Bedrohliche Gefühle

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Ein Roman über Leidenschaft und den Kampf ums Überleben

Ben Jernigan lebt abgeschieden auf einem Berg und kommt nur ins Tal, um sich Vorräte zu kaufen. Er möchte keinen Kontakt zu anderen Menschen, doch die schüchterne Sela Gordon hat es ihm angetan. Gegen seinen Willen muss er immer wieder an die schweigsame Frau denken. Sela wiederum würde nur zu gerne mehr über den gutaussehenden Exsoldaten wissen, doch als er das erste Mal mit ihr redet, warnt er sie vor einer herannahenden Katastrophe. Sie kann sich nicht vorstellen, dass Ben mit seiner Voraussage recht haben könnte, beginnt aber Vorräte zu kaufen. Als es zur Katastrophe kommt, ist Sela bewaffneten Banden ausgeliefert. Ob Ben die schöne Sela retten kann?

»Eine brennende Leidenschaft. Beängstigend realistisch.« - Publishers Weekly


  • Erscheinungstag 24.08.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751956
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Widmung

Unser besonderer Dank gilt Fran Troxler, die uns kreuz und quer durch Cove Mountain und durch die stillen Straßen von Wears Valley gekarrt hat und dabei unsere sämtlichen Fragen über die Gemeinde beantwortete. Sie kennt sich dort wirklich aus! Die Troxlers sind ein Riesenschatz für das Tal. Vielen Dank, Fran und David, für alles, was ihr für uns getan habt. Wir wissen das sehr zu schätzen.

1. Kapitel

Gleich das erste Alarmsignal seines Computers riss Ben Jernigan aus dem Schlaf. Er war auf den Beinen und stand vor dem Laptop, noch bevor er richtig wach war. Das lag ihm nach einem gefühlt lebenslangen Training im Blut. Er rieb sich das Gesicht und knipste eine Lampe an, während er versuchte, die Information zu entziffern, die in winziger Schrift über den Bildschirm flimmerte. Mit einem leisen Unmutslaut vergrößerte er den Ausschnitt – und fluchte da-
raufhin lautstark.

Keine zehn Sekunden nachdem er zu lesen begonnen hatte, klingelte sein Handy. Es gab nur sehr wenige, die diese Nummer kannten, und jeder Anruf, der um … Er warf einen Blick auf seinen Wecker … 2:43 Uhr in der Nacht kam, musste wichtig sein.

»Ja«, grunzte er in dem Versuch, halbwegs annehmbar zu klingen. Nach dem abrupten Erwachen schoss das Adrenalin durch seine Venen, alle Muskeln waren angespannt, der Blick geschärft, und die Gedanken rasten. Auch wenn seit über zwei Jahren niemand mehr auf ihn geschossen hatte, reagierte sein vegetatives Nervensystem noch immer prompt.

»Hast du das gelesen?« Die Stimme gehörte Cory Howler, einem alten Kumpel aus der Militärzeit, der jetzt für die Regierung tätig war. Aus seiner etwas undurchsichtigen Jobbeschreibung war zu folgern, dass er jede Menge schmutziger Details kannte. Solche Leute waren für jede Organisation von unschätzbarem Wert, egal wie viel oder wie wenig Macht diese hatte.

»Ja. Details?«

»Heftiger als Carrington.«

»Verdammt.«

Beim Carrington-Ereignis von 1859 war es zu einer Serie von starken Sonneneruptionen gekommen, in deren Folge Telegrafendrähte geschmolzen und einige Telegrafenbüros in Flammen aufgegangen waren. Die Kommunikationstechnologie war im 19. Jahrhundert noch auf Telefon und Telegramme beschränkt gewesen. Inzwischen stützte sich das moderne Leben auf Computer, und die Schäden bei einem vergleichbaren Sonnensturm wären unkalkulierbar. Satelliten würden schmelzen, die Stromnetze – die meisten jedenfalls, einige waren extra stark gesichert – würden ausfallen, die Benzinvorräte wären bald aufgebraucht, da die Pipelines zerstört würden, Lebensmittelvorräte gingen zu Ende, und in den Städten bräche die Hölle los.

Schwächere koronale Massenauswürfe, sogenannte KMAs, die fast täglich vorkamen, hatten kaum Auswirkungen auf die neuen Technologien. Aber diese leichten Magnetstürme waren nichts im Vergleich zu dem, was kommen sollte.

»Wann?«

»Etwa in sechsunddreißig Stunden. Wir hätten es früher erfahren sollen, um mehr Vorbereitungszeit zu haben, aber einer der geostationären Satelliten ist wegen Wartung ausgefallen. Oder er hat nicht funktioniert, und sie wollen es nicht zugeben. Schlechtes Timing«, fügte Howler trocken dazu. Leichte Untertreibung, wenn man bedachte, welche Katastrophe bevorstand. »Es kommt eine ganze Serie, wir haben bisher vier beobachtet. Die erste wird in ungefähr zwölf Stunden den Fernen Osten treffen, aber die danach sind noch stärker, umfassender und schneller. Der Mittlere Osten und Europa werden draufgehen.«

Ben war die Betonung auf »bisher« nicht entgangen. Sie erwarteten mehr als vier. Die vierte würde auf den Atlantik treffen und Baseball mit den noch auf See befindlichen Schiffen spielen, aber jeder darauf folgende KMA träfe auf den amerikanischen Kontinent und würde einen weltweiten buchstäblichen Shitstorm auslösen. Die Sache mit KMA-Serien war, dass die erste, sozusagen kosmisch gesprochen, den Weg ebnete, sodass die folgenden an Intensität und Geschwindigkeit gewannen.

»Was hast du geplant?«, wollte Ben wissen, denn Howler hatte eine Familie, um die er sich kümmern musste.

»Ich werde dafür sorgen, dass meine Frau mit den Kindern sofort die Sachen packt und Richtung Süden fährt. Sie sollen aus der Stadt raus und so weit in den Süden wie möglich.«

Ben grummelte seine Zustimmung. Im Süden würde es leichter sein zu überwintern.

»Was ist mit dir?«

»Ich bereite mich auch zum Aufbruch vor, muss aber noch die nächsten zwölf Stunden oder länger hierbleiben. Später treffe ich mich mit Gen und den Kindern. Wir wollen uns verbarrikadieren und versuchen zu überleben. Ich schätze, es wird fast ein Jahr dauern, bevor die Stromnetze wieder funktionieren.«

Das war eine optimistische Einschätzung, aber nicht vollkommen daneben. »Wird es eine Warnung geben?« Ben ging nicht davon aus. Wahrscheinlich würden ein paar Neurotiker in der Regierung die führenden Köpfe davor warnen, eine »Panikwelle in den Straßen« auszulösen. Sie würden alle davon überzeugen, dass es wichtiger wäre, diese Panik zu verhindern, als die Bevölkerung Vorbereitungen treffen zu lassen. Andererseits war nicht nur die Regierung in der Lage, die Katastrophe vorherzusehen. Die Nachricht würde sich ausbreiten, und früher war besser als später.

»Ist in Vorbereitung«, erwiderte Howler. »Angeblich geht sie früh am Morgen raus, aber ich wette, da passiert nichts vor heute Nachmittag. Die Schwachköpfe glauben vielleicht, es wäre falscher Alarm, und warten, bis Japan untergegangen ist. Du weißt ja, wie das läuft.«

Das tat er, leider. »Dann mach’s gut, wir sehen uns!«

»Pass auf dich auf, Alter.«

Ben beendete den Anruf und zog sich an. Auch wenn er größtenteils autark war, gab es immer noch Vorkehrungen, die er treffen konnte, um seine Ausgangsposition zu verbessern – Vorräte aufstocken und Sicherheitsmaßnahmen könnten nicht schaden. Er musste auch seine Solarzellen schützen. Sein Funkgerät wäre nach dem KMA für eine Weile wegen der atmosphärischen Störungen nutzlos, aber er sollte das Gerät so präparieren, dass es wieder funktionierte, sobald die Störungen vorbei wären. Genauso musste er seinen Generator in Sicherheit bringen und mit Propangas auffüllen, außerdem Benzinvorräte für seinen Truck und seinen ATV-Quad herschaffen.

Es war unmöglich, genug Benzin zu besorgen, um damit über den gesamten Zeitraum auszukommen. Das ganze Desaster würde nicht so schnell vorüber sein. Militär und Regierung hatten jahrzehntelang den Kopf in den Sand gesteckt und beschlossen, aufgrund der hohen Kosten nichts zu unternehmen, immer in der Hoffnung, dass der katastrophale Magnetsturm die Erde nicht treffen würde – zumindest nicht in ihrem Leben. Und jetzt hatten einige von ihnen Pech. Die Sonne bestimmte den Ablauf, und sie hatte gerade eine Energie von der Stärke Tausender Nuklearwaffen auf die Erde geworfen – ohne radioaktive Explosionen, aber mit einer enormen Zerstörung.

Wissenschaftler, die dafür bezahlt wurden, sich mit solchen Vorkommnissen und deren möglichen Folgen zu befassen, hatten vorhergesagt, dass sich die weltweite Sterblichkeitsrate nach dem ersten Jahr auf etwa neunzig Prozent belaufen würde. Ben glaubte nicht, dass es so schlimm kommen würde, denn die Menschen waren einfallsreicher, als die Regierenden es ihnen zugestehen wollten.

Im Moment, noch Stunden vor Tagesanbruch, konnte er nicht viel tun. Schlafen war aber auch unmöglich. Also ging er in die Küche und kochte sich Kaffee. Er überprüfte die Wärmebildkamera seiner Überwachungsanlage, um zu sehen, ob sich in seinem Garten oder vielleicht sogar auf der Terrasse Bären herumtrieben. Bären zu begegnen war hier im Osten der Tennessee-Berge etwas Alltägliches, und er gönnte den Tieren das Wegerecht.

Ben entdeckte ein paar kleinere Flecken, Vögel und wahrscheinlich einen Waschbären, aber nichts in Schwarzbärengröße. Er nahm eine Dose Bärenabwehrspray, eine geladene Pistole und seine Kaffeetasse mit auf die Veranda, von der aus er über das Tal sehen konnte. Nur weil gerade kein Bär da war, hieß das noch lange nicht, dass sich keiner mehr blicken ließ.

Ben setzte sich in seinen Schaukelstuhl, streckte die Beine aus und legte seine Füße, die in Stiefeln steckten, auf das Terrassengeländer, nippte an seinem Kaffee und beobachtete die blinkenden Lichter von Wears Valley tief unter sich.

