenordner und verteilte sie an die anwesenden Agenten. “Seine sechzehnjährige Enkeltochter ist verschwunden. Sie gilt als nicht rebellisch, hat nichts mit Drogen zu tun, hat keinen speziellen Freund. Allem Anschein nach ein braves Kind.”

“Und warum sollte ausgerechnet dieses brave Kind von zu Hause weglaufen?”, fragte Vic Noble.

“Gute Frage”, antwortete Sawyer. “Genau das möchten ihr Großvater und ihre Mutter auch wissen, und wir sollen es herausfinden. Aber zunächst einmal sollen wir natürlich diese Ms. Leslie Anne Westbrook ausfindig machen und wieder nach Hause bringen. Sie ist Einzelkind, und G. W. hütet sie wie seinen Augapfel.”

“Steht denn fest, dass sie ausgerissen ist?” Dante Moran öffnete den Aktenordner und überflog die in wenigen Absätzen von Daisy zusammengefassten Informationen. “Westbrook ist immerhin ein Multimillionär. Könnte es nicht sein, dass das Mädchen entführt wurde, um Lösegeld von der Familie zu erpressen?”

“Das Mädchen ist inzwischen seit über vierundzwanzig Stunden verschwunden und bisher hat sich noch niemand wegen eines Lösegelds bei der Familie gemeldet”, bemerkte Sawyer. “Die Mutter ist natürlich außer sich vor Sorge, und G. W. hat eine Viertelmillion Dollar Belohnung für sachdienliche Hinweise zum Verbleib des Mädchens ausgesetzt. Sam sagt, wir sollen so schnell wie möglich einen unserer Agenten mit dem Firmenflieger nach Fairport, Mississippi, schicken.”

“Ist der Geheimdienst involviert?”, wollte Domingo Shea wissen.

Sawyer schüttelte den Kopf. “Es gibt keinen Hinweis auf eine Entführung, und auch die Familie ist offenbar davon überzeugt, dass das Mädchen einfach weggelaufen ist. Sie wollen den Geheimdienst nicht beanspruchen. Die örtliche Polizei und der Sheriff sind informiert. Sam meint, dass einer unserer Exgeheimdienstler am besten für diese Aufgabe geeignet ist.” Sawyer sah zuerst Lucie, dann Dante an.

“Sollen wir eine Münze werfen?” Lucie grinste Dante an.

“Von mir aus”, sagte er und drehte gedankenverloren den Ring mit Diamanten und Onyx an seinem Finger.

“Lesen Sie sich die Informationen zu dem Fall durch und beachten Sie das Bild des Mädchens, das uns ihr Großvater per Fax übermittelt hat.” Sawyer klappte seinen Ordner auf und hielt das 20 mal 25 Zentimeter große Bild hoch. “Ein hübsches Kind. Wollen wir hoffen, dass es nicht in die falschen Kreise geraten ist oder von der falschen Person mitgenommen wurde.”

Dantes letzte Mission für das FBI war die Zerschlagung eines seit zehn Jahren agierenden Kinderhändlerrings gewesen. Deshalb galt er wohl jetzt bei Dundee als Experte in Sachen Kindesentführungen. Und in der Tat eignete sich der vorliegende Fall perfekt als erster Auftrag. Dante war erst seit wenigen Wochen bei der Agentur, hatte den strengen Orientierungskurs durchlaufen und war heiß darauf, endlich aktiv zu werden.

Lucie betrachtete das Foto. “Oh, sie ist wirklich hübsch. Blond und zart. Ein Sklavenhändlerring würde Unmengen für dieses hübsche Ding zahlen.”

Dante zog das Bild hervor, um einen raschen Blick darauf zu werfen, aber ab dem Augenblick, als er das Gesicht des Mädchens sah, konnte er das Foto nicht mehr weglegen. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er das Porträt des atemberaubend schönen Mädchens sah.

“Was ist denn mit Ihnen los?” Dom Shea boxte Dante an die Schulter. “Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.”

