Das Flüstern der Gefahr

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Er lässt keinen seiner Leute zurück. Schon gar nicht die Frau, die er liebt.

Jinas Stimme bringt ihn um den Verstand. Dabei muss sich Levi Butcher konzentrieren. Er ist als Teamleader für seine Eliteeinheit verantwortlich. Wenn er im Einsatz ist, ist er mit Jina über Funk verbunden. Aber er kann kaum an etwas anderes denken als an ihre sinnlichen Lippen und heißen Kurven. Als sie im Einsatz sind und plötzlich das Basislager attackiert wird, reißt der Kontakt zu Jina ab. Was ist mit ihr passiert? Levi muss sie finden, bevor es zu spät ist.


  • Erscheinungstag 03.12.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955767112
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

Prolog

Die Kongressabgeordnete Joan Kingsley streifte leise durch die nächtlich düsteren Räume ihres Hauses, ohne das Licht einzuschalten. In letzter Zeit mochte sie es dunkel. Es war ihr zuwider, wenn die Sonne schien oder wenn Menschen lachten und das Leben einfach weiterging. Ihre Qual und ihre Trauer lähmten sie vollständig, sodass sie nur noch irgendwie funktionierte.

Sie hasste das Haus. Es war riesig, viel zu groß für sie allein. Aber trotzdem brachte sie es nicht über sich, auszuziehen. Sie und Dexter hatten sich vom ersten Augenblick an in das Haus verliebt und sich finanziell gestreckt, um es zu erwerben. Von Anfang an hatten sie sich hier wohlgefühlt, es war so ganz ihrs. Hier hatten sie ihren Sohn großgezogen und sich ihre Träume von Macht und Reichtum erfüllt. Sicher, sie hatten sich den Arsch aufgerissen, um diese Träume wahr zu machen, aber so vieles war hier geplant und umgesetzt worden.

Und jetzt fühlte es sich einfach nur leer an, so ganz ohne Dexter.

Sie hatte ihn über alles geliebt – liebte ihn noch immer. Der Tod löschte die Liebe nicht aus, sie ging einfach weiter, schmerzhaft nun statt strahlend.

Und sie war schuld an seinem Tod – sie und Axel MacNamara. Sie verabscheute den Kerl mit einer Inbrunst, die im Laufe der Zeit nur noch stärker geworden war. Er ließ sie immer noch überwachen, jeder ihrer Schritte wurde verfolgt, ihre Gespräche wurden abgehört, Nachrichten gelesen. Jedenfalls glaubte er das. Mit etwas Glück würden ihm die Dinge, die er nicht wusste, noch wehtun. Daran arbeitete sie.

MacNamara dachte, er hätte sie am Boden. Er hatte sie gezwungen, ihre Machtposition aufzugeben, ihr Mann war tot, ihre Verbindungsleute aus den GO-Teams waren außer Landes geflohen.

Sollte er sich doch ruhig erst mal sicher fühlen, ihr war das nur recht. Devan Hubbert war schlauer als alle anderen Computer-Experten aus MacNamaras Team, sehr viel schlauer. Mit genügend Zeit und guter technischer Ausstattung konnte er jede Firewall durchdringen, sich in jedes System hacken, nichts schien ihm unmöglich, und wenn die Umstände es erforderten, war er flexibel genug, auch ohne Hightech-Ausrüstung auszukommen. Seit er das Land verlassen hatte, war er mit ihr in Verbindung geblieben.

Sie wusste allerdings nicht, warum. Dank MacNamara hatte sie keine Macht mehr, jemanden zu unterstützen, keine Insidernachrichten, die sie hätte verkaufen können. Devan hatte wegen des Geldes mitgemacht, genauso wie sie. Es war verdammt teuer, seine Machtposition in D. C. zu halten, aber nur dort konnte man im großen Stil Kohle scheffeln. Dexter war eigentlich mit dem zufrieden gewesen, was sie schon hatten, aber hatte sie auch darin unterstützt, relativ unbedeutende Informationen an die Russen zu verkaufen und damit enormen Profit zu machen. Mit genug Geld und Einfluss hinter sich hätte sie es bis ins Weiße Haus geschafft. Welch bittere Ironie, dass es nun Dexter wegen dieser Pläne erwischt hatte und nicht sie. Dabei hatte er nur das getan, was er immer getan hatte: Er war an ihrer Seite gewesen.

Jedenfalls war Devan Hubbert aus irgendeinem Grund mit ihr in Kontakt geblieben. Angeblich hatte er eine Idee, wie an MacNamara Rache geübt werden könnte. Vielleicht sah er dabei eine Möglichkeit, an mehr Geld zu kommen, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, wie. Denn auch wenn das Wissen um ihre Zusammenarbeit mit den Russen vorerst unter Verschluss war, wäre es mit dem Tod MacNamaras nicht aus der Welt geschafft.

Es war ihr egal. Geld interessierte sie im Augenblick nicht. Alles, was sie wollte, war, dass Axel MacNamara für Dexters Tod bezahlte. Und wenn dabei seine kostbaren GO-Teams mit untergingen, umso besser.

So oder so, er musste sterben.

1. Kapitel

»Sie bekommen alle einen neuen Aufgabenbereich«, sagte MacNamara knapp.

Zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen drängten sich in MacNamaras Büro, das für ihn als Chef erstaunlich winzig und bescheiden war. Jina Modell gehörte nicht zu den Glücklichen, die als Erste hereingekommen waren und sich einen der beiden Besucherstühle hatten schnappen können, weshalb sie mit den übrigen sieben Kollegen zusammengepfercht in unbequemer Haltung herumstand.

Ihre erste Reaktion auf MacNamaras Ankündigung war Erleichterung. Niemand von ihnen hatte gewusst, weshalb die Versammlung einberufen worden war, und sie hatte befürchtet, dass sie alle ihre Jobs verlören. Sie hatte sich bereits mental auf das Schlimmste vorbereitet, nämlich die fristlose Kündigung, denn eine Mittelstreichung war immer möglich, sogar bei Geheimprojekten wie den ihren, die aus eher dubiosen, unbekannten Geldquellen finanziert wurden.

Offensichtlich war sie nicht die Einzige, der solche Gedanken durch den Kopf gingen, denn erleichtertes Seufzen summte durch den kleinen Raum.

Dann aber runzelte Jina die Stirn. Klar, es war gut, auch weiter einen Job zu haben. Aber ihr bisheriger gefiel ihr wirklich gut. Sie arbeitete im Kommunikationsbereich, was viel Spaß machte, und bekam gutes Geld. Nicht zu vergessen der Coolness-Faktor, den der Job mit sich brachte, denn selbst für D. C. war er echt cool. Was für eine Befriedigung, Terroristen durch GO-Teams fertigmachen zu können, ohne den wohltemperierten Computerraum zu verlassen. Das bequeme klimatisierte Leben gefiel ihr. Es war also vielleicht gar nicht so gut, wenn sich ihr Aufgabenbereich änderte.

»Was passiert?«, erkundigte sie sich daher, nachdem einen Moment Schweigen geherrscht und niemand diese Frage gestellt hatte.

MacNamara würdigte sie keines Blickes. »Die Teams«, sagte er stattdessen und nahm ein Blatt Papier in die Hand, auf das er so missmutig starrte, als gefiele ihm nicht, was dort stand. Obwohl er es als Leiter der Dienststelle wahrscheinlich selbst verfasst hatte. »Donnelly, Sie kommen in Kodaks Team. Ervin, Sie sind bei Snowman, Modell bei Ace.« Er las weiter die Liste vor, nach der sie einzelnen Teams zugeordnet wurden, doch niemand wusste, was zum Teufel das hieß.

»Ace« war der Spitzname für Levi Butcher. Sie hatte von ihm gehört, ihn oder Agenten aus seinem Team aber nie persönlich getroffen. Ace stand in dem Ruf, einen der härtesten Jobs durchzuziehen. Was, zum Teufel, sollte sie dort machen?

Jina hatte hart daran gearbeitet, erst nachzudenken, bevor sie etwas sagte, das war in diesem Metier wichtig. Niemand aus ihrem Umfeld wusste, was sie tatsächlich tat oder wo genau sie arbeitete. Also bemühte sie sich, zu schweigen und nachzudenken – allerdings nur eine Sekunde lang, denn ein paar Fragen drängten sich einfach auf, und niemand sonst öffnete den Mund. Offensichtlich waren alle durch MacNamaras fiesen Ruf eingeschüchtert.

Sie hob die Hand. MacNamara musste die Bewegung aus dem Augenwinkel beobachtet haben, denn er stoppte mit dem Vorlesen der Liste und hob den Kopf. »Was ist?«, bellte er.

»Was werden wir denn in diesen Teams machen?«, fragte sie. Sie bemerkte, dass er kurz überrascht ihrer Stimme lauschte, während ihm gleichzeitig klar zu werden schien, dass sie auch die erste Frage gestellt hatte, nicht einer der Männer. So war ihre Stimme nun mal, diese Reaktion war sie gewohnt. Was sie viel mehr interessierte, war ihre aktuelle Situation. Von den anderen wusste sie es nicht, aber sie selbst hatte nicht die geringste Ausbildung für das, was die GO-Teams taten. Und das könnte im Prinzip einer Selbstverstümmelung gleichkommen.

»Darauf werde ich schneller zu sprechen kommen, wenn Sie mich nicht ständig unterbrechen«, keifte MacNamara.

