Bianca Exklusiv Band 351

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SÜSSER ALS DIE POLIZEI ERLAUBT von MICHELLE MAJOR
Um das Sorgerecht für ihr Kind zu behalten, muss Julia vor Gericht einen makellosen Lebenswandel nachweisen. Aber die Scheinverlobung mit Sam Callahan, dem sexy Polizeichef der Stadt, ist ein sehr hoher Preis für ihren kleinen Sonnenschein …

CHARLOTTES HEIMKEHR JANICE von KAY JOHNSON
Der verzweifelte Anruf ihrer Schwester lässt Charlotte keine Wahl: Sie wird auf der Farm gebraucht, die sie damals verlassen hat! Nur ein Besuch – bis ihr der smarte Gray über den Weg läuft. Charlotte muss sich entscheiden: Stadt oder Liebe?

UND DIESMAL IST ES FÜR IMMER von PATRICIA THAYER
Der sexy Rancher Matt Rafferty bringt Alisas Herz ganz schön auf Trab. Aber Vorsicht: Vor drei Jahren hat er sie schon einmal zutiefst verletzt, als er sich nach einer gemeinsamen Nacht einfach aus dem Staub gemacht hat!


  • Erscheinungstag 22.07.2022
  • Bandnummer 351
  • ISBN / Artikelnummer 0852220351
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Michelle Major, Janice Kay Johnson, Patricia Thayer

BIANCA EXKLUSIV BAND 351

1. KAPITEL

Julia Morgan zündete ihr letztes Streichholz an, fest entschlossen, den Brief in ihrer Hand zu vernichten. Sie wusste genau, was für Fehler sie in ihrem Leben gemacht hatte, aber diese auf schickem Briefpapier ausgedruckt zu sehen war unerträglich. Ungeduldig hielt sie die flackernde Flamme an das Schreiben, doch der nasskalte Spätwinterwind aus den Bergen um Julias Heimatstadt Brevia in North Carolina blies sie genauso aus wie die anderen zuvor.

Frustriert stöhnend knüllte sie den Brief zu einer winzigen Kugel zusammen. Anscheinend war sie noch nicht mal fähig, ein einziges Blatt Papier zu verbrennen. Sie kniete sich hin und sammelte die benutzten Streichhölzer vom nassen Boden in einen Müllbeutel, wobei sie das Jaulen der Polizeisirene über ihrem Kopf ignorierte. Vor ein paar Minuten hatte sie mit ihrem Wagen am Rand des Highways geparkt und war ein Stück seitlich den Abhang hinuntergegangen, um gegen die in ihr aufsteigende Panik anzukämpfen.

Während sie versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen, ließ sie den Blick über die Wipfel der Tannen unter ihr gleiten. Erst seit ihrer Rückkehr nach Brevia vor knapp zwei Jahren war ihr bewusst, wie sehr ihr die Berge und die Wälder gefehlt hatten. Bis dahin hatte sie sich eigentlich nie als Naturliebhaberin betrachtet, sondern war rastlos von einer Großstadt zur nächsten gezogen.

Nur ihrem wundervollen Sohn hatte sie es zu verdanken, dass sie inzwischen Wurzeln in Brevia geschlagen hatte. Die dichten Wälder um die Stadt herum schenkten ihr den inneren Frieden, den sie jahrelang vermisst hatte, ohne es zu merken.

Tief durchatmend glättete sie den zerknüllten Brief auf dem Gras. Sie hatte ihn sich in den letzten Wochen immer wieder fast zwanghaft durchgelesen – so lange, bis der Wunsch, ihn zu zerstören, übermächtig geworden war. Sie kannte den Inhalt zwar auswendig, doch es hätte ihr große Befriedigung verschafft, ihn in Flammen aufgehen zu sehen.

Unfähige Mutter … beantrage das Sorgerecht … bessere Chancen.

Tränen schossen ihr in die Augen. Ob sie den Brief verbrannte oder nicht – nichts änderte etwas an der Tatsache, dass er die Macht hatte, ihr Leben zu zerstören. Julia hatte versucht, sich einzureden, dass darin nichts weiter als ein Haufen Lügen und Unterstellungen stand, doch tief im Innersten hatte sie Angst, dass das nicht stimmte.

Plötzlich zog sie jemand an den Armen hoch. „Bist du verletzt?“, hörte sie eine männliche Stimme hinter sich. „Was ist passiert?“ Sie sah zwei große Männerhände über ihre nackten Arme gleiten. Hoppla! „Hau ab“, zischte Julia, als bei ihr plötzlich Gefühle zum Leben erwachten, die sie längst in ewigem Winterschlaf geglaubt hatte.

Sam Callahan, Brevias Polizeichef, ließ sie so abrupt los, als habe er sich die Finger verbrannt. Er marschierte ein paar Schritte den Abhang hoch, drehte sich wieder um und ging zurück zu Julia.

Verstohlen musterte sie seine breiten, sich unter der Polizeiuniform wölbenden Schultern. Sie versuchte, ihre Erregung zu ignorieren. Nur gut, dass sie den Männern abgeschworen hatte. Und besser noch, dass große kräftige Alpha-Männer absolut nicht ihr Typ waren.

Julia gab sich mental einen Ruck. „Was willst du, Sam? Ich bin gerade beschäftigt.“

Sie hätte schwören können, ein wütendes Aufblitzen seiner Augen hinter der verspiegelten Sonnenbrille zu sehen. Er zeigte auf die Straße. „Was ich will, ist eine Erklärung dafür, was zum Teufel dein Wagen schon wieder da oben am Straßenrand macht!“

Ach ja, sie hatte ganz vergessen, dass sie im achten Monat schwanger mit ihrem alten Wagen gegen einen Baum gefahren war, als Sam sie das letzte Mal gefunden hatte. Er hatte sie danach ins Krankenhaus gefahren, wo ihr Sohn Charlie zur Welt gekommen war.

Dieser Tag vor anderthalb Jahren war für sie der Beginn eines neuen Lebens gewesen. Eines Lebens, um das sie bis zum letzten Atemzug kämpfen würde.

Damals war Sam in seinem Job und in der Stadt noch neu gewesen. Und viel netter. Zumindest Julia gegenüber. Doch seit Charlies Geburt ging er ihr so konsequent aus dem Weg, als habe er Angst, der erste Mann in der Geschichte der Menschheit zu sein, der mit einer Schwangerschaft infiziert wurde. Was Julia nur recht war, vor allem in Anbetracht der Gerüchte, die inzwischen über seine Frauengeschichten kursierten.

„Julia?“, riss er sie ungeduldig aus ihren Gedanken. „Da oben sind Bremsspuren!“

„Ich hatte es eilig“, verteidigte sie sich und wischte sich die Tränen von den Wangen.

Sams Blick fiel auf den Müllbeutel zu ihren Füßen. „Riecht es hier etwa nach Rauch?“, fragte er misstrauisch.

„Ich habe nur ein Streichholz angezündet. Okay, mehrere.“ Trotzig hob Julia das Kinn. „Willst du deswegen etwa die Feuerwehr alarmieren?“

Sam murmelte etwas vor sich hin, das sie nicht verstehen konnte, weil über ihnen gerade ein Laster entlangdröhnte. Er nahm seine Sonnenbrille ab und steckte sie in seine Hemdtasche. Er sah schon fast zu gut aus. Sein blonder Kurzhaarschnitt war ein bisschen rausgewachsen und milderte seine markanten Gesichtszüge mit dem schon fast lächerlich breiten Kinn etwas ab. Die Farbe seiner durchdringenden blauen Augen erinnerte Julia an geschmolzenes Eis.

„Du warst auf den Knien“, sagte er entschieden.

Julia schluckte. „Ich habe eine Kontaktlinse verloren.“

„Du trägst keine Kontaktlinsen.“

„Woher weißt du …? Ach, egal.“ Sie bückte sich, um den Beutel mit den nutzlosen Streichhölzern aufzuheben.

Sam berührte sie an einem Arm. „Was machst du hier draußen, Jules?“, fragte er plötzlich so besorgt, dass ihre innere Abwehr in sich zusammenfiel. Sie richtete sich auf und wedelte mit dem Brief vor seiner Nase herum. „Ich habe einen Termin in der Stadt und brauche ein bisschen frische Luft, um meine Gedanken zu sortieren.“

„Erholung vor dem Frisiersalon?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Fürs Haarefärben muss ich mich nicht mental wappnen. Ich habe einen Termin mit einer Anwältin.“

Sam fragte nicht nach Details, musterte sie jedoch aufmerksam.

„Es geht um Charlie“, fügte Julia hinzu. „Darum, ob mir das Sorgerecht für ihn zusteht.“ Zu ihrer Beschämung brach ihr die Stimme.

„Du bist Charlies Mutter. Natürlich steht dir das Sorgerecht zu.“

„Ich weiß.“ Sie hob wieder den Brief. „Aber Jeff und seine Eltern glauben …“

„Wer ist Jeff?“

„Mein Exfreund.“ Julia seufzte tief. „Charlies Vater.“

Sam machte schmale Augen. „Der Typ, der Charlie bisher noch nicht mal eines Blickes gewürdigt hat?“

„Er ist College-Professor und reist als Forscher viel in der Welt herum. Seinem Dad gehört eine Investmentfirma in Columbus, Ohio, und seine Mutter ist Kardiologin im Ruhestand. Die Familie ist reich, einflussreich und sehr intellektuell. Sie haben anscheinend … Bedenken. Hinsichtlich Charlies Zukunft und seines Umfelds. Jeff will eine neue Sorgerechtsregelung.“

„Kennen Jeffs Eltern Charlie schon?“

„Nein, sie haben nach seiner Geburt nur ein paarmal versucht, mich anzurufen. Sie hielten nicht viel von mir, als ich noch mit Jeff zusammen war, und da er nichts mit dem Baby zu tun haben wollte …“ Julia zögerte einen Moment. „Ich habe die beiden meiner Mom überlassen.“

Sam musste grinsen. „Vera wurde bestimmt spielend mit ihnen fertig.“

Julia ignorierte das Zittern ihrer Knie beim Anblick von Sams Lächeln. Ihre Mutter, Vera Morgan, konnte richtig bissig sein. Und auch sie war sehr intelligent. Alle in ihrer Familie waren das. Alle außer Julia.