Ja, so kam es ihm auch vor. Er hatte ein Gespenst gesehen. Unbewusst strich Dante mit dem Zeigefinger zärtlich über Wange und Kinn des Mädchens auf dem Foto. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Vielleicht hatte ihm ja seine Fantasie einen Streich gespielt. Wieder betrachtete er das Foto. Verdammt! Wie war es nur möglich, dass dieses sechzehnjährige Mädchen Amy wie aus dem Gesicht geschnitten war? Seiner Amy, seiner ersten und einzigen Liebe, die mit siebzehn gestorben war. Vor einer Ewigkeit.

“Dante, alles in Ordnung?”, erkundigte sich jetzt auch Lucie.

“Alles bestens”, sagte Dante. “Ich übernehme den Auftrag.”

“Gut.” Sawyer klappte seinen Aktenordner zu. “Das hatte ich gehofft. Abgesehen davon, dass das Ihr erster Auftrag für uns ist, hielt ich Sie auch für den am besten geeigneten Mann. Ich wollte Ihnen nur die Chance geben, sich freiwillig zu melden.”

Lucie zuckte die Schultern. “Das wäre also geklärt. Wollen Sie mich als Backup mit dabeihaben?”

Sawyer sah Lucie misstrauisch an. “Es ist keine schlechte Idee, dass Sie ihn unterstützen. Sie können die Mutter beruhigen, während Dante sich um den Rest kümmert.”

Dante nickte zustimmend, ohne den Blick von Leslie Anne Westbrook abzuwenden. Ihre Ähnlichkeit mit Amy war unheimlich.

Und unmöglich. Amy war tot. Er hatte lange gebraucht, um diesen Verlust zu akzeptieren, und jetzt weckte der Anblick dieses Mädchens in ihm die unrealistische Hoffnung, dass seine große Liebe Amy vielleicht doch noch lebte.

Vielleicht war es genau das gewesen, was ihn dazu veranlasst hatte, den Auftrag zu übernehmen. Dabei hatte er diese Hoffnung doch eigentlich schon längst begraben.

Warum tust du dir das an? Amy ist tot. Und zwar seit siebzehn Jahren. Nur weil ihr Körper nie gefunden wurde, nur weil du dich viel zu lange an die Hoffnung geklammert hast, sie könnte noch leben, heißt das noch lange nicht, dass Amy wirklich noch lebt und dass dieses Mädchen (dabei starrte Dante das Foto an) Amys Tochter ist.

“Fahren Sie nach Hause, packen Sie Sachen für eine Woche und begeben Sie sich dann direkt zum Flughafen. Dort steht unser firmeneigener Flieger bereit”, sagte Sawyer. “Moran wird die Leitung der Mission übernehmen. Lucie unterstützt die Familie vor Ort und versucht, ihnen ihre Ängste zu nehmen. Dom und Vic gehen als Backup für Moran mit und machen die Hintergrundarbeit. Koordiniert wird die Sache von hier aus.”

“Wenn der Fall abgeschlossen ist, bekomme ich zehn Tage frei”, verkündete Lucie.

“Das besprechen wir später”, antwortete Sawyer.

“Da gibt es nichts zu besprechen. Ich nehme zehn Tage frei, basta!”

Sawyers Nasenlöcher bebten. Absichtlich mied er den direkten Blickkontakt mit Lucie und sagte nichts weiter zu diesem Thema.

“Ich will jeden Tag zwei Berichte, einmal morgens, einmal abends. Ich persönlich gebe diese Info an den Gouverneur und an Sam Dundee weiter.”

Dante betrachtete den Aktenordner in seiner Hand und suchte nach weiteren Informationen über die Familie Westbrook, vor allem über Leslie Annes Mutter. Doch er fand nur nackte Tatsachen. Tessa Westbrook war G. W.s einziges Kind. Sie war fünfunddreißig, alleinerziehende Mutter einer Tochter und – sie war fünfunddreißig. Also ein Jahr älter als Amy, wenn sie noch leben würde.

In diesem Moment überfluteten jede Menge Möglichkeiten sein Gehirn, warum Leslie Anne Westbrook seiner Jugendliebe Amy Smith so unwahrscheinlich ähnlich sah. Vielleicht war Leslie Anne adoptiert worden und war in Wirklichkeit Amys Tochter? Aber hieß das automatisch, dass Amy noch am Leben war? Vielleicht war Tessa Westbrook auch eine verschollen geglaubte Verwandte von Amy, und ihre Tochter sah deshalb so aus wie sie. Vielleicht war Tessa ja auch Amy? Nein, diese Vorstellung war nun wirklich zu weit hergeholt. Und extrem unwahrscheinlich. Oder vielleicht sah Leslie Anne in der Realität Amy gar nicht so ähnlich wie auf dem Foto. Vielleicht …

Vielleicht bin ich bescheuert!