Er lebte nun seit fast zwei Jahren hier oben. Ein Kumpel vom Militär, der aus dieser Gegend stammte, hatte ihn hierher in die Berge geführt, um ihm das Haus zu zeigen. Und trotz Bens ursprünglicher Absicht, sich irgendwo eine kleine Hütte zu bauen, hatte er sich sofort darum bemüht. Er hatte etwas Kleineres im Auge gehabt, aber der Ort, hoch oben am Cove Mountain, war ideal. Der Feldweg, der hier heraufführte, war so steil, dass normale Personenwagen ihn nicht passieren konnten, und selbst die meisten Pick-up-Trucks kamen nicht bis hierher, es sei denn, ihr Fahrgestell lag so hoch, dass sie über den Felsstein fahren konnten, den Ben als Abschreckung in die Mitte des Wegs gerollt hatte. Er hätte auch eine Metallkette über den Pfad spannen können, aber dann müsste er jedes Mal aus- und einsteigen und das Schloss auf- und zuschließen, wenn er sein Haus verließ und zurückkam. Er würde sich hauptsächlich selbst das Leben schwer machen. Es trauten sich nicht viele Leute hier hoch.

Ben war gern allein, so fühlte er sich wohler. Nach jahrelangem Kämpfen und Verhandeln mit Bürokraten, die von nichts eine Ahnung hatten, aber dennoch die Entscheidungsmacht über Leben und Tod besaßen, was ihn und seine Männer betraf, reichte es ihm. Er war ausgestiegen, und jetzt wollte er verdammt noch mal in Ruhe gelassen werden.

Das bedeutete, dass er ständig entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergriff. Im Haus hatte er ein exzellentes Sicherheitssystem installiert, mit Monitoren und Warnsignalanlage. Ben meinte es ernst damit, die Leute auf Abstand zu halten. Einige Male waren ein paar neugierige Nachbarn bis hierher hochgewandert – oder Touristen, das konnte er nicht unterscheiden, weil er seine Nachbarn nicht kannte, wenn man jemanden, der über zwei Kilometer entfernt wohnte, überhaupt als »Nachbarn« bezeichnen konnte. Sein Bewegungsmelder hatte ihn in dem Moment alarmiert, als sie um die Biegung gekommen waren und die weite Ebene betreten hatten, auf der sein Haus stand. Er war mit seinem schussbereiten Gewehr über dem Arm auf die Veranda gekommen. In keinem Fall hatte er auch nur ein Wort sagen müssen. Der Anblick dieses großen kräftigen Mannes mit dem finsteren Gesichtsausdruck und der Knarre in der Hand hatte gereicht, um die Eindringlinge von seinem Grundstück zu vertreiben.

Deshalb war er hierher in die Berge von Tennessee gezogen – um in der Morgendämmerung auf seiner Terrasse zu sitzen, den Nachtvögeln zu lauschen, dem Rauschen der Blätter in den Bäumen, ohne einen Menschen irgendwo in der Nähe. Er litt unter keiner posttraumatischen Belastungsstörung – keine Albträume, keine quälenden Flashbacks, kein Angstschweiß. Womöglich würde ihm irgendein Seelenklempner erzählen, dass seine übertriebene Menschenscheu eine Form von PTBS wäre, aber das war eben ihre Aufgabe: eine Diagnose stellen, um ihren Job zu rechtfertigen. Was Ben betraf, würde wohl jeder, der noch richtig im Kopf war und sich jahrelang mit solchen idiotischen Bürokraten herumgeschlagen hatte, genauso reagieren.

Es war nicht so, dass er niemanden hier kannte, immerhin waren ihm die Namen einiger Leute aus der Gegend geläufig. Weil es nicht zu vermeiden war, hatte er schon ein paar Bewohner im Tal getroffen. Die Leute wollten immer mit einem reden, selbst wenn er seine Antworten auf ein unwilliges Brummen beschränkte. Das war der einzige Nachteil hier in dieser Gegend: Die Südstaatler waren sehr gesellig und plauderten gern. Er wollte aber nicht angesprochen werden. Ein älteres Ehepaar, dem er vor Kurzem begegnet war, hatte ihn sogar zum Essen eingeladen. Alten Leuten zu entkommen war fast so schwierig, wie einem Hinterhalt auszuweichen, sie waren einfach zu beharrlich mit ihren freundlichen Angeboten. Er hatte sich gefühlt, als würde ihm die Haut abgezogen werden, und hatte nur noch in Deckung gehen wollen.

Ben war keiner einzigen Frau begegnet, von der er sich auch nur im Entferntesten angezogen fühlte. Belüg dich nicht selbst, meldete sich sofort sein Unterbewusstsein. Sela Gordon, die Besitzerin der Tankstelle mit dem kleinen Laden am Highway, war ihm durchaus aufgefallen. Sie war schweigsam, bombardierte ihn nicht mit Fragen und versuchte nie, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln. Er konnte den Shop betreten und ein paar Sachen einkaufen, ohne sich bedrängt zu fühlen. Vielleicht war sie ein bisschen schüchtern, denn sie redete auch nicht besonders viel mit den anderen Kunden. Schüchtern war gut. So würde sie sich in seiner Gegenwart nie entspannt genug fühlen, um ein Gespräch anzufangen.

Sie war schlank, brünett, mit hellbraunen Augen und gerade genug Rundungen, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass sie eine Frau war. Einen Ehering trug sie nicht – oder überhaupt irgendwelche Ringe. Wenn sie ihn nicht ansah, was die meiste Zeit der Fall war, während er sich im Laden aufhielt, erlaubte er sich, sie zu betrachten, auch wenn er sorgfältig darauf bedacht war, sich dabei nicht erwischen zu lassen. Das war das erste Mal in den vergangenen drei Jahren, dass sein Schwanz ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte.

Grübelnd beobachtete Ben ein einzelnes Fahrzeug tief unten im Tal, dessen Frontscheinwerfer sich von links nach rechts vorwärts bewegten. Okay, vielleicht hatte er ja doch eine Art PTBS. Noch vor einigen Jahren hätte er sich an Sela Gordon herangemacht und versucht, bei ihr zu landen. Die Tatsache, dass ihm der nicht vorhandene Ehering aufgefallen war, sagte eine Menge. Trotzdem konnte sein vorsichtiges Interesse nicht über das erheblich stärkere Bedürfnis nach Alleinsein siegen.

Die Menschen unten im Tal schliefen noch friedlich, die meisten jedenfalls. Vielleicht gab es ein paar, die unruhig auf das Anbrechen des Tages warteten so wie er. Womöglich war da unten sogar jemand, der im Internet die geomagnetische Vorhersage der Klimabehörde NOAA verfolgte, so wie Ben. Aber das bezweifelte er. Ihr Leben würde sich in Kürze drastisch verändern. Seines weniger. Seine Einkommensquelle würde versiegen, wenn die Sonnenstürme eintrafen, er könnte keine Kolumnen mehr für Survival-Magazine schreiben. Seine Militär-Pension würde sich auf seinem Konto anhäufen, bis Regierung und Banken wieder zu arbeiten anfingen. Aber Fakt war, dass auch keine Rechnungen bezahlt werden mussten, da weder Läden noch Ämter geöffnet haben würden. Essen konnte er das, was er anbauen oder erjagen würde. Als zusätzliche Absicherung hatte er ohnehin einen Vorrat an gefriergetrockneten Lebensmitteln für ein Jahr im Keller. Er besaß Konserven, und er hatte reichlich Munition gelagert, um Haus und Nahrung verteidigen zu können.

Wenn die Wissenschaftler recht hatten und nur zehn Prozent der Weltbevölkerung die kommende Katastrophe überleben würden, dann wollte er zu diesen zehn Prozent gehören.

Für einen Wochentag war ziemlich viel los gewesen. Sela Gordons Tankstelle lag direkt am Highway 321 und lief generell nicht schlecht. Auch wenn sie mit ihrem Laden nicht reich wurde, konnte sie aber ganz gut davon leben. Die Zapfsäulen standen vor der Tür auf einem kleinen Parkplatz. Im Laden hatte sie sieben Regalreihen voll mit dem üblichen Zeug. Niemand machte bei ihr seine normalen Einkäufe, aber wenn den Leuten aus dem Tal ein paar Dinge ausgingen und sie nicht den ganzen Weg zur Stadt fahren wollten, dann kamen sie hierher. Tante Carol nannte das Geschäft den »Klopapier-und-Sandwich-Laden«, und da lag sie nicht ganz falsch. Doch Sela verkaufte auch Chips, Kekse, Müsli und Lebensmittelkonserven, und sie hatte eine kleine Abteilung mit Gewürzen und Salz und Zucker. In einer Regalreihe standen rezeptfreie Medikamente, Verbandszeug, Pflaster und Hygieneartikel. Der schmale bis zur Decke reichende Kühlschrank war mit Bier, Limonade und Säften gefüllt. Sie hatte auch eine Zeit lang Milch verkauft, aber die lief nicht so gut, dass es sich lohnte, dafür Platz zu machen. Beim Preis konnte sie nicht mit den Supermärkten in der Stadt mithalten, und die Haltbarkeit war zu kurz. Jetzt lagerte sie stattdessen Milchpulver und einige Büchsen Kondensmilch, die sie hauptsächlich im Sommer verkaufte, wenn die Leute sie für selbst gemachtes Eis benutzten.

Mit den Bewohnern von Wears Valley und den Touristen, die entweder ein paar Tage blieben oder auf dem Weg von Pigeon Forge und Gatlinburg vorbeifuhren, hatte sie genug Kunden, um über die Runden zu kommen. Sie würde nie einen Privatjet besitzen oder sich ein eigenes Ferienhaus kaufen, aber es war okay, und okay reichte ihr.

Carol behauptete, dass Sela ihr kleines Geschäft mochte, weil es ihr Sicherheit gab, und auch da lag sie richtig.

Risiken eingehen, ob privat oder geschäftlich, war was für Leute, die einen Adrenalinkick brauchten. Sela gehörte nicht dazu.

Ein großer grauer Pick-up mit hohem Fahrgestell fuhr vor und parkte vor einer der Zapfsäulen. Die meisten Wagen der Einheimischen kannte sie, und dieser gehörte dazu. Ben Jernigan kam nicht allzu oft her, aber ab und zu hielt er an, um zu tanken, und manchmal kaufte er Bier und Müsli bei ihr – aber sie erkannte ihn sofort wieder, denn es war unmöglich, sich nicht an ihn zu erinnern. Der Mann war genauso beeindruckend wie sein Truck. Er war hochgewachsen, über eins fünfundachtzig, und seine imposanten Muskeln zeichneten sich unter den engen Baumwoll-T-Shirts ab, die er immer trug. Seine Arme sahen hart und gestählt aus und waren mit einigen Tattoos verziert, seine Hände wirkten kräftig und rau und wiesen einige Narben auf, und meist sah er aus, als bräuchte er eine Rasur. Fast immer trug er eine Sonnenbrille, doch wenn er den Laden betrat, schob er sie hoch, und in seinen hellgrünen Augen lag ein so abweisender, kühler Ausdruck, dass sein Blick wie ein Laserstrahl wirkte. Sie versuchte, freundlich zu ihren Kunden zu sein, auch wenn sie keine extrovertierte Person war, aber bei ihm gelang ihr nicht einmal das. In seiner Gegenwart blieb sie stumm und still wie ein verschrecktes Kaninchen, das hoffte, nicht vom Wolf entdeckt zu werden.