„Jeffs Mutter ist bei dem Treffen dabei. Sie will sich vergewissern, dass alles in Ordnung … dass Charlie in guten Händen ist.“

„Natürlich ist er in guten Händen. Du bist seine Mutter“, wiederholte Sam.

„Aber ich habe in meinem Leben so viele Dummheiten und Fehler gemacht. Und da Jeff die schmutzigen Details kennt, wissen seine Eltern bestimmt auch Bescheid.“

Julia war wieder den Tränen nahe. Um Sam ihren Zustand zu verbergen, warf sie einen Blick auf ihre Uhr. „Ich könnte jetzt gut ein Haus, einen Ehemann und diverse Ehrenämter gebrauchen. Allerdings ist die Zeit jetzt ein bisschen knapp, das alles zu regeln.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie dem auch sei, danke für deine Besorgnis, aber wie du siehst, geht es mir blendend.“

„Du solltest dich auf kein Gespräch einlassen, solange du keinen eigenen Anwalt hast.“

„Frank Davis hat mir seine Hilfe angeboten, aber ich hoffe, sie nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Die Johnsons wollen bestimmt nur das Beste für Charlie. Ich muss mir zumindest anhören, was sie mir zu sagen haben. Der Junge verdient ein tolles Leben.“ Julia lachte bitter und ging zurück zur Straße. „Leider hat er ausgerechnet mich abbekommen.“

Als sie an Sam vorbeikam, streckte er eine Hand nach ihr aus, doch sie wich instinktiv zurück. Wenn er sie jetzt berührte, würde sie womöglich noch schluchzend zusammenbrechen, und dann war alles aus. Sie musste sich zusammenreißen. Charlie zuliebe.

„Du bietest ihm mehr als genug!“, rief Sam hinter ihr her.

„Dein Wort in Gottes Ohr, Chief“, flüsterte sie.

„Wer sind Sie, und was haben Sie mit meinem Vater gemacht?“, fragte Sam und rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl bei Carl’s herum, Brevias beliebtestem Restaurant. Der Nachmittag steckte ihm immer noch tief in den Knochen. Nach der bizarren Begegnung mit Julia am Rand des Highways war er zu einem Fall häuslicher Gewalt gerufen worden, doch es hatte sich herausgestellt, dass das Chaos nur durch ein in der Küche frei herumlaufendes Huhn zustande gekommen war.

Joe Callahan rückte lachend seine Baseballkappe zurecht. „Ich bin’s wirklich, mein Sohn. Nur ein besserer Mensch als früher.“

Sagt wer?

Sams Vater hatte fast vierzig Jahre lang beim Morddezernat in Boston gearbeitet. Er hatte sein Privatleben immer seiner Karriere untergeordnet, worunter seine Familie oft hatte leiden müssen. Seit Kurzem engagierte er sich für die Förderung emotionaler Intelligenz bei der Polizei. Bisher hatte Sam sich den Bemühungen seines Vaters, auch ihm dabei zu helfen, ‚Zugang zu seinen Gefühlen‘ zu bekommen, erfolgreich widersetzt. Leider war Joe inzwischen angereist und ließ sich nicht länger abwimmeln.

„Die Jungs im Revier fanden mein Seminar ganz toll. Mindestens vier haben am Schluss geweint, und ich habe von sechs Ehefrauen Dankschreiben bekommen.“

„Das ist schön, Dad.“ Sam trank einen großen Schluck Eistee und bedauerte, im Dienst zu sein. Er könnte jetzt ein großes kaltes Bier vertragen. „Aber ich verstehe nicht, was das mit mir oder deinem unerwarteten Besuch zu tun hat.“

Sein Vater zog einen Flyer aus der Aktentasche zu seinen Füßen und schob ihn über den Tisch. „Ich dachte, wir könnten gemeinsam einen Workshop organisieren, wo ich schon mal hier bin.“

Sam warf einen Blick auf das Pamphlet. Sein Magen gurgelte protestierend. Gesetze hüten mit Liebe, vorgestellt von Ex-Polizeichef Joseph Callahan. Auf der Titelseite war ein Foto abgedruckt, auf dem Joe und eine Gruppe uniformierter Polizisten einander umarmten. Sam konnte sich nicht daran erinnern, je von seinem schroffen hartgesottenen Vater umarmt worden zu sein. Was sollte das also … „Ich weiß nicht recht. Das Revier hier besteht nur aus mir und meinem Stellvertreter.“

Joe klopfte auf den Flyer. „Das ist auch etwas für Feuerwehrleute und Sanitäter. Wir könnten auch die Nachbarstädte einbeziehen und eine regionale Veranstaltung daraus machen. Beamte kämen ebenfalls infrage. Du willst doch, dass dein Arbeitsvertrag verlängert wird, oder? Hiermit könntest du dein Potenzial erweitern und richtig Eindruck schinden.“

Sam wurde es allmählich zu bunt. „Mein Potenzial als was? Ich bin Polizeichef, kein weichgespülter Softie!“

Als er den verletzten Blick seines Vaters sah, bereute Sam seine schroffen Worte sofort. „Sorry. Aber du weißt ja, wie klein diese Stadt ist und …“

Joe winkte großzügig ab. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Er nahm seine Lesebrille ab und betupfte sich die Augen mit einer Serviette.

„Du wirst doch jetzt wohl nicht weinen“, murmelte Sam entsetzt. „Du weinst sonst nie.“

„Inzwischen schon. Ich nehme mir bewusst einen Moment Zeit, meinen Schmerz zu fühlen.“

Na toll! Das ist heute schon das zweite Mal, dass ich jemanden zum Weinen bringe.

Joe putzte sich lautstark die Nase und blickte seinen Sohn aus tränenfeuchten Augen an. „Ich spüre meinen und deinen Schmerz.“

„Ich spüre gar nichts.“ Sam schloss genervt die Augen. „Abgesehen von leichten Kopfschmerzen.“

Joe ignorierte die Bemerkung. „Ich habe dir das angetan, Sammy“, sagte er.

Sammy? Sams Vater hatte ihn nicht mehr Sammy genannt, seit …

„Als deine Mutter starb, brach für mich eine Welt zusammen. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne sie zu leben und wollte es auch nicht. Ich ertrug es nicht, dich und deinen Bruder so traurig zu sehen. Daher tat ich das Einzige, was mir einfiel, um zu überleben. Ich verhärtete mein Herz und sorgte dafür, dass ihr das auch tatet. Das war falsch von mir. Ich bin gekommen, um es wiedergutzumachen.“

Sam spürte die neugierigen Blicke der Gäste an den Nachbartischen. „Wollen wir für einen Moment rausgehen?“

Joe folgte Sams Blick und schüttelte den Kopf. „Es ist mir nicht mehr peinlich, meine Gefühle zu zeigen.“ Er holte tief Luft. „Seit dem Vorfall mit meiner alten Pumpe“, fügte er hinzu und klopfte sich auf die Brust. „Wenn man dem Tod ins Auge blickt, überdenkt man manchmal sein ganzes Leben.“

„Das war nur eine Verdauungsstörung, Dad, kein echter Herzinfarkt!“

„Spielt keine Rolle. Es fühlte sich echt an. Und die Wirkung auf mein Leben war genauso echt.“ Joe rückte sich die Brille zurecht. „Ich wünsche mir, dass auch du dein Leben veränderst. Ich will, dass du glücklich bist.“

„Ich bin doch glücklich.“ Sam goss sich ein paar Eiswürfel in den Mund und begann zu kauen. „Überglücklich sogar!“

„Hast du denn eine Frau an deiner Seite?“

In Sams Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. „Ich … na klar“, stammelte er. „Sie ist toll.“ Er wandte den Blick von seinem Vater ab, um ihm nicht ins Gesicht lügen zu müssen, und sah sich in dem überfüllten Restaurant um. Sein Blick blieb an Julia hängen, die an einem der hinteren Tische saß. Beim Betreten des Lokals vorhin war sie ihm gar nicht aufgefallen, aber jetzt konnte er den Blick gar nicht mehr von ihr abwenden.

Anscheinend traf sie sich hier mit der Mutter ihres Exfreundes. Die beiden Frauen, die ihr gegenübersaßen, wirkten kühl und beherrscht. Julia hingegen war hochrot angelaufen und schlug mit einer Faust auf den Tisch, als sei sie kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

Ganz ruhig, dachte Sam.

Julia erwiderte seinen Blick, als habe sie ihn gehört.

Das Herz schlug Sam plötzlich bis zum Hals, als er sah, wie sie die Schultern straffte und die Hände in den Schoß legte.

Er richtete den Blick wieder auf seinen Vater. „Sie würde dir gefallen. Sie ist ein echter Hitzkopf.“

Joe lächelte. „Wie deine Mutter.“

Sam musste sich dazu zwingen, Julia keine Beachtung mehr zu schenken. „Ich war erst zehn, als sie starb. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern.“

„Ist deine jetzige Freundin anders als deine bisherigen?“

Sam fing den Blick einer Kellnerin auf und signalisierte ihr, dass er zahlen wollte.

„Ich finde, du brauchst eine neue Perspektive“, fuhr Joe fort. „Nach dem, was mit …“

„Ich habe keine Lust, mit dir über mein Beziehungsleben zu reden.“

Joe nahm Sams Hand. „Ich weiß genau, dass du eines Tages eine gute Frau finden und sie heiraten wirst.“

Sam hörte ein lautes Husten hinter sich und drehte sich zu der jungen Kellnerin um, die ihn anstarrte. Ihr Blick konnte nur als lüstern bezeichnet werden. Na großartig.