»Ich habe nur einmal unterbrochen.« Bildete sie sich das nur ein, oder rückten die Kollegen ein kleines Stück von ihr ab, als wollten sie MacNamara freie Schussbahn verschaffen? Tatsächlich, das war keine Einbildung.

»Jetzt zum zweiten Mal.«

Da hatte er recht. Jina presste die Lippen zusammen, und eine Sekunde später las er weiter. Nachdem jedem ein Aufgabenbereich zugeteilt worden war – beziehungsweise ein Team, denn sie wussten immer noch nicht, was sie eigentlich machen sollten –, lehnte sich MacNamara in seinem Stuhl zurück. »Sie sind die zehn Mitarbeiter mit den besten Testergebnissen in räumlicher Orientierung und Reaktionsvermögen …«

Jina presste wieder die Lippen zusammen. Was für Testergebnisse? Sie hatte an keinen Tests teilgenommen. Und soweit sie wusste, auch die anderen nicht.

»Was für Testergebnisse?«

Verdammt. Sie konnte einfach nicht den Mund halten.

MacNamara warf ihr wütend einen tödlichen Blick zu, und in dem kleinen Raum herrschte erneut knisterndes Schweigen. Er begann, mit dem Kugelschreiber in wildem Takt auf seinen Schreibtisch zu klopfen. Sein Gesichtsausdruck signalisierte, dass er ihr am liebsten den Hals umdrehen und sie irgendwo entsorgen würde. Jina konnte sich vorstellen, dass es ihm ein Leichtes wäre, das umzusetzen.

Aber dann sagte er nur barsch: »Die Computerspiele im Pausenraum.«

Aha. Ein leises Raunen ging durch die Reihen. Vor einigen Monaten war die Spielkonsole installiert worden. Einige Mitarbeiter hatten sich sofort damit vertraut gemacht und sich in den Pausen Partien geliefert, waren gegeneinander angetreten und hatten um die höchsten Punktzahlen konkurriert. Jina, die viel Erfahrung mit solchen Spielen hatte, hatte bei diesen Wettstreits mitgemacht. Da sie ständig in Führung lag, fühlten sich ein paar Typen echt angepisst, die vorher große Sprüche darüber geklopft hatten, dass Mädchen keine Ahnung von solchen Spielen hätten. Aber sie hatte es ihnen gezeigt. Die Spiele waren ziemlich kompliziert und sehr lebensecht, viel anspruchsvoller als alles, was man auf dem freien Markt kaufen konnte, und besaßen einen Spaßfaktor, der alles übertraf. Offensichtlich galt das auch für die Überwachung.

Wieder hob sie die Hand. Zur Hölle noch mal, war sie die Einzige hier, die einen Mund hatte? Warum meldete sich denn niemand anders, war keinem was aufgefallen?

MacNamara kniff sich in den Nasenrücken und brummelte etwas Unverständliches vor sich hin.

»Ich bin nicht für die Arbeit in den GO-Teams qualifiziert.« Es war ihr ein bisschen peinlich, das Offensichtliche auszusprechen, aber es war nun mal die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Egal wie viele Punkte sie bei Computerspielen gemacht hatte: Die Mitglieder der GO-Teams waren alles Supermänner. Sie schwammen und liefen kilometerweit und absolvierten ein hartes Training. Sie konnten aus weiter Ferne eine Eichel aus der Krone einer Eiche schießen. Jina wusste, dass auch kampferfahrene Frauen in den Teams waren, aber zu diesen Frauen gehörte sie nicht. Sie konnte zwar schwimmen und ging manchmal joggen, war aber kein Fitnessfreak.

»Das sind Sie alle nicht«, bellte MacNamara. »Deshalb erhalten Sie ein spezielles Training. Im Nahkampf werden Sie bei den Operationen ohnehin nicht eingesetzt.«

»Aber was sollen wir dann …?«, begann Jina und wurde durch eine wirsch erhobene Hand MacNamaras zum Schweigen gebracht.

»Ich darf Sie als Erstes daran erinnern, dass Sie eine Verschwiegenheitsverpflichtung bezüglich allem, was mit Ihrer Tätigkeit hier zu tun hat, unterschrieben haben. Die Antwort ist, dass die Teams über ein außergewöhnliches Situationsbewusstsein verfügen, was aber auch Risiken bringt. Zu registrieren, dass ein Ziegenhirte auf sie zuläuft, und abzuschätzen, zu welchem Zeitpunkt er bei ihnen ankommen wird, lenkt die Agenten von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Zwar in Grenzen, denn hier ist die Rede von Leuten, die gut genug sind, in einem GO-Team zu arbeiten, aber trotzdem – jede Sekunde zählt. Tausende von Analysen haben uns gezeigt, dass es in jeder Situation von Vorteil ist, wenn eine Wachperson, ein sogenannter Onsite Operator, das Timing und die Situationseinschätzung übernimmt. Dieser Operator beobachtet die Umgebung über eine computergesteuerte Drohne. So erhöht sich die Chance auf eine erfolgreiche Mission um drei Prozent. Die Rate von Unglücksfällen in den Teams reduziert sich um zwei Prozent. Ein kleiner, aber wichtiger Prozentsatz.«

Vor allem für die Betroffenen, dachte Jina trocken. Okay, sie verstand, warum so etwas wichtig war. Was sie aber nicht verstand, war, wie sie selbst in einen solchen Einsatz passte. Sie war nicht … Nun, sie besaß keine außerordentlichen Fähigkeiten. Weder war sie besonders sportlich noch sehr mutig oder mit übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet. Also wie zum Teufel sollte sie wissen, welche Richtung der Ziegenhirte einschlagen würde? Außerdem hatte sie nie den Ehrgeiz besessen, sich in diesem Bereich besonders zu profilieren. Sie erreichte zwar hohe Punktzahlen bei Computerspielen, aber das war alles.

Das würde niemals funktionieren.

»Das wird nicht klappen«, sagte sie.

MacNamara ließ den Kopf sinken und fuhr sich mit den Händen durch die Haare, als wollte er sie sich ausrupfen. Vielleicht stellte er sich aber auch vor, wie er Jina den Schädel zerschmetterte.

»Natürlich nicht«, sagte er an seine Schreibtischplatte gerichtet. »Wir wissen nämlich nicht, was wir tun. Wir haben auch nicht alle Eventualitäten und potenziellen Hindernisse einkalkuliert und alle zehn Leute hier im Raum so intensiv analysiert, dass wir über Sie besser Bescheid wissen als Sie selbst. Wir dachten einfach, wir schicken Sie alle mal so aus Spaß und guter Laune ins Feld und schauen, wie schnell Sie alles versauen.«

Es gefiel ihr nicht, dass sie ohne ihr Wissen analysiert worden war. Das fühlte sich an, als würde irgendein Perverser durch ein Guckloch Frauen im Badezimmer hinterherspionieren. Andererseits wusste sie, dass die Analytiker zu den Besten ihres Fachs gehörten, was sie wiederum beruhigte, wenn auch nicht überzeugte.

»Was ist, wenn einige von uns nicht daran interessiert sind?«, wollte sie wissen, denn immer noch gab kein anderer im Raum einen Ton von sich – diese Feiglinge. Offensichtlich war sie hier die Einzige, die Eier hatte. Und das obwohl sie faktisch als Einzige keine besaß. Also saßen sie bei ihr sozusagen im Kopf. Kopfeier, das war echt krass.

»Dann sollten sie ihre Sachen packen und sich einen anderen Job suchen.« MacNamara starrte sie drohend an. »Leute, die kneifen, sind unerwünscht. Für Ihre bisherigen Stellen wurden bereits Nachfolger angeheuert.«

Endlich – endlich! – meldete sich jemand anders zu Wort. »Wenn wir das Training also nicht packen oder uns beim Einsatz verletzen, stehen wir auf der Straße.«

MacNamara presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, und seine furchterregenden Augen funkelten, aber glücklicherweise blitzten sie jemand anders an. »Ich kümmere mich um meine Leute«, knurrte er. »Wenn Sie verletzt sind, bekommen Sie die gleiche Behandlung wie alle anderen Teammitglieder. Sie werden ärztlich versorgt, versetzt, bekommen Rente – was auch immer notwendig ist. Leute, das ist ein harter Job. Von allen, die sich an diesen Spielen beteiligt haben, hatten Sie genügend Punkte, um in die Auswahl zu kommen. Ich hätte diese Entscheidung nicht getroffen, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass sich das Risiko auszahlt. Sie werden sich nicht direkt im Aktionsfeld bewegen, es sei denn, es geht etwas schief. Aber Sie brauchen trotzdem eine gute Kondition und genug Training, um kein Hindernis für die Agenten im Einsatz darzustellen. Noch Fragen? Wohl eher nicht. Also, räumen Sie Ihre alten Schreibtische aus, und melden Sie sich morgen früh um sieben im Erdgeschoss. Bitte ziehen Sie Sportsachen an. Sie werden an einen anderen Ort gebracht, wo Ihr PT dann beginnt.«

PT, Personal Training. Was für eine Freude, dachte Jina. Das ist mein Ende.