“Ist etwas nicht in Ordnung?” Dom legte Dante die Hand auf die Schulter.

Dante schüttelte den Kopf. “Nein, alles klar. Ich war gerade nur völlig in Gedanken.” Wenn er jemandem erzählte, was gerade in seinem Kopf vor sich ging, würde man ihn ganz sicher für verrückt erklären. Und das zu Recht. Wie konnte er erwarten, dass jemand verstand, dass ihn gerade seine Vergangenheit eingeholt hatte? Er gab sich zum Teil immer noch selbst die Schuld an dem, was Amy zugestoßen war. Wäre er an diesem Abend doch bloß pünktlich gewesen! Wäre er doch …

Leslie Anne musste sich die Tränen abwischen, damit sie die Straße vor sich wiedererkennen konnte. Als sie am Vortag noch vor Sonnenaufgang ihr Zuhause verlassen hatte, hatte sie keine Ahnung gehabt, wohin sie fahren wollte. Sie hatte nur gewusst, dass sie wegmusste. Sie war in das Zimmer ihrer Mutter geschlüpft und hatte aus ihrem Portemonnaie dreihundert Dollar und ihre Kreditkarte genommen, mit der sie zweitausend Dollar abgehoben hatte, bevor sie Fairport verließ. Dreißig Kilometer außerhalb der Stadt war ihr eingefallen, dass ihre Mutter und ihr Großvater ganz sicher die Polizei informieren würden, sobald ihnen ihr Verschwinden auffiel. Und der schwarze Jaguar, den Großvater ihr zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte, war viel zu auffällig – man würde sie im Handumdrehen finden. Also kehrte sie um und rief ihre Freundin Hannah an, deren Eltern gerade in Europa waren. Sie schlug Hannah vor, für ein paar Tage mit ihr das Auto zu tauschen.

“Was ist denn los? Wieso haust du ab?”

“Das kann ich dir nicht sagen. Ich kann es niemandem sagen.” Sie hatte Hannahs Hand genommen und sie angefleht, ihr zu helfen. Die beiden Mädchen waren seit Sandkastentagen beste Freundinnen. “Vertrau mir. Ich muss nur einfach mal weg von hier und nachdenken.”

“Nachdenken? Worüber? Wenn du es mir erzählen würdest, könnte ich dir vielleicht helfen.”

“Niemand kann mir helfen.” Wie hätte sie Hannah erklären können, dass sich gerade ihr ganzes Leben in Luft aufgelöst hatte? Dass alles, an das sie geglaubt hatte, nichts als Lüge war? Ihr ganzes Leben war eine einzige, fette Lüge!

“Was ist denn mit deiner Mutter? Ihr erzählt euch doch sonst immer alles. Sie ist die Beste. Niemand kann …”

“Nein. Ich kann nicht mit Mama reden. Noch nicht. Vielleicht auch nie.” Hannah hatte Leslie Anne immer um das tolle Verhältnis zu ihrer Mutter beneidet. Darum konnte Leslie Anne ihr jetzt nicht sagen, wie sehr sie ihre Mutter hasste. Dafür, dass sie sie all die Jahre angelogen hatte.

Das alles war erst gestern gewesen, aber es kam ihr vor, als läge es Wochen zurück. Sie war so lange gefahren, bis es dunkel wurde, etwa gegen sieben Uhr abends. Zum Glück gab es die Sommerzeit. Es war eine ganz neue und spannende Erfahrung gewesen, in einem Motel zu übernachten. Selbst als sie bar zahlte, hatte der Mann hinter dem Tresen keine Fragen gestellt. Er hatte ihr einfach den Schlüssel ausgehändigt und ihr gesagt, Check-out sei um elf Uhr. Ganz allein an dem fremden Ort hatte sie allerdings nur ein paar Stunden geschlafen. Immer wieder war sie aufgewacht, weil schreckliche Albträume sie plagten. In ihrem Kopf spielte sich immer wieder der fürchterliche Moment vom Vortag ab, als sie dieses Päckchen öffnete, das an sie adressiert war. Und den Brief las, der die beigefügten Zeitungsausschnitte erklärte.