Sie mochte keine Tattoos, aber solche Arme hätte sie sich nicht ohne Tätowierungen vorstellen können. Ihre inneren Alarmglocken klingelten leise bei der Erkenntnis, dass sie sich so viele Gedanken über seine Arme machte.

Immer wenn er den Laden betrat, begann ihr Herz wild zu pochen und beruhigte sich erst wieder, nachdem er schon eine Weile wieder draußen war. Wirklich, wie ein verschrecktes Kaninchen.

Sie beobachtete, wie er aus dem Truck stieg und zur Zapfsäule ging. Auf einmal blieb er stehen und warf einen Blick zum Laden. Sela senkte schnell die Lider, obwohl sie bezweifelte, dass er sie von dort aus hinter den Schaufenstern erkennen konnte. Aber sie wollte kein Risiko eingehen, nicht dass er glaubte, sie würde ihn beobachten, auch wenn sie das tat. Als forsch würde sie sich nicht unbedingt beschreiben.

Jernigan drehte sich um und kam jetzt auf den Ladeneingang zu.

Wie auf Kommando begann ihr Herz laut zu hämmern. Sela konzentrierte sich auf die Rechnungen, die auf der Theke lagen, obwohl es sie reizte, ihn anzusehen. Welcher Frau würde es nicht so gehen? Und eine Frau war sie definitiv, wenn auch keine besonders abenteuerlustige.

Die Türglocke klingelte, und Ben lief ohne ein Wort an ihr vorbei. Sie hätte ihn gern gefragt, warum er nicht getankt, aber den Truck vor der Zapfsäule hatte stehen lassen, tat es aber nicht. Erst als er an ihr vorbeigegangen war, blickte sie auf und bewunderte seinen muskulösen Rücken, der sich unter seinem braunen T-Shirt abzeichnete. Und da sie schon dabei war, fiel ihr auch wieder auf, wie wunderbar sein muskulöser Hintern in der Jeans aussah. Ihr wurde plötzlich heiß, schnell starrte sie wieder auf die Rechnungen und konzentrierte sich darauf, versuchte es jedenfalls.

Ihre Gedanken rasten und wollten sich einfach nicht mit diesen Papieren beschäftigen. Ben hatte sich auf seinem Weg einen der Einkaufskörbe geschnappt, was ungewöhnlich war. Er kaufte nie viel, jedenfalls nie mehr, als in seine beiden großen Hände passte.

Verdammt. Lief ihr etwa schon das Wasser im Mund zusammen? Tatsächlich! Diese Erkenntnis verwirrte sie. Wenn sie auf einen Mann aus wäre, was definitiv nicht der Fall war, dann wäre Jernigan der Letzte, den sie in Betracht zöge. Sicher, er sah beeindruckend aus, mit diesem muskulösen Körper. Sie warf ihm einen weiteren Blick zu. Diese Arme, der Hintern … wow. Aber er hatte etwas an sich, das »Gefahr, Gefahr« zu schreien schien, und zwar laut kreischend wie der Roboter in dieser alten Fernsehsendung. Sie wusste, dass sie in Panik geraten würde, sollte er sie tatsächlich zu einem Date einladen oder auch nur mit ihr flirten. Eine kluge Frau spürte sofort, wenn sie jemanden vor sich hatte, dem sie nicht gewachsen war.

Jernigan erledigte seine Einkäufe normalerweise schnell und effizient. Er wusste, wo er alles fand, und ging zielsicher darauf zu. Heute aber schien er sich suchend umzusehen, was sehr ungewöhnlich war. Hmm. Er durchstöberte eine Reihe von Regalen, dann die nächste, bis er mit einem gefüllten Korb an die Kasse kam, nicht um zu bezahlen, sondern um alles auszupacken und noch einmal zu den Regalen zurückzukehren.

Toilettenpapier. Aspirin. Dosensuppe. Blaubeer-Pop-Tarts.

Er kam erneut mit einem gefüllten Korb, packte schweigend alles aus und nickte ihr zu. Einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke, und schon rutschte ihr das Herz in die Hose. Seine Augen waren so eindrucksvoll, ein raubtierhaftes Hellgrün, fast schön in diesem Gesicht, das man keinesfalls als hübsch, aber als sehr männlich und so beeindruckend bezeichnen konnte, dass Schönheit keine Rolle spielte.

Wie immer war sie diejenige, die zuerst wegsah. Schweigend nahm sie eine Dose nach der anderen und scannte sie ein.

Sie hätte etwas sagen sollen, vielleicht einfach nur »Hallo«. So etwas machte man, wenn man an der Kasse saß – die Kunden begrüßen, damit sie sich wohlfühlten, vor allem wenn einem der Laden selbst gehörte.

Aber sie brachte nur ein »Noch was?« heraus.

»Für dreißig Dollar Benzin.«

Normalerweise bezahlte er sein Benzin direkt an der Zapfsäule mit der Kreditkarte, ohne dafür extra in den Laden zu kommen. Sie nickte und gab die gewünschte Menge über ihr Computersystem frei.

Dann reichte sie ihm die Rechnung. Er zog seine Geldbörse aus der Jeanstasche und nahm ein paar Scheine heraus, während sie den Einkauf einpackte. Es wurden eine Menge Tüten, und wenn es jemand anders gewesen wäre, hätte sie ihm angeboten, einen Teil der Sachen zum Truck zu tragen. Nicht dass er das nicht allein schaffte, aber wäre er jemand anders, hätte sie es trotzdem angeboten. Sie gab ihm das Wechselgeld heraus, das er sich in die Hosentasche stopfte, bevor er alle Tüten zusammenraffte und zur Tür ging.

Sela atmete erleichtert aus. Was hatte er nur an sich, das sie so aus der Fassung brachte? Sie hoffte, dass sie nicht so oberflächlich war, sich nur von seinem Aussehen beeindrucken zu lassen. Von seinen Muskeln.

An der Tür blieb er kurz stehen, sodass sie sich fragte, ob er Probleme hatte, sie zu öffnen. Sie wollte gerade hinter der Theke hervorkommen und sagte: »Warten Sie, ich mache Ihnen auf«, aber da drehte er sich um und sah sie mit diesem Laserblick an, der sie mitten in der Bewegung innehalten ließ.

»Vielleicht sollten Sie lieber ein paar Vorräte für den Ernstfall zurücklegen, nur vorsichtshalber.«

Ernstfall? Erschrocken blickte Sela durchs Fenster nach draußen in der Erwartung von Sturmwolken oder etwas in der Art. Aber es war ein typischer Septembertag, blauer Himmel vor grün bewachsenen Bergen, immer noch heiß, keine Anzeichen von einem Orkan, der den Golf heraufwütete und mit heftigen Regengüssen über die Region hereinbrach. Schneestürme waren erst in Monaten zu erwarten. Also …?

»Es war noch nicht in den Nachrichten«, fuhr er fort. Seine Stimme war tief, ein bisschen rau, so als würde er nicht viel reden und müsste sich erst mal räuspern. »Aber in ein paar Stunden wird es offiziell durchgegeben, vielleicht auch erst morgen früh, kommt drauf an, wie kompetent die zuständigen Leute sind.« Seine Kiefermuskeln wirkten etwas angespannt, als er weiterredete. »Was die meisten nicht sind, also …« Er zuckte die Schultern.

Sie hatte immer noch keine Ahnung, wovon er sprach. »Was für Nachrichten? Welche Warnungen?«, fragte sie.

»Wir erwarten einen Solarsturm, einen KMA

»Einen was

»Einen geomagnetischen Sturm, koronale Massenauswürfe, eine starke Sonneneruption. Wenn es so schlimm ist wie angenommen, wird das Stromnetz zusammenkrachen.«

»Ein Stromausfall.« Sie lebten in den Bergen. Stromausfälle gehörten zum Alltag, obwohl sie hier in der Gemeinde eine recht zuverlässige Stromversorgung hatten.

Ein leichter Ausdruck von Ungeduld erschien auf seinem Gesicht. So als würde er bereits bereuen, überhaupt davon angefangen zu haben. »Ein Stromausfall, der über Monate andauert, wenn nicht sogar ein Jahr oder länger.«

Sela wäre fast zusammengezuckt. Da war sie, die Macke, und zwar eine, die sie bei ihm nicht erwartet hätte. Alkoholiker, Spielsüchtige, Kiffer – das war es, was sie täglich zu Gesicht bekam und weshalb sie die wenigen Einladungen, die sie erhielt, immer ausschlug. Das war jetzt was ganz Neues. Er war einer von denen, die sich auf die Apokalypse vorbereiten, ein Verschwörungstheoretiker. Kein noch so schöner Hintern und kein noch so muskulöser Körper, nicht einmal seine faszinierenden grünen Augen konnten diesen Makel ausgleichen.

»Besorgen Sie sich so viel Bargeld wie möglich«, fuhr er fort, und sie merkte, wie er sich zwingen musste, weiterzureden. »Schaffen Sie sich Vorräte von Grundnahrungsmitteln, Konserven und Batterien an.« Dann reichte es ihm offensichtlich, denn er fügte nur noch ungeduldig dazu: »Recherchieren Sie einfach mal im Internet.«

Die Hintertür wurde geöffnet, und Tante Carol rief ihm ein freundliches Hallo zu. Jernigan sah zu ihr hinüber, und das war wohl das Signal, sich aus dem Staub zu machen, zwei Leute waren einer zu viel. Er schob sich durch die Tür nach draußen und lief zu seinem Truck.

Nun, das war wirklich merkwürdig.

Carol beobachtete durch die Fensterscheibe, wie Jernigan seine Einkäufe in der Fahrerkabine verstaute und dann tankte. »Hej, jetzt habe ich den heißen Kerl verpasst. Ich hätte nicht so lange mit meiner Frisur trödeln sollen.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre kurzen blondierten Locken, die mit einer pinkfarbenen Strähne verziert waren, und flatterte übertrieben mit den Lidern. Dann lachte sie. Carol hatte ein wunderbares Lachen, ausgelassen und ansteckend, ihre ganze Persönlichkeit steckte darin.

Sela räusperte sich. »Er hat mir gerade erzählt, dass es bald einen Solarsturm geben wird und die Stromnetze für Monate ausfallen.« So wie es aus ihrem Mund kam, klang es genauso lächerlich wie bei ihm. Mit Absicht wiederholte sie nicht die Bezeichnung »heißer Kerl«, auch wenn sie durchaus zustimmen musste. Doch das hätte Tante Carol nur angespornt, sie zu drängeln, dass sie ihn einlud. Als hätte sie jemals in ihrem Leben einen Mann angesprochen.

