Baccara Weekend Band 43

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DER ZAUBER EINER WINTERNACHT von CATHLEEN GALITZ 

Als eine Schneelawine sie zwingt, gemeinsam auf einer einsamen Ranch zu übernachten, verbringt Gillian Stunden voller Leidenschaft mit ihrem Exmann. Insgeheim hofft sie, dass es einen Neuanfang für sie beide gibt! Aber in Bryces Leben scheint kein Platz mehr für sie zu sein …  

ZUM FEST – SEHR VIEL LIEBE von SANDRA STEFFEN

Nie hat er sie vergessen: Krista, seine erste Freundin. Will verließ sie, weil ihm seine Sport-Karriere wichtiger erschien. Jetzt ist seine Laufbahn beendet – und seine Sehnsucht nach Krista größer denn je! Wird sie ihm noch einmal vertrauen und ihm zum Fest der Liebe ihr Herz schenken? 

EIN UNVERGESSLICHER VERFÜHRER von KATHIE DENOSKY 

Ausgerechnet Josh Gordon! Vor drei Jahren verbrachte Kiley mit ihm eine Nacht der Leidenschaft – mit peinlichem Erwachen. Jetzt muss sie ihn um Geld für ihr Kindergarten-Projekt bitten. Und hat nur einen Weihnachtswunsch: dass Josh sie nicht erkennt! Doch dieser Wunsch erfüllt sich nicht … 


  • Erscheinungstag 19.10.2024
  • Bandnummer 43
  • ISBN / Artikelnummer 8095240043
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Cathleen Galitz

1. KAPITEL

Zweimal setzte Gillian Baron vergeblich an, bevor sie sich endlich dazu durchringen konnte, tatsächlich an die Tür zu klopfen – und dann wäre Gillian am liebsten auf der Stelle davongerannt wie ein Kind, das einem Nachbarn einen Klingelstreich spielte.

Warum nur fiel es ihr so verflixt schwer, vor dieser Tür zu stehen, die direkt in ihre Vergangenheit führte?

Vielleicht ist er gar nicht zu Hause …

Sie wippte auf den Absätzen ihrer Schuhe und machte sich bereit.

Bereit wofür? Davonzurennen? Schon wieder wegzulaufen vor allem, was mein Leben einmal lebenswert gemacht hat?

Ja, es hatte eine Zeit gegeben, in der ihr Leben so vollkommen gewesen war wie nur irgend vorstellbar. Damals hatte sie noch den Schlüssel zu dieser Wohnung besessen – und den Schlüssel zum Herzen des Mannes, der hier lebte. Aber dann war alles unwiderruflich zu Bruch gegangen, auf schreckliche Weise, und seine Liebe hatte sich in Hass verwandelt.

Gillian begann sich zu entspannen. Glück gehabt, dachte sie. Die Begegnung, vor der sie sich so sehr gefürchtet hatte, blieb ihr offenbar erspart.

In Gedanken spielte sie bereits durch, was sie ihren Schwestern sagen würde, wenn sie sie fragten, warum sie nicht mit ihm gesprochen hatte: „Ich hab’s ja versucht, er war nicht da!“

Erleichtert seufzend wandte sie sich ab, um zu gehen – da näherten sich hinter der Tür Schritte. „Komme schon!“, rief eine Männerstimme.

Gillian erstarrte. Plötzlich überkamen die schmerzlichen Erinnerungen an das vergangene Glück sie. Der Gedanke, Bryce wieder in das Chaos ihres Lebens hineinziehen zu müssen, widerstrebte ihr zutiefst. Vor allem aber verabscheute sie ihre Verwundbarkeit und Schwäche. Warum nur musste das hier sein, ausgerechnet jetzt, nachdem sie sich endlich damit abgefunden hatte, allein zu bleiben?

Er würde ihr kaum glauben, dass sie nur wegen ihres Vaters gekommen war. Mit der für ihn typischen Arroganz würde er vielmehr davon ausgehen, dass ihr Aufkreuzen vor seiner Wohnungstür nur einem Zweck diente: ihn erneut zu umgarnen und sich in sein Leben zurückzudrängen. Gillian machte sich darauf gefasst, dass er ihr gleich die Tür vor der Nase zuschlug.

Bryce McFadden öffnete, nur mit einer verwaschenen Jeans bekleidet, und seine Pupillen weiteten sich. Einen Sekundenbruchteil lang meinte Gillian, so etwas wie einen Hauch von Zuneigung in seinen Augen zu entdecken, dann verfinsterte sich sein Blick.

„Hallo!“ Gillian zwang sich zu einem Lächeln. „Hab ich dich geweckt?“

So wie er vor ihr stand – unvollständig bekleidet, ungekämmt, unrasiert und offensichtlich verblüfft –, hoffte sie inständig, dass sie ihn wirklich nur geweckt und nicht bei etwas anderem gestört hatte.

Eigentlich sollte ihr das egal sein, aber ihre Nerven flatterten trotzdem. Da sie ihm nicht in die Augen sehen konnte, ließ sie den Blick nach unten schweifen, über seine nackte Brust bis zum Bund seiner nicht ganz geschlossenen Jeans. Verdammt, durchfuhr es sie, ich starre ihn ja an wie ein unreifer Teenager! Prompt wurde sie rot.

Bryce hatte sich offenbar schon von seiner Überraschung erholt. Er lehnte sich lässig gegen den Türrahmen und musterte Gillian ungeniert von oben bis unten. Oh, wie sie diesen besitzergreifenden Blick und seine Wirkung auf sie kannte!

Gillian rief sich energisch zur Ordnung. Trotz seiner Anziehungskraft durfte sie keine Sekunde lang vergessen, wie sehr er sie stets auf die Palme gebracht hatte. Niemals würde sie ihm vergeben, dass er sie im Stich gelassen hatte, als sie ihn am dringendsten gebraucht hatte.

„Darf ich reinkommen?“

„Bitte!“

Gillian trat ein und sah sich flüchtig die Einrichtung an. Ein großformatiger Fernseher, eine Ledergarnitur und ein paar Fitnessgeräte gaben der Wohnung einen Hauch von persönlicher Note. Trotzdem wirkte sie ausgesprochen spartanisch eingerichtet. Weder Bilder noch Fotos zierten die kahlen Wände.

Himmel, bist du blöd! Hast du wirklich geglaubt, hier würde ein Bild von dir stehen, nur weil du es nicht geschafft hast, dich von seinen Fotos zu trennen?

„Nette Wohnung.“ Betont unbekümmert schaute sie sich um.

Kein Weihnachtsbaum, aber immerhin ein geschmackvolles Adventsgesteck auf dem Couchtisch. Ganz unbemerkt würden die Feiertage also nicht an ihm vorübergehen. Das Gesteck wirkte in der eher kühl eingerichteten Wohnung irgendwie fehl am Platz, aber immerhin hatte er sich Mühe gegeben, dem nüchternen Schwarz-Weiß ein wenig Farbe entgegenzusetzen. Nichts an diesem Luxusapartment erinnerte an ihr einstiges gemütliches Zuhause mit blühenden Blumen auf den Fensterbänken, mit den echten Gemälden an den Wänden, antiken Möbeln, dem hellen kleinen Zimmer mit der Teddybären-Tapete …

Hör auf damit!

Zornig drängte sie die Erinnerungen zurück, die ungebeten auf sie einstürmten. Sie konnte es sich nicht leisten, sich von dem Anliegen ablenken zu lassen, das sie hierhergeführt hatte. Es fiel ihr auch so schon schwer genug, Haltung zu bewahren.

„Möchtest du eine Tasse Kaffee?“, fragte Bryce.

„Gern.“ Gillian lächelte schwach. Damit würde sie wenigstens ihre Hände beschäftigen, wenn sie einen Becher hielt.

Bryce half ihr aus dem schweren Wintermantel. Diese selbstverständliche Höflichkeitsgeste erschien Gillian vertraut und unwirklich zugleich. Draußen war es bitterkalt, und es schneite seit Stunden. Aber ihr war unangenehm heiß. Selbst in diesem so fremdartig und kalt eingerichteten Wohnzimmer reichte sein schwacher Duft aus, um ihr wieder bewusst zu machen, warum und wie sehr sie diesen Mann einst geliebt hatte.

Er verließ das Zimmer, und Gillian nutzte die Gelegenheit, um sich das wunderschöne Adventsgesteck näher anzusehen. Eine Grußkarte steckte darin. Bryce würde jeden Augenblick zurück sein, aber ihre Neugier war stärker als die Angst vor einer peinlichen Überraschung. Gillian nahm die Karte und las:

Ja, ja! Tausendmal ja!

In Liebe,

Vi

Wer zum Teufel war Vi?