Sam war mit einigen Frauen ausgegangen, nachdem er hierhergezogen war, doch seit Längerem verbrachte er seine Zeit lieber allein, weil das einfacher und unkomplizierter war. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich eine Freundin habe“, erklärte er seinem Vater, laut genug, um von der Kellnerin verstanden zu werden. „Wir sind sehr glücklich.“

Die junge Frau knallte die Rechnung auf den Tisch und stolzierte hochmütig davon.

„Ist es etwas Ernstes?“, fragte Joe interessiert.

Sams Blick wanderte wieder zu Julia. „Sehr“, murmelte er. Offensichtlich war sie gerade kurz vorm Explodieren. Diesmal erreichte seine mentale Warnung sie nicht. Ihre Stimme wurde so laut, dass die Gäste an den Nebentischen sich zu ihr umdrehten.

„Ich würde sie gern kennenlernen“, sagte Joe und rieb sich erwartungsvoll die Hände. Offensichtlich bekam er von dem Tumult hinter sich nichts mit. „Ruf sie doch an und frag sie, ob sie zum Nachtisch vorbeikommen will. Wenn sie wirklich so toll ist, wie du sagst, muss ich unbedingt dafür sorgen, dass du es nicht wieder versaust.“

Sam hatte in diesem Augenblick andere Sorgen, als eine Beziehung zu versauen, die gar nicht existierte. Er musste nämlich eine Katastrophe abwenden. „Bin gleich wieder da.“

Joe hielt ihn an einem Arm fest. „Nicht böse sein, Sammy, das war nur ein Witz. Du bist ein toller Mann.“

Sam schüttelte die Hand seines Vaters ab. „Ich brauche nur eine Minute. Bleib hier sitzen.“

Er lief um einen vorbeigehenden Kellner herum auf Julia zu, die inzwischen aufgesprungen war.

„Sie haben ja keine Ahnung, wozu ich fähig bin!“, rief sie gerade, als er bei ihr ankam. Die Blicke sämtlicher Gäste um sie herum waren auf sie gerichtet. Als sie nach einem Wasserglas griff, hielt Sam rasch ihre Hand fest, bevor sie den Inhalt jemandem ins Gesicht kippen konnte. „Hey, Schätzchen“, sagte er und zog sie an sich. „Ich wusste ja gar nicht, dass du deinen Termin hier hast. Alles in Ordnung mit dir?“

„Lass mich gefälligst los!“, zischte sie. „Das hier geht dich überhaupt nichts an.“

Sam setzte sein breitestes Lächeln auf. „Ich habe deine neuen Freundinnen noch gar nicht kennengelernt.“

Julia versuchte vergeblich, sich von ihm loszumachen. „Das sind nicht meine …“

„Hallo die Damen“, unterbrach Sam sie und richtete die Aufmerksamkeit auf die beiden fremden Frauen, die ihn entgeistert anstarrten. „Ich bin Sam Callahan, ein … äh … Freund von Julia.“

Eine der Frauen trug ein Kostüm mit Perlenkette und schrie geradezu nach altem Geld. Sie hatte einen großen Diamantring an der linken Hand. Das musste Charlies Großmutter väterlicherseits sein. Neben ihr saß eine junge Frau mit Retro-Brille und spießiger Bluse.

„Freund?“, fragte die ältere Frau verächtlich. „Letzte Eroberung trifft es vermutlich besser.“ Sie stieß die Frau neben sich an. „Machen Sie Notizen. Jetzt gibt sie auch noch mit ihrem neuesten Liebhaber an.“

Liebhaber? Sams Lächeln erstarb. „Entschuldigen Sie mal bitte, Ma’am, Sie haben einen völlig falschen Eindruck …“

Unbeirrt redete die Frau weiter: „Unvorstellbar, welchen Einflüssen mein Enkel ausgesetzt ist. Seine Mutter ist ganz offensichtlich ein Flittchen. Wenn die Richterin das erfährt …“

Sam platzte allmählich der Kragen. Warnend hob er eine Hand. „Einen Moment mal, Lady. Wenn Sie glauben, Sie können einfach in diese Stadt spazieren …“

Julia presste die Fingernägel in seinen Arm. „Ich brauche deine Hilfe nicht. Geh weg.“

Sam sah ihr an, dass sie nicht nur wütend, sondern auch verlegen war. Und dass sie Angst hatte. Bei der Erwähnung des Wörtchens „Richterin“ hatte ihr Kampfgeist sie offensichtlich verlassen. Für einen Moment bereute er es, sich eingemischt zu haben, doch ein Teil von ihm sehnte sich danach, den Helden zu spielen. Nur dann spürte er sich selbst. Ein Held zu sein, war eins der wenigen Dinge, die seinem Leben einen Sinn verliehen.

Er ließ Julia los und richtete seinen durchdringendsten Gesetzeshüter-Blick auf die Großmutter. Wie erwartet zuckte sie erschrocken zurück und warf ihrer Begleiterin einen nervösen Blick zu. „Ich bin Sam Callahan, Brevias Polizeichef.“ Er stützte die Hände in die Hüften. „Und um mal eins klarzustellen, ich bin niemandes Liebhaber und würde es begrüßen, wenn Sie sich in meiner Stadt etwas zivilisierter benehmen würden. Wir halten nicht viel von Fremden, die bösartige Gerüchte über uns verbreiten. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“

Mehrere Sekunden vergingen, bevor die spießig aussehende junge Frau sich verlegen räusperte. „Mr. Callahan …“

Sam straffte die Schultern. „Sie können mich Chief nennen.“

Die Anwältin schluckte. „Chief Callahan, ich bin Lexi Preston. Ich vertrete die Interessen von Charlie Morgans Vater Jeff Johnson und seinen Großeltern Dennis und Maria Johnson. Mein Vater ist der Familienanwalt der Johnsons und hat mich gebeten …“

„Kommen Sie zur Sache.“

„Natürlich“, murmelte Lexi, während sie die Unterlagen auf dem Tisch zusammenschob. „Ich habe Miss Morgan lediglich die Fakten des Falls dargelegt, doch sie reagierte unverhältnismäßig feindselig und streitsüchtig. Meine Mandantin trifft absolut keine Schuld. Wir haben Aussagen von mehreren früheren Bekannten von Miss Morgan bezüglich ihres Charakters eingeholt. Dr. Johnsons Bedenken sind eindeutig berechtigt.“

Sam hörte Julia neben sich erschrocken aufkeuchen, ließ die beiden Frauen jedoch nicht aus den Augen. „Es ist mir egal, was in diesen sogenannten Aussagen steht. Ich werde nicht zulassen, dass Sie Julias Namen in den Schmutz ziehen.“

Lexi Preston packte ihre Unterlagen ein. „Was geht Miss Morgans Ruf Sie eigentlich an? Laufen vielleicht irgendwelche polizeilichen Ermittlungen gegen sie?“

„Du machst alles nur noch schlimmer“, flüsterte Julia. „Verschwinde, Sam. Jetzt!“

Aus dem Augenwinkel sah Sam seinen Vater ein paar Schritte entfernt stehen und ihn aufmerksam beobachten. Oh Gott, wo soll ich jetzt bloß eine Freundin herkriegen?

Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit handelte er, ohne nachzudenken, als er seinen Unterarm aus Julias Todesgriff befreite und ihre Hand nahm. „Miss Morgans Ruf geht mich deshalb etwas an, weil ich sie heiraten werde.“

2. KAPITEL

Julia hatte nicht damit gerechnet, dass es noch schlimmer kommen konnte.

Und zack, war es so weit.

Schockiert sah sie sich im Restaurant um und begegnete den Blicken der ebenso schockierten Gäste an den Nachbartischen. Sie erkannte viele von ihnen wieder; das Carl’s war ein beliebtes Lokal im Ort.

Sie zerrte Sam ein paar Schritte beiseite und zwang sich dazu, ihn anzulächeln, obwohl sie ihre ganze Willenskraft brauchte, um ihn nicht zu ohrfeigen. „Hast du den Verstand verloren?“, zischte sie.

Sein Lächeln war genauso unaufrichtig wie ihrs. „Sieht ganz so aus.“

„Bring die Situation sofort wieder in Ordnung. Du musst das Ganze unbedingt wieder geraderücken!“

„Genau das versuche ich ja gerade.“ Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. „Vertrau mir einfach.“

Niemals. Julia vertraute grundsätzlich keinem Mann mehr, dafür hatte sie schon zu oft schlechte Erfahrungen gemacht. Sie selbst war die Einzige, auf die sie und Charlie sich verlassen konnten. „Fass mich nicht an!“

Sam ließ die Hand sinken. „Ich werde dir helfen, ob dir das passt oder nicht!“

Julia sah sich nervös nach der Anwältin und Charlies Großmutter um. Letztere sah für einen Moment fast besorgt aus. Julia verstand zwar nicht, was den Riss in der Fassade der Eiskönigin verursacht hatte, aber irgendwie musste das mit Sams Auftritt zu tun haben.

„Na schön“, sagte sie. „Dann lass dir mal was einfallen. Charlies Zukunft steht auf dem Spiel.“

Sam musterte sie einen Moment lang eindringlich, kniete sich dann vor ihr hin und nahm ihre linke Hand.

„Damit meinte ich nicht, dass du …“

„Julia Morgan“, durchdrang seine klare tiefe Stimme das Restaurant. „Wir haben unsere Beziehung bisher geheim gehalten – ein nicht gerade einfaches Unterfangen in Brevia –, aber jetzt wird es höchste Zeit, sie offiziell zu machen.“ Er räusperte sich und rückte sich den Kragen seines gestärkten Hemds zurecht. „Würdest du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?“

Julia blinzelte gegen die ihr plötzlich in die Augen schießenden Tränen an. Früher einmal hatte sie sich so sehr nach einem Heiratsantrag gesehnt. Von Jeff. Sie hatte sich so lange an der Illusion festgeklammert, dass er der Richtige für sie war, dass sie sich total selbstsüchtig verhalten hatte. Doch dann hatte ihr das Schicksal einen wundervollen Sohn geschenkt. Und jetzt riskierte sie, ihn wieder zu verlieren.

