Tanz im Dunkel

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Die Tänzerin Layla Rue Le May flüchtet vor einem Stalker - direkt in die Arme ihres Partners Sean McClendon. Aber ist sie bei ihm wirklich sicher? Oder tanzt sie gerade ihren letzten Tanz mit dem dreihundert Jahre alten rothaarigen Vampir?


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955760618
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

CHARLAINE HARRIS

In tiefer Nacht

Tanz im Dunkel

Verführung zu dunkler Stunde!

 

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Dancers in the Dark

Copyright © 2004 by Charlaine Harris Schultz

erschienen bei: HQN Books

unter dem Titel: Night’s Edge

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-061-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Rue blieb kurz stehen, um sich zu sammeln, bevor sie die Tür aufstieß, auf der sowohl “Blue Moon Entertainment” als auch “Black-Moon Productions” zu lesen war. Sie hatte alles so eingerichtet, dass sie pünktlich auf die Minute zu ihrem Termin erscheinen würde. Eine Mischung aus Nervosität und Verzweiflung legte sich wie ein Schraubstock um sie: Sie musste diesen Job kriegen, selbst wenn die Bedingungen widerlich waren. Mit dem Geld würde sie in der Lage sein, ihr Studium fortzusetzen, und außerdem hätte sie Arbeitszeiten, die sich gut mit ihren Vorlesungen vereinbaren ließen. Na dann, Kopf hoch, Brust raus und immer schön lächeln, sprach Rue sich mit den gleichen Worten Mut zu, die sie tausend Mal von ihrer Mutter gehört hatte. Drinnen warteten zwei Männer auf sie – zwei Vampire, korrigierte sie sich –, einer davon rothaarig, und eine Frau, eine normale menschliche Frau. In der Ecke stand außerdem ein Mädchen mit kurzem, blondem Haar an der Ballettstange und machte Dehnungsübungen. Das Mädchen mochte ungefähr achtzehn sein, drei Jahre jünger als Rue. Die ältere Frau hatte ein streng wirkendes Gesicht, war teuer gekleidet und ungefähr vierzig. Ihr Hosenanzug hatte mehr als drei von Rues Outfits gekostet, zumindest jenen Outfits, die sie jeden Tag für die Uni anzog. Für Rue stellten diese Klamotten eine Art Verkleidung dar: alte Jeans und weite Hemden, die sie im Secondhand-Laden kaufte, Tennisschuhe oder Wanderstiefel und eine große Brille mit sehr geringer Dioptrienzahl. In einem dieser “Ensembles” steckte Rue auch jetzt, und sie sah es dem Gesichtsausdruck der Frau an, dass ihr Äußeres eine wenig erfreuliche Überraschung darstellte.

“Sie müssen Rue sein”, stellte die Frau fest.

Rue nickte und reichte ihr die Hand. “Rue May. Freut mich, Sie kennenzulernen.” Zwei Lügen hintereinander. Das Schwindeln begann langsam, zur Gewohnheit zu werden – beziehungsweise (und das erschreckte sie am meisten) ihr in Fleisch und Blut überzugehen.

“Ich bin Sylvia Dayton. Mir gehören ‘Blue Moon Entertainment’ und ‘Black-Moon Productions’.” Sie schüttelte Rue die Hand. Ihr Händedruck war kräftig und energisch.

“Danke, dass sie mich vortanzen lassen.” Rue verdrängte ihre Nervosität so weit wie nur irgend möglich und lächelte selbstbewusst. Sie hatte es schon unzählige Male über sich ergehen lassen, von fremden Leuten beurteilt zu werden. “Wo kann ich mich umziehen?” Sie ließ ihren Blick über die Vampire – ihre potenziellen Tanzpartner, wie sie annahm – schweifen. Wenigstens waren beide größer als sie selbst mit ihren 1 Meter 77. Während ihrer eiligen Recherchen für den Job hatte sie gelesen, dass Vampire es nicht mochten, jemandem die Hand zu geben, also verzichtete sie darauf. Bestimmt war es unhöflich, die beiden so zu ignorieren, oder? Doch Sylvia hatte sie ihr nicht vorgestellt.