Ganz kurz machte sich ein gehässiger Gedanke in Gillian breit: Das war gar kein Name, sondern das römische Zahlzeichen für sechs, und Bryce nummerierte seine Frauen mittlerweile durch. Aber natürlich war ihr klar, dass die wenigen Worte in erkennbar weiblicher Handschrift etwas anderes signalisierten – vielleicht die Annahme einer Wochenend-Einladung. Oder ging es um wesentlich mehr?

Der Gedanke, Bryce könnte einer Frau einen Heiratsantrag gemacht haben, traf sie wie eine eiskalte Dusche. Verflixt, schon wieder ging ihre Fantasie ihr durch! Sie durfte sich nicht so gehen lassen. Bei dieser Unterredung stand viel zu viel auf dem Spiel. Hastig steckte sie die Karte zurück. Gerade rechtzeitig, bevor Bryce mit dem Kaffee ins Zimmer trat. Gillians Hände zitterten, als sie ihre Tasse entgegennahm.

„Instant“, sagte er entschuldigend. „Kein Vergleich zu deinem Kaffee.“

„Danke.“ Sie setzte sich auf die Couch – und war erleichtert, dass Bryce den Sessel nahm, statt neben ihr Platz zu nehmen. So konnte sie wenigstens halbwegs entspannt mit ihm reden, ohne ständig vor zufälligen Berührungen Angst haben zu müssen.

Im Grunde hatte sie wenig Bedenken, dass sie sich in die Haare kriegen könnten. Aber ihre unerwartet heftigen emotionalen Reaktionen auf diesen Mann erschreckten sie. Dass Vis kurzer Gruß es fertigbrachte, sie in rasende Eifersucht zu versetzen, war mehr als nur leicht beunruhigend.

Sie nippte an dem Kaffee und dachte, dass Bryce recht hatte. Die Brühe schmeckte grauenvoll. Urplötzlich überfiel Traurigkeit Gillian bei dem Gedanken, dass er Morgen für Morgen in dieser unpersönlichkalten Wohnung mit so einem scheußlichen Gebräu vorliebnahm. Er hatte es immer so genossen, den Tag mit einem frisch gemahlenen und aufgebrühten Kaffee zu beginnen.

Im Bett. Mit ihr.

Hart stellte sie ihre Tasse auf den Tisch. Bryce rieb sich das unrasierte Kinn. Prompt fiel Gillian wieder ein, wie sich die rauen Bartstoppeln angefühlt hatten.

Er schaute sie erwartungsvoll an. Small Talk lag ihm nicht, schon gar nicht, wenn etwas Wichtiges zu besprechen war, das wusste sie.

„Na schön“, sagte sie. „Wollen wir auf das unverbindliche Geplauder verzichten und gleich zum Thema kommen?“

„Das wäre wirklich sehr nett.“ Sein Sarkasmus war unüberhörbar.

Da Gillian ohnehin nicht wusste, wie sie ihm ihr Anliegen diplomatisch erklären sollte, fiel sie kurzerhand mit der Tür ins Haus: „Stella und Rose wollen Dad entmündigen lassen.“

Bryce sah Gillian vollkommen entgeistert an. Er presste die Lippen zusammen, und ein stahlharter Glanz trat in seine Augen. „Und was hab ich damit zu tun?“

Diese Frage hatte sie zwar nicht unbedingt erwartet, aber sie war natürlich berechtigt. Gillian konnte es ihm nicht verübeln, dass er nicht wieder in die quälenden Angelegenheiten ihrer Familie hineingezogen werden wollte.

„An sich ist das wirklich nicht dein Problem“, gab sie zu, „aber ich bin auch nicht freiwillig hier.“

„Ist irgendetwas passiert, das ich erfahren sollte?“

Bryce hatte ihrem Vater immer sehr nahegestanden, und Gillian wusste, dass sein Interesse echt war. Sie versuchte, die Situation zu erklären, ohne so schuldbewusst zu klingen, wie sie sich fühlte. In den letzten zwei Jahren war sie damit beschäftigt gewesen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Das war alles andere als leicht gewesen.

Ihr Vater lebte mehrere Hundert Kilometer entfernt am anderen Ende des Staates Wyoming, und sie arbeitete sieben Tage die Woche fast rund um die Uhr. Ihr fehlte einfach die Zeit, sich mehr um ihn zu kümmern. Trotzdem hatte Gillian ständig ein schlechtes Gewissen dem Mann gegenüber, der sie nach dem Tod ihrer Mutter ganz allein großgezogen hatte.

„Stella sagt, er sei ein paarmal gestürzt. Außerdem soll er sein Geld ohne Sinn und Verstand zum Fenster rauswerfen. Meine Schwestern meinen, das sind eventuell erste Anzeichen von … Alzheimer.“

Dieses grässliche Wort! Es auszusprechen fiel ihr schon schwer genug. Gar darüber nachzudenken, was es im Einzelnen bedeutete, überforderte Gillian erst recht.

Ihr letzter Besuch, bei dem ihr Vater sich enttäuscht über ihre Trennung von Bryce geäußert hatte, lag schon Monate zurück. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen. Gillian konnte sich also nur auf das Wort ihrer Schwestern verlassen, was seine aktuelle geistige und körperliche Verfassung anging. Zwar mochte sie nicht glauben, dass eine von ihnen ihren Vater ins Pflegeheim stecken würde, nur um an sein Geld zu kommen, aber sie hatte schon die Befürchtung, dass die beiden die Situation zu schwarzsahen. Dummerweise waren sie entschlossen, die Entmündigung notfalls vor Gericht durchzusetzen.

Deshalb blieb Gillian gar nichts anderes übrig, als einzugreifen, bevor irreparabler Schaden entstand. Die Familie durfte nicht auseinanderbrechen. Nur deshalb war Gillian überhaupt zu Bryce gegangen.

„Es tut mir leid, das zu hören“, sagte Bryce. Sein Bedauern war offensichtlich ehrlich.

Am liebsten hätte sie in seinen Armen Trost gesucht, wie früher. Um sich abzulenken, betrachtete sie ihre Knie. Sofort fiel ihr eine winzige Laufmasche in den schwarzen Strümpfen ins Auge. Frustriert zupfte Gillian am Rocksaum, um den Schaden zu verstecken. Das passte nur zu gut zu ihrer derzeitigen psychischen Verfassung! Dabei hatte sie sich solche Mühe mit ihrer Kleidung gegeben, weil sie ihrem Exmann repräsentabel gegenübertreten wollte.

Reiß dich zusammen! Sie räusperte sich. „Dad hat uns beide zu seinen Vormündern bestimmt … für den Fall, dass er nicht mehr in der Lage ist, seine Angelegenheiten selbst zu regeln.“

Bryce starrte sie mit offenem Mund an. Seine Überraschung konnte nie und nimmer gespielt sein. Demnach irrten sich Stella und Rose mit ihrer Unterstellung, Bryce habe diese Regelung von langer Hand eingefädelt, weil er sie um ihr Erbe bringen wollte. Die erbitterten Streitereien während des quälenden Scheidungsprozesses hatten tiefe Gräben gerissen, die Gillian für unüberbrückbar hielt.

Als Bryce ihre Eröffnung endlich verdaut hatte, wurde ihm die Ironie der Lage bewusst. Ein zynisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Verstehe. Deine Schwestern können den alten Mann nicht in die Klapsmühle abschieben, wenn wir nicht die Drecksarbeit für sie erledigen.“

Gillian wollte sich nicht schon wieder auf eine Diskussion über innerfamiliäre Beziehungen einlassen. Deshalb überging sie diesen Frontalangriff auf ihre Schwestern, statt sie wie sonst sofort in Schutz zu nehmen. „Von Klapsmühle kann keine Rede sein. Die beiden machen sich begründete Sorgen, die wir nicht einfach ignorieren können. Außerdem gibt es ein paar sehr schöne Seniorenheime in der Gegend.“

„Auch du, Brutus?“

Ausgerechnet Shakespeare! Der indirekte Vorwurf war einfach ungerecht. Gillian könnte ihrem Vater niemals in den Rücken fallen. Dennoch machte die Frage ihr bewusst, dass sie hilflos zwischen völlig verhärteten Fronten stand. Denn eins war klar: Bryce betrachtete die Pläne ihrer Schwestern als Dolchstoß in den Rücken ihres Vaters.

Würde er zwischen dem, was Rose und Stella taten, und dem, was sie anstrebte, unterscheiden können? Wichtiger noch: Konnte sie selbst einen Unterschied erkennen?