Nicht zum ersten Mal seit dem Erhalt des Briefs fragte sie sich, ob ihr Sohn bei den Johnsons nicht doch besser aufgehoben war. Sie konnte ihm wirklich unendlich viel mehr bieten als sie.

Sie schloss die Augen und versuchte, sich zusammenzureißen. Sie war Charlies Mutter und würde nie aufhören, um ihn zu kämpfen.

Sam berührte sie am Handgelenk. „Würdest du bitte meine Frage beantworten? Ich kriege allmählich einen Krampf im Bein.“

„Oh nein! Sorry.“

„Nein?“, fragte er, begleitet vom erschrockenen Aufkeuchen der anderen Gäste.

„Ich meinte Ja. Steh endlich auf, du Idiot!“ Julia schoss das Blut ins Gesicht, und ihr wurde schlecht vor Angst. Was war bloß in sie gefahren? Endlich hatte sie kapiert, dass man sich auf keinen Mann verlassen konnte, und jetzt legte sie ihre ganze Zukunft in Sams Hände?

Sam stand auf und rieb sich das linke Knie. „Halt dich bitte mit Schimpfwörtern zurück“, murmelte er. „Wir sind verliebt, vergiss das nicht.“

„Worauf du Gift nehmen kannst, Schatz!“

Diesmal war Sams Grinsen so aufrichtig, dass es ziemlich heftige Körperreaktionen bei Julia auslöste. Er drehte sich zu Julias Tisch um, doch bevor er etwas zu den beiden Frauen sagen konnte, kam ein älterer Mann auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. „Das sind ja wundervolle Neuigkeiten!“

Wundervoll? Nicht wirklich.

Sam fing Julias verwirrten Blick auf. „Ich habe ganz vergessen, dir zu sagen, dass mein Vater heute zu Besuch da ist. Das ist Joe Callahan, dein künftiger Schwiegervater.“

Oha.

Joe nahm Julias Gesicht in die Hände. „Du bist genau das, was er braucht, das sehe ich jetzt schon.“ Tränen schimmerten in seinen Augen, die die gleiche Farbe hatten wie Sams, doch sein Blick war so freundlich und liebevoll, dass Julia einen Kloß im Hals bekam. „Sie erinnern mich an meine Lorraine, Gott hab sie gnädig.“

„So, das reicht, Dad.“ Sam befreite Julia energisch aus Joes Griff, doch nur, um sie wieder an sich zu ziehen.

„Ich gebe eine Runde aus“, sagte Joe. „Alle Freunde von …?“

„Julia“, sagte Sam seufzend.

„Alle Freunde meiner künftigen Schwiegertochter sind auch meine Freunde.“

Wir jedenfalls nicht“, sagte Lexi Preston mit gepresster Stimme. „Wie schon gesagt, vertrete ich den biologischen Vater ihres Sohnes, der eine neue Sorgerechtsregelung will. Er und seine Eltern wollen nur das Beste für das Kind. Sie könnten ihm ein viel besseres Leben bieten und …“

„Sie wollen mir mein Kind wegnehmen“, murmelte Julia. Sam festigte den Griff um ihre Taille.

Falls Joe überrascht war, zu erfahren, dass sie ein Kind hatte, ließ er sich nichts anmerken. Er richtete sich würdevoll auf. „Das ist doch lächerlich. Sie ist die Mutter.“

„Dad, das hier ist nicht der richtige Zeitpunkt …“, begann Sam, doch sein Vater schenkte ihm keinerlei Beachtung.

Joe stieß einen Zeigefinger vor. „Jetzt hören Sie mir mal gut zu! Ich weiß ja nicht, was das Ganze hier soll, aber ich versichere Ihnen, dass mein Sohn das Kind und Julia beschützen wird. Er vertritt hier das Gesetz, verdammt noch mal.“ Als er sich über den Tisch beugte, sah Julia die Anwältin nervös schlucken. Joe Callahan sah vielleicht wie ein Teddybär aus, aber er hatte ein Rückgrat aus Stahl. „Sie werden es auch mit mir zu tun kriegen, wenn Sie ihr Schaden zufügen.“

„Ich habe für heute die Nase voll von dieser Stadt.“ Maria versetzte der Anwältin einen Stoß, und die stand rasch auf. „Es ist mir egal, wer von diesen Provinzlern Ihnen beisteht, Julia. Wir werden …“

Lexi legte Maria beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. „Je weniger wir heute sagen, desto besser. Wir haben nächste Woche einen Gerichtstermin.“ Sie nickte Julia kurz zu. „Miss Morgan, wir sehen uns.“

„Kümmern Sie sich um die Rechnung, Lexi“, bellte Maria Johnson ihr noch zu, bevor sie aus dem Restaurant stolzierte.

„Heißt das, sie verlässt Brevia?“, fragte Julia die Anwältin.

„Vorerst ja. Ich werde für die Dauer des Rechtsstreits hierbleiben. Die Johnsons fliegen zur Anhörung her.“ Lexi beugte sich vertraulich vor. „Ich will Ihnen ja keine falschen Hoffnungen machen, aber ein stabiles Umfeld könnte Ihre Situation verbessern.“ Erschrocken schlug sie eine Hand vor den Mund, so als habe sie mehr verraten, als sie wollte. Hastig nickte sie der kleinen Gruppe zu und eilte davon.

Julia umarmte Joe dankbar. „Vielen Dank für Ihre verbale Unterstützung, Mr. Callahan.“

„Das habe ich ernst gemeint. Sam wird nicht zulassen, dass Ihnen etwas passiert.“

Sam.

Julia drehte sich zu ihm um, senkte den Blick jedoch zu seiner Polizeimarke, da ihr der direkte Blickkontakt schwerfiel. „Entschuldigen Sie die Störung“, sagte sie an die Leute an den Nachbartischen gewandt. „Essen Sie ruhig weiter, wir sind gleich weg.“

„Einen Moment noch!“, durchdrang Sams Stimme die Stille.

Julia hielt erschrocken die Luft an.

„Wie die meisten von euch ja schon gehört haben, haben Julia und ich etwas zu feiern.“ Er zog Julia wieder an sich. Ihre Finger schienen sich wie von allein auf seiner Brust zu spreizen. „Wir sollten uns glaubwürdig benehmen“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Applaus dröhnte durch das Restaurant, und Gläser klirrten, als die Gäste auf das neue Brautpaar anstießen. „Küssen, küssen, küssen!“, skandierten sie.

Julia war wie gebannt von Sams glutvollem Blick.

„Wir sollten ihnen geben, was sie wollen“, sagte er.

„Ich fass es nicht! Außerdem hatte ich Knoblauch zum Abendessen“, murmelte sie und wand sich unbehaglich in seinen Armen.

„Das Risiko gehe ich ein“, antwortete Sam lachend.

„Ganz wie du willst.“ Ihre Wangen brannten vor Verlegenheit, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und die Lippen auf seine presste – ein keuscher Kuss, der auf den Balkon des Buckingham Palace gepasst hätte, doch noch bevor sie den Kuss beenden konnte, schob Sam ihr eine Hand in den Nacken und neigte ihren Kopf zurück. Erschrocken keuchte Julia auf, als sie erst seine warmen Lippen und dann seine Zunge spürte.

Ihr wurde heiß. Sein Duft stieg ihr in die Nase – warm, würzig und absolut maskulin. Instinktiv schlang sie ihm die Arme um den Hals und schob die Hände in sein Haar. Sie hörte ihn scharf einatmen, bevor er sie und sich abrupt aufrichtete, begleitet von anfeuernden Rufen, Getrampel und Pfiffen.

„Ja, so macht man das!“, rief ihnen jemand zu.

„Okay, Leute.“ Sam ließ den Blick grinsend durch den Raum gleiten. „Die Show ist vorbei. Ich werde meine schöne Braut jetzt nach Hause bringen.“

Julia berührte benommen die Lippen.

Als sie mit Sam und Joe nach draußen ging, fiel ihr Blick auf einige Frauen, die in einer Ecke tuschelten. Na toll, morgen würde bestimmt der ganze Salon über die Verlobung klatschen. Zu allem Überfluss strahlte Sam hinter ihr eine unglaubliche Frustration aus. Vielleicht bereute er seinen dämlichen Heiratsantrag ja schon.

Sein Pech, schließlich war die ganze Situation nur seine Schuld!

Auf der anderen Seite hatte sein Auftritt Maria Johnson und ihrer Anwältin ganz schön den Wind aus den Segeln genommen. Julia wusste zwar noch nicht, was Sam davon hatte, aber das war nicht ihr Problem.

Es ging hier um Charlie. Er war das Wichtigste für sie, und sie würde alles für ihn tun.

Aber erst mal brauchte sie Zeit zum Nachdenken. Irgendwie musste sie diese bizarre Situation verdauen. „Es war ein langer Tag, Jungs“, sagte sie. „Joe, es war schön, Sie kennenzulernen. Wie lange bleiben Sie in …“

„Wir müssen uns unterhalten“, unterbrach Sam sie schroff und hielt sie an einem Arm fest.

„Ach, ein Weilchen. Ich will meinem Sohn dabei helfen, Zugang zu seinen Gefühlen zu finden.“ Joe versetzte Sam einen herzhaften Schlag auf den Rücken. „Aber dem kleinen Schauspiel gerade eben nach zu urteilen scheint er schon auf dem richtigen Weg zu sein. Sie tun ihm gut, Julia. Wirklich gut.“

Aha, jetzt weiß ich, woher der Wind weht!