Carol schnappte sich einen Besen aus dem Putzschrank und schnaufte. Sie half ab und zu im Laden aus, normalerweise vormittags, bis Olivia, ihre fünfzehnjährige Enkelin, die sie seit zehn Jahren aufzog, aus der Schule kam. Während sie fegte, seufzte sie. »Verdammt. Warum haben denn alle gut aussehenden Männer eine Macke? Ich hätte es ahnen sollen, dass er einer von denen ist, als er das alte Haus am Cove Mountain gekauft hat. Wer will denn schon allein da oben in der Einöde leben? Warum? Dann hat er diese ganzen Solarzellen da hochgeschleppt, und ich habe gehört, dass er ein Funkgerät hat.« Sie sah zu Sela hinüber. »Denk bloß nicht, dass ich eine alte Klatschtante bin. Aber die Leute reden nun mal, und ich höre zu.«

Sela war sich nicht sicher, ob es ein Zeichen von Verrücktheit war, wenn man ein Funkgerät hatte. Sie kannte noch mindestens eine weitere Person im Tal, die eins besaß. Jernigan hatte auf sie auch nie wie ein Spinner gewirkt – eigentlich eher das Gegenteil. Er schien ein Mann zu sein, der sich schon mit so einigen harten Tatsachen des Lebens hatte auseinandersetzen müssen.

Sie lehnte sich gegen die Ladentheke und versuchte, Instinkt und Zweifel irgendwie zusammenzubringen. Was wäre, wenn … »Wenn er nun recht hat?« Der Gedanke war beunruhigend, etwas, das sie kaum auszusprechen wagte. Sofort musste sie einen Anflug von Panik bekämpfen. Sie konnte sich nicht einmal im Entferntesten vorstellen, wie ihr Leben über Monate ohne Elektrizität ablaufen sollte.

Carol hörte auf zu fegen und stützte sich auf den Besen. Eigentlich war sie kaum breiter als dieser Besen. Sie verdrehte die Augen und verzog das Gesicht. »Ich hab immer noch mein aufziehbares Radio. Du warst ja noch ein Kind, als wir den Jahreswechsel von 1999 zu 2000 hatten, deshalb kannst du dich wahrscheinlich nicht an diese ganze Hysterie erinnern. Aber echt, es gab Leute, die dachten damals, dass die Computersysteme bei der Umstellung ausflippen würden. Dass die Banken zusammenbrechen, Stromnetze kollabieren. Chaos! Puh.« Sie fegte weiter. »Nichts ist passiert. Ich hatte genug Toilettenpapier gehortet, um damit ein Jahr auszukommen. Und ich hatte ein super aufziehbares Radio für Notfälle, nicht dass ich das jemals gebraucht hätte.«

Vielleicht hatte Carol recht, und es passierte gar nichts.

Aber andererseits … Was, wenn doch? Es wäre lächerlich, wenn sie auf die Warnung eines Mannes hörte, den sie kaum kannte, und nichts passierte. Aber sie wäre wirklich dumm, wenn sie nicht reagierte und sich herausstellte, dass seine Warnung berechtigt war.

Lieber machte sie sich lächerlich, als dumm zu sein. Das Schlimmste, was ihr passieren könnte, wäre, sich zu blamieren, aber wenn sie dumm war und nichts tat, konnte das tödlich sein. Dieses Risiko wollte sie nicht eingehen.

Sie nahm sich einen Einkaufskorb und begann, ein paar Grundnahrungsmittel einzupacken. Sie würde nicht alles aus den Regalen nehmen, auch nicht den Laden für heute schließen. Aber es könnte nichts schaden, ein paar Dinge zurückzulegen. Dinge, die sie brauchte und die sie auf jeden Fall lange aufheben konnte.

Während Sela Thunfischkonserven und Büchsen mit Huhn einpackte, beschloss Carol, den Gang mit den Fleischkonserven zu fegen. Nachdem sie ihr einen Moment zugesehen hatte, lästerte sie: »Wenn du schon alles für den Weltuntergang vorbereitest, dann vergiss nicht, auch Mayonnaise einzupacken.«

»Werde ich nicht. Ich nehme nur das, was wir sowieso brauchen. Wenn nichts passiert, ist das keine große Sache. Dann kann ich alles wieder in die Regale zurücklegen.«

Sie ging die Reihen auf und ab, in ihrem Kopf dröhnte es. Sie war gut organisiert und hatte ihr Leben gern unter Kontrolle, aber plötzlich fühlte sie sich alles andere als das. Die Welt um sie herum schien wie immer, aber sie fühlte sich verloren und hilflos. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, konnte sich nicht vorstellen, welche Tragweite es hätte, wenn das passierte, was Jernigan angekündigt hatte. Also konzentrierte sie sich auf seine kurzen Ratschläge. Sie hatte etwas Bargeld, aber nicht genug für einen längeren Zeitraum. Und wozu sollte Bargeld überhaupt gut sein? Doch er meinte, sie solle sich Geld besorgen, also würde sie das tun. Wenn der Solarsturm kam und die Stromnetze ausfielen, wie Jernigan meinte, würde sie nicht an ihr Konto kommen. Die Kreditkarten und Kundenkarten, die sie in ihrer Kasse hatte, wären wertlos.

»Erst mal nur für heute«, sagte sie gerade laut genug, dass Carol sie verstehen konnte. »Wir nehmen nur Bargeld. Sag allen, der Kreditkartenleser wäre kaputt.« Sie hatte schon seit Jahren keine Schecks mehr angenommen, das wäre also kein Problem.

»Was ist mit den Zapfsäulen?«

Sie dachte einen Augenblick nach. Wenn Jernigan recht hatte und es einen Alarm gab, würden die Touristen nach Hause fahren. So würde sie jedenfalls reagieren, wenn sie in den Ferien wäre. Sie wäre auf dem schnellsten Weg über den Highway auf dem Heimweg. Die Touristen würden Benzin benötigen – alle würden Benzin brauchen. »Die lassen wir erst mal offen.« Sie wollte nicht, dass Leute, die nicht genug Bargeld hatten, um ihre Tanks zu füllen, hier auf ihrem Parkplatz strandeten oder auf der Straße. Es war ein vernünftiger Kompromiss, zumindest vorerst. Das würde sich ändern, wenn tatsächlich eine Warnung durchgegeben wurde.

Wieder überfiel sie ein irreales Gefühl, als sie versuchte, sich vorzustellen, wie die Realität in einem solchen Fall aussähe. Die Zivilisation und Kultur, die sie kannte, so wie sie jeder hier kannte, wäre von einem zum anderen Augenblick verschwunden. Das war unmöglich. Darauf konnte man sich nicht vorbereiten.

Sie ging zu den Regalen mit Keksen und Kuchen. Carol rief ihr zu: »Wenn jemand anders dir geraten hätte, dich auf den Weltuntergang vorzubereiten, hättest du den ernst genommen? Oder sammelst du jetzt Vorräte für die kommende Apokalypse, weil Mister Heißer Hengst dir das geraten hat?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Sela hilflos. »Ich weiß gar nicht, ob ich ihm glaube. Es ist nur … Warum ein Risiko eingehen?« Sie holte tief Luft. »Und es geht ja nicht nur um mich. Es geht auch um Olivia und dich.«

Das war es, was ihr wirklich Angst einjagte, wie sie jetzt feststellte. Sie waren eine Familie, sie, Carol und Olivia, ansonsten gab es nicht mehr viele Familienmitglieder. Da waren ein paar verstreute Cousins und Cousinen und Olivias älterer Bruder Joshua, der bei der Armee diente. Aber hier waren nur sie drei. Wenn Carol oder Olivia irgendetwas passieren sollte, weil Sela keine Vorkehrungen getroffen hatte, würde sie sich das niemals verzeihen.

Sie hatten in den vergangenen zehn Jahren schon zu viele Verluste erlitten: Olivias Eltern, Carols Tochter und deren Mann – bei einem sinnlosen Autounfall umgekommen, Selas Eltern, nach langer Krebserkrankung und durch ein plötzliches Aneurysma – drei und fünf Jahre später gestorben, Carols Mann – vor vier Jahren einem Herzanfall erlegen, weniger als ein Jahr nach Selas Scheidung.

Sie hatte genug verloren. Sie würde verdammt noch mal alles tun, was sie konnte, um ihre verbleibende Familie in Sicherheit zu bringen.

Sie standen sich so nahe, dass Sela sich nicht vorstellen konnte, wie es anders sein sollte. Sie lebten nahe beieinander in einem kleinen Vorort, der von der Tankstelle aus gut zu Fuß zu erreichen war. Ihre Häuser sahen von außen sehr ähnlich aus, unterschieden sich aber im Inneren ziemlich stark. Sela war Minimalistin. Carol war noch nie irgendein Nippes in die Hände gefallen, der ihr nicht gefiel. Wichtiger noch, Carol war nicht darauf vorbereitet, mehr als zwei Tage ohne Strom auszukommen. Sie hatte beschlossen, dass sie keinen Generator benötigte, da Sela einen besaß. Und wenn der Strom ausfiel, kamen sie und Olivia eben zu Sela, bis das Netz wieder funktionierte. In beiden Häusern gab es einen Kamin, doch Carol hatte schon seit Jahren kein richtiges Feuer mehr angezündet. Das dürfte sich womöglich ändern.

Plötzlich hatte Sela das Gefühl, dass selbst ihre gesamte Ladenausstattung nicht genug für sie alle wäre, jedenfalls nicht über Monate. Und da waren nicht nur Carol und Olivia: Was würde passieren, wenn eine Freundin oder Nachbarn kämen und etwas bräuchten? Ihre Familie stand an erster Stelle, aber es würde ihr verdammt schwerfallen, jemanden abzuweisen. Mist. Sie starrte auf die lächerlichen Vorräte, die sie zusammengesammelt hatte.

Das reichte auf keinen Fall.

Sie holte tief Luft. »Von allen Leuten hier im Tal, wem würdest du am ehesten zutrauen, eine Katastrophe zu überstehen?«

Die beiden Frauen starrten sich an, und Sela wusste, dass sie sich beide ihre Freundinnen und Bekannten durch den Kopf gehen ließen und mit diesem toughen muskulösen Typen verglichen, dessen Blick verriet, dass er mehr gesehen hatte, als sie sich vorstellen konnten oder wollten.

»Mister Hotbody«, sagte Carol widerwillig und hatte schon wieder eine neue Bezeichnung für Jernigan erfunden.

Wieder sahen sie sich an, dann sagte Sela: »Pass eine Weile auf den Laden auf.« Sie trug die letzte Fuhre, die sie zusammengestellt hatte, ins Büro. »Ich fahre in die Stadt.«

»Weshalb?«, wollte Carol wissen.