Entnervt strich Bryce sich durchs Haar. „Was genau willst du eigentlich von mir, Gill?“

Ihr Herz raste, als sie ihm direkt in die Augen schaute. Er wirkte so unversöhnlich. „Ich bitte dich, mit mir zur Ranch zu reisen. Dad weigert sich, von dort wegzuziehen, bevor er nicht die Chance hatte, mit uns beiden zu reden. Und meine Schwestern drohen, vor Gericht zu gehen, wenn er stur bleibt. Er hat versprochen, sich unserer gemeinsamen Entscheidung zu beugen. Ich will die Familie davor bewahren, völlig auseinanderzufallen. Einen anderen Weg sehe ich nicht.“

Bryce stieß einen verächtlichen Laut aus, ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken und schloss die Augen. Dass er müde aussah, war keine Überraschung für Gillian. Er hatte schon immer zu viel gearbeitet. Sie bedauerte nur, ihn an einem Sonntagmorgen aus dem Schlaf gerissen zu haben. Aber es war die einzige Zeit, zu der sie damit hatte rechnen können, ihn zu Hause anzutreffen. So schwer es ihr auch gefallen war, ihn aufzusuchen – diese Angelegenheit hatte sie keinesfalls am Telefon besprechen wollen.

Als Bryce schließlich die Augen wieder öffnete, klang seine Stimme genauso müde, wie seine Gesichtszüge wirkten. „Um es kurz zu machen: Ich habe zurzeit eine ganze Menge um die Ohren. Wie wäre es, wenn ich diese Vormundschaft, oder was immer John mir da eingeräumt haben mag, einfach ausschlage? Dann könnt ihr drei Schwestern das Geld nach Belieben unter euch aufteilen.“

Gillian zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.

„Das würdest du tun?“ Warum enttäuschte sie das so sehr? Schließlich bot er ihr exakt das an, was ihre Schwestern sich sehnlichst wünschten. Aber im Gegensatz zu den beiden, die vor Freude an die Decke springen würden, fühlte Gillian sich zutiefst unbehaglich. Nach Recht und Gesetz war das zwar ein gangbarer Weg, aber ihr Gewissen erklärte es rundheraus für falsch.

„Ich würde alles tun, um endlich für alle Zeit Ruhe vor der gesamten Familie Baron zu haben“, sagte Bryce. „Aber wenigstens von dir hätte ich so viel Anstand erwartet, dass du dir den Grund und Boden des alten Mannes erst unter den Nagel reißt, wenn er tot ist. Die Ranch ist sein Ein und Alles. Wenn ihr Zweifel an seiner Fähigkeit äußert, sie eigenständig zu bewirtschaften, werdet ihr ihm damit sehr, sehr wehtun.“

„Glaubst du wirklich, ich wüsste das nicht?“ Der Gedanke, den stärksten Mann, den sie kannte, für hilflos erklären zu lassen, erschreckte Gillian zutiefst.

„Dein Vater wird nicht gerade dankbar dafür sein, in ein Pflegeheim abgeschoben zu werden. Er wird dir das nie verzeihen.“

Gillian verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte Bryce wütend an. „Was immer du auch von mir denken magst: Ich fühle mich dabei kein bisschen wohler als du. Wenn wir bei unserem Besuch auf der Ranch gemeinsam zu dem Schluss kommen, dass er sehr wohl noch für sich selbst sorgen kann, ist die Angelegenheit für mich erledigt. Dann können wir uns beide wieder unserem Alltag zuwenden, ohne irgendetwas bereuen zu müssen.“

Bryce lachte abschätzig auf.

Gillian fürchtete, ihr Mut könne sie gleich verlassen. Deshalb fuhr sie hastig fort: „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber Dad betrachtet dich als einen Freund. Er vertraut dir. Genauso wie ich – trotz unserer Differenzen. Welchen Rat du auch immer geben wirst, wir werden ihn zu schätzen wissen. Davon abgesehen kannst du dich nicht einfach aus der Verantwortung stehlen, ob du willst oder nicht. Soweit ich das verstanden habe, kannst du die Vormundschaft nur mit meinem Einverständnis ausschlagen. Und das bekommst du nicht, solange wir nicht beide persönlich mit meinem Vater gesprochen und uns vor Ort ein Bild der Lage gemacht haben. Sollten meine Schwestern ihre Drohung wahr machen und vor Gericht gehen, kann sich die Angelegenheit über Jahre hinziehen. Wenn du allerdings tust, worum ich dich bitte, bist du mich sehr schnell endgültig los.“

Ein hässlicher harter Unterton stahl sich in ihre Stimme, als sie hinzufügte: „Vi würde das ganz sicher zu schätzen wissen.“

Er war sichtlich überrascht, dass sie den Namen kannte, stimmte ihr aber ohne Zögern zu: „Oh ja, das würde sie, zumal wir heiraten wollen.“

Gillian drückte es fast die Luft ab, aber es gelang ihr, sich nichts anmerken zu lassen. Diese Neuigkeit traf sie wie ein unerwartet harter Schlag.

„Gratuliere“, erwiderte sie und zwang sich zu lächeln. „Du hast es verdient, glücklich zu werden.“ Sie hielt inne, bevor sie leise sagte: „Ganz ehrlich.“ Dabei hoffte sie nur eins: dass ihre Worte nicht so mitleidheischend und verbittert klangen, wie es ihr vorkam. In gewisser Weise meinte Gillian es durchaus ernst, aber es tat trotzdem furchtbar weh. „Ich verspreche dir: Das ist die letzte Bitte, die ich jemals an dich stelle.“

Bryce bedachte sie mit einem eisigen Blick: „Du weißt vermutlich nicht mehr, um welchen Gefallen ich dich zuletzt gebeten habe?“

Gillian sah ihn verständnislos an und zuckte die Achseln. „Hilf mir auf die Sprünge.“

„Ich hatte dich angefleht, dich nicht von mir scheiden zu lassen.“

2. KAPITEL

„Das kann man wohl kaum als einen Gefallen bezeichnen“, stellte Gillian zornig klar.

„Genauso wenig wie deine Bitte“, entgegnete Bryce. „Eins muss man dir lassen, mein Schatz: Du hast echt Nerven, nach all der Zeit einfach hier aufzukreuzen, als wäre nichts gewesen. Wie ein kleines Mädchen, das sich verlaufen hat und auf mein Mitleid zählt.“

„Mitleid und du – das sind zwei verschiedene Welten!“

Sie funkelten einander zornig an. Erst nach scheinbar endlosen Sekunden gelang es Gillian, sich wieder zu fangen.

„Ich hatte gehofft, dass du deine persönlichen Animositäten mir gegenüber hintanstellen könntest. Schließlich geht es um Dad, und ich weiß zufällig, dass du ihn höher achtest als deinen Vater. Er vertraut dir. Er vertraut dir so sehr, dass er seine Zukunft in deine Hände legt – obwohl du nicht mehr zur Familie gehörst.“

Dass ihr Vater Bryce in diese Entscheidung mit einbezog, irritierte sie zwar. Aber es brachte sie nicht in Rage wie ihre Schwestern. Was auch immer die beiden Bryce unterstellen mochten, Gillian wusste: Für dieses peinliche Treffen zwischen seiner jüngsten Tochter und ihrem Exmann, den er liebte wie einen Sohn, war einzig und allein John Baron verantwortlich und niemand sonst. Sie hoffte nur, dass er nicht mit ihnen spielte. Wenn sich jemals herausstellen sollte, dass er sich nur hilflos gab, damit sie sich mit Bryce versöhnte, dann gnade ihm Gott!

Sofort fühlte sie sich schuldig. Eine gute Tochter wäre nie auf diesen Gedanken gekommen. Schließlich hatte sein Hausarzt bescheinigt, dass ihr Vater krank war und jede Unterstützung brauchte, die sie ihm geben konnte.

Um Bryce doch noch umzustimmen, versuchte sie es nun mit einer philosophischen Frage: „Könnten wir uns eventuell darauf einigen, dass Menschen, die alles tun, um einander aus dem Weg zu gehen, manchmal vom Schicksal zusammengeführt werden?“

„Ich glaube nicht.“

Sie seufzte entnervt. Musste sie wirklich erst an sein überstarkes Pflichtgefühl appellieren? Anders konnte sie ihn offenbar nicht dazu bringen, sie über die Festtage auf die Ranch zu begleiten. Sie wusste, wie schwer Bryce der erzwungene Bruch mit ihrem Vater getroffen hatte. Was sie von ihm verlangte, war wirklich nicht fair.

Es würde Wunden aufreißen, die gerade erst verheilt waren. Noch übler wäre es, wenn es tatsächlich so schlimm um ihren Vater stand, wie ihre Schwestern behaupteten. Sie konnte sich nichts Furchtbareres vorstellen, als mitansehen zu müssen, wie diese Krankheit einen geliebten Menschen Stück für Stück zerstörte.