Sams Griff um Julias Arm lockerte sich. Er musterte seinen Vater argwöhnisch. „Du meinst also, der Kuss hat dich davon überzeugt, auf deinen Emotions-Hokuspokus verzichten zu können?“

Julia versetzte seinem Arm einen scherzhaften Klaps. „Du sprichst mit deinem Vater. Zeig gefälligst etwas Respekt.“

Sams Blick war vernichtend. „Ich werde dich daran erinnern, wenn deine Mom das nächste Mal in der Nähe ist.“

Lachend nahm Joe sie in die Arme. „Das war nicht nur irgendein Kuss. Es ist etwas Besonderes, wenn man den Richtigen oder die Richtige küsst. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich wette, man konnte die Funken zwischen euch bis zur nächsten Küste sprühen sehen.“

Als Julia Joes vertrauensvollen Blick sah, bekam sie sofort ein schlechtes Gewissen. „Mr. Callahan, ich bin nicht mit Sam …“

„Du hast recht, Dad“, fiel Sam ihr hastig ins Wort. „Es ist anders mit Julia. Und ich habe mich verändert, also brauchst du dir um mich keine Sorgen mehr zu machen.“ Er kniff Julia in die Nasenspitze – ein bisschen fester als nötig für ihren Geschmack.

„Autsch!“

„Sie ist ja so empfindsam.“ Lachend küsste er sie auf die Stirn. „Was würde ich nur ohne sie machen?“

„In Charlotte auf Frauenjagd gehen?“

„Verstehst du jetzt, warum ich sie brauche?“

Joe nickte. „Ja, tue ich.“

Sam drehte sich wieder zu Julia um und ließ die Hände über ihre Arme gleiten. „Wo steht dein Wagen?“

Julia zeigte auf die blaue Jetta, die ein paar Meter von ihnen entfernt parkte. In ihrem Kopf schwirrte immer noch alles.

„Sehr gut. Ich bringe Dad jetzt zurück ins Hotel. Wir unterhalten uns morgen weiter.“

Sams Blick gefiel Julia überhaupt nicht. „Ich habe morgen alle Hände voll im Salon zu tun.“

„Für die einzige wahre Liebe ist man nie zu beschäftigt.“

Julia unterdrückte einen Würgereiz. „Ach ja?“

„Also bis dann, Süße.“ Als er ihr in den Po kniff, schrie sie erschrocken auf. Ihr erster Impuls war, nach ihm zu schlagen, doch dann beschloss sie, sich einfach würdevoll umzudrehen und zu ihrem Wagen zu gehen.

So bizarr das alles gewesen war, Sams öffentlicher Antrag schien seinen Zweck erfüllt zu haben. Lexi Preston zufolge veränderte sein plötzliches Auftauchen auf der Bildfläche einiges. Solange Sam dafür sorgte, dass Charlie in Sicherheit war, würde sie das Spiel einfach mitspielen.

Egal, welchen Preis sie dafür zahlen musste.

Sam trank einen stärkenden Schluck Kaffee, während er eine weitere Frau in The Best Little Hairhouse in Brevia verschwinden sah. Er wusste, dass Julia seit ihrer Rückkehr vor zwei Jahren in dem Salon arbeitete, aber das war nicht der Grund, warum er das Etablissement bislang gemieden hatte wie die Pest. Der Laden war einfach zu mädchenhaft für seinen Geschmack. Er war bisher nur ein einziges Mal drin gewesen, und das auch nur, weil die Besitzerin einen hinter dem Gebäude herumlungernden Mann gemeldet hatte. Er war sich dabei wie ein Zuchtstier bei einer Auktion vorgekommen.

Sam rückte sich seine Hutkrempe zurecht, knöpfte sich seine Jacke zu und überquerte die Straße. Er hatte seinen Besuch bis fast zur Mittagszeit hinausgeschoben, weil es ihn irritierte, wie sehr er sich danach sehnte, Julia wiederzusehen. Einen Teil von ihm machte sie wahnsinnig, aber ein anderer Teil – einen, den er zu ignorieren versuchte – wollte ihr nach Sonne duftendes Haar riechen.

Bestürzt fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht. Sonne? Haar? Was zum Teufel war bloß los mit ihm? Frauenhaare rochen nicht nach Sonne! Schon gar nicht Julias, die sich als Stylistin bestimmt jede Menge klebriges Zeug reinschmierte. Obwohl sich das bei ihrem Kuss gestern ganz anders angefühlt hatte …

Sam schüttelte die Erinnerung ab und stieß die Tür des Salons auf. Aus dem Hintergrund des Ladens klang durchdringendes Gekreische. Sam horchte auf. Er verbrachte zwar nicht viel Zeit in Schönheitssalons, aber dieses Geräusch war bestimmt nicht normal.

„Ich werde sie erwürgen!“, hörte er eine Frau schreien.

Eindeutig, da stimmte etwas nicht.

Sam warf einen Blick zum leeren Empfangstresen und trat durch den breiten Durchgang in den Salon. Um einen der Stühle hatte sich eine Gruppe Frauen geschart, Julia mittendrin.

„Gibt es ein Problem, Ladies?“

Sieben Augenpaare richteten sich auf ihn. In ihnen spiegelten sich sämtliche Emotionen von Angst bis Wut wider.

„Sam, gut, dass Sie da sind!“

„Sie können sich nicht vorstellen, was gerade passiert ist!“

„Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Verlobung, Chief.“

Die letzte Bemerkung ließ die Gruppe verstummen. Sam begegnete Julias nervösem Blick. „Nicht jetzt“, formte sie lautlos mit den Lippen, bevor sie von der voluminösen Frau auf dem Stuhl zur Seite geschoben wurde. Deren Kopf war von leuchtend rosa Löckchen gekrönt. Sam musste sich beherrschen, nicht mit offenem Mund dazustehen.

„Sie können Ihre Verlobung später feiern. Ich will, dass diese Frau verhaftet wird!“, sagte Ida Garvey empört.

Sam war an Idas diktatorischen Befehlston gewöhnt. Dank des großzügigen Erbes, das ihr Mann ihr hinterlassen hatte, war sie die wohlhabendste Frau der Stadt. Abgesehen von ihrer gerade etwas schrillen Haarfarbe sah sie wie eine Bilderbuchoma aus, aber der Eindruck täuschte. Sie war herrschsüchtig und hatte eine äußerst scharfe Zunge.

Im ersten Moment dachte Sam, dass sie Julia meinte, doch dann fiel ihm eine in einer Ecke zusammengekauerte junge Frau ins Auge, die sich die Tränen von den Wangen wischte.

„Ida, seien Sie doch nicht so eine Dramaqueen“, sagte Julia kopfschüttelnd. „Niemand wird hier verhaftet. Unfälle kommen vor. Wir werden das Ganze wieder in Ordnung bringen.“

„Sie hat mir die Haare rosa gefärbt!“, kreischte Ida und griff nach einem Lockenstab. „Ich werde sie umbringen!“ Sie sprang auf und stürzte sich auf die zusammengekauerte Frau, doch Julia stellte sich ihr in den Weg. Ida ließ den Lockenstab fallen, dessen Metallstab Julias Arm streifte, bevor er scheppernd auf dem Fußboden landete.

Julia stieß einen Fluch aus, während Ida immer mehr in Fahrt geriet: „Sehen Sie nur, wozu Sie mich gebracht haben“, brüllte sie die schluchzende Stylistin an. „Ich habe Julia verbrannt!“

Sam sehnte sich in diesem Augenblick nach einer ganz normalen Barschlägerei. Er ging auf Ida zu, die bei seinem Anblick erschrocken zurückwich. „Wollen Sie mich etwa verhaften, Chief?“

„Setzen Sie sich, Mrs. Garvey.“ Sam zeigte auf die Gruppe. „Alle anderen halten bitte den Mund. Sofort.“

Ida ließ sich zurück auf ihren Stuhl fallen, während die anderen Frauen verstummten.

Julia zuckte zusammen, als Sam nach ihrem verbrannten Handgelenk griff.

„Wo ist ein Wasserhahn?“

„Es geht mir gut“, sagte sie durch zusammengebissene Zähne. „So etwas passiert hier öfter.“

„Ich hoffe doch nicht!“

„Nicht unter solchen Umständen natürlich. Im Hinterzimmer ist ein Waschbecken.“ Julia versuchte, sich aus Sams Griff zu befreien, doch er ließ sie nicht los.

„Keiner rührt sich von der Stelle“, befahl er den anderen Frauen. „Das gilt vor allem für Sie, Ida.“

„Ich brauche deine Hilfe nicht“, sagte Julia störrisch, als er ihr ins Hinterzimmer des Salons folgte.

„Du lässt mich auf keinen Fall mit den anderen allein!“

„Ach, plötzlich bist du doch nicht mehr so mutig?“ Julia fummelte unbeholfen am Wasserhahn herum.

Sam schob sie zur Seite. „Lass mich das machen. Hübscher Ring übrigens. Ich habe anscheinend einen guten Geschmack.“

„Ich habe ihn von … na ja, ist auch egal.“ Errötend betrachtete Julia den funkelnden Diamantring an ihrer linken Hand. „Ich dachte, ich trage lieber schon mal einen, um neugierigen Fragen vorzubeugen. Du weißt ja, wie die Einwohner klatschen, vor allem hier im Salon.“

Sie mussten sich dringend unterhalten, aber Julias Verletzung hatte Vorrang. „Erzähl mir, was passiert ist.“

„Crystal, das Mädchen in der Ecke, ist unsere neueste Stylistin. Ida kam vorhin ohne Termin vorbei, und Crystal war die Einzige, die Zeit hatte. Als sie anfing, die Farbe abzumischen, fing Ida an, ihr Befehle zu erteilen. Crystal wurde so nervös, dass sie die Farbe falsch gemischt hat. Anstatt weiß ist Mrs. Garveys Kopf jetzt leuchtend rosa.“

Sam unterdrückte ein Lächeln, als er Julias Arm unter den kalten Wasserstrahl hielt und beobachtete, wie sie seufzend die Augen schloss. Er war überrascht, wie zart ihre Haut sich anfühlte. „Willst du sie anzeigen?“, fragte er.