»Wir müssen richtige Vorkehrungen treffen. Ruf deine Apotheke an und lass dir Vorräte von den Medikamenten zusammenstellen, die du brauchst. Ich hole sie dann ab.«

»Sie sind aber noch nicht fällig, und die Krankenkasse wird nicht …«, begann Carol und unterbrach sich gleich selbst. »Oh. Vergiss die Krankenkasse, wir zahlen selbst. Richtig? Werden die sich in der Apotheke darauf einlassen?«

»Ich wüsste nicht, warum nicht, solange es keine Narkotika sind. Ruf an und erkundige dich und sag mir Bescheid.« Sela schnappte sich ihre Tasche, die unter dem Counter lag, und ging zur Tür. Im Kopf hatte sie bereits eine Liste zusammengestellt: Bargeld von der Bank holen, Lebensmittel aus dem Supermarkt, die Medikamente für Carol, Batterien, Petroleum für die Öllampen – immer mehr Dinge fielen ihr ein, so viele, dass sie sich überfordert fühlte. Sie konnte nicht an alles denken, nicht alles besorgen … aber alles, was sie tat, war ein kleiner Schritt auf dem Weg, am Leben zu bleiben.

Vielleicht hatte Jernigan sich total geirrt, vielleicht war er ein Spinner oder womöglich auch nur ein gutgläubiger Typ, dem man falsche Informationen gegeben hatte. Plötzlich tauchte sein Bild vor ihrem inneren Auge auf. Nein, gutgläubig war sicher keine Beschreibung, die auf ihn passte. Er wirkte auf sie nicht wie ein Mann, der jemandem schnell vertraute.

Es hatte schon immer Leute gegeben, die vorausgesagt hatten, dass am nächsten Donnerstag oder nächstes Jahr oder an irgendeinem Datum das Ende der Welt bevorstand. Bisher hatten sich alle geirrt.

Zu solchen Leuten gehörte Jernigan aber nicht. Er schien ihr weder verrückt noch gutgläubig zu sein. Sie kannte ihn nicht besser als irgendeinen oberflächlichen Bekannten, aber von allen Leuten, die sie sich vorstellen konnte, schien er ihr derjenige zu sein, der am besten wusste, was in der Welt jenseits von Wears Valley vor sich ging.

Er hatte fast gezögert, sie zu warnen, aber er hatte es getan. Und plötzlich fragte sie sich, warum. Sagte er allen Bescheid? Spielte er den Menschenretter im Tal?

»Wann bist du wieder zurück?«, wollte Carol wissen.

»Ich weiß es nicht genau. Aber bestimmt, bevor Olivia aus dem Bus steigt. Halte so lange die Stellung.«

2. Kapitel

Sela war schon im Supermarkt, als ihr klar wurde, dass sie keine Ahnung hatte, was sie außer Dosensuppen und noch mehr Instantkaffee für eine so lange Zeit ohne Elektrizität besorgen sollte. Was sie noch mehr verwirrte, war, dass der Laden nicht gerade voll war. Ein Ereignis von dieser Tragweite konnte doch sicher nicht geheim bleiben, auch wenn es noch keine offizielle Warnung gegeben hatte, die sie eigentlich auf ihrem Smartphone oder im Radio erwartet hätte oder vielleicht sogar durch Sirenen in der Stadt. Was auch immer passieren würde – wenn es denn passierte: Es wussten offensichtlich noch nicht viele Menschen Bescheid.

Die Obst- und Gemüseabteilung wollte sie eigentlich auslassen, verderbliche Ware zu kaufen war nicht ratsam. Als sie an den Bananen vorbeikam, nahm sie sich trotzdem ein Büschel. Die würden in den nächsten Tagen gegessen werden, denn verdammt noch mal, wenn Jernigan recht hatte, dann bekämen sie in absehbarer Zeit keine mehr. Orangen packte sie auch ein, sie brauchten Vitamin C.

Es musste falscher Alarm gewesen sein. Sie betete, dass es so war, dass gar nichts passieren würde. Als sie den Gang halb durchquert hatte, dachte sie: »Verdammt, ich lass mich da nicht drauf ein« und kehrte wieder um, weil sie das Obst zurücklegen wollte, denn auf keinen Fall würde sie den vollen Einkaufswagen einfach stehen lassen, sodass sich die Angestellten damit befassen mussten. Aber dann sah sie wieder Jernigans grimmigen Gesichtsausdruck vor sich, und mit klopfendem Herzen setzte sie ihren Einkauf fort. Was würde schon ein Vorrat von Konserven mit Hühnchen für zwei Jahre schaden?

Er hatte irgendetwas Vertrauenswürdiges an sich. Obwohl sie sich immer noch nicht richtig vorstellen konnte, dass eine Katastrophe bevorstand: Weil er es gesagt hatte, neigte sie doch zu sechzig Prozent dazu, es zu glauben.

Was sollte man kaufen, wenn man das Ende der Welt erwartete? Schokolade?

Am anderen Ende des Gangs angelangt, mit lediglich Bananen und Orangen in ihrem Einkaufswagen, zog sie ihr Smartphone aus der Tasche und gab »Notfallausrüstung im Katastrophenfall« in die Suchmaschine ein. Jede Menge Prepper-Websites erschienen, und sie öffnete die erste, die eine lange Liste von speziellen Dingen aufführte, die sie wahrscheinlich hier im Laden nicht fand. Die zweite Seite bot schon eher praktische Ratschläge für ihre Situation.

Bleiche, Streichhölzer, Wasser, Kerzen … Okay, das war machbar und nicht einmal ungewöhnlich. Vieles auf der Liste gehörte allerdings zu einer Campingausrüstung und war eher im Outdoor-Laden zu bekommen, aber sie kannte keinen in der Nähe. Und außerdem … Es war ja nur eine Vorsichtsmaßnahme.

Bereite dich auf das Schlimmste vor und hoffe auf das Beste. In diesem Fall, hoffen, dass nichts passierte.

Sela packte Toilettenpapier und Fleischkonserven ein – Frühstücksschinken, Lachs, Hühnchen, Rindfleisch, von allem etwas. Vier große Gläser Erdnussbutter würden nicht lange reichen, also nahm sie sechs. Sie machte einen kurzen Abstecher in die Hygiene-Abteilung und nahm ein paar Dinge für die Erste Hilfe mit: Aspirin, antiseptische Salbe, Verbände, Vaseline. Sie griff nach allem, von dem sie dachte, dass es nützlich sein könnte, und lief den Gang mit Medikamenten entlang. Während sie darauf wartete, dass Carol ihre Arzneirezepte schickte, ging sie noch einmal zurück, fügte weitere Verbände dazu und eine Elastikbinde. Noch mehr Verbände. Eine weitere Elastikbinde. Nein, machen wir drei daraus.

Als die Rezepte eintrafen, war Selas Einkaufswagen gefüllt.

Sie warf einen Blick auf all die eingepackten Dinge und seufzte. Es waren nur Sachen, die sie sowieso irgendwann brauchen würden, deshalb hatte sie kein ungutes Gefühl wegen ihres Einkaufswahns. Sie war auf Nummer sicher gegangen und hatte etwas unternommen. Hatte sie genug für mehrere Monate? Nein. War sie besser ausgerüstet als vorher? Ja, auf jeden Fall.

Im Internet hieß es, sie sollten ein Wasserfiltersystem haben, damit sie sauberes Wasser trinken könnten, Pflanzensamen, um für den nächsten Sommer Gemüse anzubauen, dazu genug gefriergetrocknete Lebensmittel, um bis dahin auszukommen. Das hatte sie nicht.

Aber Jernigan hatte das bestimmt alles.

An der Kasse bezahlte sie mit Kreditkarte. Was sie eingekauft hatte, war nicht allzu teuer, aber sie wollte ihr Bargeld aufsparen.

Wäre Bargeld von Nutzen, wenn sie monatelang keinen Strom hätten? Vielleicht. Solange die Leute einen Wert in den grünen Papierstreifen sahen, bestimmt. Bargeld wäre nützlich, um Dinge zu erwerben, die sie brauchten und nicht hatten. Die Bank stand auf der Liste von Zielen, die sie sich im Kopf gemacht hatte und die sie noch ansteuern wollte. Sie würde eine nette Summe von ihrem Privat- und ihrem Geschäftskonto abheben. Wenn nichts passierte, konnte sie das Geld in ein paar Tagen wieder einzahlen.

Sie fühlte sich wie ein aufgeschrecktes Eichhörnchen, während sie von einem Ort zum nächsten eilte und eine Erledigung nach der anderen hinter sich brachte.

Als sie kurz nach Mittag auf dem Nachhauseweg war, erschöpft von der Hektik, begann sie wieder zu zweifeln. Wenn Jernigan sich einen Spaß mit ihr erlaubt hatte, wenn er verrückt war oder, Himmel noch mal, einfach nur eine falsche Information erhalten hatte … Dann wäre sie so sauer, vielleicht sogar sauer genug, um ihn sich vorzuknöpfen und ihm ordentlich die Meinung zu sagen. Obwohl die direkte Konfrontation eigentlich nicht ihr Stil war.

Aber wenn die Katastrophe tatsächlich eintraf, dann wäre sie wirklich stinksauer. Denn ganz sicher hätte irgendjemand von ihren Stromlieferanten wissen müssen, dass so etwas passieren könnte, und niemand hatte Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um den Stromausfall zu verhindern. Ja, ganz bestimmt wäre sie stinksauer. Aber auch tief dankbar, denn ohne die Möglichkeit, sich vorzubereiten, wäre sie nicht besser dran gewesen als alle anderen. Auf dem Weg zum Wears Valley warf sie einen Blick in Richtung Cove Mountain. »Danke«, sagte sie laut. »Nehme ich mal an.«

Carol verdrehte leicht die Augen, als sie die Berge von Supermarktartikeln sah, die Sela erbeutet hatte, half ihr jedoch, alles zu verstauen. »Glaubst du, dass du nun genug Frühstücksschinken hast?« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, während sie die rechteckigen Dosen übereinanderstapelte.

»Ich werde dich daran erinnern, was du gesagt hast, wenn das Ding wirklich passiert und du irgendwann nichts mehr zu essen hast. Außerdem habe ich das gekauft, was wir auch im Shop anbieten können, falls nichts passiert.« Sela und Carol wussten, was auch immer eine von ihnen hatte, gehörte allen, denn in der Familie sorgte man füreinander. Wenn Sela Frühstücksschinken hatte, dann hatte Carol auch Frühstücksschinken.

Sie hatten die Einkäufe aufgeteilt, packten die Vorräte aus Selas Laden dazu, und Carol lud alles in ihren Wagen, um es nach Hause zu transportieren. Kunden betraten das Geschäft und gingen wieder, genug, um Sela in Bewegung zu halten, doch niemand von den Leuten wirkte beunruhigt oder sagte irgendetwas über eine bevorstehende Katastrophe. Carol kehrte zurück und ging ins Büro, um fernzusehen, während Sela herumwerkelte, sauber machte, aufräumte und auf weitere Kunden wartete. Die Zeiger der alten Kitty-Cat-Uhr an der Wand, die Sela aufgehoben hatte, weil ihr der schwingende Katzenschwanz gefiel, hatten inzwischen ein Uhr nachmittags überschritten. Sicher hätten doch die Zuständigen, die eine Warnung herausgeben sollten, dies schon längst getan, wenn etwas passieren würde.