„Ich gebe zu: Ich würde John nur ungern auf Gedeih und Verderb den beiden Hexen ausliefern“, unterbrach Bryce ihre Gedanken. „Es überrascht mich nicht, dass sie nicht länger auf seine Großzügigkeit angewiesen sein wollen. Sicher glauben sie, es sei ihr gutes Recht, ihr Erbe zu retten, bevor er es für so unwichtige Dinge wie sein Lebenswerk, die Ranch, verschleudert.“

Gillian kochte innerlich, ging aber trotzdem nicht auf die Beleidigung ihrer Schwestern ein.

Als Bryce weitersprach, glitt ein boshaftes Lächeln über seine Züge: „So könnte ich ihnen wenigstens ein ganz kleines bisschen von dem heimzahlen, was sie mir über die Jahre angetan haben. Wie sie wohl zurechtkämen, wenn sie plötzlich keinen Penny mehr von ihrem Vater erhielten?“

Keine Frage, er hatte Stella und Rose bis heute nicht verziehen, dass sie Gillian zur Scheidung gedrängt hatten und ihm damit in den Rücken gefallen waren.

Bryce schüttelte sich leicht. „Eigentlich sollte es mir egal sein, ob die beiden verbitterten alten Jungfern deinen Vater in die Klapsmühle stecken und dich um dein Erbteil bringen, aber ich habe meine Prinzipien. Recht ist Recht, und Unrecht ist Unrecht. Obwohl mir die Sache ganz und gar nicht gefällt: John vertraut mir, und ich lasse ihn nicht im Stich.“

Gillian fiel ein Stein vom Herzen. Hoffentlich hatte sie ihn nicht falsch verstanden. „Du tust, worum ich dich bitte?“

„Ich tue, worum dein Vater mich bittet“, korrigierte er. „Bilde dir nicht ein, ich täte das für dich.“

Auf diese Idee wäre Gillian ohnehin nicht gekommen. Zu deutlich stand sein Abscheu in seinem Gesicht geschrieben. Sie verzichtete auf einen Kommentar und nickte. „Warum auch immer – ich weiß deine Hilfe zu schätzen. Danke.“

„Wie hast du dir das praktisch vorgestellt? Über die Feiertage kann ich mir problemlos freinehmen, aber ich würde die Sache gern schneller hinter mich bringen. Zum Weihnachtsfest nächste Woche möchte ich wieder zu Hause sein. Wie sieht es bei dir aus?“

Gillian sah ihn an und zog die Augenbrauen hoch. Prompt waren sie wieder mitten in der Auseinandersetzung, die sie während ihrer gesamten Ehe geführt hatten.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich irgendwann weniger Zeit für die Firma brauche. Wenn du nur ein bisschen mehr Geduld aufgebracht hättest …“

„Geduld!“, wiederholte sie aufgebracht. „Deine ‚vorübergehende Phase‘ hat sich auf unser gesamtes gemeinsames Leben ausgedehnt!“

Bryce musterte sie kühl. „Nicht nur du leidest darunter, was aus unserer Ehe geworden ist. Warum bildest du dir eigentlich ein, deine Trauer sei so viel tiefer als meine? Unterstellen alle Frauen, dass Männer keine Gefühle haben, oder gilt das nur für dich?“

Gillian beherrschte sich nur mühsam. Wie hatten sie es nur so lange miteinander ausgehalten, ohne sich gegenseitig umzubringen? Im Moment hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen, weil sie sein selbstgefälliges Lächeln nicht ertrug.

„Könnten wir zum Thema zurückkommen?“, fragte sie betont ruhig und sachlich. „Es hat keinen Sinn, sich über Dinge zu streiten, die wir sowieso nicht ändern können.“

Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie oft sie sich darüber beklagt hatte, dass er seiner Firma so viel Zeit widmete, während das Privatleben auf der Strecke blieb. Als junge Ehefrau hatte sie sich entsetzlich einsam und allein gefühlt. Bryce hatte auch schon vor ihrer Hochzeit für ihre Begriffe viel zu viel gearbeitet, aber sie hatte gehofft, durch ihr Jawort würde sich das zum Positiven ändern.

Nach ihrer Scheidung gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, verstand sie inzwischen allerdings besser, warum ihn seine Arbeit so in Anspruch nahm. Es war nicht leicht für sie gewesen, die Ausbildung zur Immobilienmaklerin abzuschließen und sich auf einem hart umkämpften Markt zu etablieren.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass sie als berufstätige Frau das Arbeitsethos ihres Exmannes übernommen hatte: zuerst die Pflicht, dann das Vergnügen. Im Rückblick fragte sie sich, ob ihr Vorwurf, er stecke zu viel Energie in sein neu gegründetes Software-Unternehmen, nicht ein wenig ungerecht gewesen war. Trotzdem gab es keine Entschuldigung dafür, dass er seine Familie vernachlässigt hatte. Sie waren ja gar nicht unbedingt auf das Geld angewiesen gewesen. Ihr Vater hätte ihnen gern jederzeit finanziell unter die Arme gegriffen. Aber dafür war Bryce zu stolz und zu ehrgeizig gewesen. Das hatte letztlich den Keil zwischen sie getrieben.

„Um Weihnachten herum tut sich sowieso nicht viel auf dem Immobilienmarkt“, sagte Gillian. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie würde eine Menge Termine verschieben müssen, um ihren Chef und ihre Kunden nicht zu verprellen. „Von daher ist es für mich kein Problem, ein paar Wochen freizunehmen.“

Bryce war überrascht. „Ich bin beeindruckt“, sagte er. „In so kurzer Zeit ist es dir gelungen, Privat- und Berufsleben unter einen Hut zu bringen. Oder sollte das etwa daran liegen, dass dein kleiner Ausflug in die Geschäftswelt von deinem Vater mitfinanziert wird?“

„Zur Hölle mit dir!“ Die unausgesprochene Unterstellung, ihre Tätigkeit als Immobilienmaklerin sei nur ein Hobby und sie lebe von der Großzügigkeit ihres Vaters, empörte sie.

„Ich habe meinem Vater jeden Penny zurückgezahlt, den ich mir je von ihm geliehen habe – genau wie du.“ Ja, auch Bryce hatte sich einmal Geld von John Baron leihen müssen. Ihn daran zu erinnern erfüllte sie mit Genugtuung.

Bryce ignorierte den Seitenhieb. Während ihrer Ehe hatte er seine Verantwortung als Ernährer sehr ernst genommen. Viel zu ernst für Gillians Geschmack. Es hatte seinem Ego einen schweren Schlag versetzt, auf ihr Drängen hin schließlich doch auf die finanzielle Unterstützung ihres Vaters zurückgreifen zu müssen. Sie war fest davon überzeugt, dass es ihnen wesentlich besser ergangen wäre, wenn ihr starrköpfiger Ehemann sich mehr auf die Familie gestützt hätte, statt alles selbst schaffen zu wollen.

„Freut mich, das zu hören“, sagte Bryce und bedachte sie mit einem schiefen Lächeln. Erschreckt stellte Gillian fest, dass sie verlegen reagierte. War es möglich, dass sie immer noch auf seinen Charme hereinfiel? Vorsichtshalber wich sie seinem Blick aus.

„Manchmal kann ich es kaum glauben: Du hattest früher nur einen Wunsch, nämlich, Ehefrau und Mutter zu sein.“

Seine Stimme hatte einen unerwartet zärtlichen Klang angenommen. Was er sagte, entsprach der Wahrheit. Ihre Träume waren bescheiden genug gewesen. Hätte ihr Schicksal nicht so eine grausame Wendung genommen, wäre sie wahrscheinlich immer noch wunschlos glücklich. Es tat weh, darüber nachzudenken. Deshalb wechselte sie hastig das Thema.

„Um diese Jahreszeit zur Ranch zu gelangen wird ein Abenteuer. Der Flug von Cheyenne nach Jackson Hole ist kaum ein Problem – abgesehen von den unverschämt hohen Flugpreisen wegen der Feiertage …“

Im Geiste zählte Gillian die Tage bis Weihnachten – ganze acht blieben ihr.

„… aber mitten im Winter vom Flughafen bis raus zur Ranch zu kommen ist schon bedeutend schwieriger.“

Bis zu drei Meter hohe Schneewehen machten die Straßen im Winter unbefahrbar. Bryce schlug vor, einen Hubschrauber zu chartern. Gillian widersprach. Sie war die harten Winter in dieser entlegenen Ecke von Wyoming von klein auf gewöhnt, und es machte ihr nichts aus, mit leichtem Gepäck zu reisen. „Das macht es einfacher. Wenn du nichts dagegen hast, bitte ich Sid, in Kelly zwei Motorschlitten für uns zu organisieren.“

Es überraschte sie nicht, dass Bryce sofort einverstanden war. Der Vorschlag kam seiner abenteuerlustigen Natur sehr entgegen.