Julia öffnete die Augen und lächelte. „Wegen eines tödlichen Angriffs mit einem Lockenstab? Nein, lieber nicht.“

Ihr Lächeln machte ihre Gesichtszüge weicher, sodass ihre Schönheit weniger ätherisch als natürlich wirkte. Sam liebte Natürlichkeit.

Sie musste ihm etwas angemerkt haben, denn sie entriss ihm ihre Hand und stellte das Wasser ab. „Ich muss wieder nach vorne, bevor Ida sich womöglich wieder auf Crystal stürzt.“

„Hast du Crystal eingestellt?“

„Ja, vor drei Wochen. Sie kommt aus Memphis, ist gerade mit der Schule fertig und wohnt bei ihrer Tante.“ Julia verstummte und sah Sam aus schmalen Augen an. „Findest du es dumm, ein Mädchen mit so wenig Erfahrung einzustellen?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Alle denken, dass Val einen Fehler gemacht hat, indem sie mir die Leitung des Salons übertragen hat. Sie lauern förmlich darauf, dass ich scheitere.“ Julia schlang die Arme um ihre Taille und verzog das Gesicht, als die Brandwunde ihren Pullover streifte. „Tja, jetzt ist es anscheinend so weit.“

Sam wusste, dass Val Dupree, die Besitzerin des Salons, sich zur Ruhe setzen wollte. Julia war gerade dabei, einen Kredit aufzunehmen, um ihr den Laden abzukaufen. Val hatte ihr schon jetzt die Geschäftsleitung übertragen, da sie den Winter in Florida verbrachte. „Niemand lauert darauf, dass du scheiterst.“

„Du müsstest eigentlich schon lange genug in der Stadt sein, um zu wissen, was die Leute von mir halten.“

Julia sagte das ohne Wut, aber mit Überzeugung. Sam hätte sie am liebsten in die Arme genommen, um sie zu trösten. Gleichzeitig hätte er sie gern geschüttelt, um sie zu Verstand zu bringen. „War es denn ein Fehler, Crystal einzustellen?“

„Nein.“ Julia sah ihn trotzig an. Als er entgegen ihren Erwartungen nicht widersprach, fügte sie hinzu: „Sie ist gut. Oder wird es zumindest sein. Davon bin ich fest überzeugt.“

„Dann sollten wir dafür sorgen, dass Ida Garvey deinen künftigen Star nicht wieder angreift.“

„Stimmt.“ Julia ging voran in den Salon, wo Ida das völlig eingeschüchterte Mädchen noch immer mit dem Blick an die Wand nagelte. Alle anderen drehten sich neugierig zu Julia und Sam um.

Julia straffte die Schultern und ging auf Mrs. Garvey zu. „Ida, es tut mir leid.“ Sie nahm die Hände der älteren Frau. „Ich werde für heute Nachmittag meine Termine absagen und Ihr Haar schöner färben als vorher. Außerdem können Sie unsere Dienste in den nächsten drei Monaten kostenlos in Anspruch nehmen.“

Mrs. Garvey berührte ihr knallrosa Haar. „Das wäre eine große Hilfe.“

„Lizzy?“, rief Julia. Eine junge Frau spähte vom Empfang aus um die Ecke. „Würdest du bitte meine Nachmittagstermine verschieben? Alle anderen gehen zurück an die Arbeit.“

„Es gut mir leid“, sagte Crystal leise zu Julia.

„Nimm dir den Rest des Tages frei, Crystal. Wir sehen uns morgen früh.“

„Frei?“, kreischte Ida. „Ich dachte, Sie feuern sie! Val hätte das sofort getan!“

Julia schoss das Blut in die Wangen, doch sie blieb fest. „Nein, Mrs. Garvey. Crystal hat nur einen Fehler gemacht.“

„Sie ist eine richtige Bedrohung für die Qualität des Salons, das habe ich gleich gemerkt!“

„Sie hat einen Fehler gemacht“, wiederholte Julia. „Zum Teil, weil Sie sie während der Arbeit irritiert haben.“ Sie drehte sich zu Crystal um. „Geh schon, Süße. Wir reden morgen weiter.“

„Am liebsten würde ich Val Dupree sofort anrufen und ihr erzählen, dass Sie ihren Salon in den Ruin treiben!“

„Ich würde mich mit solchen Bemerkungen zurückhalten, Mrs. Garvey“, schaltete Sam sich ein und zeigte auf Idas Haar. „Sonst können Sie vielleicht noch länger so rumlaufen.“

„Das würde Julia nicht wagen.“ Doch Ida klappte den Mund zu und kaute wütend auf ihrer Unterlippe.

„Machen Sie es sich schon mal bequem“, sagte Julia zu ihr. „Wir werden noch eine Weile hier sein.“ Sie drehte sich zu Sam um. „Ich glaube, deine Arbeit hier ist erledigt, Chief.“

Er sah sie eindringlich an. „Wir sind noch nicht fertig.“

„Doch, es sei denn, du willst neben Ida Platz nehmen. Je länger diese Farbe in ihrem Haar bleibt, desto schwieriger wird es, sie wieder rauszukriegen.“

„Du bist unfair.“

Ihre Augen glitzerten frech. „Tja, so bin ich eben.“

3. KAPITEL

Julia rieb die Nase an Charlies Hals und wurde mit einem kehligen Glucksen belohnt. „Wer ist mein Lieblingssohn?“, fragte sie und küsste ihn auf den Kopf.

„Charlie“, piepste er mit seiner hohen Kleinkindstimme.

„Danke dafür, dass du heute auf ihn aufgepasst hast, Lainey.“

Julias jüngere Schwester und ihre Mutter Vera wechselten sich mit Charlies Betreuung ab, wenn seine Babysitterin keine Zeit hatte. „Heute ging es im Salon zu wie im Irrenhaus.“

Ohne die Hilfe ihrer Familie würde Julia ihren Alltag nicht schaffen. Dabei hatten sie und Lainey noch vor zwei Jahren so gut wie keinen Kontakt gehabt. Nur dank Charlie hatten sie jetzt so etwas wie ein schwesterliches Verhältnis.

„Wie im Irrenhaus?“, fragte Lainey, die am Herd stand und in einem Suppentopf rührte.

„Ja. Ida Garveys Haare sahen nach dem Färben aus wie rosa Zuckerwatte.“

Lainey klappte die Kinnlade nach unten.

„Wie du dir vorstellen kannst, ist sie total ausgeflippt.“ Charlie kletterte von Julias Schoß, um mit seinem Feuerwehrauto auf dem Küchenfußboden zu spielen. „Ich brauchte den ganzen Nachmittag, um den Schaden wiedergutzumachen.“

„Ich dachte, du meintest, dass die Frauen dich wegen deiner heimlichen Beziehung und des öffentlichen Heiratsantrags gelöchert haben.“ Lainey drehte sich um und richtete den Kochlöffel auf Julia. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass du mir nichts von eurer Beziehung erzählt hast“, sagte sie verletzt.

Julia stöhnte frustriert. Als sie Sams falschen Antrag angenommen hatte, hatte sie nicht darüber nachgedacht, welche Auswirkungen das auf ihre Familie haben würde. Aber Nachdenken hatte noch nie zu ihren Stärken gehört.

Lainey und ihre Mutter wussten bisher kaum etwas über Julias Zeit vor Brevia. Sie wussten allenfalls, dass Julia bei Männern ein Faible für Loser gehabt und nach jeder gescheiterten Beziehung die Stadt verlassen hatte. Das war ihr immer als die einfachste Lösung erschienen.

Julia wusste, dass sie nach außen hin so wirkte, als habe sie alles im Griff. Mit ihren sarkastischen Bemerkungen weckte sie den Eindruck, dass die kleinen Rückschläge des Lebens an ihr abprallten. Sie gab sich gern als unabhängiger Freigeist.

Doch hinter dieser Maske verbarg sich eine tief sitzende Unsicherheit. Sie hatte Angst, den Erwartungen anderer Menschen nicht gerecht zu werden, sobald sie sie besser kennenlernten. Wegen ihrer Lernschwäche und aus vielen anderen Gründen auch.

Ihre Lese- und Rechenschwäche hatte ihr Selbstbild so grundlegend geprägt, dass sie sich noch immer für ihre vermeintliche Dummheit und Faulheit schämte. Vielleicht suchte sie sich deshalb immer Männer aus, bei denen die Katastrophe vorprogrammiert war. Und sie hatte die anderen Kinder auf der Highschool nur deshalb tyrannisiert, damit sie gar nicht erst die Chance bekamen, sie zurückzuweisen.

Flüchtig spielte sie mit dem Gedanken, Lainey ihre komplizierte Situation anzuvertrauen. Sie sehnte sich nach emotionaler Unterstützung. Aber sosehr ihre Beziehung sich auch verbessert hatte, Julia konnte sich nicht überwinden, ihrer Schwester zu gestehen, welche Angst sie davor hatte, bei dem zu versagen, was ihr wichtiger war als alles andere auf der Welt: Charlie eine gute Mutter zu sein.

„Tut mir leid, ich habe nicht gewollt, dass du es so erfährst.“ Niemand in ihrer Familie wusste bisher, dass Jeff eine neue Sorgerechtsvereinbarung wollte.

Sie stand auf und versuchte, sich einen plausiblen Grund für ihre Zurückhaltung einfallen zu lassen. „Mein Pech mit Männern ist allgemein bekannt, und ich wollte nicht, dass man Sam womöglich vor mir warnt.“

Lainey sah sie voller Mitgefühl an. „Ach, Jules. Als Ethan und ich wieder zusammenkamen, wollte ich auch nicht, dass jemand davon erfährt. Ich hatte Angst, dass die Stadt mir meine früheren Fehler vorhalten würde, und du warst wieder da und … Egal, ich verzeihe dir, denn ich freue mich riesig.“ Sie schlang die Arme um Julia. „Alle mögen Sam, deshalb …“ Lainey biss sich verlegen auf die Unterlippe.