“Da drüben.” An einer Wand des Raums befanden sich Nischen mit Falttüren, die ganz ähnlich aussahen wie Umkleidekabinen in einem Geschäft. Rue marschierte in eine der Kabinen. Es war leicht, aus ihren weiten Klamotten und den abgewetzten Schnürstiefeln zu schlüpfen, und ein richtiges Vergnügen, anschließend schwarze Strumpfhosen, ein pflaumenfarbenes Trikot und einen weiten Wickelrock anzuziehen, der beim Tanzen flattern und so wirken würde, als hätte sie ein Kleid an. Sie setzte sich auf einen Hocker, um sich die Tanzschuhe mit den Riemchen anzuziehen, zu denen man in der Branche “Charakterschuhe” sagte, dann stand sie auf, um ihrem Spiegelbild probeweise zuzulächeln. Kopf hoch, Brust heraus und immer schön lächeln, sagte Rue sich wieder vor. Sie nahm die Spange aus ihrem Haar und bürstete es, bis es ihr wie ein schwerer Vorhang über die Schultern fiel. Ihr Haar war einer der wirklichen Pluspunkte ihres Aussehens. Das dunkle, satte Braun mit dem leicht goldenen Schimmer hatte beinahe die gleiche Farbe wie ihre tief liegenden, ausdrucksstarken Augen.

Da Rue ihre Brille nur brauchte, wenn sie an der Uni etwas auf der Tafel lesen musste, legte sie sie in das Etui und steckte es in ihren Rucksack. Sie trat dicht an den Spiegel, um ihr Make-up zu inspizieren. Nach all den Jahren, in denen sie früher mit der Selbstsicherheit eines schönen Mädchens in den Spiegel geblickt hatte, betrachtete sie ihr Gesicht nun mit der Skepsis einer Frau, die verprügelt worden war. In der Kanzlei ihres Anwalts gab es einen Ordner mit Fotos – Fotos, auf denen ihr Gesicht geschwollen und mit blauen Flecken übersät war. Ihre Nase – nun ja, die sah mittlerweile wieder gut aus.

Der plastische Chirurg hatte großartige Arbeit geleistet.

Ebenso wie der Zahnarzt.

Ihr Lächeln erstarb. Sie straffte die Schultern. Derzeit konnte sie es sich nicht leisten, darüber nachzudenken. Jetzt war Showtime angesagt. Sie schob die Tür auf und trat hinaus.

Einen Moment lang herrschte Stille, als die vier Leute im Raum Rues Verwandlung bestaunten. Der dunklere der beiden Vampire wirkte zufrieden; der Gesichtsausdruck des rothaarigen blieb unverändert. Das gefiel Rue.

“Sie haben uns an der Nase herumgeführt”, stellte Sylvia fest. Sie hatte eine tiefe, raue Stimme. “Sie waren vorhin sozusagen verkleidet.” Ich muss mir merken, dass man Sylvia Dayton offensichtlich schwer etwas vormachen kann, sagte Rue sich. “Tja, da Sie mit Ihrem Aussehen eindeutig punkten können, wollen wir mal sehen, wie Sie sich auf der Tanzfläche machen. Übrigens, es ist Blue Moon, wofür Sie sich bewerben möchten, nicht wahr? Nicht Black-Moon? Mit Ihrem Gesicht und Ihrer Figur würden Sie schon bald ausgezeichnet zu Black-Moon passen.”

Es war die Blue-Moon-Annonce, auf die sich Rue beworben hatte. “Tänzerin gesucht. Zusammenarbeit mit Vampiren. Erfahrung und soziale Kompetenz erforderlich”, hatte in der Anzeige gestanden. “Honorar plus Trinkgeld.”

“Was ist der Unterschied?”, erkundigte sich Rue.

“Nun ja, für Black-Moon muss die Bereitschaft gegeben sein, vor Publikum Sex zu haben.”

Rue konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie zum letzten Mal schockiert gewesen war; doch jetzt war sie es. “Nein!”, entgegnete sie und bemühte sich, nicht so entsetzt zu klingen wie sie war. “Und wenn dieses Vortanzen irgendetwas mit Ausziehen zu tun hat …”

“Nein, bei Blue Moon Entertainment geht es ausschließlich ums Tanzen”, fuhr Sylvia fort. Sie war völlig gelassen. “Wie in der Anzeige erwähnt, tanzen Sie mit einem Vampir. Das ist es, was die Leute heutzutage sehen wollen. Jede Art von Tanz, die das Publikum sehen will: Walzer, Hip-Hop … Tango ist auch sehr gefragt. Die Leute wollen als Highlight des Abends einfach ein Tanzpaar, das die Party in Schwung bringt. Sie mögen es, wenn der Vampir das Mädchen am Ende des Showtanzes beißt.”