„Darf ich dein Telefon benutzen? Ich möchte schnellstmöglich alles Nötige in die Wege leiten, aber der Akku meines Handys hat auf dem Weg hierher seinen Geist aufgegeben.“

Bryce nickte. „Natürlich. Es liegt noch im Schlafzimmer, den Flur entlang, letzte Tür rechts.“

Gillian erhob sich. Als sie die Schlafzimmertür öffnete, traf sie fast der Schlag. Bryce hörte, wie sie scharf die Luft einzog, und eilte ihr beunruhigt nach. „Was ist denn?“

Sie starrte wie gebannt das einzige Bild an, das es in der gesamten Wohnung gab, und er begriff. Über dem Bett hing ein stark vergrößertes Foto von einem Babyfuß. Er lag unendlich winzig zwischen zwei Händen, einer Männer- und einer Frauenhand. Im Hintergrund konnte man unscharf den Ehering erkennen, den Gillian damals getragen hatte.

Das Foto war kurz nach Bonnies Frühgeburt aufgenommen worden. Nur wenige Monate später war sie gestorben – am plötzlichen Kindstod –, während Bryce bei der Arbeit war.

Gillian trat wie in Trance über die Schwelle und näherte sich dem Bild, das sie so schmerzlich an die Vergänglichkeit des Lebens erinnerte. Der Rahmen trug eine kleine Messingtafel, auf der nur zwei Wörter eingraviert waren.

Auf ewig.

Sie schwankte. Bryce fasste nach ihr, um sie zu halten.

3. KAPITEL

Gillian fing sich wieder und schüttelte unwillig Bryces Hand ab. Sie war noch nie in Ohnmacht gefallen und würde nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen, so tief der Schock auch saß. Gerechter Zorn würde ihr genauso helfen, den Schwächeanfall zu überwinden, wie eine Adrenalinspritze.

„Warum hast du das hier aufgehängt?“, fragte sie vorwurfsvoll.

Hatte er sie eben wirklich noch zärtlich besorgt angeschaut, oder hatte sie sich das nur eingebildet?

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, erklärte Bryce mit beißendem Spott. „Mir war nicht klar, dass ich dich um Erlaubnis fragen muss, bevor ich mir ein Bild an die Wand hänge.“

Die Realität holte Gillian wieder ein. Sie war nicht mehr mit ihm verheiratet. Es stand ihr nicht zu, solche Fragen zu stellen, geschweige denn über seine Entscheidungen und Gefühle zu urteilen.

„Man sollte meinen, dieses Bild wecke so bittere Erinnerungen, dass es dich in schwärzeste Depressionen stürzt“, erwiderte sie in ebenso entschuldigendem wie anklagendem Ton.

„Bittere Erinnerungen daran, was für ein grottenschlechter Vater und Ehemann ich war, meinst du?“

Gillians Schweigen sagte mehr als tausend Worte.

„Zu dumm nur, dass ich offenbar ein fantastischer Schwiegersohn war. Andernfalls könnte ich wie andere geschiedene Männer unbeschwert mein Leben genießen, statt mich mit komplizierten Familienangelegenheiten herumzuärgern, die mich im Grunde nichts mehr angehen.“

Gillian wollte keinesfalls eingestehen, dass sie ihm eigentlich recht gab. Es hatte sie zunächst tief verletzt, dass ihr Vater ihren Exmann gemeinsam mit ihr zum Vormund bestimmt hatte. Sie empfand das als Verrat an der Familie, zu der Bryce nun einmal nicht mehr gehörte.

Das rührende Bild an der Wand zog sie erneut in ihren Bann. Sie hatte schon fast vergessen, wie winzig Bonnie gewesen war. Tiefe Traurigkeit überfiel sie. Warum nur hatte sie sich überhaupt darauf eingelassen, ihren Exmann aufzusuchen? Sie hatte doch gewusst, dass die Begegnung nur schmerzhafte Erinnerungen wecken würde.

Bryce ahnte offenbar, was in ihr vorging. „Soll ich dir einen Abzug anfertigen lassen?“, fragte er leise.

Sein Angebot überraschte sie. Für einen Moment zog sie ernstlich in Erwägung, es anzunehmen. Das Bild würde ein wenig Wärme in ihre kahle Wohnung bringen. Seit ihrem Einzug war sie eigentlich nur zum Essen und Schlafen dort gewesen.

Ihre ganze Energie steckte sie in ihre Arbeit, sodass ihr Leben sich fast ausschließlich um sie drehte. Da sie bereit war, rund um die Uhr Kundentermine wahrzunehmen und sehr profitable Verkäufe abschloss, hatte sie sich zu einer gefragten Immobilienmaklerin entwickelt. Ihr blieb buchstäblich keine Minute Zeit, um an ihr altes Leben zurückzudenken. Und genau das bezweckte sie auch damit.

„Ich fürchte, ich könnte es nicht ertragen“, erklärte sie, erstaunt darüber, dass er es konnte.

Nach Bonnies Tod hatte Bryce sie gedrängt, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorn zu schauen. Obwohl sie ihn dringend brauchte, verbrachte er mehr und mehr Zeit in der Firma. Und obwohl sie ihre Ehe eigentlich retten wollte, ließ sie sich von ihren Schwestern davon überzeugen, dass Bryce sich niemals ändern würde.

Als sie ihm eröffnete, sie wolle sich scheiden lassen, wehrte er sich zunächst. Aber schließlich gab er doch nach und willigte in die Scheidung ein. Sie hatte ihn für gefühlskalt gehalten, weil er seine Arbeit über sie und Bonnie gestellt hatte. Umso mehr überraschte es sie, dass er die Erinnerung an ihre Tochter auf so rührende Weise bewahrte.

Gillian fuhr sich unwillig mit der Hand über die Augen und wandte sich ruckartig von dem Bild ab. Jetzt bloß nicht weinen! Wenn sie sich eines nicht leisten konnte, dann den Gedanken, Bryce könne sich geändert haben. Tief in ihrem Innersten liebte sie ihn immer noch, und sie kannte sich gut genug, um zu wissen: Wenn sie Schwäche zeigte, würde sie unweigerlich wieder in seinen Armen landen.

Verdammt! Ich wollte sie nicht zum Weinen bringen. Ich weiß doch, dass ich ihre Tränen nicht ertrage.

Bryce registrierte seine Reaktion mit Erstaunen. Gillian hatte ihn zutiefst verletzt. Doch angesichts ihrer mühsam zurückgehaltenen Tränen fühlte er einen überwältigenden Drang, sie zu beschützen. Wenn es um sie ging, setzte sein Verstand nach wie vor aus.

Sie war noch genauso schön, wie er sie in Erinnerung hatte: glatte helle Haut, tiefblau leuchtende Augen, dunkle Haare und volle, sinnlich geschwungene Lippen. Er konnte nicht leugnen, dass er sie zunächst körperlich begehrt hatte. Aber da war noch mehr im Spiel gewesen. Bei ihrer ersten Begegnung war sie ihm wie eine Märchenheldin erschienen, als ein von Grund auf guter und anständiger Mensch.

Voller Bitterkeit rief Bryce sich in Erinnerung, dass das Leben kein Märchen war. Die Realität kannte kein automatisches Happy End. Gelegentlich triumphierten die bösen Stiefschwestern über den Prinzen, und zwar mit giftiger Zunge statt mit einem vergifteten Apfel. Als er schließlich in die Scheidung eingewilligt hatte, war er nicht einmal mehr sicher gewesen, ob nicht Gillian selbst ein Ungeheuer war.

Inzwischen hatte sie das Foto auf seinem Nachttisch entdeckt. Es zeigte ihn, den Arm um die Schultern einer hübschen blonden Mittdreißigerin gelegt, sowie einen kleinen flachshaarigen Jungen, der sich an seine freie Hand klammerte und fröhlich in die Kamera strahlte.

„Und das ist vermutlich Vi.“ Gillians Stimme klang sachlich-nüchtern.

Bryce nickte. „Und ihr Sohn, Robbie.“

„Ein niedliches Kerlchen.“

„Er ist ein toller Junge.“

Robbie hatte seinen Vater bei einem Autounfall verloren. Er war ein wohlerzogenes, seelisch ausgeglichenes Kind, brauchte aber dennoch dringend einen Vater. Da Bryce sich nichts sehnlicher wünschte als eine intakte Familie, war er sehr gern bereit, dem Jungen den Vater zu ersetzen. Aber er wollte sich nicht dafür rechtfertigen müssen, dass er seine gescheiterte Ehe endlich abhakte und ein neues Leben begann.

„Vi ist auch ein toller Mensch“, erklärte er.

Gillian lächelte gezwungen. „Hoffentlich versteht sie, warum du sie über die Feiertage allein lassen willst und mir hilfst.“

Es gelang ihr nicht zu verbergen, wie tief sie getroffen war. Er hatte sie geliebt und jeden zärtlichen Moment mit ihr genossen. Und er konnte sich nach wie vor nicht gegen ihre körperliche Wirkung auf ihn wehren. Aber sie hatte ihm das Herz gebrochen, und sie hatte kein Recht, ihm das Glück zu neiden, das Vi in sein Leben brachte. Ebenso wie die Freude, die ihm die Zuneigung ihres kleinen Jungen bereitete.