Mit jeder weiteren Sekunde, die verging, wuchsen ihre Zweifel, und sie fühlte sich mehr und mehr wie eine gutgläubige Närrin. Es müsste doch schon allgemein in aller Welt bekannt sein – wenn es denn etwas zum Bekanntgeben gab. Die Astronomen müssten es wissen, die Wetterbehörden müssten es wissen und längst veröffentlicht haben. In diesem Fall wären bereits die Meldungen auf Twitter und allen anderen sozialen Medien explodiert … wenn es denn Nachrichten gab. Wenn, wenn, wenn! Vielleicht sollte sie auf die Website von NOAA, der Wetterbehörde, gehen und selbst nachsehen, ob dort irgendwas …

Im Laden waren keine Kunden, und Sela wollte gerade nach ihrem Smartphone greifen, als ein schriller Alarm ertönte, der gleiche, der bei Sturmwarnungen zu hören war. Sela zuckte zusammen und warf automatisch einen Blick durchs Fenster, genau wie am Morgen, als Jernigan ihr von der aufkommenden Katastrophe erzählt hatte. Aber der Himmel war immer noch hellblau wie üblicherweise im September. Nicht eine Wolke zeigte sich am Himmel.

In Gedanken malte sie sich aus, was sonst passiert sein könnte. Das Signal könnte bedeuten, dass jemand vermisst wurde, vielleicht war es auch einer der monatlichen Probealarme. Es gab zahlreiche Möglichkeiten. Doch plötzlich hämmerte ihr Herz, und sie wusste verdammt genau, dass es keine der gewöhnlichen Warnungen war, die den Alarm ausgelöst hatte. Aus dem Büro hörte sie den Signalton von Carols Smartphone, und sofort standen ihr die Nackenhaare zu Berge.

Sie griff nach ihrem Handy, das unter dem Verkaufstresen lag. Und da war sie auf dem Display, die Warnung von County’s CodeRED, die sie befürchtet und an deren Eintreffen sie gleichzeitig gezweifelt hatte: NOAA-WARNUNG GEOMAGNETISCHER STURM K-INDEX 9 VORHERGESAGT FÜR MORGEN. BITTE STELLEN SIE SICH AUF STROMAUSFALL UND AUSFALL VON KOMMUNIKATIONSKANÄLEN EIN.

Wieder ein Alarmton, dann erschien eine weitere Mitteilung auf dem Display: DAS IST KEIN TEST. WIEDERHOLE: DAS IST KEIN TEST.

Carol kam aus dem Büro, das Handy fest umklammert, die Augen weit aufgerissen. »Scheiße«, fluchte sie.

Selas Mund fühlte sich augenblicklich trocken an, sie versuchte zu schlucken. Dann lehnte sie sich gegen den Verkaufstresen. »Doppelte Scheiße.«

»Ich nehme alles zurück, was ich über deine Einkaufsorgie gesagt habe.«

Vierundzwanzig Stunden. Sie hatten ungefähr vierundzwanzig Stunden, um sich vorzubereiten. Was bedeutete, dass Jernigan nicht nur damit recht gehabt hatte, dass etwas passieren würde, sondern auch den richtigen Zeitpunkt genannt hatte. Großer Gott. Was konnten sie in vierundzwanzig Stunden tun, um sich auf einen »längeren Stromausfall« vorzubereiten? Sie würden Monate brauchen, um sich auf so etwas einzustellen.

»Sieht aus, als hättest du recht gehabt, auf Jernigan zu hören«, fügte Carol noch dazu. Ihr Blick wirkte ein bisschen wild, und alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. »Heiliger Strohsack. Aber … sie könnten sich doch irren, oder? Ich meine, es könnte doch sein wie die Vorhersagen von heftigen Gewittern oder Eisstürmen, die dann doch nicht eintreffen. Vielleicht kommen wir ja noch mal davon, sagen die das nicht immer bei der Wettervorhersage, wenn sie sich geirrt haben?«

»Ich glaube, einen geomagnetischen Sturm kann man nicht mit dem Wetter auf der Erde vergleichen, das sich ständig ändert.« Sie wünschte, es könnte so sein, aber sie würde nicht darauf wetten – auf ihres und Olivias und Carols Leben. Sela zog sich der Magen zusammen, sie wurde von einem Adrenalinschock überwältigt, und ein ursprünglicher Überlebensinstinkt setzte sie in Trab. Gott sei Dank, trotz ihrer Zweifel war sie zur Bank und zum Supermarkt gegangen, bevor alle anderen erfahren hatten, was passierte. »Denk nach! Was müssen wir alles vorbereiten?«

Carol warf ihr einen verständnislosen Blick zu. »Ich dachte, wir hätten alles.«

»Wir sind besser vorbereitet als die meisten anderen, dank Jernigan. Wir haben Lebensmittelvorräte. Aber was ist mit Holz für den Kamin, wenn es kalt wird, Petroleum für die Campinglampen? Ich wollte welches holen, hab’s aber vergessen. Dafür habe ich ein paar Kerzen mitgebracht, Batterien. Wenn das ein Jahr oder länger dauert …«

»Ein Jahr!« Carol sah sie entsetzt an. »Du glaubst doch nicht – das ist doch nicht möglich, oder?«

»Keine Ahnung. Das weiß vermutlich niemand.« Außer vielleicht Ben Jernigan, der wohl im Gegensatz zu allen anderen, die sie kannte, eher eine Vorstellung davon hatte. »Er sagte, Monate, vielleicht ein Jahr oder länger.« Nicht notwendig zu erklären, wer mit »er« gemeint war.

Carol holte tief Luft, als ihr die Tragweite des Ganzen bewusst wurde. »Dann brauchen wir Munition. Und Whiskey.«

»Munition?« Sela sah ihre Tante entgeistert an, aber sie zweifelte nicht daran, dass sie recht hatte. Wahrscheinlich benötigen wir wirklich Munition, erkannte sie mit Entsetzen … und Whiskey. Die Gesellschaft, so wie sie sie kannten, funktionierte mit elektrischer Energie. Ohne Strom war es nicht möglich, in einen Laden zu gehen und sich etwas zum Abendessen zu kaufen. Sie würden das tun müssen, was ihre Vorfahren in den Bergen getan hatten, und sich ihr Essen jagen – auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie man Wild erlegte, und einen Horror davor hatte, es lernen zu müssen. Sie besaß ein Gewehr Kaliber 22 – sie und Carol hatten beide eines, Sela, da sie allein lebte, und Carol, weil sie ihre Enkelin beschützen musste. Aber sie hatte nur ein paar Mal damit geschossen und war nicht in der Lage zu jagen.

Ihr wurde schwindlig, und in ihren Ohren rauschte es. Wieder schoss ihr das Adrenalin durch den Körper, als ihr etwas anderes einfiel. Verdammt. Sie trug die Verantwortung für Carol und Olivia. Die beiden brauchten sie, wenn es wirklich schlimm kam. Carol war Ende sechzig, und obwohl sie einigermaßen gesund war, hatte sie nicht mehr so viel Energie wie noch vor Jahren. Olivia war fünfzehn. Das sagte alles.

Sela blickte sich im Laden um, machte im Geist Inventur und besah sich die Waren in den Regalen, dachte daran, was sie für sich zurückgelegt hatte. Sie versuchte zu kalkulieren, was sie benötigen würden, konnte sich aber nicht vorstellen, was es bedeutete, ein Jahr ohne Strom zu leben, war sich nicht sicher, was sie jetzt tun sollte.

Das Dilemma war: Sie konnte den Laden geöffnet lassen und versuchen, den Nachbarn zu helfen, oder sich auf ihre eigene Familie konzentrieren. Es war nicht allzu viel Platz in den Regalen, und sie hatte nur wenige Grundnahrungsmittel im Angebot, dazu ein paar Snacks. Sie wäre in kürzester Zeit ausverkauft und hätte nur noch das übrig, was sie sich bereits zur Seite gepackt hatte.

Vielleicht war sie ja egoistisch, aber nach wenigen Sekunden des Nachdenkens beschloss sie, sich auf ihre eigene Familie zu konzentrieren. Die Familie war das Wichtigste, die kam immer zuerst.

Sie musste sich einen Aktionsplan zurechtlegen. Besser irgendwas tun als gar nichts.

Sela schob sich ihr Handy in die Jeanstasche und kam hinter dem Ladentisch vor. »Olivia wird bald hier sein«, sagte sie zu Carol. Normalerweise hing Olivia noch eine Weile bei ihr herum, nachdem der Schulbus sie hier abgeliefert hatte. Dann trank sie meist eine Limonade und aß vielleicht einen Schokoriegel oder ein paar Chips. Manchmal, wenn sie Glück hatten, berichtete sie ihnen, was in der Schule gelaufen war. Die meisten Nachmittage saß sie im Büro neben der Hintertür und schrieb ihren Freundinnen Textnachrichten, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte. »Ich möchte, dass ihr beiden einpackt, was ihr tragen könnt, und nach Hause geht. Wenn ihr angekommen seid, fangt ihr an, die Kühlboxen mit Eis zu füllen, damit die Eismaschine weiter Eis produzieren kann.«

»Eis?«

»Wir haben einen Tag, vielleicht etwas mehr, um genug Eis zusammenzupacken, damit wir Verderbliches kühlen können.« Ein Teil würde schmelzen, aber je mehr Eis sie in die Boxen füllten, desto länger würde es halten.

»Du hast doch den Generator …«

»Den werden wir dringender brauchen, wenn es kalt wird.« Ihr Generator war klein, ein transportables Gerät, aber er reichte aus, um damit im Winter zu heizen. Allerdings würde sie damit kein ganzes Haus warm bekommen. Und ohne Treibstoff würde der Generator gar nicht funktionieren. Egal wie sie die Sache betrachtete, sie fürchtete, dass nichts, was sie hatten, ausreichend wäre.

Einen Moment rührte sich Carol nicht von der Stelle und starrte in die Luft. Genauso wie Sela vorher versuchte sie offensichtlich zu begreifen, was ihnen Fürchterliches bevorstand.

Durch das Fenster des Ladens sahen sie einen Wagen stadtauswärts den Highway entlangrasen wie ein schwarzer Blitz. Davor war es ruhig gewesen, nur eine Handvoll Fahrzeuge, die in normalem Tempo vorbeifuhren. War das schon eine Reaktion auf den Alarm gewesen? Die Nachricht war definitiv raus, durchs Fernsehen und den nationalen Wetterservice, vielleicht auch über die Radiostationen. Hörte überhaupt noch jemand Radio?

Natürlich. Die Touristen, das Lebenselixier der Ortschaften in den Smoky Mountains, wollten nach Hause. In den Ferienhütten hatten sie keine Vorräte, länger als ein paar Tage blieben sie meist nicht.