Die Bremsen quietschten, und das Getriebe ächzte, als der rostige klapprige Ford Transit mit fünfzehn Sitzen zum Stehen kam. Der Zustand des Busses war schon vor langer Zeit aus der Kategorie »altersschwach« zu »könnte-jederzeit-auseinanderfallen« gerutscht. Die Sitze waren abgewetzt und zerrissen, und im Boden des Wagens befand sich ein Loch, durch das Jina den Asphalt vorbeirauschen sah. Der Motor hustete wie ein fünfzigjähriger Kettenraucher, die Stoßdämpfer verdienten ihren Namen nicht mehr, und die Lenkung protestierte bei jeder Kurve. Es hätte sie nicht überrascht, wenn sie das Gefährt bis zu ihrem Ziel hätten schieben müssen.

Aber der Bus hatte es geschafft, wenn auch nicht ohne Gebete und gedrückte Daumen. Der Mann auf dem Beifahrersitz öffnete die Tür, und die Zehnergruppe stieg aus. Der Letzte schloss die Autotür wieder, und kaum war das Schloss eingeschnappt, gab der Fahrer Gas und zischte mit Getöse dahin zurück, wo die Blechkiste stand, wenn sie nicht gebraucht wurde.

Sie sahen sich um. »Wo zum Teufel sind wir hier?«, fragte sich ein Typ laut.

Am Arsch der Welt, dachte Jina, hielt aber den Mund. Sie hatte sich so weit wie möglich den Weg gemerkt und wusste, dass sie sich irgendwo in Virginia befanden. Der Bus hatte sie am Rand eines riesigen offenen Feldes ausgeladen, auf dem Berge von Heuballen lagerten. Dicke geknotete Seile hingen an Bretterwänden, Stacheldrahtgewirr und anderes Zeug, dessen Nutzen nicht auf den ersten Blick ersichtlich war, lag herum. Offensichtlich war es für irgendwelche Folterungen gedacht – für sie. Das ganze Areal war von einem Trampelpfad umgeben, der irgendwo am anderen Ende in den Wald führte, und nicht einmal dieser Weg schien ohne Hindernisse. Er war mit Böschungen und Hügeln, Sandflächen und Matschlachen bestückt. Was es hier nicht zu geben schien, war irgendein Hinweis auf Zivilisation, etwa ein Café oder so was.

In der kurzen Zeit, die sie hier standen, bemerkte sie schon, wie der Staub der roten Erde ihr in Kehle und Nase drang. In Georgia hatte sie jede Menge dieses roten trockenen Staubs gesehen; er jagte ihr nicht unbedingt Angst ein, aber sie war auch nicht glücklich darüber. Sie hatte nichts übrig für Staub, Schmutz, Schwitzen und diese ganze Situation.

Trag’s mit Fassung, Schätzchen. Schwitzen war besser als Arbeitslosigkeit – fürs Erste jedenfalls. Morgen sah sie das vielleicht schon anders.

Sie zählte mindestens dreißig Männer, die sich auf dem Trainingsfeld herumtrieben und sich in nicht nachvollziehbaren Bahnen bewegten. Die Typen machten verschiedene Übungen, die sicher kein normaler Mensch fertigbekam. Als plötzlich die schnell aufeinanderfolgenden Schüsse einer Schnellfeuerwaffe zu hören waren, zuckte sie zusammen und blickte sich hektisch nach dem Schützen um. Doch sie konnte weder ihn noch irgendwelche installierten Zielscheiben entdecken. Der scharfe Geruch von Schießpulver stieg ihr in die Nase, die Schüsse kamen also aus der Nähe. Dicht zusammengedrängt beobachtete die kleine Gruppe schweigend die Männer bei den lebensgefährlichen Übungen, an denen sie jetzt offensichtlich ebenfalls teilnehmen sollten. Was gab es da zu sagen? Entweder sie ließen sich darauf ein oder sie konnten sich einen neuen Job suchen. Sie versuchte sich Mut zu machen und zuversichtlich zu denken.

Die Sonne brannte auf sie herunter, und sie schwitzte wie der Teufel. Dieser höllische Staub hatte aus ihrer Kehle die Sahara gemacht. Es dauerte, bis endlich jemand von ihnen Notiz nahm – oder beschlossen hatte, dass sie nun lange genug ausgeharrt hatten, denn sie bezweifelte, dass man ihren kleinen Trupp übersehen konnte – und ein Muskelprotz mit rasiertem Schädel, tief gebräuntem Teint und grauem Stoppelbart sich auf den Weg zu ihnen machte. Er trug ein schweißdurchtränktes olivgrünes T-Shirt, Kakishorts und sandfarbene Boots. Der Typ war von oben bis unten mit einer feinen Staubschicht bedeckt, bis auf die Stellen, wo kleine Rinnsale von Schweiß einen Schmutzstreifen über seine Haut zeichneten. Er wirkte auf sie wie eine Wand von Muskeln, die sich auf sie zubewegte. Als er nahe genug war, sagte er: »Ihr seid die FNGs, oder?«

Die Neulinge, die »Fucking New Guys«. Zum Glück hatten sie dort, wo sie arbeiteten, alle etwas vom allgemein verbreiteten Militärslang aufgeschnappt, und niemand brauchte die peinliche Frage zu stellen, was die Abkürzung FNG zu bedeuten hatte. Stattdessen nickten einige von ihnen unbehaglich.

»Ich bin Baxter.« Er erklärte nicht, ob es sein Vor- oder Familienname war, aber das war auch egal. »Okay. Wir fangen so an, als wärt ihr neu beim Militär. Zuerst werdet ihr laufen. Wir müssen abchecken, wer einigermaßen in Form ist und wer nicht. Mir nach.«

Er rannte in lockerem Tempo los und bewegte seine Muskelpakete mit erstaunlicher Leichtigkeit vorwärts. Die zehn sahen sich fragend an, dann folgten sie ihm mutig. Jina blieb nachdrücklich im mittleren Teil der Gruppe und versuchte dabei, Baxters rasierten Kopf im Auge zu behalten. Sie wollte nicht die Letzte sein, war aber auch nicht scharf darauf, als Erste vorzupreschen. In beiden Fällen würde sie zu viel Aufmerksamkeit erregen, und das versuchte sie zu vermeiden. Der Schlüssel des Ganzen war, sich anzupassen, sich einen Rückzug offenzuhalten, denn sie wusste nicht, was ihnen als Nächstes widerfuhr.

In der Theorie war die Idee gut. In der Praxis bedeutete das jedoch, dass die vor ihr Laufenden – alle von ihnen größer als sie – ihr manchmal den Blick auf das Terrain verstellten. Sie stolperte, als plötzlich vor ihren Füßen ein Erdbuckel auftauchte, und konnte sich gerade noch fangen, als sie ihn übersprungen hatte und dahinter der Boden abfiel. Sie kam erneut ins Wanken, als sie plötzlich mit den Füßen in weichem Sand einsank und die feinen Sandkörner in ihre Sneakers drangen. Das erklärte, warum die Männer auf dem Trainingsfeld alle hochgeschnürte Boots trugen statt Sneakers. Nur sie und die anderen neun FNGs hatten Sneakers angezogen, nachdem MacNamara ausdrücklich von Sportschuhen gesprochen hatte.

Lektion gelernt. Erkundige dich bei den Leuten, die an diesem Training beteiligt sind, was für Schuhe du brauchst.

Vorausgesetzt, sie war nicht gleich die Erste, die aus dem PT flog.

Never ever, dachte sie verbissen. Nicht dass sie unbedingt zu einem GO-Team gehören wollte, aber schlappmachen war auch nicht ihr Ding. Sie war auf dem Land groß geworden, im Südwesten Georgias, und fast das ganze Jahr über barfuß gelaufen. Also konnte sie wohl mit ein paar Typen mithalten, die höchstens mal auf einem Wanderweg oder in der Stadt gejoggt waren.

Nach etwa fünf Minuten begannen ihre Muskeln leicht zu brennen, ihr Herz raste, und der Atem ging stoßweise. Fünf Minuten! Ihre Kondition war erbärmlicher, als sie gedacht hatte. Etwa in diesem Moment schienen die Typen hinter ihr festgestellt zu haben, dass sie hinter einem Mädchen herliefen, woraufhin sie beschleunigten.

Jina gab Gas und rannte schneller, entschlossen, ihren Platz in der Mitte der Gruppe zu halten. Nur darum ging es. Das hier war kein Rennen, das sie gewinnen musste, sie wollte nur tun, was nötig war, und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Plötzlich rammte sie jemand von hinten, hieb ihr die Schulter in die Seite und schob sie unsanft aus dem Weg. Sie kam aus dem Rhythmus, und als sie sich wieder gefangen hatte, befand sie sich am Ende des Pulks. Schnaufend holte sie Luft und warf dem Rempler einen bösen Blick zu. Es war Donnelly. Er hatte irgendwas mit Dechiffrieren zu tun, und sie glaubte, dass er in Kodaks Team beordert worden war. Bei dem lässigen Kodak zu arbeiten war traumhaft, das hätte sie sich ebenfalls gewünscht, wenn sie denn gefragt worden wäre.

Mistkerl, dachte sie. Nicht Kodak, Donnelly. Jina holte tief Luft und rannte schneller, holte alles aus sich heraus, überholte ein paar Typen und lief nun schräg hinter Donnelly. Es war riskant, auf dem unebenen Terrain den Blick vom Boden zu nehmen, aber es gab Dinge, die sie einfach nicht hinnehmen konnte. Donnelly schien zu spüren, dass sie hinter ihm war, und warf kurz einen Blick über die Schulter zurück. Diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte sie, um ihm schnell ein Bein zu stellen. Sie hakte nicht tatsächlich einen Fuß bei ihm ein, denn dann wäre sie ebenfalls gestürzt. Doch ein kleiner Kick reichte aus, um ihn ins Stolpern zu bringen, sodass er mit den Armen ruderte und versuchen musste, die Balance zu halten. Es gelang ihm nicht, und er fiel mit dem Gesicht in den Dreck.