Er musste jetzt an Vi denken, an das, was sie für ihn empfand. Das würde ihm helfen, den nur allzu bekannten Duft von Gillians Parfum zu ignorieren und sich wieder der Reiseplanung zu widmen.

„Wann kannst du den Flug buchen?“, fragte er. „Ich möchte die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ich will dabei sein, wenn Robbie seine Weihnachtsgeschenke öffnet.“

Der Gedanke an all die Weihnachtsfeste, die Bonnie nie erleben durfte, trieb Gillian schon wieder die Tränen in die Augen. Bryce verzichtete daher lieber auf die Bemerkung, dass er auch dabei sein wollte, wenn Vi ihr Geschenk auspackte – den Verlobungsring mit dem dreikarätigen Diamanten.

Gillians Ring war seinerzeit wesentlich bescheidener ausgefallen, und er hatte ihn sich trotzdem kaum leisten können. Damals hatte er seine Firma gerade erst gegründet, und sie kämpfte noch ums Überleben. Seine frisch verliebte Braut versicherte ihm, nicht den geringsten Wert auf Diamantringe und tolle Urlaubsreisen zu legen, die er ihr doch so gern geschenkt hätte. Gillian wollte nur eins: dass er mehr Zeit zu Hause verbrachte, mit ihr und später auch mit dem Baby.

Immer noch wünschte Bryce sich, sie könnte seine Motive verstehen und begreifen, warum er seiner Familie mehr bieten wollte als nur das Lebensnotwendigste. Warum er wollte, dass seine Frau stolz auf ihn war.

Inzwischen lief die Firma ausgezeichnet, und sein Traum, Millionen zu machen, war Wirklichkeit geworden. Bryce fragte sich, ob Gillian es jemals bereuen würde, ihn verlassen zu haben. Sie hatte nicht an ihn geglaubt, als es ihm noch sehr viel bedeutet hatte. Jetzt hatte er erreicht, was er wollte, aber er mochte es ihr nicht erzählen. Der Bericht hätte den schalen Beigeschmack von Prahlerei bekommen.

Gillian konnte den inneren Widerstreit ihrer Gefühle nicht vor ihm verbergen. Hoffentlich versuchte sie nicht, Schuldgefühle in ihm zu wecken, nur weil er sich ein neues Leben aufgebaut hatte. Er hatte die Scheidung nicht gewollt, aber jetzt, da er sich endlich damit abgefunden hatte, machte es ihn wütend, dass sie unangemeldet bei ihm auftauchte und ihm wieder bewusst machte, wie sehr er sie einst geliebt hatte.

„Ich freue mich für dich“, sagte Gillian. Es war aufrichtig gemeint. Ihr Lächeln fühlte sich gezwungen an, und sie hoffte, dass es nicht auch so aussah.

Sie konnte sich kaum etwas Schlimmeres ausmalen als eine mehrtägige gemeinsame Reise in die Vergangenheit, während Bryce seine Hochzeit mit einer anderen Frau plante. Mochte es ihr auch noch so schwerfallen – Gillian schwor sich, sich unter keinen Umständen anmerken zu lassen, wie sehr sie nach wie vor an ihm hing. Er hatte eine Bilderbuchfamilie gesucht und gefunden, und sie wollte sich auf keinen Fall wieder in sein Leben drängen.

Trotzdem bereitete es ihr Mühe, höflich und locker weiterzuplaudern. Ihre Gedanken kreisten ständig um die bevorstehende Heirat. Würde Robbie den beiden die Ringe übergeben? Würde die Braut in Weiß erscheinen? Würde Bryce so unverschämt gut und selbstsicher aussehen wie bei ihrer Hochzeit? Sie schüttelte den Kopf, um die lästigen Bilder zu verscheuchen. Wie sollte sie sich so auf das Problem konzentrieren, das sie gemeinsam lösen mussten?

„Besuchen dich deine Eltern über die Feiertage?“, fragte Gillian. Im Stillen hoffte sie, dass ihre Terminplanung dadurch nicht noch mehr erschwert würde.

Bryce schüttelte den Kopf. „Ich habe ihnen zu Weihnachten eine Kreuzfahrt geschenkt.“

„Wie großzügig“, murmelte Gillian.

Und wie schlau …

Sie wusste, dass Bryces Eltern eine solche Luxusreise niemals antreten würden, wenn sie nicht ein anderer bezahlte. Es überraschte sie nicht sonderlich, dass die beiden einen Urlaub in irgendeiner exotischen Ecke der Welt dem Weihnachtsstress daheim vorzogen.

Einen Baum schmücken, Geschenke einpacken und Zeit für einen Sohn erübrigen, der sie ihrer Meinung nach sowieso sträflich vernachlässigte? Nein, das war nicht ihr Ding. Außerdem war Gillian ja nicht mehr da, um sich für sie abzurackern, während Bryce sich in der Firma von ihnen erholte. Ihre Schwestern mochten eine schwere Prüfung für ihn gewesen sein. Seine Eltern hatten dasselbe für Gillian dargestellt.

Nicht ohne Grund war sie immer davon überzeugt gewesen, dass Bryce ihrem Vater näherstand als seinem. Sedrick McFadden war unglaublich egoistisch und geizig. Seine Frau Donna stand ihm dabei in nichts nach.

Gillian vermutete, dass Bryce deshalb so großzügig war, weil er Angst hatte, er könne eines Tages genauso ein Geizkragen werden wie seine Eltern. Schon als Kind hatte er morgens und abends Zeitungen ausgetragen, weil von ihm erwartet wurde, dass er sich sein Taschengeld selbst verdiente.

In seiner Jugend hatten die Eltern ihn überwiegend sich selbst überlassen. Erst nach seiner Heirat mit Gillian nahmen Sedrick und Donna sich mehr Zeit für ihren Sohn und kamen häufig zu Besuch. Natürlich immer dann, wenn es ihnen selbst am besten passte, egal wie viel Bryce zu tun hatte oder wie erschöpft ihre schwangere Schwiegertochter war.

Sie betrachteten ihre Besuche als großzügiges Geschenk an ihre Kinder und hielten es für selbstverständlich, dass sie zum Dank von vorn bis hinten bedient wurden. Die guten Tage genossen sie gern mit Bryce, die schlechten deutlich weniger gern. So hatten sie auch Gillian deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ein großes Opfer brachten, indem sie persönlich zu Bonnies Beerdigung erschienen, statt nur eine Beileidskarte zu schicken.

Mit einiger Mühe rief Gillian sich in die Gegenwart zurück. „Ich rufe dich an, wenn ich die Einzelheiten unserer Reise geklärt habe. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du das für mich tust – für Daddy, meine ich natürlich.“

Sie spürte, dass sie schon wieder rot wurde, und wünschte sich nur noch eins: die Wohnung so schnell wie möglich zu verlassen. Als das Telefon klingelte, nutzte sie die Gelegenheit und verabschiedete sich hastig. Erst draußen im Flur beruhigte sich ihr Puls allmählich wieder.

Mit zittrigen Händen drückte Gillian den Knopf für den Fahrstuhl. Immer noch hatte sie das lachende Gesicht des kleinen Robbie vor Augen, und es gelang ihr einfach nicht, das Bild aus ihrem Kopf zu verbannen. Wieder einmal überfiel sie das beklemmende Gefühl, als Frau versagt zu haben. Bitterkeit erfüllte sie. War es etwa gerecht, dass die eine Frau sich an einem glücklichen gesunden Kind erfreuen durfte, während der anderen dieses Glück versagt blieb?

Es war schon seltsam: Was ihr am stärksten wehtat, war gar nicht der Umstand, dass Bryce sein Leben neu geordnet hatte.

Mit einer anderen Frau.

Und mit einem kleinen blonden Engel, der fast genauso aussah wie Bryce auf alten Kinderfotos.

Es war vielmehr die Tatsache, dass allen Befreiungsversuchen zum Trotz ihre Vergangenheit immer noch wie ein Bleiklotz an ihr hing und sie hilflos mitansehen musste, wie die Welt sich ohne sie weiterdrehte.

4. KAPITEL

Nur drei Tage später stand Gillian wartend in der Abfertigungshalle des Flughafens. Sie fragte sich insgeheim, ob Bryce überhaupt auftauchen würde. Wie vermutet, war es relativ leicht gewesen, Flugtickets zu bekommen – natürlich zu einem stark überhöhten Festtagspreis. Das Packen hatte sich als deutlich schwieriger erwiesen, denn auf den Motorschlitten, die sie auf dem letzten Stück ihrer Reise benutzen würden, war nur Platz für das Allernotwendigste.