Das wusste Rue bereits. Es hatte ebenfalls in der Anzeige gestanden. In allen Berichten, die sie darüber gelesen hatte, hieß es, dass es nicht besonders weh tat. Und der Verlust von ein bisschen Blut würde ihr schon nicht schaden. Schließlich hatte sie schon viel schlimmere Verletzungen überlebt.

Rue fand es irgendwie beruhigend, als sie merkte, wie sachlich Sylvia mit dem Thema umging. Sex-Performer, Magier-Assistentin oder Tänzerin – Sylvia machte da keinen Unterschied.

“Blue Moon”, sagte Rue mit fester Stimme.

“Dann also Blue Moon”, wiederholte Sylvia.

Das blonde Mädchen kam herüber und stellte sich neben Sylvia. Es hatte eher kleine, haselnussbraune Augen und volle Lippen, die wie dafür geschaffen waren zu lächeln. Im Moment allerdings war keine Spur von einem Lächeln zu erkennen.

Während Sylvia einen Stapel CDs durchsah, beugte die Blonde sich zu Rue. “Schau ihnen nicht direkt in die Augen”, flüsterte sie. “Wenn sie wollen, können sie dich in ihren Bann ziehen und ihrem Willen unterwerfen. Mach dir keine Sorgen, solange ihre Fangzähne nicht zur Gänze ausgefahren sind. Denn nur dann sind sie gereizt.”

“Danke!”, sagte Rue erschrocken und so leise wie möglich. Nun war sie noch nervöser als vorher, und sie fragte sich, ob nicht vielleicht genau das die Absicht des Mädchens gewesen war.

Nachdem Sylvia eine CD ausgewählt hatte, tippte sie einem der Vampire auf den Arm. “Thompson, du als Erster.”

Der dunkelhaarige, größere Vampir, der enge Radlerhosen und ein altes, ärmelloses T-Shirt trug, stellte sich vor Rue hin. Er sah sehr gut aus – und mit seiner goldschimmernden Haut und dem glatten, kurzen Haar wirkte er sehr exotisch. Rue vermutete, dass er sowohl europäische als auch asiatische Wurzeln hatte; seine dunklen Augen waren leicht schräg gestellt. Er sah lächelnd zu ihr herunter. Doch in seinem Blick lag etwas, dem Rue nicht traute, und dieses Misstrauen war ein Gefühl, das sie stets ernst nahm. Beziehungsweise seit einiger Zeit ernst nahm … Nachdem sie kurz sein Gesicht betrachtet hatte, heftete sie ihren Blick auf sein Schlüsselbein.

Rue hatte noch nie einen Vampir berührt. Da, wo sie herkam, einem Städtchen in Tennessee, bekam man nie etwas so Exotisches zu Gesicht. Wenn man einen Vampir sehen wollte, musste man – wie für einen Zoobesuch – in die Stadt fahren. Bei der Vorstellung, einen toten Menschen zu berühren, hatte Rue ein flaues Gefühl im Magen. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre hinausgestürmt, doch das kam nicht infrage. Ihre Ersparnisse waren aufgebraucht. Ihre Miete war fällig. Ihre Telefonrechnung musste demnächst bezahlt werden. Sie hatte keine Krankenversicherung.

In ihrem Kopf hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sie daran erinnerte, doch “etwas Rückgrat zu zeigen”. Ein guter Rat. Zu schade, dass ihre Mutter ihn selbst nicht befolgt hatte.

Sylvia steckte die CD in den CD-Player, und Rue legte eine Hand auf Thompsons Schulter, die andere in seine Hand. Seine Hände waren kühl und trocken. Dieser Tanzpartner würde nie verschwitzte Handflächen haben. Sie bemühte sich, ein Schaudern zu unterdrücken. Du musst einen Mann nicht mögen, um mit ihm zu tanzen, ermahnte sie sich. Die Musik war fast klassische Tanzmusik. Sie begannen mit einem einfachen Zweierschritt, dann einem Box-Step. Die Musik wurde zu einem schnellen Swing, dessen Tempo sich zu einem noch schnelleren Jitterbug steigerte.