Und wenn sie zu Hause eine Familie hatten, wollten sie dort sein. Die Familie kam für alle an erster Stelle, so wie für sie.

Ein SUV mit einem Paar und zwei Kindern auf dem Rücksitz bog in zu hohem Tempo auf den Parkplatz ein und kam vor einer der Zapfsäulen schlingernd zum Stehen. Der Fahrer sprang aus dem Wagen, schob seine Kreditkarte in den Automaten und pumpte für zehn Dollar Benzin, bevor er wieder einstieg und davonbrauste.

»Die Zapfsäulen sperren«, sagte Carol und richtete sich auf, aber Sela hatte das bereits getan.

Sie schnappte sich ein paar Plastiktüten, lief nach draußen zu den Pumpen und deckte die Zapfhähne ab, das Zeichen dafür, dass es kein Benzin gab. Sie hatte sowieso keine großen Mengen, und wenn sie nicht aufpasste, wäre der Vorrat in Kürze aufgebraucht. Wenn die Stromnetze ausfielen, müsste sie das Benzin per Hand hochpumpen. Das ging nicht so einfach, war aber möglich.

Die Familie zuerst, erinnerte sie sich. Die Angehörigen waren in jeder Krise am wichtigsten. Doch um ihre Freunde und Nachbarn sorgte sie sich ebenfalls. Die würde sie nicht auf dem Trockenen sitzen lassen. Etwa die Hälfte der Generatoren im Tal wurde mit Benzin angetrieben. Einige arbeiteten mit Propangas, aber ihr Gerät nicht und auch nicht die ihrer nächsten Nachbarn. Bevor der Strom ausging, musste sie im Internet recherchieren, wie sie das Benzin aus den Tanks bekam.

Jernigan wusste bestimmt, wie das ging.

Sofort verdrängte sie diesen plötzlichen Gedanken. Jernigan stand nicht nur nicht zur Verfügung, sondern sie musste es selbst wissen, musste in der Lage sein, auf eigenen Füßen zu stehen. Das hatte sie auf die harte Tour gelernt, nachdem ihr Ex-Mann sich aus dem Staub gemacht hatte. Eine Lektion, die sie sich gut eingeprägt hatte. Jetzt ging sie auf Nummer sicher. Denn wer sich auf andere Leute verließ, riskierte, dass sie einem das Leben ruinierten.

Fünfzehn Minuten später stoppte der Schulbus vor der Tankstelle, und eine Reihe von Fahrzeugen staute sich dahinter. Ein Fahrer schien überholen zu wollen und scherte mit einem knappen Meter Abstand aus, schien es sich aber dann anders zu überlegen. Die Bustüren schwangen auf, und Olivia kam die Stufen heruntergetänzelt. Fünfzehn Jahre jung, schlank und groß mit welligem hellbraunem Haar wie das ihres Vaters, Gott hab ihn selig, war sie so schön, wie es nur ein Teenager sein konnte. Für Carol war sie das Lebenslicht, und auch Sela liebte ihre Nichte über alles.

Olivia kam mit weit aufgerissenen Augen in den Laden gestürzt. »Habt ihr das gehört? Die Lehrer spielen alle verrückt, na ja, ein paar.« Aus ihrem Handy kam ein Signal, das eine Textnachricht ankündigte, und sie blickte auf das Display. »Wie haben sie das genannt? Eine koro… irgend so was.« Sie grinste, als sie den Text las, und schrieb mit fliegenden Fingern eine Antwort.

»Koronale Massenauswürfe«, sagte Sela.

»Ein Solarsturm, hat Mr. Hendricks gesagt.« Olivia ging zum Kühlschrank, um sich eine Dr Pepper zu holen. Dann drehte sie sich um und lief zur mittleren Regalreihe. »Hey! Wo sind denn die ganzen Chips geblieben?«

»Weggeräumt«, erwiderte Sela, während sie die Straße durchs Fenster beobachtete. Es herrschte inzwischen definitiv stärkerer Verkehr. Die meisten Autos fuhren in normaler Geschwindigkeit, aber einige rasten viel zu schnell und hatten es offenbar eilig, von hier zu verschwinden. Kurz entschlossen nahm sie ihre Schlüssel vom Haken, schloss die Tür ab und drehte das »Geöffnet«-Schild auf die »Geschlossen«-Seite. Warum sollte sie hier noch herumhängen und Carol alles vorbereiten lassen? Das war Blödsinn. Sie musste ihre eigenen Kühlboxen füllen und die Eismaschine anwerfen.

»Warum machst du so früh zu?«, wollte Olivia wissen. »Geht’s dir nicht gut?«

»Wir haben keine vierundzwanzig Stunden mehr, um uns auf die KMAs vorzubereiten.«

Olivia sah sie verständnislos an. »Wie denn vorbereiten?«

»Wir werden vielleicht monatelang keinen Strom haben«, erklärte Carol nachdrücklich. »Wir brauchen genug zu essen, irgendeine Möglichkeit zu kochen und müssen uns überlegen, wie wir heizen sollen, wenn es kälter wird und das Stromnetz noch nicht funktioniert.«

Olivia stand einen Moment mit großen runden Augen da, ohne sich zu rühren, und schien sich das Unmögliche durch den Kopf gehen zu lassen. »Meinst du das ernst?«, fragte sie dann. »Monate? Wird mein Handy funktionieren?«

»Das bezweifle ich«, erwiderte Carol. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Das werden wir erst morgen um diese Zeit wissen. Aber wir bereiten uns vor, was auch immer passiert. Die Chips sind übrigens bei uns zu Hause, aber schlag dir das aus dem Kopf. Wir öffnen keine einzige Packung, bevor wir nicht alle frischen oder tiefgefrorenen Lebensmittel aufgegessen haben. Ich hab einen Kohlkopf, den ich zubereiten muss, bevor er schlecht wird, und die letzten Tomaten. Wir dürfen nichts verschwenden, gerade jetzt nicht.«

»Es sei denn, sie irren sich.« Olivia sah hoffnungsvoll zu ihrer Großmutter. »Ich meine, das kann doch auch falscher Alarm sein, oder? Dieses koro…«

»KMA«, sagte Sela. »Nenn es einfach KMA

»Ja, also das jedenfalls. Die könnten sich doch irren.«

»Vielleicht.« Sela schob ihre Tante und Olivia zur Hintertür und schnappte sich auf dem Weg nach draußen die Taschen, die sie am Nachmittag mit Carol gepackt hatte. »Aber das glaube ich eher nicht.«

Olivia, die sich zwei Tüten unter den Arm geklemmt hatte, blickte immer noch auf das Display ihres Smartphones. Die meiste Zeit war sie förmlich mit diesem Ding verwachsen. Aber sicher würde sie doch verstehen, dass sich eine Katastrophe anbahnte, und sich auch Gedanken …

»Wir sollten alle Geräte aus der Steckdose ziehen, bevor der KMA kommt«, sagte Olivia mit Blick auf ihr Display. »Das rät ein Typ von der NASA. Damit sie bei der Überspannung oder was auch immer nicht kaputtgehen.«

Olivia hatte mit ihrem Smartphone recherchiert. Sela atmete erleichtert aus und ermahnte sich, nicht vor Stress die Nerven zu verlieren. Sie musste in Bestform sein, und auch Carol und Olivia würden sich der Herausforderung stellen.

Sie würden es schaffen. Sie mussten es schaffen.

3. Kapitel

Carols Haus war ein kleines gelbes zweigeschossiges Schindelgebäude mit dem Luxus einer inliegenden Garage. Es befand sich fast genau in der Mitte des kleinen Viertels, das sich über die Myra Road – gerade noch breit genug für zwei Fahrzeuge, die aneinander vorbeifahren wollten – und drei schmale kurze Straßen erstreckte, die darauf zuführten. Stattliche Fichten und blühende Büsche zierten den etwa zweitausend Quadratmeter großen Vorgarten. Hinter dem Haus befanden sich kleine Gemüsebeete, die Carol während des Sommers gepflegt hatte, aber die Pflanzen trugen keine Früchte mehr und waren bräunlich und vertrocknet.

Selas Haus lag am Ende der Straße und bot mehr Privatsphäre durch die Fichten und Tannen, die – entweder aus diesem Grund so angepflanzt waren oder zufälligerweise – den Blick zu den Nachbarn auf der linken Seite verstellten. Zur Rechten wohnte niemand, ihr Haus stand ganz am Rand der Siedlung. Es war etwas kleiner als Carols und hatte keine Garage. Doch sie besaß dafür eine viel größere eingezäunte Terrasse, die sie meist ausgiebig zum Frühstücken nutzte und von der aus sie einen Blick auf Cove Mountain hatte, der über dem Tal thronte.

Die Straße machte einen großen Bogen, und Selas Haus stand an einer Stelle, die nicht weit von ihrem Laden entfernt war. Manchmal lief sie über einen Pfad zur Arbeit, der gerade breit genug für ein Quad war und auf dem sie nicht mal einen Kilometer zu laufen hatte, während sie mit dem Wagen erst zum Highway fahren und so vier Kilometer mehr Weg zurücklegen musste. Der Schleichweg, wie sie ihn nannten, gehörte zu den bevorzugten Abkürzungen für alle, die den Highway meiden wollten, und war vor allem für Kinder ein optimaler Fahrradweg. Der Pfad war von hohen schattenspendenden Bäumen gesäumt, es gab diesen und jenen Bach, in dem man sich abkühlen oder an dessen Ufer man picknicken konnte, wo die Kids Frösche jagten oder kleine flinke Fische. Sela liebte es, im Winter dort entlangzugehen, vor allem wenn Schnee lag und alles so still und unberührt war und nur das Knirschen ihrer Stiefelsohlen auf dem Boden oder hin und wieder das Flügelschlagen eines Vogels zu hören waren. Der schmale Weg führte um verschiedene Privatgrundstücke herum, ab und zu gab er den Blick auf ein Haus frei. Während der Sommermonate war Sela etwas vorsichtiger wegen der Bären, so wie alle Bewohner des Tals. Die Smoky Mountains und Schwarzbären gehörten zusammen.

Sie lebten inmitten einer wunderbaren friedlichen Szenerie, weshalb ihr die herannahende Katastrophe wie die Legende eines alten Talbewohners erschien, die er im Kreis seiner Kumpanen zum Besten gab, während sie zusammen am Biertisch saßen.

Die drei betraten das kühle Haus, und Carol nahm ohne zu fragen Gläser aus dem Schrank, füllte sie mit Eiswürfeln und goss kalten Tee aus einer Karaffe darüber. Dann setzten sich die drei in der Wohnküche an den Tisch.