Leslie Annes Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen hatte. Es war gleich zwei Uhr nachmittags. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass es an der Interstate 59 so wenige Raststätten gab, an denen sie etwas Anständiges hätte essen können. Das letzte Schild hatte angekündigt, sie werde in etwa fünfzehn Minuten den Ort Meridian erreichen. Dort gab es bestimmt mehrere Schnellrestaurants und sie könnte sich einen Burger und Pommes holen.

Sie versuchte, nicht an den Brief und die Zeitungsausschnitte über den Serienmörder zu denken, der vor zehn Jahren in Texas hingerichtet worden war. Aber es gelang ihr nicht. Als sie den Brief das erste Mal las, hatte sie es nicht glauben wollen. Sie war sogar sofort zu ihrer Mutter gegangen, um von ihr zu hören, dass alles gelogen war. Doch in dem Moment, als sie ihrer Mutter gegenüberstand und die sie anlächelte, war sie wie erstarrt und völlig unfähig gewesen, auch nur ein Wort zu sagen.

“Ist etwas, Schatz?”, hatte ihre Mutter gefragt. “Du siehst traurig aus.”

Leslie Anne hatte den Kopf geschüttelt und eine Lüge zustande gebracht. “Ich hab nur Kopfschmerzen. Vielleicht kann Eustacia mir das Essen aufs Zimmer bringen.”

Vielleicht hätte ich Mama doch von dem Päckchen erzählen sollen. Vielleicht hätte ich nicht einfach wegrennen sollen.

Genau diese Zweifel und diese Unentschlossenheit waren der Grund dafür gewesen, dass sie Fairport verlassen hatte. Sie konnte ihre Mutter und ihren Großvater einfach nicht mit diesen schlimmen Vorwürfen konfrontieren – nicht, bis sie nicht alles genau verstanden und ihre eigenen Gefühle geordnet hatte. Selbst wenn jedes Wort in diesem Brief stimmte – wie wahrscheinlich war es, dass ihre Mutter die Wahrheit zugeben würde? Falls es überhaupt die Wahrheit war.

Sie hätte doch nur wieder gelogen. Das weißt du doch ganz genau. Schließlich hat sie dich jahrelang belogen.

Als sie noch nicht in der Schule gewesen war und ihre Mutter gefragt hatte, warum sie nicht wie alle anderen Kinder einen Vater hätte, hatte ihre Mutter gesagt, ihr Vater sei tot. Für eine Vierjährige reichte diese Begründung. Und als sie später, mit zehn, mehr wissen wollte, hatte ihr Großvater erklärt, dass ihre Eltern noch Teenager und nicht verheiratet gewesen wären und dass ihr Vater bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen sei. Der Name ihres Vaters, so hatte Großvater behauptet, sei John Allen gewesen. Erst mit vierzehn, als ihr per Zufall ihre Geburtsurkunde in die Hände fiel, hatte Leslie Anne die Wahrheit erfahren. In der Spalte, wo “Name des Vaters” stand, war “unbekannt” eingetragen. Seitdem fragte sie sich so einiges. Hatte es diesen John Allen wirklich gegeben, oder war er nur ein Fantasieprodukt ihres Großvaters? War ihre Mutter vielleicht mit mehreren Männern zusammen gewesen und wusste nicht, wer der Vater war? War ihr echter Vater irgendwo da draußen und wusste nicht einmal, dass er eine Tochter hatte? Ihre Mutter und ihr Großvater waren standhaft bei der Geschichte von John Allen geblieben, aber Leslie Anne wusste, dass das gelogen war. Doch erst seit sie vor zwei Tagen dieses teuflische Päckchen erhalten hatte, verstand sie, warum man sie all die Jahre belogen hatte.

Wenn die Wahrheit so schrecklich ist, zu schmerzlich, dann kann nur eine Lüge einen selbst und die, die man liebt, vor der grausamen Realität beschützen.