Rue merkte, dass sie fast vergaß, dass ihr Partner ein Vampir war. Thompson konnte wirklich tanzen. Und er war so stark! Es war ihm ein Leichtes, sie hochzuheben, herumzuwirbeln, über seinen Kopf zu werfen und über seinen Rücken zu rollen. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder. Doch das verdächtige Funkeln im seinem Blick hatte sie vorhin nicht missverstanden. Denn während des Tanzens wanderten seine Hände über Stellen ihres Körpers, wo sie eigentlich nichts verloren hatten. Rue hatte genügend Erfahrung mit Männern – mehr als genug –, um zu wissen, welche Richtung diese Partnerschaft nehmen würde, wenn sie auf diese Weise begann.

Die Musik hörte auf. Er beobachtete, wie sich ihr Brustkorb nach der Anstrengung heftig hob und senkte. Er selbst war überhaupt nicht außer Atem. Klar, rief sie sich in Erinnerung. Thompson brauchte ja nicht zu atmen. Der Vampir deutete eine Verneigung an, während seine Augen über ihren Körper tanzten. “Es war mir ein Vergnügen”, sagte er. Zu Rues Überraschung war seine Aussprache akzentfreies Amerikanisch.

Sie nickte ihm ebenfalls zu.

“Ausgezeichnet”, stellte Sylvia fest. “Ihr zwei seht gut zusammen aus. Thompson, Julie, ihr beide könnt jetzt gehen, wenn ihr wollt.” Die Blonde und Thompson schienen allerdings nicht zu wollen. Beide setzten sich auf den Boden und lehnten sich mit dem Rücken an einen der riesigen Spiegel, die im ganzen Raum an den Wänden angebracht waren. “Tanzen Sie jetzt mit Sean O’Rourke, unserem irischen Aristokraten”, sagte Sylvia zu Rue. “Er braucht ebenfalls eine neue Partnerin.” Es musste Rue anzusehen sein, wie erschrocken sie über diese Information war, denn Sylvia lachte und beeilte sich zu erklären: “Seans Partnerin hat sich verlobt und ist von hier weggezogen. Thompsons Partnerin hat ihr Medizinstudium beendet und ihr Assistenzjahr begonnen. Sean?”

Der zweite Vampir trat vor, und Rue fiel auf, dass er sich die ganze Zeit, während sie mit Thompson getanzt hatte, nicht bewegt hatte. Nun nickte er Sylvia kühl zu, um Rue dann ebenso neugierig zu mustern wie sie ihn.

Sean hätte Staub ansetzen können, so reglos stand er da. Er war kleiner als Thompson, aber trotzdem gut ein paar Zentimeter größer als Rue, und sein langes, glattes Haar, das er im Nacken zusammengebunden hatte, leuchtete rot. Und er war – naturgemäß – weiß. Weiß wie Papier. Thompsons Herkunft ließ ihn dank der goldschimmernden Haut ein bisschen lebendiger aussehen.

Der Mund des irischen Vampirs sah aus wie ein großes M. Die nach unten gezogenen Mundwinkel ließen ihn ein wenig verwöhnt, ein wenig launenhaft wirken, doch sein Mund hatte einfach von Natur aus diese Form. Rue fragte sich, wie er wohl aussehen mochte, wenn er einmal lächelte. Seans Augen waren blau und klar, und der Rücken seiner scharf geschnittenen Nase war mit Sommersprossen übersät. Ein Vampir mit Sommersprossen! Rue musste lachen. Sie senkte den Kopf, um ihr Grinsen zu verbergen, während er vor ihr seine Tanzposition einnahm.

“Ich amüsiere dich?”, erkundigte er sich so leise, dass Rue überzeugt davon war, dass die anderen drei es nicht hören konnten.

“Überhaupt nicht”, versicherte sie. Doch sie konnte ihr Lächeln nicht verbergen.

“Hast du schon einmal mit einem Vampir geredet?”

“Nein. Oh, warte. Doch, habe ich. Bei einem Schönheitswettbewerb, an dem ich einmal teilgenommen habe. Ich glaube, es war die Wahl zur Miss Rockland Valley. Er war einer der Juroren.”

Von den unzähligen Möglichkeiten zu reagieren wählte Sean, der Vampir, ausgerechnet die Frage: “Hast du gewonnen?”

Sie blickte auf und sah ihm direkt in die Augen. Er hätte nicht gelangweilter und gleichgültiger wirken können. Das hatte einen merkwürdig beruhigenden Effekt auf Rue. “Ja, habe ich”, antwortete sie.