Olivia zog ihr Tablet aus dem Rucksack und wandte sich mit erschrockenem Gesichtsausdruck an die beiden Frauen. »Funktioniert das denn noch, nachdem … ihr wisst schon?«

Sie sahen sich alle an. Schließlich zuckte Sela mit den Schultern. »Im Prinzip schon, denke ich. Aber du kannst nicht mehr online gehen. Du kommst an deine Daten, wenn das Tablet während des KMA nicht mit der Steckdose verbunden ist. Sieh zu, dass du den Akku vorher noch auflädst.« Sie hoffte, dass sie recht hatte. Die Sache war, dass niemand die Folgen genau vorhersagen konnte, denn ein KMA dieser Stärke war im elektronischen Zeitalter noch nicht aufgetreten.

Olivia hielt inne, dann schaltete sie das Tablet wieder aus, schob es in den Rucksack zurück und nahm stattdessen Block und Kuli vom Küchentresen, wo Carol ihre Einkaufslisten schrieb. »Damit verbrauche ich keine Batterie«, sagte sie lapidar.

Trotz der ernsten Situation mussten Sela und Carol lachen. Eine Menge Leute würden sehr bald zu demselben Schluss kommen, wenn sie nicht schon so weit gedacht hatten.

Olivia schrieb eine große Eins aufs Papier. »Also, was sollen wir zuerst machen?«

»Ein Dach über dem Kopf und Essen ist das Wichtigste«, sagte Sela. »Und das haben wir so gut wie möglich in Angriff genommen.« Aber trotzdem hatten sie nicht genug Lebensmittel, nicht wenn das Ganze ein Jahr oder länger andauerte, und vielleicht nicht einmal bis zum nächsten Sommer, wenn im Garten wieder etwas wuchs. »Ich werde aber noch mehr zu essen besorgen, wenn möglich. Falls wir genug haben, können wir es auch mit den Nachbarn teilen.«

»Du solltest zu uns ziehen«, sagte Carol entschlossen. »Wir werden unsere Vorräte sowieso teilen. Und dann haben wir nur das eine Haus zu heizen.«

Carols Vorschlag war mehr als vernünftig, aber Sela zog sich bei dem Gedanken daran der Magen zusammen. Sie war gern allein, genoss die Ruhe. Sie war nie der laute, gesellige Typ gewesen, aber seit ihrer Scheidung hatte sie sich noch mehr zurückgezogen. Ihre Selbstsicherheit und ihre Zuversicht schienen unter Adams Betrug und seiner Ablehnung gelitten zu haben. Es dauerte eine Weile, bis sie sich davon erholt hatte, Zeit, in der sie viel nachgedacht und einfach nur den Alltag bewältigt hatte. Kurz nachdem sie nach Wears Valley zurückgekehrt war, um wieder dort zu leben, hatte sie kaum die Kraft gehabt, das Haus zu verlassen. Allein die Notwendigkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hatte sie angetrieben.

Sie war nicht der abenteuerlustige Typ. Sie stellte sich auch nicht gern in den Vordergrund. Es war noch nie ihr Ding gewesen, etwas Riskantes zu unternehmen, und ihre Abneigung dagegen hatte irgendwann dazu geführt, dass Adam sich nur noch von ihr abgestoßen fühlte. Sie mochte kein exotisches Essen und wollte nicht Skifahren, obwohl Adam es liebte, und sie hasste es, wenn er so schnell mit dem Auto raste. Sie war nicht abgeneigt, in fremde Länder zu reisen, aber wenn es darum ging, einen Trip zu planen, begann sie ständig über alles nachzudenken, was schiefgehen konnte, und nahm dann Abstand davon.

Sie machte Adam keinen Vorwurf, dass er sie verlassen hatte, und warf sich selbst vor, dass sie eine solche Langweilerin war. Sela wollte Carols Einladung, das heißt ihre Aufforderung, sofort ablehnen, aber Tatsache war, dass sie, so gern sie auch allein sein wollte, nicht wusste, wie sie das ohne Elektrizität schaffen sollte.

Ein Auto war auf der Einfahrt zu hören, und Carol reckte den Hals, um aus dem Wohnzimmerfenster zu sehen. »Barb kommt.«

Barb Finley war Carols beste Freundin, und das schon seit Jahren, noch bevor sie Witwe geworden war. Barb war ein paar Jahre älter, und die beiden Frauen wirkten, als hätten sie gar nichts gemeinsam. Carol war sehr schlank, Barb eher pummelig. Carol hatte diese flotte pinkfarbene Strähne im Haar, während Barb ihre weißen Haare eher herkömmlich frisierte. Carol wirkte schick, Barb war der gemütliche Typ. Aber die beiden verstanden sich blendend und verbrachten Stunden beim Kochen zusammen, redeten und lachten. Manchmal kümmerte sich Sela eine Woche um Olivia, während die beiden älteren Frauen sich zu den Outer Banks aufmachten. Olivia war einmal mitgefahren, aber nach ihrer Rückkehr hatte sie Sela zugeflüstert, dass sie das auf gar keinen Fall wiederholen wollte. So sammelte Sela bei Olivia und Carol gleichzeitig ein paar Bonuspunkte, wenn sie Olivia bei sich aufnahm, während die beiden Freundinnen sich ungestört zu ihren Abenteuern aufmachen konnten.

Carol ging zur Haustür und öffnete. »Komm rein«, rief sie. »Wir machen gerade eine Liste, was noch alles zu tun ist.« Dann kam sie in die Küche zurück, um noch ein Glas Eistee einzugießen.

Barb betrat die Küche mit angespannter Miene. Sie humpelte ein bisschen und hatte eine Elastikbinde am linken Knöchel. »Was ist mit deinem Fuß passiert?«, wollte Sela wissen und setzte sich auf die andere Seite des Tisches, damit Barb den Stuhl nehmen konnte, der am nächsten zum Eingang stand.

»Den hab ich mir heute Morgen verstaucht, als ich Rasen gemäht habe.« Barb sank auf den Stuhl und legte ihre Hände um ihr Glas Eistee, trank aber nicht davon. Sie holte tief Luft, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Wird das …« Sie machte eine ausladende Armbewegung, als wolle sie das ganze Universum beschreiben. »… wirklich passieren? Ich weiß nicht, was ich dann tun soll. Wenn es keinen Strom gibt, funktioniert meine Alarmanlage nicht, jeder kann unbemerkt einbrechen, und ich kann nicht mal Hilfe rufen. Unsere Autos werden nicht mehr fahren, es wird nicht genug zu essen geben, ich habe keinen Kamin, um zu heizen, und könnte sowieso kein Brennholz hacken …«

»Du ziehst zu uns«, beschloss Carol spontan, um Barbs panische Litanei zu unterbrechen, doch schon während sie das sagte, warf sie Sela einen besorgten Blick zu. Die nickte Carol leicht zu, um ihr zu signalisieren, dass es okay war, dass sie stattdessen Barb einlud. Okay? Sela war regelrecht erleichtert.

Barb sah sie erstaunt an. »Wirklich? Ist denn genug Platz?« Sie blickte Sela an. »Ich dachte, dass du …«

»Nein, ich bleibe in meinem Haus«, erwiderte Sela entschlossen. »Carol und ich teilen unsere Vorräte, und ich esse hier, aber ich schlafe zu Hause.« Trotz ihrer großen Dankbarkeit für die Einladung sorgte sie sich um Sela. Das war Barb.

»Ich bin da drüben so sicher wie immer«, versuchte Sela sie zu beruhigen. Sie hatte ihren kleinen tragbaren Generator, aber es wäre sinnvoller, das Gerät zu Carol zu bringen, da hier dann drei Leute wohnten. Sie würde die meiste Zeit hier verbringen, außer nachts. Zum Heizen hatte sie ihren Kamin, außerdem zur Not ihren Ölofen. Den würde sie selten benutzen, denn sie hatte nur eine begrenzte Menge an Heizöl … und das erinnerte sie daran, dass sie endlich tätig werden mussten. Im Notfall könnte sie sich auch ein Zimmer mit Carol und Olivia teilen, aber nur, wenn ihr nichts anderes übrig blieb. Sie brauchte ihren eigenen Raum.

Sie tippte auf Olivias Notizblock. »Zweitens: Wir brauchen noch mehr Feuerholz. Oh, verdammt! Ich habe vergessen, Propangas und Petroleum zu kaufen! Ich werde im Tankstellenshop ein paar Zwanzig-Liter-Kannen abfüllen, damit wir erst mal genug haben, um den Generator anzuwerfen, bis wir alles aus dem Kühlschrank und der Tiefkühltruhe verbraucht haben. Aber wir müssen Petroleum kaufen.«

Olivia notierte das pflichtschuldig, und die drei Frauen sahen sich besorgt an. Alle würden den gleichen Gedanken haben, und die Möglichkeit, an Vorräte dieser Art zu kommen, wurde immer geringer.

»Himmel noch mal.« Sela sprang auf. »Ich muss sofort los.«

»Ich helfe dir.« Carol stand auf. »Das Wichtigste zuerst. Barb, geh zurück in dein Haus, such alles zusammen, was du brauchst, und bring es her. Olivia, geh mit und hilf ihr. Bringt alles Essbare her, dann Batterien, Taschenlampen, Campinglampen …«

»Und Munition und Whiskey«, sagte Sela und schenkte ihrer Tante ein kurzes Lächeln.

»Ich habe keine Munition«, entgegnete Barb schnell und grinste. »Aber ihr solltet so viel Obst und Gemüse holen, wie ihr kriegt, und wir werden das Zeug die ganze Nacht über einkochen. Ich habe jede Menge Einmachgläser. Ich hatte vor, den Sommer über ein paar Vorräte anzulegen, hatte dann aber immer was Besseres zu tun. Das wird mir eine Lehre sein.«

Im ganzen Tal würden die Bewohner vermutlich zum gleichen Schluss kommen und alle ihre Schnellkocher hervorholen. Das hoffte Sela zumindest. Sie hatte noch nie selbst etwas eingemacht, aber das würde sich nun ändern.

»Husch, husch«, sagte Carol, und alle verließen die Küche, um sich an ihre Aufgaben zu machen.

Carol besaß zwei Ölkanister, Sela hatte einen zu Hause und fünf neue Kanister im Laden. Sie hielten auf dem Weg in die Stadt dort an, und Sela rannte hinein, um sie zu holen. Carol teilte die Kanister auf, und beide hasteten weiter.

Sela erwartete halb, dass jemand zur Tür hereingestürzt kam, um die Regale leerzukaufen. Aber die Wagen auf dem Highway fuhren mit gleichbleibender Geschwindigkeit vorbei. Es gab nicht genug Waren in ihrem kleinen Laden, um jemanden zu reizen. Wenn das der Fall gewesen wäre, müsste sie selbst nicht in die Stadt fahren.

Autor

Linda Howard

Linda Howard begann ihre Karriere als eifrige Leserin. Sie verschlang alle Bücher, die sie in die Hände bekam – ganz besonders hatten es ihr die Werke von Margaret Mitchell angetan. Rhett Butler, der Held aus „Vom Winde verweht“, beeindruckte sie so sehr, dass sie selbst mit dem Schreiben begann: Während...

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