2. KAPITEL

Das Anwesen der Familie Westbrook bestand aus einem Grundstück von zweihundert Hektar und einem Herrenhaus aus der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, das seit fünf Generationen im Besitz der Familie von G. W.s Frau war. Ihr Vorfahre John Leslie hatte sich am Mississippi niedergelassen, noch bevor das Land in Bundesstaaten aufgeteilt war. Sein Sohn hatte das Haus vor dem Bürgerkrieg erbaut, und seitdem lebte die Familie kontinuierlich hier, etwa zehn Kilometer entfernt von der am Mississippi gelegenen Stadt Fairport. Um Leslie Plantation, wie das Anwesen auch genannt wurde, rankten sich viele Legenden und Geschichten, die zum Teil bis in die Zeit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts zurückreichten. Die Stadt Fairport war nicht so bekannt wie die Nachbarstadt Natchez, blickte jedoch auf eine ebenso traditionsreiche Geschichte zurück. Heute gründete sich die wirtschaftliche Entwicklung von Fairport auf zwei Faktoren – den Tourismus und das erst zehn Jahre alte Industriegebiet, das überwiegend aus kleinen und mittelständischen Betrieben bestand, die sich fast ausnahmslos im Besitz von G. W. Westbrook befanden.

Als Dante den Mietwagen aus der schläfrigen Kleinstadt, die sich seit den Sechzigerjahren nicht großartig verändert hatte, herauslenkte, summte Lucie Evans den peppigen Rhythmus eines Songs mit, der gerade im Radio lief. Sie schien dabei völlig in die Akte vertieft zu sein, in der die Informationen über die Westbrooks zusammengefasst waren. Normalerweise war Lucie lebhaft und gesprächig, aber heute war sie erstaunlich ruhig, schon seit der Dundee-Privatjet auf dem kleinen Natchez-Adams-County-Flughafen gelandet war. Es war kein kommerzieller Flughafen, aber die Landebahn war immerhin lang genug, dass hier auch Boeings vom Typ 737 landen konnten.

Sie hatten gerade schon Dom Shea und Vic Noble im Büro des Sheriffs von Fairport abgesetzt, die sich dort über die neueste Entwicklung im Fall Leslie Anne Westbrook informieren und ihre Arbeit mit den zuständigen lokalen Behörden abstimmen wollten. Dante hatte vor, zu ihnen zu stoßen, sobald er G. W. kennengelernt und Lucie im Haus der Familie abgesetzt hatte. Aus den von Daisy Holbrook aktualisierten Informationen, die die Sekretärin den Agenten noch kurz vor dem Abflug in Atlanta in die Hand gedrückt hatte, vermutete Dante, Lucie würde es mit G. W. nicht leicht haben. Eigensinnig, stur und gewohnt, mit seinem Geld und seinem Einfluss immer alles zu erreichen, was er wollte, hörte G. W. sicher nicht gern Ratschläge von anderen. Lucie würde alle Hände voll zu tun haben, damit er ihnen nicht dazwischenfunkte. Wahrscheinlich würde Lucie gemeinsam mit Tessa Westbrook versuchen, den Patriarchen unter Kontrolle zu halten. Ms. Westbrook, die im Gegensatz zu ihrem Vater als besonnen galt, hatte sicher genügend Einfluss auf den Alten, um ihn im Zaum zu halten.

“Was steht denn so Interessantes in der Akte?”, wollte Dante wissen und fragte sich, ob er vielleicht etwas Wichtiges übersehen hatte, als er die Akte während des Fluges studiert hatte. Zugegebenermaßen hing sein Interesse an dem Fall mehr mit der Ähnlichkeit des verschwundenen Mädchens mit Amy zusammen als mit irgendetwas anderem.

“Ich weiß nicht”, erwiderte Lucie. “Wenn man das so liest”, sie wedelte mit der Akte, “hat man das Gefühl, man hätte das Drehbuch für eine Daily Soap in der Hand. Irgendwie scheint es im Leben der Superreichen immer eine Tendenz zur Melodramatik zu geben.”

“Was ist das Melodramatische bei den Westbrooks?”