Ein bisschen fühlte Gillian sich wie das Michelin-Männchen – so dick eingemummelt in mehrere Lagen Winterkleidung, dass sie sich kaum bewegen konnte. Sie öffnete den Reißverschluss ihres Mantels. Darunter trug sie einen weiten flauschigen Pullover und dicke Jeans, die sie über ein Paar lange rosa Unterhosen gezogen hatte.

Ihr Handy klingelte. Sie nahm das Gespräch an, in der Befürchtung, Bryce wolle in letzter Minute absagen. Doch zu ihrer Erleichterung erkannte sie trotz des Umgebungslärms sofort die Stimme ihrer Schwester Stella.

„Nein, er ist noch nicht da“, erklärte sie.

Sosehr sie sich auch im Moment über Bryce ärgerte, sie hatte dennoch nicht die geringste Lust, hier auf dem überfüllten Flughafen schon wieder mit ihrer Schwester zu diskutieren. Stella konnte nicht verstehen, warum ihr Exschwager nicht einfach abgelehnt hatte, sich in ihre Familienangelegenheiten hineinziehen zu lassen. Sie gingen ihn nichts an, jetzt, wo er nicht mehr dazugehörte. Nicht auszudenken, welch endloses Gezänk die Folge wäre, wenn Stella jemals dahinterkäme, dass Gillian ihn von ebendiesem Schritt abgehalten hatte.

„Immer noch derselbe“, giftete ihre Schwester. „Egoistisch wie eh und je. Er lässt alle Welt auf sich warten, weil sein Terminkalender übervoll ist.“

„Er wird schon kommen, keine Sorge.“

Das sollte zuversichtlich klingen – auch wenn Gillian selbst es nicht war. Natürlich war es möglich, dass Vi in letzter Minute beschloss, Bryce lieber zu Hause zu behalten. Gern sah sie es sicher nicht, dass er mehrere Tage mit seiner Exfrau zusammen sein würde, auch wenn sie nichts zu befürchten hatte. Sowohl Gillian als auch Bryce wünschten sich nichts sehnlicher, als nach dieser Reise endgültig getrennte Wege zu gehen.

„Schwesterchen, wann hörst du endlich auf, dich auf Männer im Allgemeinen und Bryce im Besonderen zu verlassen?“, fragte Stella. „Ich begreife wirklich nicht, wie du erwarten kannst, dass er dir zuliebe seine ach so wichtige Arbeit liegen lässt. Noch dazu so kurzfristig und wo ihr doch geschieden seid. Als ihr noch verheiratet wart, wäre ihm das jedenfalls nicht eingefallen. Dabei hätte dir das damals sehr viel bedeutet.“

Es bedeutete ihr auch jetzt noch viel, aber das behielt sie lieber für sich. Stella meinte es sicher gut, doch ihr ständiges Genörgel ging Gillian auf die Nerven. Sie wünschte, ihre Schwester würde sich ihre Predigten sparen und sie in Ruhe lassen. Die Reise, die vor ihr lag, weckte schon genügend schmerzliche Erinnerungen, auch ohne dass jemand Salz in alte Wunden rieb.

Sie schwieg, aber nicht einmal das nahm Stella den Wind aus den Segeln. Bryce hatte sie einmal mit einem Terrier verglichen, der nicht mehr loslässt, wenn er sich festgebissen hat.

„Ach, eh ich es vergesse: danke für die Geburtstagskarte!“ Gillian hoffte, so das Thema wechseln zu können. Stella hatte Fehler, keine Frage, aber sie zweifelte trotzdem nicht daran, dass deren Sorge um die jüngere Schwester echt war. Trotzdem war Gillian erleichtert, als ein zweiter Anrufer anklopfte und ihr einen Grund gab, das Gespräch schnell zu beenden.

Diesmal war es das Büro. Das kam nicht überraschend. Ihre Kollegen hatten zwar versprochen, in ihrer Abwesenheit für sie einzuspringen, aber sie galt als ziemlich unabkömmlich. Da sie ihren Kunden das Gefühl vermittelte, immer ganz persönlich und ausschließlich für sie engagiert zu sein, waren diese verwöhnt. Deshalb war es viel komplizierter gewesen, über die Feiertage freizunehmen, als sie es Bryce gegenüber eingestanden hatte.

Trotzdem war sie überwiegend sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Abgesehen von dem guten Gefühl, finanziell unabhängig zu sein, machte es ihr einfach Spaß, für jeden Kunden das hundertprozentig passende Haus zu finden. Besonders gern verhalf sie jungen Paaren zum ersten gemeinsamen Heim. Gerade die wussten es sehr zu schätzen, dass Gillian ihnen nebenher kostenlose Einrichtungstipps gab.

Leider zeigte sich ausgerechnet in ihrer minimalistisch eingerichteten Wohnung nichts von ihrer innenarchitektonischen Begabung, aber selbst das hatte einen Vorteil: Sie musste niemanden bitten, in ihrer Abwesenheit die Blumen zu gießen oder sich gar um ein Haustier zu kümmern.

Ihr Job half ihr, die Schmerzen zu betäuben, die der Verlust ihres Kindes und die Scheidung ihr zugefügt hatten. Trotzdem war Gillian dankbar für die unverhoffte Erholungspause. Nur schade, dass ihr Urlaubsziel keine Trauminsel in den Tropen war, sondern ausgerechnet der Ort, der sie in ihre Kindheit zurückversetzen würde.

„Becky hat von mir alle Unterlagen für den Vertrag mit McVee bekommen“, beruhigte Gillian ihren Chef, bevor sie das Gespräch beendete. Die Sekretärin, die es versäumt hatte, ihn zu informieren, tat ihr leid. Sie würde was zu hören bekommen. Der Chef stand auch schon an den wenigen Tagen, an denen alles reibungslos lief, immer kurz vorm Herzinfarkt.

Ihr Flug war bereits aufgerufen worden, und sie eilte zum Flugsteig. Den Angestellten, dem sie ihr Ticket reichte, fragte sie: „Wie stehen die Aussichten auf eine Verspätung?“ Gleichzeitig schaute sie zum tausendsten Mal auf ihre Armbanduhr.

„Es spricht nichts dagegen, dass der Flug pünktlich startet. Aber Sie wissen sicherlich, was man über das Wetter in Wyoming sagt: Wenn es dir nicht gefällt, warte eine Viertelstunde. Es wird sich ändern.“

Gillian seufzte innerlich. Was für das Wetter von Wyoming galt, traf auch auf die Männer zu … Im selben Moment entdeckte sie Bryce, der sich im Laufschritt dem Flugsteig näherte. Sie war zutiefst erleichtert. Zugleich aber beschleunigte sich ihr Puls, und sie fühlte sich plötzlich wie eine Sechzehnjährige beim ersten Rendezvous. Einerseits ärgerte sie das, andererseits konnte sie vermutlich froh sein, dass sie überhaupt noch Gefühle aufbrachte.

Lange Zeit hatte sie nichts empfunden außer Schmerz, und sie hatte jeden, der ihr emotional zu nahe zu kommen drohte, schroff zurückgestoßen.

Sämtliche Frauen in der Nähe reckten die Hälse, um einen Blick auf den gut aussehenden Mann werfen zu können, der neben ihr stehen blieb. Gillian musste sich zur Ordnung rufen. Bryce gehörte nicht mehr zu ihr. Der Besitzerstolz, der sich sofort in ihr gemeldet hatte, war völlig fehl am Platze. Sie reichte ihm wortlos und mit vorwurfsvollem Blick sein Ticket. Er hingegen hielt es nicht für nötig, sein Zuspätkommen zu erklären oder sich gar dafür zu entschuldigen, und das ärgerte sie nur noch mehr.

In der kleinen Propellermaschine zwängte Gillian sich auf ihren Fensterplatz. Um dem Blickkontakt mit Bryce auszuweichen, schaute sie nach draußen, wo Männer in dicken Overalls die Flügel der Maschine enteisten. Das trostlose Grau des Flugfeldes passte nur zu gut zu ihrer Stimmung.

„Immer noch nervös beim Fliegen?“, fragte Bryce, als er neben ihr Platz nahm.

Sie nickte. Früher hatte er beim Start stets ihre Hand gehalten. „Der Start ist das Unangenehmste.“

„Jeder Start ist besser als eine holprige Landung“, meinte Bryce.

Die Hände um die Armlehnen verkrampft, fragte Gillian sich, ob seine Bemerkung sich nicht eher auf die Bruchlandung ihrer Ehe bezog als auf die bevorstehende Landung in Jackson Hole.