Baxter musste Augen am geschorenen Hinterkopf haben, denn – ohne sich umzudrehen – bellte er: »Steh auf und lauf weiter!«

Donnelly rappelte sich wieder auf und raste hinter ihnen her, nun aber fünf Meter im Hintertreffen und ohne große Chance, den Abstand zu verkleinern, es sei denn, er hätte noch ein nicht angezapftes Kraftreservoir, was Jina aber nicht glaubte. Sie warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu. Sein Gesicht war knallrot, und er hechelte.

Pech! Warum musste er sie anrempeln? Sie hatte ihm nie etwas getan und sich nie mit ihm gestritten. Sicher, sie hatte ihn bei diesen Videospielen besiegt, aber sie hatte gegen die anderen auch gewonnen. Offensichtlich hatte er das aber persönlich genommen.

Ätzend! dachte sie erbittert. Es war einfach nur ein bescheuertes Spiel. Sie hätte niemals mitgemacht, wenn sie die Folgen gekannt hätte. Denn sie säße jetzt viel lieber in ihrem klimatisierten Büro, statt hier in der Hitze zu rennen, während Sandkörner ihre Haut wund rieben und ihr der Staub so in Kehle und Lunge drang, dass sie den Drang verspürte, alles auszuspucken. Nur, dass sie dafür schon viel zu ausgetrocknet und eingestaubt war. Ihre Beine schmerzten, und sie hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

Einer aus der Gruppe, den sie nicht kannte, drehte sich zur Seite, stützte die Hände auf die Knie und gab sein Frühstück von sich. Sie atmete tief durch und befahl sich, nicht das Gleiche zu tun. Sie würde nicht, sie würde nicht, sie würde nicht …

Gerade als sie dachte, dass sie sich nicht mehr dagegen wehren konnte, hob Baxter die Hand. »Trinkpause!«, rief er.

O Gott. Jina stoppte und bemühte sich, aufrecht stehen zu bleiben, während sie verzweifelt nach Luft schnappte. Alle um sie herum schnauften und hechelten. Sie wollte sich nach vorn beugen, hatte aber Angst, dass sie umknicken würde, wenn sie sich nicht gerade hielt. Nicht nur das, womöglich würde ihr Magen diese Bewegung als Aufforderung zu ungewünschten Reaktionen auffassen. Also blickte sie stattdessen in den Himmel und konzentrierte sich darauf, dass ihre zittrigen Knie nicht einknickten und sie nicht mit dem Hintern im Matsch landete.

»Steht nicht so dumm herum, ihr Idioten«, bellte Baxter. »Nehmt euch eine Flasche Wasser und trinkt!«

Wasser. Es gab Wasser. Auf einer rauen Bank ruhte eine riesige Kühlbox mit geöffnetem Deckel und gab den Blick auf wundervoll glitzernde Eiswürfel frei, in die Wasserflaschen gebettet waren. Sie stolperte darauf zu, schob den Arm an ihren Laufkumpeln vorbei zur Kühlbox und schnappte sich eine Flasche. Jeder Muskel in ihrem Körper zitterte. Sie fummelte an dem Verschluss herum, versuchte ihn aufzudrehen, ließ die Flasche dabei fallen und beobachtete, wie sie den anderen vor die Füße rollte. Verdammter Mist! Statt hinter der Flasche herzukriechen, nahm sie sich eine neue, denn sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie sich bücken konnte, ohne zu kotzen. Mit ungeschicktem Griff hatte sie außer der Flasche noch ein paar Eiswürfel geschnappt, was ihr nur recht war. Schnell warf sie sich die Eisstückchen in den Nacken und seufzte erleichtert. Vielleicht musste sie sich doch nicht übergeben. Vielleicht wurde sie auch nicht ohnmächtig.

»Wie erbärmlich«, sagte Baxter angewidert. Jina überlegte, ob sie Kontra geben sollte, bemerkte dann aber, dass er die ganze Gruppe gemeint hatte. Das war okay. Es störte sie nicht besonders, in einer erbärmlichen Gruppe erbärmlich zu sein. »Ein Rudel verfickter Schildkröten ist schneller als ihr. Die Hälfte von euch steht kurz vor dem Kollaps, und wir sind nur kaum mehr als drei läppische Kilometer gelaufen. Die andere Hälfte ist auch nicht viel besser. Verdammt, Junge, bist du etwa am Kotzen?«

Himmel, der Typ kannte sich mit Schildkröten offensichtlich nicht aus. Die lebten nicht in Rudeln. Doch obwohl sie das gerne angemerkt hätte, beschloss sie, den Mund zu halten und lieber mehr Wasser zu trinken. Schweigsamkeit war die bessere Wahl.

Moment mal. Sie waren drei Kilometer gelaufen? Nur kaum mehr als drei Kilometer? Das war doch in doppeltem Sinn falsch ausgedrückt. Zuerst mal, hey, sie war über drei Kilometer gelaufen! Was war denn daran »nur«? Außerdem waren sie doch stundenlang unterwegs gewesen, so kam es ihr jedenfalls vor… also sollten es nicht eher dreißig Kilometer gewesen sein? Ihrer Lunge und ihrem Puls kamen es jedenfalls eher wie dreißig vor. Baxters Kilometerzähler funktionierte nicht.

Sie wischte sich den Schweiß vom Gesicht und trank mehr Wasser. Als sie die leere Flasche absetzte, erregte etwas ihre Aufmerksamkeit … etwas Beängstigendes.

Sie kniff die Augen zusammen. Eine Gruppe von sieben Mann kam auf sie zu, alle im Gleichschritt, als liefen sie einem Showdown im Western entgegen. Allesamt sahen zum Fürchten aus. Und riesig. Riesig und Angst einflößend. Sie waren genauso staubbedeckt und verschwitzt wie alle anderen hier, mit nackten Armen, sodass die mächtigen Muskeln zu sehen waren, kein Lächeln im Gesicht. Sie bewegten sich geschmeidig und kraftvoll. Überall am Körper hatten sie Waffen verstaut, was schon an sich beängstigend war, denn obwohl dies ein Trainingsfeld war, wirkten die Messer und Pistolen ziemlich echt.

Nein, nicht Pistolen, korrigierte sie sich im Stillen. Waffen. Sie sagten nie »Pistolen«, so viel wusste sie.

Die Männer fixierten die FNGs im Auge wie Löwen eine Herde Gnus oder was Löwen so jagten. Auf jeden Fall aber wohl FNGs.

Jina stellten sich die Nackenhärchen auf. Sie starrte auf die Muskeltypen, die sich näherten, und fragte sich, was jetzt wohl passierte, ob sie sich etwa auf eine Art Initiationsritus vorbereiten mussten. »He«, sagte sie warnend und drehte sich zu den anderen FNGs um … die aber alle plötzlich verschwunden waren. Offensichtlich hatte Baxter sie weggeführt, ohne dass sie es bemerkt hatte. Weil sie von dieser Männerwand so in den Bann gezogen gewesen war.

Verdammt noch mal! Sie machte einen Schritt zurück, um der Gruppe zu folgen, aber es war zu spät, sie war schon von diesen Muskelprotzen eingekesselt. Sieben Männer starrten auf sie herunter, und keiner lächelte.

Es war, als wäre die Sonne ausgeschaltet. Jina war nicht besonders klein, sondern normal groß, fühlte sich aber plötzlich sehr winzig, und das gefiel ihr überhaupt nicht.

Ihr Puls ging schneller. Auch wenn ihr der Verstand sagte, dass sie ihr nichts tun würden, fühlte sie sich instinktiv einem Haufen von Jägern ausgeliefert.

Sie wünschte, sie hätte eine Waffe bei sich, irgendeine Waffe. Stattdessen straffte sie die Schultern, kniff die Augen zusammen und sah sich angriffsbereit um, wartete, dass sie etwas sagten. Bisher hatten die Männer nichts weiter getan, als sie mit ihrem dominanten Auftreten einzuschüchtern und mit einer üblen Wolke aus Schweiß und Testosteronausdünstung zu ersticken.

Es waren sieben, sie war allein. Von Baxters Laufdrill war sie bereits vollkommen erschöpft. Selbst wenn sie ihnen entwischen konnte, würde sie nicht weit kommen … wenn sie überhaupt rannte.

Nein, sie würde nicht rennen. Auf keinen Fall würde sie vor denen weglaufen.

Da sagte der Größte von ihnen mit einer tiefen rauen Reibeisenstimme: »Wir haben gehört, du bist unser Mädchen.«

2. Kapitel

Jina blickte hektisch von einem zum anderen, doch sie war zu nervös, um Gesichter zu erkennen. Alles, was sie wahrnahm, war, dass sie wirklich riesig waren und dass sie sie eingekesselt hatten. Bloß keine Angst zeigen, dachte sie, sonst greifen sie dich womöglich an. Nein, Unsinn, das galt ja für Hunde. Trotzdem: Sie spürte, dass sie jetzt cool bleiben musste. Außerdem sagte ihr der Instinkt, dass sie sich besser nicht darüber aufregte, als »Mädchen« betitelt zu werden. Gutes Timing war in einer erfolgreichen Schlacht wichtig, und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, nicht beim ersten Zusammentreffen und mit der ganzen Bande um sie herum. Die Männer schienen sowieso nicht gerade freundschaftlich gestimmt und bezweifelten sicher, dass sie für diesen Job geeignet war. Also sagte sie: »Dann seid ihr wohl meine Jungs.«

Der riesigste Kerl starrte auf sie herunter. »Babe«, sagte er und klang leicht erstaunt. Alle schienen beim Klang ihrer Stimme aufgehorcht zu haben, die tief und rauchig war, ein bisschen heiser und viel aufregender als Jinas äußere Erscheinung. Ihr Leben lang war sie es gewohnt, mit den Reaktionen auf ihre Stimme umzugehen. Schon als Kind hatten die Leute am Telefon geglaubt, sie würden mit einer Erwachsenen sprechen.