“Machst du Witze? G. W. stammt aus bescheidenen Verhältnissen und heiratet in eine reiche Familie ein. Es gelingt ihm, das Familienvermögen mehr als zu verdreifachen. Seine geliebte Tochter Tessa, Einzelkind, hat mit achtzehn einen schrecklichen Autounfall, den sie nur um Haaresbreite überlebt. Ihr damaliger Freund, vermutlich der Vater ihrer Tochter Leslie Anne, stirbt bei dem Unfall. Vier Jahre später stirbt G. W.s Ehefrau an einem langjährigen Krebsleiden. Und G. W.s jüngere Schwester, die Schwester seiner Frau, seine Nichte, seine Freundin und ihr Sohn werden alle von G. W. finanziell unterstützt.”

“Danke, das reicht.” Dante blickte kurz zu Lucie hinüber und grinste.

“Okay. Aber jetzt weißt du, was ich meine, oder? Das ist doch original wie bei Dallas.”

“Aber für uns geht es nur um einen ausgerissenen Teenager”, versuchte Dante sich selbst zu überzeugen. Vor allem aber wollte er sich auf jeden Fall davon überzeugen, dass es keinerlei Zusammenhang zwischen Ms. Leslie Anne Westbrook und Amy Smith gab.

“Das glaubst du doch nicht im Ernst. Bei den Ultrareichen ist nie irgendetwas einfach. Ich wette mit dir um einen Wochenlohn, dass es irgendeinen delikaten, skandalösen Grund dafür gibt, warum die Göre von zu Hause abgehauen ist.” Lucie steckte die einzelnen Blätter zurück in den Ordner auf ihrem Schoß. “In jeder Akte steht, dass das Mädchen blitzsauber ist. Null Probleme. Ein wohlerzogener, glücklicher Teenager, der seine Familie vergöttert.”

“Vielleicht stimmt ja nicht, was da in den Akten steht. Oder man weiß eben nicht alles.”

“Das wollte ich damit sagen. Wir kennen nicht alle Fakten. Und ich möchte darauf wetten, dass wir sie auch weder von G. W. noch von Tessa erfahren werden.”

Dante bremste, als ein riesiges schmiedeeisernes Tor vor ihnen auftauchte. Beeindruckend. Verdammt beeindruckend.

“Sieh dir das an!” Lucie ließ einen lauten Pfiff hören. “Southfork, wir kommen.”

“Ich wette, Leslie Plantation sieht eher aus wie eine der Villen aus Vom Winde verweht als J.R. Ewings bescheidene Hütte.”

“Hmm. Mal sehen, ob Tessa Westbrook dann auch was von Scarlett O'Hara hat.”

Dante kicherte, als er den Wagen vor dem Tor anhielt. An der Sprechanlage nannte er den Code, den ihm Sawyer McNamara mitgeteilt hatte. Das Eisentor schwang auf und gab den Blick auf die lange, gepflasterte Auffahrt frei. Zwei Kilometer später tauchte das Herrenhaus in ihrem Blickfeld auf. Dante hatte recht gehabt – es war eine Südstaatenvilla wie aus dem Bilderbuch. Weiße Säulen rahmten Seiten und Front der riesigen, gepflegten Villa ein. Kaum war er vor dem Gebäude vorgefahren, öffnete sich die große Doppeltür, und ein großer, schlaksiger Mann mit grauen Haaren eilte auf die Veranda. Der Mann trug einen schlichten schwarzen Anzug, weißes Hemd und schwarze Fliege. Obwohl der Mittsechziger eine gewisse Würde ausstrahlte, war klar, dass es sich bei ihm nicht um G. W. Westbrook handelte. Es musste der treue Butler oder Assistent des Hausherrn sein.

Der Mann eilte auf Lucie zu, als sie die Wagentür öffnete. “Guten Tag, Ma'am”, sagte er mit tiefer Stimme und breitem Südstaatendialekt. “Ms. Evans, vermute ich”, er blickte über die Motorhaube hinüber zu Dante, “… und Mr. Moran.” Er streckte seine Hand aus, um Lucie behilflich zu sein.

“So ist es”, sagte Dante. “Und Sie sind?”

“Hal Carpenter, Sir. Chauffeur und Butler der Familie.”

“Doppelbelastung, was?”, meinte Lucie.

“Ja, Ma'am. Mr. Westbrooks Personal ist nie nur für eine Aufgabe zuständig.”

“So spart man Geld, würde ich sagen”, sagte Dante.