„Deshalb was?“, fragte Julia gereizt. „Glaubst du, dass die Leute mich seinetwegen automatisch ins Herz schließen werden?“

Lainey zuckte die Achseln. „Es kann zumindest nicht schaden. Habt ihr schon einen Termin?“

„Wofür?“

Lainey ließ Julia los. „Na, für die Hochzeit! Ihr heiratet doch in Brevia, oder?“

Julia blinzelte. „Ich glaube schon. Nein, wir haben noch nichts Näheres geplant. Wir wollen uns noch Zeit lassen. Das ist besser für Charlie.“

„Klar“, sagte Lainey stirnrunzelnd und ging zurück zum Herd.

„Sam und ich genießen es einfach, zusammen zu sein“, fügte Julia rasch hinzu. Je mehr Lügen sie von sich gab, desto schuldiger fühlte sie sich. „Weil wir so verliebt sind, weißt du?“

„Ich würde gern bei den Vorbereitungen mitmachen.“

„Natürlich. Wir können mal zusammen losgehen und nach Kleidern gucken und so.“ Julia versuchte, ihr schlechtes Gewissen damit zu beruhigen, dass sie nur vorübergehend lügen musste und sie Lainey und Vera so zumindest den Stress mit dem Sorgerechtsstreit ersparte. „Ich muss jetzt los. Wegen des Durcheinanders heute bin ich mit dem Papierkram für den Salon viel zu spät dran.“

„Brauchst du Hilfe?“

Julia verkrampfte sich unwillkürlich. „Nein, ich schaff das schon allein. Ich bin keine totale Idiotin, auch wenn man immer das Gegenteil behauptet hat.“ Sie bereute ihren sarkastischen Tonfall sofort, als sie bemerkte, wie verletzt Lainey aussah.

Sie erledigte den Papierkram für den Salon meistens erst, wenn Charlie im Bett lag. Sie hatte schon ganze Nächte über der Buchhaltung und den Gehaltsabrechnungen gebrütet, voller Angst, einen Fehler zu machen oder etwas Wichtiges zu übersehen. Niemand durfte wissen, wie unfähig sie war, einen eigenen Laden zu leiten.

„Niemand hält dich für eine Idiotin“, sagte Lainey leise. „Du machst das mit dem Salon ganz toll, aber ich weiß, wie unkonzentriert man sein kann, wenn man müde ist. Und zwei sehen mehr als einer.“

„Tut mir leid, dass ich so empfindlich reagiert habe.“ Julia rieb sich die Schläfen, um einen Anflug von Kopfschmerzen zu vertreiben. „Aber es ist ja nur der übliche Papierkram, keine Atomspaltung.“

„Kannst du nicht etwas davon an die Empfangsdame oder an eine der Teilzeitkräfte delegieren? Warum musst du alles allein machen? Wenn du …“

„Sie können das nicht. Und was ist, wenn Val davon erfährt? Der Deal ist noch nicht unter Dach und Fach. Sie könnte ihre Meinung zum Verkauf ändern.“

„Das würde Val nie tun“, widersprach Lainey.

„Die anderen könnten mich übervorteilen oder Fehler machen, und ich merke es womöglich erst, wenn es zu spät ist.“ Julia packte Charlies Trinkbecher und seine Snacks in die Windeltasche.

Lainey schüttelte den Kopf. „Eine Lernschwäche macht einen noch lange nicht dumm, Julia. Wann siehst du das endlich ein? Dein Gehirn verarbeitet Informationen einfach anders. Das hat nichts mit deinem IQ zu tun, und du hast eine tolle Intuition. Niemand wird dich übervorteilen …“

„Ach ja? Sag das mal meinen Loser-Exfreunden!“

„… wenn du das nicht zulässt“, ergänzte Lainey.

„Okay, du hast recht.“ Sosehr Julia sich auch eine funktionierende Beziehung mit Jeff gewünscht hatte, sie hätte von Anfang an wissen müssen, dass sie zum Scheitern verurteilt war. Niemand, der so gebildet und kultiviert war wie er, würde wirklich etwas mit ihr zu tun haben wollen. Aber er hatte sie mit in Museen und zu Vernissagen genommen, und sein Interesse an ihr hatte ihr Hoffnung gemacht, dass er mehr in ihr sah als nur ein hübsches Gesicht.

Sie hatte sich so nach seiner Anerkennung gesehnt, dass sie den Fehler gemacht hatte, ihm ihre Lernschwäche anzuvertrauen. Keiner der Männer vor ihm hatte je etwas davon erfahren. Sogar während ihrer Schulzeit war es ihr jahrelang gelungen, ihr quälendes Problem zu verbergen.

Nur ihre Familie und ein paar Lehrer hatten gewusst, wie schwer es ihr fiel, lesen und rechnen zu lernen, doch sie hatten nie wirklich verstanden, wie groß ihre Probleme waren. Julia hatte sich so geschämt und war so frustriert gewesen, dass sie ihre Hilfe nicht hatte annehmen können. Es war ihr leichter gefallen, Desinteresse an allem vorzutäuschen, was mit der Schule zusammenhing, oder so zu tun, als habe sie keine Lust auf einen festen Job und Verantwortung.

Nur Charlie zuliebe strengte sie sich endlich mehr an, wurde jedoch seitdem ständig von der Angst gequält, dass ihre Bemühungen nicht reichen würden.

„Bist du immer noch bei diesem Schreibspezialisten?“

„Einmal die Woche, aber ich habe das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen. Manchmal frage ich mich schon, ob sich die Mühe lohnt.“

„Ganz bestimmt“, antwortete Lainey im Brustton der Überzeugung. „Ich bin stolz auf dich. Du hast schon große Fortschritte gemacht. Ich bin immer für dich da, falls du mich brauchst. Ethan und Mom können Charlie jederzeit übernehmen, also …“

„Mom ist schon zurück?“, fragte Julia erschrocken. „Sie wollte doch erst nächste Woche zurückkommen.“

„Sie ist heute Morgen gelandet. Ich kann versuchen, sie noch eine Weile abzulenken.“

Julia war starr vor Schreck. Dann hatte ihre Mutter also schon von der Verlobung erfahren? „Was, Mom weiß schon Bescheid?“

„Ja.“ Lindsey verdrehte die Augen. „Sie wartet darauf, dass du sie anrufst und ihr alles erklärst.“

Julia wurde übel. Vera spielte eine große Rolle in Charlies Leben und würde wie eine Löwin um ihn kämpfen. Aber sie kannte Julias Grenzen besser als alle anderen. Julia hatte Angst, dass ihre Mom insgeheim an ihren Fähigkeiten zweifelte, Charlie allein ein gutes Leben zu schenken.

„Okay, ich rufe sie an. Sie wird das schon verstehen.“

Lainey lächelte skeptisch. „Viel Glück.“

Später am Abend versuchte Julia, das hartnäckige Klopfen an ihrer Wohnungstür zu ignorieren. Sie hatte ihre Mutter noch nicht angerufen und insgeheim gehofft, dass Vera die zwanzig Minuten Autofahrt zu ihr nicht auf sich nehmen würde, um Hackfleisch aus ihr zu machen. Doch Charlie war endlich eingeschlafen, und sie wollte nicht, dass er wieder aufwachte. Also wappnete sie sich innerlich gegen den Mutter-Tochter-Konflikt des Jahrhunderts und öffnete die Tür.

Sam stand vor ihr.

Na toll!

„Ich hatte einen anstrengenden Tag, Chief. Ich rufe dich morgen an.“ Sie versuchte, die Tür zu schließen, doch Sam schob einen Fuß in den Spalt. Dämliche Stahlkappenschuhe!

Er hatte eine weiße Pizzaschachtel und ein Sixpack Bier dabei. „Wir hatten beide einen anstrengenden Tag. Lass uns etwas essen und uns dann gemeinsam überlegen, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskommen.“

Julia schnüffelte hungrig. „Peperoni?“

„Mit Extrakäse.“

Sie trat einen Schritt zur Seite, um ihn reinzulassen. Wenn nur sie und Charlie da waren, wirkte ihre Wohnung eigentlich gar nicht so klein, doch irgendwie schien Sam nicht nur das Zimmer auszufüllen, sondern auch noch die Luft zum Atmen zu absorbieren.

Julia ging ihm voran zum Esszimmertisch. „Sorry“, entschuldigte sie sich, als sie ein paar Makkaroni von der Tischplatte kratzte. „Charlie hat vorhin beim Abendessen seine Quarterback-Fähigkeiten trainiert.“

„Damit kann man gar nicht früh genug anfangen. Wo steckt der kleine Mann eigentlich?“

„Er schläft. Endlich.“

Sam stellte die Schachtel auf den Tisch, reichte ihr ein Bier und legte den Kopf schief. „Höre ich da etwa klassische Musik?“

„Ja.“

„Klingt irgendwie anders als in meiner Erinnerung. Lebendiger.“

Julia nahm eine Fernbedienung und zeigte auf den Fernseher am anderen Ende des Zimmers. „Das ist eine Junior-Genie-DVD.“

„Wie bitte?“

„Ein Programm, mit dem man die Gehirnaktivität kleiner Kinder stimulieren kann.“ Sie stellte den Fernseher aus. „Forschungsergebnisse beweisen, dass es funktioniert.“

Sam hob die Augenbrauen. „Ich höre immer noch Musik.“

Julia spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Ich lege immer Mozart auf, wenn Charlie schläft.“ Sie ging an Sam vorbei in die Küche und nahm zwei Teller aus einem Schrank.