„Ladies und Gentlemen, willkommen an Bord“, begrüßte sie eine Männerstimme über die Sprechanlage. „Unsere Reiseflughöhe wird bei etwa 8500 Metern liegen. Die Temperatur in Jackson Hole beträgt derzeit minus elf Grad. Da die Flugzeit sehr kurz ist, schlage ich vor, während des gesamten Fluges die Sicherheitsgurte angelegt zu lassen.“

Nach dem Anschnallen legte Bryce beruhigend seine Hand auf Gillians Oberschenkel. Die Berührung brannte wie Feuer, trotz der vielen dicken Lagen Kleidung, die sie trug. Gillian löste die Umklammerung ihrer Finger erst von den Armlehnen, als nach dem Start das Fahrwerk eingeholt wurde. Hoffentlich hatte Bryce nicht bemerkt, wie sehr sie sich verkrampft hatte.

„Danke“, murmelte sie.

„Gern geschehen.“ Bryce lächelte sie an, und sie fragte sich, ob er auch merkte, wie es zwischen ihnen knisterte.

Gillian verscheuchte den Gedanken, bevor er sich festsetzen konnte. Sie legte die Hände in den Schoß, damit sie nicht gar zu offensichtlich zitterten, und schaute angelegentlich aus dem Fenster.

Schneezäune zogen ein Gewirr dunkler Linien über die weite Ebene von Wyoming. Von hier oben sah die Landschaft fast so aus wie die arktische Tundra von Alaska. Die ersten Siedler hatten es sehr schwer gehabt, und Gillian konnte sich ihre Lebensbedingungen kaum vorstellen.

Bryce kam mit einem anderen Passagier ins Gespräch. Es ärgerte Gillian, wie viel lockerer er mit Wildfremden plaudern konnte als mit ihr. Gegen Ende ihrer Ehe war es ihnen schon schwergefallen, auch nur simple Höflichkeitsfloskeln auszutauschen. Echte tiefgehende Gespräche hatte es längst nicht mehr gegeben. Da waren sie also wieder – die schrecklichen Gefühle, die sie während der Scheidung durchlitten hatte. Genau davor hatte sie sich gefürchtet, als sie beschloss, Bryce aufzusuchen.

Gillian hatte Angst, in die Einsamkeit der endlosen Weiten Wyomings zurückzukehren. Alles dort würde sie an längst vergangene Tage erinnern. Vor Kurzem hatte sie noch geglaubt, sie könne der Vergangenheit davonlaufen, aber jetzt war sie nicht mehr so sicher.

Die Scherben ihres Lebens ließen sich nicht so einfach kitten. Doch mit dem Blick von hier oben eröffnete sich ihr unerwartet eine neue Perspektive: Vielleicht wäre es besser gewesen, am Ort ihrer Kindheit zu bleiben, statt in eine andere Welt zu fliehen.

Die Grand Tetons tauchten am Horizont auf, eine Gebirgskette, die an die Alpen in Europa erinnerte. „Darf ich auch mal sehen?“, fragte Bryce.

„Natürlich.“

Sie bedauerte ihre Antwort sofort.

Sein warmer Atem streifte ihre Wange, als er sich über Gillian beugte. Er duftete schwach nach Zimt-Kaugummi. Und ihr wurde leicht schwindlig bei dem Gedanken daran, dass sie Bryce früher bedenkenlos geküsst hatte, wann immer ihr danach gewesen war. So wie jetzt.

Vergiss es!

„Hat dein Vater eine Vorstellung davon, wie sehr der Wert seiner Ranch in den letzten Jahren gestiegen ist?“, fragte Bryce. Offenbar machte ihm die körperliche Nähe nichts aus.

„Ich glaube nicht.“

Gillian wollte nicht über den finanziellen Wert der Ranch sprechen. Es machte sie traurig, über einen Verkauf ihres Elternhauses nachzudenken. Mochte es sich wirtschaftlich auch noch so sehr lohnen – der Wert mancher Dinge ließ sich nicht in Dollar und Cent bemessen.

Jackson Hole bot von hier oben einen überraschenden Anblick. Ausläufer der Stadt drangen bereits in die Wildnis vor, die an das schneebedeckte Tal am Fuß der majestätischen Berge grenzte. Da unten entstanden Luxusvillen am laufenden Band und verwandelten das schlichte, verträumte Städtchen ihrer Kindheit in ein zweites Beverly Hills. Der Ort hatte sich genauso dramatisch verändert wie Gillian selbst.

„Vermutlich stehen die meisten der Villen da unten über den Winter leer oder werden höchstens ab und zu für ein Ski-Wochenende genutzt. Schließlich besitzen viele Millionäre gleich mehrere Häuser, mit denen sie protzen können“, bemerkte sie leichthin.

„Ich wette jeden Cent deiner nächsten Maklercourtage, dass deine Schwestern ganz genau wissen, wie viel das Land deines Vaters wert ist.“

Gillian hob abwehrend die Hände. „Können wir die beiden mal eine Weile vergessen?“

„Nichts täte ich lieber, als sie vollständig zu vergessen“, erwiderte Bryce, „aber ich fürchte, das werden sie nicht zulassen. Genauso wenig, wie sie sich aus unserer Ehe heraushalten konnten.“

„Warum gehst du so felsenfest davon aus, dass sie sich die Entscheidung über Dads Schicksal leichter machen als ich?“, stieß Gillian aufgebracht hervor. Sie konnte einfach nicht anders, sie musste ihre Schwestern in Schutz nehmen.

„Vielleicht weil du den alten Herrn genauso liebst, wie ich es tue. Oder zumindest einmal genauso geliebt hast.“

Gillian stieg das Blut in den Kopf. Dieser Mann konnte selbst einen Heiligen dazu bringen, gewalttätig zu werden.

„Wie kannst du es wagen, an meiner Loyalität zu zweifeln?“

Sie hätte noch mehr zu sagen gehabt, aber das Flugzeug sackte plötzlich ab, und sie verstummte.

Der Pilot meldete sich über die Bordsprechanlage: „Es tut mir leid, aber wir sind in Turbulenzen geraten. Verstauen Sie bitte alle losen Gegenstände unter Ihren Sitzen oder in den Gepäckfächern. Legen Sie die Sicherheitsgurte an, und stellen Sie die Rückenlehnen Ihrer Sitze aufrecht. Vielen Dank.“

Hoffentlich war die Lage nicht ernst. Gillian hatte nicht das geringste Verlangen danach, ausgerechnet während eines heftigen Streits mit ihrem Exmann mit dem Flugzeug abzustürzen. Sie sträubte sich nicht, als Bryce seinen Arm beruhigend um ihre Schultern legte. Er hatte bemerkt, wie sehr ihr der Schreck in die Glieder gefahren war, und ihr war klar, dass es sich nur um eine freundliche Geste handelte, nicht mehr. Die sie nichtsdestotrotz lebhaft an unzählige sehr viel zärtlichere Momente zu zweit erinnerte.

Beim Anblick der großen Männerhand auf ihrer Schulter fiel Gillian der schlichte goldene Ehering wieder ein, den sie ihm geschenkt hatte. Innen hatte sie die gleichen Worte eingravieren lassen, die unter dem Bild in seinem Schlafzimmer standen.

Auf ewig.

„Vertrau mir“, sagte Bryce. „Es ist alles in Ordnung.“ Er klang deutlich überzeugender als der Pilot.

Gillian wollte ihm glauben – von ganzem Herzen und genauso, wie sie ihm sein Ehegelübde abgenommen hatte. In ihrem Kopf klangen die Worte so klar und deutlich wie an jenem Tag vor dem Altar der überfüllten Kirche.

In guten wie in schlechten Tagen.

Bis dass der Tod uns scheidet …

Die kleine Maschine sackte erneut ab. Mehrere Passagiere stöhnten laut auf. Gillian ließ sich von der Ruhe und dem gelassenen Blick ihres Exmannes tragen. Diese Augen hatten schon viel gesehen, Träume, die in Erfüllung gegangen waren, Träume, die zerbrochen waren. Sie hatten dennoch nie ihre Strahlkraft verloren.

„Halt durch“, redete er ihr zu und schlos...

Autor

Sandra Steffen
Sandra Steffen ist in einer idyllischen Gegend aufgewachsen, die sie schon im jungen Alter zum Schreiben inspiriert hat. Später heiratete sie ihre Jugendliebe, und gemeinsam bekamen sie und ihr Mann vier Söhne, die Sandras erklärte Helden sind. Inzwischen haben diese ihrer Mutter auch schon bezaubernde Enkel geschenkt, um die sie...
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Kathie De Nosky
<p>Kathie DeNosky stellt ihren Wecker oft auf 2 Uhr morgens, um wenigstens einige Stunden in Ruhe arbeiten zu können, bevor der Rest der Familie erwacht. Während dann in ihrem Büro leise Countrymusik erklingt, schreibt sie an ihren Romances, denen eine ganz besondere Mischung aus Sinnlichkeit und Humor zeigen ist. Sie...
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