Ein anderer Typ sagte: »Ich denke, du hast ihr gerade ihren Namen gegeben.«

Wie bitte? Nein! Alarmiert richtete sich Jina auf. Jeder im Team hatte einen Spitznamen, das wusste sie, aber sie wollte kein »Babe« sein, egal ob als Frau oder kleines Schweinchen. Sie brauchte einen coolen Namen, einen richtigen Reißer, einen, bei dem sich die Leute dreimal überlegten, ob sie sich mit ihr anlegten. »Babe« war ja geradezu eine Aufforderung, sie zu schikanieren.

»Nein, nicht Babe. Das gefällt mir gar nicht«, entgegnete sie. »Granate oder Mankiller oder so was Ähnliches wäre mir lieber.« Ihr Vorschlag wurde mit einem allgemeinen Prusten aufgenommen.

»Tut mir leid, nicht deine Entscheidung«, erwiderte der riesige Typ.

»So wird mich keiner ernst nehmen.«

»Tun wir sowieso nicht«, erklärte er kühl.

Ach, er schmetterte ihr die ungeschminkte Wahrheit einfach so ins Gesicht? Sie konnte ihm nicht mal widersprechen, wenn sie die Umstände bedachte. »Vielleicht jetzt noch nicht, aber später schon«, sagte sie und blickte ihn dabei grimmig an, damit er erkannte, dass es ihr ernst war.

Die anderen lachten, nur der große Typ nicht. Er machte auf Jina nicht den Eindruck, als wäre er mit Humor gesegnet – nicht dass sie einen Witz gemacht hätte, aber trotzdem.

»Das hoffe ich, da schließlich unser Leben davon abhängen wird, ob du deinen Job gut machst.« Der Riese starrte sie mit undurchdringlichem Blick an. »Deshalb übernehmen wir jetzt dein Training. So ist es vereinbart.«

O nein, auf keinen Fall, die würden sie umbringen. Diese Typen spielten in einer ganz anderen Liga. Sie wollte lieber mitten in dem Pulk der FNGs laufen, statt sich vor einer Gruppe von supermäßig trainierten Kerlen zu blamieren. Vielleicht war sie in einem halben Jahr bereit, mit ihnen zu arbeiten. Sie machte eine vage Handbewegung in die Richtung, wo sie ihre Gruppe vermutete. »Ich glaube, ich muss bei meinen Leuten bleiben. Ehrlich, ich bin nicht so weit.«

»Das wissen wir«, sagte der Kleinste von ihnen, was relativ war, denn sie schätzte ihn auf etwas über eins achtzig. Sein Gesicht war so mit Schmutz bedeckt, dass sie ihn wahrscheinlich nicht wiedererkennen würde, nachdem er sich gewaschen hatte. Aber er hatte blaue Augen, und in der Mitte seiner Stirn entdeckte sie zwei kleine runde Narben. »Aber wir werden dich schneller in Form bringen als Baxter, weil der sich um alle kümmern muss. Wir konzentrieren uns voll auf dich.«

Tiefe Besorgnis erfasste sie, tiefer als der Grand Canyon. Sie schluckte hart, bevor sie erwiderte: »Mein Glück ist vollkommen.«

»Das kannst du laut sagen.« Der Riese winkte sie mit gekrümmtem Finger zu sich. »Komm jetzt, lass uns anfangen.«

Zur Hölle.

Sechs Stunden später lag Jina flach auf dem Boden, starrte in den blauen Himmel und dachte, dass es weitaus angenehmer wäre, sich etwas zu brechen. Vielleicht könnte sie das hinbekommen, von irgendwo herunterstürzen oder stolpern und sich ein oder besser beide Beine brechen oder sich eine Gehirnerschütterung zuziehen – egal was, Hauptsache, sie befreite sich aus dieser Hölle. Sie hasste es, schmutzig und verschwitzt zu sein, und sie war von oben bis unten mit Dreck besudelt. Sie hasste es, sich körperlich dermaßen zu verausgaben, dass sie vor ihrem neuen Team kotzen musste. Was leider kein Mitleid bei ihren Peinigern hervorgerufen hatte. Stattdessen hatte der Typ mit den blauen Augen – sein Spitzname war Snake – nur gesagt: »Das haben wir alle durchgemacht.«

Und der Riese, bei dem es sich um Ace persönlich handelte, hatte zugefügt: »Steh auf, und beweg deinen Hintern.«

Arschloch.

Sie waren alle Arschlöcher, aber er war das größte von ihnen, im wahrsten Sinne des Wortes und im übertragenen Sinn. Er war der Arschloch-Boss. Und etwas an seinem Blick, der signalisierte, sie würde ohnehin schlappmachen und könnte gar nicht so tief sinken, wie schlecht seine Meinung über sie war, sorgte dafür, dass sie durchhielt. Sie war aufgestanden und hatte ihren Hintern bewegt. Auch wenn das Ergebnis kaum der Rede wert gewesen war, war sie vorwärts gekommen, obwohl sie vorher hätte schwören können, es keinen Zentimeter mehr weiter zu schaffen.

Vor ihren Augen erschien eine riesige schmutzige Hand mit einer Wasserflasche, und ein Tropfen Kondenswasser fiel ihr ins Gesicht. »Trink«, befahl Ace, und sie schaffte es, einen schmerzenden Arm weit genug anzuheben, um ihm die Flasche abzunehmen. Doch wie sie in dieser Position flach auf dem Rücken trinken sollte, war ein ganz anderes Problem. Vielleicht schaffte sie es, ein paar Schlucke aufzufangen, wenn sie sich das Wasser übers Gesicht goss.

Nein, so funktionierte das nicht. Sich vor den Augen dieser Typen zu übergeben, war schlimm genug. Sie würde sich verdammt noch mal aufsetzen und trinken.

Stöhnend rollte sie sich zur Seite, stützte sich auf den linken Ellbogen und hievte sich in eine halbe Sitzposition. Mit noch größerer Anstrengung schaffte sie es, sich aufzusetzen, und ihre Muskeln waren gar nicht glücklich darüber. Sie drehte den Verschluss der Flasche auf und hob sie an, um zu trinken. Sie hatte bereits gelernt, dass sie nicht zu gierig sein durfte, und setzte die Flasche nach zwei Schlucken wieder ab. Dann warf sie Ace einen wütenden Blick zu. »Ich hasse dich«, zischte sie. »Ich hasse euch alle. Ihr seid Tyrannen und Sadisten. Wahrscheinlich tretet ihr auch aus lauter Spaß nach kleinen Hunden. Und jagt den Kids zu Weihnachten Angst ein, als wär’s Halloween. Alle zusammen«, fügte sie noch dazu, um klarzustellen, dass sie nicht speziell ihn meinte, auch wenn der Teamleiter der Allerschlimmste aus dem Trupp war.

Snake hockte sich neben sie auf den Boden. »Nun sei mal nicht so«, sagte er fröhlich. »Wir bringen dich in Topform. Du wirst kilometerweit laufen und schwimmen können …«

»Ich will aber nicht laufen und schwimmen«, unterbrach sie ihn. »Ich möchte gern atmen, ohne dass mir was wehtut. Ich hasse es, Schmutz unter den Fingernägeln zu haben, und jetzt sieh dir das an!« Sie streckte eine Hand aus. Ihre Nägel waren nicht nur dreckig, sondern abgebrochen und zerfasert. Nicht dass sie extrem lange Fingernägel gehabt hätte, die wären beim Tippen am Computer hinderlich gewesen, daher kam sie mit abgebrochenen Nägeln klar, okay. Aber Dreck – nein. Absolut nein.

Die Teammitglieder ließen sich auf dem Boden nieder, bis sie alle im Kreis zusammen saßen. Während der vergangenen sechs Folterstunden hatte sie ihre Namen erfahren. Ace, Teamleiter und Oberarschloch, hieß eigentlich Levi Butcher. Es fiel ihr wirklich schwer, an ihn als »Ace«, das Ass, zu denken, das klang viel zu positiv. Der Typ war Angst einflößend – vor allem, wenn er diesen ausdruckslosen Blick aus den dunklen Augen auf sie richtete, als wolle er sie durchbohren. Er hatte ihr klar zu verstehen gegeben, dass er sie hier nicht wollte. Aber da sie nun mal in seinem Team war, würde er sie zu Topform trainieren, auch wenn sie das nicht überlebte. Sie war sich nicht sicher, was ihm lieber war, sie umzubringen oder sie in Form zu bringen. Wahrscheinlich Ersteres.

Snake war der Mediziner im Team und meist gut gelaunt, weshalb sie ihn zunächst sympathisch gefunden hatte. Aber genauer betrachtet: was war das für ein Sadist, der so gut gelaunt war, wenn er jemanden schikanierte? Am liebsten hätte sie ihm einen Hieb dafür verpasst, dass sie gute Laune jetzt mit Skepsis betrachtete.