„Bist du etwa Klassik-Fan?“

Sie wirbelte herum und stapfte zum Tisch zurück. „Wieso so ungläubig? Glaubst du etwa, klassische Musik ist zu anspruchsvoll für jemanden wie mich?“

Sam wich einen Schritt zurück und musterte sie verwirrt. „Sorry, war ja nur eine Frage.“ Er zeigte auf die Bücherregale zu beiden Seiten des Fernsehers. „Du hast mehr Klassik-CDs, als ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Das war also nur eine logische Schlussfolgerung.“

„Tut mir leid.“ Sie seufzte. „Ein paar Komponisten gefallen mir ganz gut, aber ich mache das vor allem Charlie zuliebe. Er kann so viel Unterstützung wie möglich gebrauchen, wenn er bei mir lebt. Du hast bestimmt schon gehört, dass ich nicht gerade die Hellste bin.“

„Ist das so?“

„Das ist allgemein bekannt. Meine Mom sagt zwar immer, ich hätte ‚Köpfchen‘.“ Sie lächelte ironisch. „Aber meine Exfreunde könnten dir erzählen, dass ich die Schule nur geschafft habe, weil ich die Lehrer um den kleinen Finger gewickelt und gute Schüler so lange tyrannisiert habe, bis sie mir geholfen haben.“ Sie setzte ein gleichgültiges Lächeln auf und reckte die Arme. „Damals war es mein Lebensziel, Supermodel zu werden.“

„Na und? Ich wollte Rockmusiker werden.“ Sam zuckte die Achseln. „Hast du die anderen Kinder wirklich tyrannisiert?“

„Irgendwie schon. Ich hatte zwar meine Gründe dafür, aber meine damaligen Opfer sind heute nicht gerade gut auf mich zu sprechen.“ Sie klappte den Pizzakarton auf und nahm sich ein Stück. „Ich gab den Ton an und war die ‚Hübsche‘ in Brevia, aber zu mehr hat es nie gereicht.“

„Du hast hier noch mal von vorne angefangen. Daran ist nichts verkehrt.“

„Ich ließ mich zur Friseurin ausbilden, war mit einem Loser nach dem anderen zusammen, habe zu viel gefeiert und alles versucht, um unter meinen Möglichkeiten zu leben.“ Selbstironisch prostete sie ihm mit ihrem Bier zu. „Und selbst die sind beschränkt.“

„Irgendjemand muss dir einen völlig falschen Eindruck von dir vermittelt haben. Bei dem Chaos im Salon heute wäre man ohne gute Verhandlungsfähigkeiten nicht weit gekommen. Und das ist nichts für Hohlköpfe.“

„Mal sehen, ob Val das auch so sieht, wenn Ida ihr davon erzählt.“ Julia legte Sam ein Stück Pizza auf den Teller. „Setz dich hin und iss. Es sei denn, die Pizza war nur ein Trick, um dich reinzulassen, damit du mir den Kopf abreißen kannst, ohne dass die Nachbarn etwas merken. Ist bestimmt einfacher, als das Ding mit dem Heiratsantrag durchzuziehen.“

Eins seiner Knie streifte ihr nacktes Bein, als er sich ihr gegenüber hinsetzte. Plötzlich wurde Julia bewusst, dass sie nur eine Boxershorts und ein ausgeblichenes Red-Hot-Chili-Peppers-T-Shirt ohne BH trug. Ganz schlechte Kombination heute Abend.

„Du hast eine ganz schön brutale Fantasie“, sagte Sam, während er sich Käseflocken auf die Pizza streute.

Julia lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Kaum war ihr bewusst, dass sie keinen BH trug, erwachten ihre Brustspitzen zu Leben, als wollten sie unbedingt Sams Aufmerksamkeit erregen. Wie peinlich!

„Warum hast du mir eigentlich einen Antrag gemacht?“

Er runzelte die Stirn. „Du warst als beherrschte verantwortungsbewusste Mutter nicht gerade überzeugend. Du sahst aus, als würdest du am liebsten über den Tisch springen und Charlies Großmutter umbringen.“

„Das hätte sie auch nicht anders verdient.“ Julia sprang auf und holte sich einen Pulli, der an einem Haken im Flur hing. Als sie ihn sich überstreifte, versuchte sie, nicht allzu viel Bauch zu zeigen. „Trotzdem hätte ich keinen Retter gebraucht. Schon gar nicht Drei-Mal-Sam.“ Sie setzte sich wieder hin und biss in ihre Pizza. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass man dir bei deinem Ruf abnimmt, verlobt zu sein.“

„Von welchem Ruf redest du, und was ist Drei-Mal-Sam?“

Julia schluckte die Pizza hinunter. „Weißt du noch nichts davon? Brevia ist eine Kleinstadt mit jeder Menge Single-Frauen. Anscheinend haben sich sämtliche Frauen zusammengetan, mit denen du hier je aus warst. Man munkelt, dass du dich immer nur drei Mal mit einer Frau triffst. Inzwischen gibt es einen richtigen Club. Die Damen bloggen, twittern und mailen, was das Zeug hält. Sie nennen dich Drei-Mal-Sam.“

Sam fühlte sich, als habe man ihm einen Tritt in die Kronjuwelen versetzt. Mal abgesehen von dem allgemeinen Social-Media-Wahnsinn schockierte ihn am meisten, dass auch Julia anscheinend detailliert über sein Beziehungsleben Bescheid wusste. Gruselige Vorstellung. „Das denkst du dir doch nur aus.“

„So viel Fantasie habe ich nicht, glaub mir. Du kannst dich gern auf meinem Computer einloggen und dich selbst davon überzeugen. Ich habe vor zwei Wochen davon erfahren, als Jean Hawkins im Salon war.“

Sam schluckte. Jean war die leitende Fahrerin des Sheriffs und kam viel herum. Sie waren letzten Monat ein paarmal zusammen essen gegangen, hatten sich jedoch darauf geeinigt, sich nicht mehr zu sehen. Zumindest hatte er gedacht, sie hätten sich geeinigt.

„Wir haben sie mit Süßigkeiten und einem neuen Haarschnitt versorgt. Ihr ‚den Kerl‘ gewissermaßen aus den Haaren gewaschen.“ Julia rümpfte die Nase. „Du weißt ja, wie das ist – Stylisten sind für manche Menschen Therapeuten. Kaum sitzen sie im Stuhl, plaudern sie auch schon ihre intimsten Geheimnisse aus.“

„Und sie hat dir von diesem Fan-Club erzählt?“

Julia nickte und trank einen Schluck Bier. „Drei scheint die magische Zahl bei dir zu sein. Du bist ein Serien-Dater.“

Sam stand auf und ging ans andere Ende des Wohnzimmers. „Das ist ja lächerlich!“ Irritiert fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. „Es gibt bei mir doch keine Höchstgrenze, was die Anzahl meiner Dates mit einer Frau angeht.“

„Ein Dutzend Frauen behaupten das Gegenteil“, widersprach Julia.

„Ich war nie im Leben mit einem Dutzend Frauen in Brevia aus! Außerdem, warum sollte es jemand an die große Glocke hängen, mit mir ausgegangen zu sein?“

„Du lebst schon lange genug hier, um zu wissen, warum“, antwortete Julia lachend.

Sam teilte ihren Humor nicht. Klar, er war mit ein paar Frauen ausgegangen. Als er neu in der Stadt gewesen war, hatte sich das irgendwie so ergeben. Doch er war ein Gentleman. Wenn ein Date im Schlafzimmer endete, hatte er nichts dagegen, aber er drängte auch niemanden dazu. Und bisher hatte sich niemand bei ihm beschwert.

Auf keinen Fall war er ein Serien-Dater. Julia stellte ihn ja dar wie einen richtigen Weiberhelden! Okay, er war ein bisschen zurückhaltend, was Beziehungen anging, aber wo lag das Problem? Das war vermutlich normal, wenn man seine Verlobte dabei erwischt hatte, wie sie die Beine um einen anderen Mann schlang. Das war zwar inzwischen drei Jahre her, aber sie hatte ihm das Herz gebrochen, und er war nicht scharf darauf, diese Erfahrung zu wiederholen.

„Soll das etwa heißen, dass diese Frauen sich über mich lustig machen, weil ich keine feste Beziehung habe?“, fragte er wütend. „Falls sie es noch nicht gemerkt haben, ich habe einen anspruchsvollen Job. Einen, der mir wichtiger ist als mein verdammtes Privatleben!“

„Hey, so ist es doch gar nicht“, protestierte Julia und legte ihm beruhigend eine Hand auf einen Arm. Sam fand ihre sanfte Berührung erstaunlich tröstlich. „Niemand macht sich über dich lustig. Sie betrachten dich eher als Herausforderung. Es klingt vielleicht erschreckend, aber die Stadt steckt voller Frauen, die fest entschlossen sind, dich unter die Haube zu bringen. Sie betrachten dich als guten Fang.“

Sam ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen. „Ich bin eigentlich nach Brevia gezogen, um meine Ruhe zu haben.“

„Wie Mick Jagger schon gesungen hat, ‚you can’t always get what you want‘. Immerhin hat die falsche Verlobung die Klatschmäuler zum Schweigen gebracht, und dein Dad scheint sich zu freuen.“

Sam nickte und trank einen großen Schluck Bier. „Mein Vater ist ganz begeistert von dir.“

„Wer kann ihm das verdenken?“, flötete Julia und warf sich neckisch das Haar über die Schultern.

Sam musste grinsen. „Er will mir dabei helfen, Zugang zu meinen Gefühlen zu finden.“

Julia biss in ihre Pizza und musterte ihn aufmerksam. „Ist das denn so schlimm?“

„Ich kann es mir nicht erlauben, emotionaler zu werden.“

Autor

Michelle Major

Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.

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Janice Kay Johnson

Janice Kay Johnson, Autorin von über neunzig Büchern für Kinder und Erwachsene (mehr als fünfundsiebzig für Mills & Boon), schreibt über die Liebe und die Familie und ist eine Meisterin romantisch angehauchter Krimis. Achtmal war sie für den renommierten Romance Writers of America (kurz RITA) Award nominiert, 2008 hat sie...

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Patricia Thayer
Als zweites von acht Kindern wurde Patricia Thayer in Muncie, Indiana geboren. Sie besuchte die Ball State University und wenig später ging sie in den Westen. Orange County in Kalifornien wurde für viele Jahre ihre Heimat. Sie genoss dort nicht nur das warme Klima, sondern auch die Gesellschaft und Unterstützung...
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