Mr. Carpenter nahm Haltung an. “Wenn Sie mir bitte folgen möchten? Mr. G. W. und Miss Tessa erwarten Sie in der Bibliothek. Sie sind schon sehr gespannt auf Sie.”

Lucie grinste Dante an. Ihr Blick besagte: “Der hat dich ja ganz schön auflaufen lassen”. Rasch folgte sie Mr. Carpenter. Als sie die dreigeschossige Eingangshalle erreichte, bemühte sie sich, ihre Bewunderung nicht allzu offen zu zeigen und nutzte die Gelegenheit, um dem Chauffeur und Butler in Personalunion eine Frage zu stellen.

“Mr. Carpenter, haben Sie vielleicht eine Ahnung, warum Leslie Anne weggelaufen sein könnte?”

Der Mann hielt kurz inne und antwortete dann: “Tut mir leid, Ma'am. Wir alle haben keine Ahnung, was Miss Leslie Anne dazu veranlasst hat, einfach so zu verschwinden.”

“Sie halten es also nicht für möglich, dass sie entführt wurde?”, schaltete sich Dante ein.

“Nein, Sir.” Mr. Carpenter blieb kurz vor einer geschlossenen Schiebetür stehen, die vermutlich zur Bibliothek führte. “Wenn Sie gleich Mr. G. W. treffen, bedenken Sie bitte die Umstände. Er und Miss Tessa sind wirklich äußerst besorgt …”

Lucie tätschelte Mr. Carpenter beruhigend den Rücken. “Geht klar.”

Ach so ist das, dachte Dante. Mr. Carpenter hatte ihnen gerade durch die Blume geraten, den alten Mann nicht allzu sehr zu belasten und ihm keine unbequemen Fragen zu stellen. Und falls sich Mr. G. W. aufführen sollte wie ein wild gewordener Geisteskranker, sollten sie ihm das doch bitte nachsehen. Er war ja so in Sorge wegen seiner Enkeltochter.

Der Butler nickte, dann klopfte er leise an. Ohne auf Antwort zu warten, schob er die Tür auf und verkündete: “Ms. Evans und Mr. Moran von der Agentur Dundee.”

Ein großer, kräftiger Mann mit zurückgehendem Haaransatz, den er durch sein extrem kurz geschnittenes schlohweißes Haar offensichtlich zu vertuschen suchte, stand vor einem knapp einen Meter achtzig hohen Kamin, der zu beiden Seiten von Bücherregalen flankiert wurde. Mit wachen braunen Augen fixierte er Lucie und Dante. Er musterte sie schnell, aber intensiv.

“Kommen Sie doch herein.” G. W.s Worte klangen wie ein Befehl, nicht wie eine Einladung.

Lucie betrat als Erste den Raum, ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen, die Hand nur halb ausgestreckt, wie um sie beim geringsten Anzeichen von Feindseligkeit sofort zurückziehen zu können. Dante folgte ihr über die Türschwelle, blieb aber dort stehen und schaute sich erst einmal im Raum um. Sein Blick blieb auf der Frau hängen, die sich jetzt links vom Kamin aus einem Ledersessel erhob. Die Frau erwiderte seinen Blick. Einen Augenblick lang schien Dantes Herz auszusetzen. Sie besaß die gleichen strahlend blauen Augen wie Amy – das Blau eines Sommertags. Doch der Augenblick ging vorbei, und Dante nahm Tessa Westbrook genauer in Augenschein. Sie war in etwa so groß wie Amy, doch ihr Haar war dunkler und sie war dünner als Amy. Er versuchte, sie nicht allzu sehr anzustarren, doch es gelang ihm nicht. Es gab zwar eine vage Ähnlichkeit, aber diese Frau war nicht Amy Smith.

Nicht meine Amy.

“Nun, junger Mann. Stehen Sie nicht einfach herum und begaffen meine Tochter. Kommen Sie her, damit wir anfangen können.” G. W.s mürrischer Blick traf Dante.

“Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.” Tessa wandte den Blick von Dante ab und ging auf Lucie zu. Die beiden schüttelten sich höflich die Hände. “Wir machen uns wahnsinnige Sorgen um Leslie Anne.”

“Das kann ich mir vorstellen”, erwiderte Lucie. “Sie können sicher sein, dass wir von Dundee alles erdenklich Mögliche tun werden, um Ihre Tochter zu finden und sicher wieder zu Ihnen zurückzubringen.”