Crutch war blond, ein ziemlich stiller Typ, was aber trügerisch war, denn soweit sie das sah, verarschte er die anderen gern. Seine Zurückhaltung war reiner Bluff, und da sie wusste, wie hinterhältig er war, machte sie einen großen Bogen um ihn, um nicht Opfer seiner Scherze zu werden. Damit konnte sie im Moment nicht umgehen. Sie war ja kaum in der Lage, sich fortzubewegen.

Dann war da noch Boom, der aussah, als wäre er der Älteste in der Gruppe, vielleicht Ende dreißig. Er war ein ziemlich bulliger Typ, aber dennoch schnell und beweglich. Offensichtlich gehörte »schnell und beweglich« zu den Voraussetzungen dieses Jobs, was zum Teufel hatte sie also hier zu suchen?

Trapper schien genauso locker zu sein wie Snake, aber auch das war eine Täuschung, denn Trapper war der Scharfschütze des Teams. Was hieß, dass er sehr gut auf Menschen schießen konnte. Jina konnte das nicht so richtig fassen. Natürlich wusste sie, was die GO-Teams taten, aber irgendwie hatte sie nicht angenommen, dass die Jungs so normal waren – abgesehen natürlich von ihrer äußerlichen Superman-Erscheinung. Trapper war einer der Typen, die viel herumalberten, über Witze lachten und aus allem, was sie anpackten, einen Wettstreit machten.

Jelly sah kaum alt genug aus, um sich rasieren zu müssen. Er war jemand, der andere gern zu irgendwelchem Unsinn anstiftete und sich dann zufrieden zurücklehnte, wenn neben ihm die Hölle losbrach. Diesem Schauspiel sah er gern zu. Wie konnte es angehen, dass diese Typen sie misstrauisch gegenüber Fröhlichkeit, lächelnden Gesichtern und Freundlichkeit machten? Da stimmte doch etwas nicht. Diese ganze Situation war absurd.

Der Letzte war Voodoo, der von ihr noch weniger zu halten schien als Levi. Er hatte ihr bisher nichts zu sagen gehabt, hatte ihr keine Tipps gegeben oder sie aufgemuntert und auf keine Weise mit ihr kommuniziert. Sie hätte genauso gut unsichtbar sein können. Zu dumm, dass sie nicht auch für den Rest des Trupps unsichtbar war.

»Trink so viel Wasser, wie du kannst«, riet ihr Snake. »Das ist gut gegen Muskelkater.«

»Kaum«, murmelte sie. »Ich werde mich morgen nicht rühren können.«

»Doch, wirst du«, sagte Levi. »So oder so. Wenn wir einen Auftrag haben, tun wir, was getan werden muss, auch wenn’s wehtut und egal, wie wir uns fühlen.«

Großartig. Das hieß wohl, dass sie keinen Tag zum Ausruhen bekam, um ihren unausweichlichen Muskelkater zu kurieren.

»Leg dich ins heiße Badewasser«, fuhr Snake fort. »Dann in kaltes Wasser, Eiswasser, wenn du das aushältst.«

Ihr entsetzter Blick zeigte ihnen, was sie davon hielt, denn fast alle lachten – außer Levi und Voodoo. Die beiden sahen nur noch grimmiger aus als vorher.

Sie trank noch mehr Wasser, dann schraubte sie die Flasche entschlossen zu und rappelte sich hoch. »Es war mir eine große Freude, Jungs …« Nicht doch. »Aber falls ihr nicht vorhabt, mich noch bis in die Nacht weiter zu foltern, muss ich zu meiner Gruppe zurück und nach Hause fahren.«

»Viel Glück.« Levi schraubte seine Wasserflasche ebenfalls zu. »Sie sind vor über einer Stunde weggefahren.«

Wie bitte? Jina wirbelte herum – autsch – und blickte sich entsetzt auf dem verlassenen Trainingsfeld um. Selbst Baxter war nicht mehr zu sehen. Nur einige wenige Fahrzeuge parkten noch am Rand des Feldes, sieben Stück, was bedeutete, dass sie den sieben Männern gehörten, die sich einen Spaß daraus gemacht hatten, sie zu quälen.

»Ich bringe dich nach Hause«, bot Jelly an.

»Dem darfst du nicht trauen«, warnte Trapper sofort. »Der fährt schlimmer als ein betrunkener Achtjähriger. Ich bringe dich.«

Snake schnaufte. »Vergiss es. Du wirst wahrscheinlich über New York fahren und das komisch finden. Ich kann sie mitnehmen.«

»Ich werde sie fahren«, sagte Levi und stand auf. Seine tiefe Stimme drang durch das allgemeine Gelächter und stoppte jegliche weitere Diskussion. »Ich muss ihr sowieso noch ein paar Dinge erklären.«

Damit war es entschieden. Es gab keine weiteren Angebote mehr, keine Witze. Der Boss hatte gesprochen. Auch wenn die Jungs sonst nicht zögerten, ihn in ihre rauen Scherze miteinzubeziehen, sobald es das GO-Team betraf, galt sein Wort ohne Widerrede. »Gehen wir«, sagte er und marschierte über das unebene Feld auf die parkenden Autos zu. Schicksalsergeben trottete Jina hinter ihm her.

Es gab zwei Arten von Fahrzeugen, stellte sie fest: drei Sportwagen und vier Pick-ups mit Allradantrieb. Sie hoffte, dass Levi einer der Sportwagen gehörte, wo sie sich nur in den Sitz fallen lassen musste. Aber natürlich wendete sich ihr Glück an diesem Tag, der von Anfang bis Ende eine Katastrophe gewesen war, nicht plötzlich. Er steuerte direkt auf einen Truck zu, der aussah, als wäre er für Darth Vader geschaffen. Der Wagen war schwarz, hatte aber nicht das glänzende Schwarz von normalem Lack. Es war matt, kein bisschen schimmernd. Tatsächlich gab es nirgends etwas Chromglänzendes an dem Fahrzeug, keinen Millimeter, weder Steuerrad noch Rückspiegel oder Seitenspiegel, nicht einmal die Türgriffe.

»Wie findest du den Wagen im Dunkeln?«, fragte sie. »Bindest du einen Luftballon dran?«

»Ich bin sehr gut darin, Dinge im Dunkeln zu finden«, entgegnete er, ohne zu lächeln. »Die Türen sind nicht verschlossen, steig ein.«

Steig ein. Jawohl, ja doch. Sie hatte bereits gewusst, was sie erwartete, als sie mit Mühe die Beifahrertür öffnete und ins Innere des Wagens starrte. Der Boden war fast einen halben Meter höher als bei einem normalen Truck, und an einem normalen Tag hätte sie sich ohne Probleme auf den Sitz geschwungen. Heute allerdings war kein normaler Tag gewesen. Jeder Muskel in ihrem Körper zitterte vor Schwäche, sodass ihr selbst das Gehen Schwierigkeiten bereitete. Und es gab kein Trittbrett. Der Truck hatte keine Extras, nur das Notwendigste.

Levi rutschte hinter das Steuer und beobachtete sie ausdruckslos.

War das hier eine Art Prüfung? Erwartete er, dass sie ihn um Hilfe bat? Ihm gestand, dass sie Probleme hatte, in dieses verrückte Darth-Vader-Mobil einzusteigen?

Sie war versucht, genau das zu tun. Vielleicht sollte sie sich als Schwächling outen. Womöglich wäre das alles, was der Teamleiter benötigte, um sie aus seinem Team zu werfen. MacNamara hatte gesagt, dass Leute, die der körperlichen Anstrengung nicht gewachsen waren, nicht gefeuert wurden. Wenn sie der Trainingsfolter dadurch entging, dass sie es nicht schaffte, in Levis Truck einzusteigen, wäre es dann nicht klug, diese Chance zu ergreifen?

Aber das konnte sie nicht. Aufgeben war nicht ihr Ding. Egal wie verlockend es war, sich auf einfache Weise zu entziehen, sie musste sich einfach anstrengen, wenn sie vor sich selbst nicht als Versagerin dastehen wollte.

»Die Panzer waren wohl schon ausverkauft, als du einen Wagen brauchtest«, grummelte sie vor sich hin, während sie mit der rechten Hand nach der Armlehne griff und sich streckte, um sich an dem lächerlichen Griff festhalten zu können. Sie spannte sich an und hob das linke Bein. Ihre Arme zitterten, als sie versuchte, sich so weit hochzuhieven, dass sie einen Fuß auf den Boden der Fahrerkabine setzen konnte. Keine Chance. Ihr Oberarm erschlaffte, und mit einem Stöhnen landete sie wieder am Boden.

Darth Vader gab keinen Laut von sich, wartete nur, den ausdruckslosen Blick seiner dunklen Augen auf sie gerichtet.

Sie sah über ihre Schulter zurück. Die anderen sechs standen Schulter an Schulter da und beobachteten das Schauspiel. Selbst wenn sie ihr Hilfe angeboten hätten, wäre sie keinesfalls darauf eingegangen. Aber es machte eh keiner von ihnen den Eindruck, als habe er etwas in der Art vor. Die Männer waren nicht ihre Freunde, das durfte sie nicht vergessen. Sie war nur hier, weil sie ihnen mehr oder weniger aufgezwungen worden war. Vermutlich hatten die Teams gelost, und Levi hatte den Kürzeren gezogen.