Ihr fiel das süffisante Lächeln des Vampir-Jurors wieder ein, als sie ihm damals erzählt hatte, dass sie sich in einem “Verein” für Toleranz gegenüber übernatürlichen Wesen von Seiten der Regierung engagierte. Dabei hatte sie bis zu diesem Augenblick noch nie ein übernatürliches Wesen zu Gesicht bekommen! Was für ein naives Dummchen sie doch gewesen war. Doch ihre Mutter hatte damals gedacht, dass dieses Thema sehr aktuell war und mit Sicherheit bei der Jury gut ankommen würde. Die Regierung der Vereinigten Staaten und die der einzelnen Bundesstaaten hatten alle Mühe, die Koexistenz von Menschen und Vampiren zu regeln, seit die Vampire vor fünf Jahren öffentlich bekannt gegeben hatten, dass sie in der Welt der Menschen existierten.

Die Entwicklung von synthetischem Blut mit dem richtigen Nährstoffgehalt für Vampire hatte dieses Outing ermöglicht, und im Laufe der letzten fünf Jahre hatten sich die Vampire in einigen Ländern einen Platz in der Gesellschaft erarbeitet. Rue allerdings hatte, trotz ihres “Vereins”, jeglichen Kontakt mit den Untoten vermieden. Ihr Leben war schon schwierig genug, ohne dass es einer zusätzlichen Problematik bedurft hätte, die so brisant wie die der Vampire war.

“Ich weiß einfach nicht besonders viel über Vampire”, fügte sie entschuldigend hinzu.

Seans kristallblaue Augen waren ziemlich unpersönlich auf sie gerichtet. “Dann wirst du einiges lernen”, sagte er ruhig. Er hatte einen leichten irischen Akzent; sein “lernen” hörte sich wie “lärrnen” an.

“Darf ich bitten?”, fragte er formvollendet.

“Gern, danke”, antwortete sie automatisch. Sylvia hatte bereits eine andere CD in den Player gelegt und drückte auf Start.

Sie begannen mit einem Walzer und bewegten sich so geschmeidig zu den Klängen, dass Rue fast das Gefühl hatte zu schweben. “Jetzt kommt Swing”, murmelte er, und nun berührten ihre Füße tatsächlich das Parkett nicht mehr, während ihr schwarzer Rock bei jeder Drehung in weitem Bogen flatterte. Dann hatte sie wieder Boden unter den Füßen und tanzte.

Es war ein Genuss, wie Rue ihn schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.

Als es vorbei war und sie sah, dass sein Blick immer noch kühl und unnahbar war, fiel es ihr leicht, sich zu Sylvia umzudrehen und zu sagen: “Falls Sie zu der Entscheidung kommen sollten, dass ich für Sie arbeiten soll, würde ich gern mit Sean tanzen.”

Das gekränkte, säuerliche Lächeln, das über Thompsons Gesicht huschte, erschreckte Rue.

Sylvia wirkte ein wenig überrascht, doch nicht unzufrieden. “Großartig”, sagte sie. “Es ist nicht immer leicht …” Sie unterbrach sich, als sie merkte, dass jede Art, ihren Satz zu vollenden, taktlos sein könnte.

Julie strahlte. “Dann tanze ich mit Thompson”, erklärte sie. “Ich brauch auch einen Tanzpartner.”

Wenigstens habe ich Julie glücklich gemacht, dachte Rue. Ihr zukünftiger Partner äußerte sich überhaupt nicht. Sean wirkte weder glücklich noch unglücklich. Er nahm ihre Hand, beugte sich über sie und ließ sie wieder los. Rue glaubte gespürt zu haben, wie kalte Lippen ihre Finger berührten, und erschauerte.

“Nun zu den Details”, sagte Sylvia energisch. “Hier ist ein Vertrag, den Sie unterschreiben müssen. Nehmen Sie ihn mit nach Hause und lesen Sie ihn sich durch. Es ist nichts Kompliziertes.” Sie reichte Rue ein Blatt Papier. “Sie können ihn von Ihrem Anwalt durchsehen lassen, wenn Sie möchten.”

Etwas Derartiges konnte Rue sich nicht leisten, doch sie nickte und hoffte, dass man ihr nicht ansah, was sie gerade dachte.

“Wir haben einmal im Monat eine Besprechung”, fuhr Sylvia fort. “Blue Moon und Black-Moon zusammen. An diesen Treffen müssen Sie teilnehmen. Wenn Sie bei einem Termin, für den Sie engagiert sind, nicht auftauchen, sind Sie – außer, Sie liegen mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus – gefeuert. Falls Sie und Sean einmal Streitigkeiten haben, darf das Publikum davon nichts mitkriegen.”