Tessa sah Dante an. “Bitte entschuldigen Sie die Grobheit meines Vaters, aber er ist nun mal recht unverblümt, vor allem, wenn er sich Sorgen macht.”

Höflich, aber nicht freundlich, dachte Dante. Tessa Westbrook besaß die coole elegante Schönheit, bei der jeder Mann sich die Frage stellte, ob hinter dieser schicken, beherrschten Fassade womöglich das Feuer der Leidenschaft brannte. Trotz einer gewissen physischen Ähnlichkeit zu Amy waren die beiden Frauen so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Tessa verkörperte genau das, was man von der Tochter eines Multimillionärs erwartete. Sie trug eine teure, maßgeschneiderte Hose, passende Stiefeletten und einen schicken Kaschmirpullover. Alles an der Frau schrie Geld.

“Du musst dich nicht für mich entschuldigen, Kleines. Ich bin mir sicher, Mr. Moran sind schon schlimmere Exemplare als ich über den Weg gelaufen. Nicht wahr, Mr. Moran?”

“In der Tat, Sir. Zu meinen Zeiten als Geheimdienstagent sind mir alle möglichen komischen Typen begegnet, auch ein paar sehr mächtige Businessmogule mit göttlichen Anwandlungen.”

Absolute Stille. Dann ließ G. W. ein lautes, herzliches Lachen vernehmen. Er ging auf Dante zu. “Treffend bemerkt, junger Mann, treffend bemerkt.” G. W. streckte ihm die Hand entgegen, die Dante seinerseits ergriff. Die beiden schüttelten sich die Hand.

“Warum setzen wir uns nicht?” Tessa machte eine einladende Geste mit ihrem Arm, wodurch ihr ein breites goldenes Armband über das Handgelenk rutschte. “Hätten Sie gern einen Kaffee oder einen Tee oder …”

“Falls Sie nichts dagegen haben, Ms. Westbrook, würde ich gern sofort zur Sache kommen”, sagte Dante. “Denn sobald wir unser Gespräch beendet haben, werde ich meine beide Kollegen von Dundee bei der Suche nach Ihrer Tochter unterstützen. Ms. Evans wird bei Ihnen bleiben und von hier aus den Fall bearbeiten.”

“Dann wollen wir mal”, sagte G. W. “Was brauchen Sie von uns?”

“Jede Information, die uns helfen könnte, Leslie Annes Aufenthaltsort zu finden”, antwortete Lucie.

“Wir haben alles auf Mr. McNamaras Anweisung hin zusammengetragen”, sagte Tessa. “Zunächst ist da die Liste ihrer besten Freundinnen.”

G. W. nahm ein Blatt Papier vom Mahagonischreibtisch und reichte es Dante. “Wir haben schon mit allen Personen auf dieser Liste gesprochen, und keine von ihnen weiß …”

“Wissen Sie, manchmal erzählen Jugendliche den Eltern nicht das, was sie einem Privatermittler erzählen würden”, erklärte Dante.

Lucie sah von Tessa zu G. W. “Wenn wir wüssten, was der Auslöser für Leslie Annes plötzlich Verschwinden war, wäre das eine große Hilfe …”

“Wir haben keine Ahnung”, unterbrach G. W. sie ein bisschen zu plötzlich.

Dante vermutete, falls der alte Mann den wahren Grund nicht wusste, so hatte er doch sicher eine Ahnung. “Was meinen Sie, Ms. Westbrook?”, wandte er sich an Tessa. “Warum glauben Sie, ist Ihre Tochter weggelaufen?”

“Ich habe Ihnen doch gesagt, wir haben nicht den blassesten Schimmer.” G. W. legte den Arm um die schmächtigen Schultern seiner Tochter.

Autor

Beverly Barton
Beverly Barton hat eine Schwäche, für Bad Boys, Männer mit kleinen Fehlern. In ihrer Kindheit schwärmte sie für „Die Schöne und das Biest“ – genauer gesagt, für das Biest. „Alle meine Lieblingsmänner sind stark, dominant und sehr maskulin. Aber am allerwichtigsten ist, dass sie ein Herz aus Gold haben“, erläutert...
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