Den Kürzeren gezogen. Ha! Die Kürzere in diesem Fall, sehr witzig.

Himmel noch mal, sie würde es in diesen Truck schaffen, und wenn sie alle vier Reifen durchstechen musste, damit das Ding auf ihre Höhe runtersackte. Diese Vorstellung gefiel ihr so, dass sie beim nächsten Versuch, sich hochzuschwingen, noch mehr Energie aufwandte – was allerdings nicht viel brachte, da sie ihren Fuß immer noch nicht auf die richtige Höhe bekam.

Nur mit der Schuhspitze, dachte sie verbissen. Sie brauchte es nur mit der Schuhspitze zu schaffen. Das müsste reichen. Sie blickte sich um, ob sie irgendwo einen Klotz, einen Eimer oder einen … Stein entdeckte. Etwa in der Größe ihrer Faust lag er direkt neben dem Vorderreifen, so als hätte der liebe Gott ihn dorthin gelegt, um sie in Versuchung zu führen, diesen gegen ihre Folterer zu schleudern.

»Augenblick«, sagte sie und streckte ein Bein unter der Tür, um den Stein mit dem Fuß an sich heranzuziehen.

»Was machst du denn da?«

»Hier liegt ein Stein. Den ich brauche.«

»Nicht dass du damit …«

»Ich will mich draufstellen«, sagte sie kurz angebunden. »Mach dich nicht lächerlich.« Ups. Vermutlich hätte sie dem großen Boss nicht so respektlos begegnen sollen. »Tut mir leid«, sagte sie sofort. Nein, tut mir nicht leid, dachte sie.

Er trommelte wartend mit den Fingern auf das Lenkrad.

Okay, das war’s. Wenn es mit dem Stein nicht funktionierte, würde er sicher nicht so lange warten, bis sie etwas anderes fand, auf das sie sich stellen konnte. Vielleicht konnte sie mit einem der anderen mitfahren, aber verdammt, das hier war ein Test. Wenn sie ihn nicht bestand, würde das nicht daran liegen, dass sie es nicht versucht hatte. Sie stellte sich mit dem linken Fuß auf den Stein und stand nun ein paar kostbare Zentimeter höher, langte erneut nach den Griffen, befahl im Stillen ihren zittrigen Muskeln, sich einfach nur für ein paar verdammte Sekunden zusammenzureißen, winkelte ein Knie an und schwang sich – also gut, versuchte sich mehr oder weniger hinaufzuschwingen, während sie sich mit aller Kraft hochzog.

Ihr versagte der linke Arm, dieses schwache Körperteil, aber der rechte hielt durch. Sie drehte sich, schwang den rechten Fuß hoch genug, um damit auf die Türschwelle zu gelangen. Ihre Beinmuskeln bebten, der Arm schwächelte, und dieser Mistkerl saß da mit undurchdringlicher Miene, als wäre es ihm egal, ob sie es in den Truck schaffte oder tot zu Boden fiel. Wo er sie zweifellos liegen lassen und ihre Leiche womöglich noch überrollen würde.

Sie biss die Zähne zusammen, verdrängte ihre Wut, bevor sie noch etwas von sich gab, was sie später womöglich bereute – wobei ihr die Möglichkeit eher abwegig erschien –, und konzentrierte sich mit der ihr verbliebenen Energie darauf, sich mit einem Arm und dem spärlichen Halt eines Fußes hochzustemmen.

Okay, »hochstemmen« war vielleicht ein übertriebener Ausdruck. Tatsächlich hangelte sie sich ein Stückchen hoch, dann rutschte der Fuß ab, aber sie landete auf dem Knie, und das war besser und gab ihr mehr Halt. Sie griff mit der linken Hand nach der anderen Kante des Sitzes, zog sich noch ein Stück weiter auf den Boden, kroch von dort mühsam auf den Sitz und ließ sich darauf sinken.

Die sechs Männer, die draußen wie Cheerleader aufgereiht standen, johlten und applaudierten. Sie zeigte ihnen den Mittelfinger, dann schlug sie die Beifahrertür zu, befestigte ihren Sicherheitsgurt und starrte geradeaus. Nur so konnte sie sich davon abhalten, dem Mann hinterm Lenkrad ebenfalls den Stinkefinger zu geben.

Er startete den Motor und legte den Gang ein. Das dunkle sanfte Grollen der Maschine erregte ihre Aufmerksamkeit. Kein normaler fabrikgefertigter Motor klang so, als gebe es nirgendwo einen Katalysator. Bei dem äußeren Erscheinungsbild des Trucks und dem Sound des Motors war es höchstwahrscheinlich, dass mit den Umbauten am Fahrzeug sämtliche Garantieansprüche nichtig waren.

Sie rümpfte die Nase. Im Auto stank es. Oder besser gesagt, Levi Butcher roch nicht gut und verpestete die Luft mit seinen testosteronhaltigen Schweißausdünstungen und Schmutzschichten. Sie schnüffelte erneut und musste sich eingestehen, dass auch sie selbst zur schlechten Luft in der Fahrerkabine das Ihre beitrug. Himmel noch mal, sie war abstoßend! Noch dringender, als sich hinzulegen, musste sie duschen. Diese Situation war schrecklich. Wie gut, dass die Sitze mit Leder bezogen waren, denn Stoffbezüge wären jetzt ruiniert.

»Du weißt also, wo du stehst«, sagte er ohne Einleitung. »Wir wollen dich nicht im Team. Keiner von uns – und ich spreche für alle Teams – möchte irgendwelche Amateure mitschleppen. Untrainiertes Personal kann uns umbringen. Als Frau bist du sogar noch eine größere Belastung. Ich habe mich nur darauf eingelassen, weil Mac sagte, wenn jemand mit dieser Behinderung klarkommt, dann wir.«

»Wow«, sagte Jina, »ich fühle mich geehrt.«

Der Sarkasmus in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Er warf ihr einen unbeeindruckten Blick zu. »Das hat nichts mit Sexismus zu tun. Wir arbeiten mit weiblichen Agenten, aber die sind ausgebildet, und sie wollen mit uns arbeiten. Bei dir trifft weder das eine noch das andere zu.«

Dem hätte sie gern widersprochen, aber das konnte sie nicht … verdammt noch mal.

»Wenn ich jemals zwischen dir und meinen Männern entscheiden müsste, würde ich meine Männer wählen, jederzeit. Denk nicht, weil du eine Frau bist, werden wir uns zu deinem Schutz vor eine Kugel werfen, das wird nicht passieren.«

Okay, okay. Das war deutlich. Sollte sie irgendwann irrtümlicherweise auf den Gedanken kommen, sie wäre für diesen Trupp von Wert, würde sie sich an diese Unterhaltung erinnern. »Verstanden«, sagte sie. »Ich bin nichts wert.«

Wieder dieser unergründliche Blick, aber er widersprach ihr nicht und ließ die Behauptung so stehen. »Du wirst noch für eine ganze Weile nicht mit uns arbeiten. Fürs Erste hast du noch eine Menge Training zu absolvieren, nicht nur die Fitnessübungen mit uns, sondern auch technisches Know-how mit Kamera-Drohnen, dazu ausreichend Waffentraining, sodass du in brenzligen Situationen keine totale Belastung bist, dazu Absprungtraining …«

Was?

»Was?«, unterbrach sie ihn. »Absprungtraining?«

»Manchmal müssen wir mit dem Fallschirm anrücken. Wir können für dich keine Extra-Anreiseroute planen.«

»Uff, nein. Ich werde nicht aus einem Flugzeug springen.« Das meinte sie ernst. Allein der Gedanke daran war reiner Horror. Sie hatte keine Angst zu fliegen oder Höhenangst, aber ihr Überlebensinstinkt war zu hoch getunt, um auch nur ans Bungee-Springen zu denken.

»Doch, wirst du«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Sie hielt den Mund. Aber auch wenn sie jetzt schwieg, bedeutete das nicht, dass sie aufgab. Sie würde einen Weg finden, die Fallschirmsprünge zu umgehen – irgendwie.

»Bei manchen Einsätzen wirst du dunkle Kontaktlinsen tragen, deine Augenfarbe ist zu hell. Besorg dir welche, damit du dich daran gewöhnen kannst. Außerdem, wenn du nicht sowieso schon dauerhaft verhütest, musst du dich jetzt darum kümmern.«

Sie presste die Lippen fest zusammen. Dies war einer der Momente, in denen kein Kommentar die beste Erwiderung war. Ob sie verhütete und auf welche Art, ging ihn überhaupt nichts an. Auch wenn sie seinen Standpunkt verstehen konnte, er musste das gar nicht weiter ausführen. Während der Einsätze würden sie sich in gefährlichen Gebieten aufhalten. Sollte sie in Gefangenschaft geraten, würde man nicht zimperlich mit ihr umgehen, Vergewaltigung inklusive. Ihr drehte sich der Magen um, wenn sie bedachte, wie gefährlich ihr Leben werden würde. Ob sie das aushielt? Vielleicht sollte sie jetzt gleich aufgeben – vor allem, weil sie ohnehin nicht wirklich dahinterstand. Sie könnte zu Axel MacNamara ins Büro gehen, ihm erklären, dass sie diese Arbeit nicht tun wollte, sich feuern lassen und von Arbeitslosengeld leben, solange sie auf Jobsuche war.