“Wofür sind diese Besprechungen?”, erkundigte sich Rue.

“Wir müssen einander alle persönlich kennen”, antwortete Sylvia. “Und wir müssen uns über die Probleme mit unseren Kunden austauschen. Man kann einige unerfreuliche Situationen vermeiden, wenn man weiß, wer Schwierigkeiten machen wird.”

Rue hatte nicht gewusst, dass es “Schwierigkeiten” geben konnte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und merkte, dass es ihr in ihrem Trikot plötzlich kalt war. Dann schaute sie auf den Vertrag in ihren Händen und sah, dass pro Auftritt bezahlt wurde. Sie wusste, dass sie unterschreiben würde; sie würde Sylvia morgen den Vertrag unterzeichnet übergeben, damit sie so bald wie möglich mit der Arbeit beginnen konnte.

Erst als Rue wieder in ihrer bescheidenen Wohnung war, die in einem ausgesprochen unsicheren Teil von Rhodes lag, las sie sich den Vertrag doch genau durch. Er war in einfachen Worten verfasst und beinhaltete keine unerfreulichen Überraschungen. Alles war so, wie Sylvia es ihr erklärt hatte. Es gab zwar ein paar zusätzliche Klauseln – etwa dass Rue bei Verhinderung rechtzeitig Bescheid geben musste oder wie mit den Kostümen zu verfahren sei, die sie aus dem Fundus ausborgte –, doch im Großen und Ganzen war es ein Standardvertrag. Er konnte nach einem Jahr verlängert werden, falls beide Parteien es wollten.

Am nächsten Morgen, einem für den Mittelwesten typisch kühlen Frühlingsmorgen, machte sich Rue zeitig auf den Weg zur Uni, damit sie noch Zeit für einen Abstecher zum Blue Moon hatte. An der Tür des alten Gebäudes, in dem sich das Blue Moon/Black-Moon befand, gab es einen Briefschlitz. Mit einem Gefühl großer Erleichterung steckte Rue den gefalteten Vertrag durch die Öffnung. Und noch am selben Abend rief Sylvia Rue an, um mit ihr die erste Trainingseinheit mit Sean O’Rourke zu vereinbaren.

2. KAPITEL

Sean war bereits im Tanzstudio, trug abgeschnittene Jogginghosen und ein ärmelloses T-Shirt und wartete. Die neue Kollegin war noch nicht zu spät dran. Sie würde pünktlich sein, denn sie brauchte den Job. Er war ihr an dem Tag, als sie sich bei Sylvia vorgestellt hatte, nach Hause gefolgt. In den vielen Jahren, seit er ein Vampir war, war er immer auf der Hut gewesen – und genau das hatte ihn nun mehr als 275 Jahre am Leben erhalten. Eine seiner Vorsichtsmaßnahmen war es, die Leute, mit denen er zu tun hatte, gut zu kennen. Und deshalb war Sean entschlossen, mehr über Rue herauszufinden.

Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Sie war ganz offensichtlich arm. Doch sie hatte eine mehrjährige Tanzausbildung genossen, war gepflegt und hatte eine perfekte Frisur. Außerdem deutete ihre Art zu sprechen darauf hin, dass sie aus privilegierten Verhältnissen stammte. War es möglich, dass sie irgendeine Art von Spion war, der verdeckt ermittelte? Doch hätte Rue – wenn es denn so wäre – nicht die Gelegenheit am Schopf gepackt, für das Black-Moon zu arbeiten? Es war der einzige Aspekt an Sylvias Unternehmen, der in irgendeiner Form von Interesse sein könnte. Vielleicht war Rue ja auch nur ein reiches Mädchen, das einen abenteuerlichen Nervenkitzel suchte.

Autor

Charlaine Harris
Charlaine Harris ist eine amerikanische Bestsellerautorin, die seit dreißig Jahren Mystery-Romane schreibt. Harris wurde 1951 in Tunica, Mississippi, geboren. Die ehemalige Gewichtheberin und Karate-Studentin lebt heute mit ihrem Mann und drei Kindern in Magnolia, Arkansas. Ihre ersten schriftstellerischen Arbeiten waren vorwiegend Gedichte über Geister und die Nöte junger Erwachsener, später,...
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