Sie musste auch nicht in D. C. oder Umgebung bleiben. Sie könnte jederzeit nach Hause zurückkehren, in den Süden Georgias. Ihre Familie lebte dort, sie hätte Unterstützung. Es wäre möglich, wieder das bequeme Leben von damals aufzunehmen, als wäre sie niemals losgezogen, um eine unabhängige Erwachsene zu werden.

Aber das hatte sie getan, denn sie hatte sich selbst prüfen wollen und war dabei in einen verdammt interessanten Job gestolpert. Sie wurde gut bezahlt, und mehr als das, sie freute sich jeden Tag, zur Arbeit zu gehen. Das war eine Menge wert.

Einfach aufgeben?

Wie konnte sie das alles einfach aufgeben? Musste sie es nicht wenigstens versuchen?

Jeder, der halbwegs bei Verstand war, würde gehen. Kein vernünftiger Mensch würde hier sitzen und sich vom Boss anhören, dass jeder andere im Team mehr wert war als man selbst.

Das zeigte ganz eindeutig, dass sie nicht normal war. Denn statt zu erklären, dass sie kündigte, sagte sie: »Hast du einen Sender an meinem Wagen befestigt, oder soll ich dir sagen, wo wir heute mit dem Bus abgeholt wurden?« Er hatte sich nicht erkundigt, und wenn er beabsichtigte, sie zum Bürohaus zu fahren, machte er einen Fehler. Sie hatten sich am Morgen weit davon entfernt auf einem anderen Parkplatz getroffen.

»Ich habe den Sender gestern Abend angebracht«, erwiderte er knapp.

Zu ihrer großen Verwunderung und zu ihrem wortlosen Ärger war das keine Lüge.

3. Kapitel

Sie ist die störrischste kleine Nervensäge, die mir je begegnet ist, dachte Levi leidenschaftslos, während er schweigend beobachtete, wie sie fast aus seinem Truck fiel und dann zu ihrem eigenen Wagen humpelte. Er hatte sich um seine mitleidlose Haltung sehr bemühen müssen, was ihn höllisch nervte.

Wenn es funktionierte, war MacNamaras Idee verdammt gut – wenn es funktionierte. Amateure so zu trainieren, dass sie keine Belastung darstellten, war ein großer Vorsatz, aber nicht unmöglich. Eine Amateurin, die offensichtlich nicht im Team sein wollte, so weit zu trainieren, grenzte ans Unmögliche, also hatte MacNamara sie natürlich bei ihm abgeladen.

Er hatte das mit seinen Jungs gestern Abend besprochen und danach beschlossen, dass sie selbst das Training der Dame übernehmen wollten, wenn sie schon in ihr Team kam, je eher, desto besser. Das hatte er dann mit Mac klargemacht. Sie hatten das Mädchen zuerst eine Weile beobachtet, um einen Eindruck davon zu bekommen, mit wem sie es zu tun hatten. Ein Typ hatte sie beim Laufen angerempelt, sodass sie fast gestürzt wäre. Aber sie hatte sich gut gehalten und ihm dann ihrerseits ein Bein gestellt. »Gut so«, hatte Boom gegrunzt. »Das erspart mir, dem Kerl später einen Arschtritt zu geben.«

Levi schnaufte. Er hätte ihm keinen Arschtritt verpasst, war aber trotzdem froh, dass sie sich gewehrt hatte. Das Team konnte nicht richtig arbeiten, wenn es sich um eine Heulsuse kümmern musste. Aber Boom war verheiratet und hatte Kinder, das jüngste ein dreijähriges Mädchen. Als Vater einer Tochter hatte er einen übertriebenen Beschützerinstinkt entwickelt. Er schwor, dass er die Kleine in ein Kloster bringen würde, wenn sie sechs Jahre alt war, und dass er jeden kastrieren würde, der mit seinem Schwanz auch nur in ihre Nähe käme.

»Wir können sie nicht beschützen«, sagte Levi ruhig. »Sie muss allein klarkommen, ansonsten funktioniert das hier nicht.«

»Ich weiß, verdammt noch mal, aber …«

»Kein Aber. Keine Unterstützung von uns. Wir müssen sehen, aus welchem Holz sie ist.«

Und das hatten sie. Sie war störrisch wie ein Ochse, konnte ziemlich bösartig werden und war nicht in der Lage, den Mund zu halten. Sie hatte sie wütend angefunkelt, fürchterlich geflucht und ihnen alle Landplagen an den Hals gewünscht – und ihr Äußerstes gegeben, um alles zu tun, was sie von ihr verlangten. Sie war öfter gestürzt, als er hatte zählen können, hatte Staub gefressen, war mit dem Gesicht zuerst in den Matsch gefallen, hatte sich die Hände aufgeschürft und die Füße wahrscheinlich auch, aber nicht ein einziges Mal um Hilfe gebeten.

Mehrere Male hatte er sich zurückhalten müssen, um sie nicht aufzufangen, wenn sie gestürzt war, selbst wenn »auffangen« bedeutet hätte, sie am Pferdeschwanz zu packen. Stattdessen hatte er zugesehen, wie sie fiel, und gehofft, dass sie Ich geb’s auf sagte. Aber das war nicht passiert. Sie hatte geschimpft und geflucht, sie als Sadisten bezeichnet und ihnen entgegengeschleudert, wie sehr sie alle hasste. Doch jedes Mal war sie wieder aufgestanden und hatte weitergemacht.

Wie zum Teufel war es möglich, dass sie sich überhaupt noch rühren konnte? Sie war nicht wirklich nicht in Form. Doch mit einem störrischen Gesichtsausdruck, der ihnen sehr schnell vertraut wurde, hatte sie alles eingesteckt. Als Jelly eine Bemerkung darüber gemacht hatte, dass er gern sein Glück bei ihr versuchen würde, hatte Levi ihn sofort zurechtweisen müssen.

»Du wirst mit niemandem im Team ficken«, sagte er knapp. »Das ist der beste Weg, eine Kampfgruppe kaputtzumachen. Diese Frau ist für uns alle tabu. Wenn du irgendwelche Ambitionen in der Art hast, schlag sie dir auf der Stelle aus dem Kopf.«

Zu dumm aber auch, dass er sich selbst ebenfalls an diese Anordnung halten musste. Ganz besonders er hatte sich dieser Regel unterzuordnen. Ansonsten würde das Team auseinanderbrechen, und da ihr aller Leben von guter Teamarbeit abhing, würde er tun, was zu tun war.

Die Singles in der Gruppe hatten alle sehr enttäuscht ausgesehen. Außer Voodoo, der absolut nicht mit Jina warm werden wollte, aber der war eh ein mürrischer Mistkerl, der sich selbst nicht leiden konnte, sodass er nicht zählte.

Levi fühlte sich mit der ganzen Situation unwohl, schließlich mussten sie eine Amateurin in ihre fest gewachsene Gruppe integrieren. In den GO-Teams hielt man gut zusammen, das musste auch so sein, damit sie ihre Einsätze überlebten. Es war zu dumm, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Gar nicht so sehr wegen ihres Aussehens – obwohl sie recht hübsch war, nicht sehr auffallend, bis auf ihre intensiv blauen Augen mit dem bernsteinfarbenen Ring um den Pupillenrand. Ihre Figur war okay, wenn auch nicht besonders üppig. Das volle dunkelbraune Haar glänzte, jedenfalls bevor es völlig mit Staub bedeckt war. Was ihn aber am meisten anzog, war ihr Auftreten und ihre große Klappe, die sie auch in Situationen hatte, in denen die Vernunft gebot, den Mund zu halten. Das tat sie nicht, und das gefiel ihm.

Egal. Sie war tabu. Er würde ihr nicht mehr nachsehen als den anderen, und wenn sie diesem Job nicht gewachsen war … nun, dann würde das die Spielregeln ändern.

Er wusste, wo sie ihr Auto abgestellt hatte, da die Neuen immer an der gleichen Stelle vom Bus abgeholt wurden. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als er daran dachte, wie sie auf den Blödsinn mit dem Peilsender an ihrem Wagen hereingefallen war. Früher oder später würde sie herausfinden, dass er gelogen hatte, und das Team würde seinen Spaß daran haben, wenn sie dann auf ihn losging. Er hatte ein dickes Fell, das konnte er einstecken. Tatsächlich freute er sich schon darauf.

»Nimm ein heißes Bad«, war Levis letzter weiser Rat gewesen, bevor er sie neben ihrem Corolla abgesetzt hatte. »Und trink viel Wasser.«

Jina hatte etwas Unverständliches vor sich hin gemurmelt. Sie wusste, wie sie mit Muskelkater umgehen musste. Ihre einzige Sorge war, wie sie es überhaupt in die Badewanne schaffen sollte – und ob sie womöglich ertrank, weil sie womöglich nicht in der Lage sein würde, sich im Wasser aufrecht zu halten.

Während der Fahrt waren ihre Muskeln so steif geworden, dass sie beim Aussteigen fast aus dem Truck gefallen wäre und sich an der Tür hatte festhalten müssen, um nicht mit der Nase zuerst auf dem Asphalt zu landen. Ohne Levi anzusehen, schloss sie die Beifahrertür – nachdrücklich, ohne dem Drang nachzugeben, sie zuzuknallen – und schleppte sich zu ihrem Wagen. Da sie nicht dumm war, hatte sie erst gar keine Handtasche mitgenommen, die Fernbedienung hing um ihren Hals und war sorgfältig in ihrem Sport-BH verstaut. Ungeschickt fischte sie den Schlüssel heraus und öffnete die Fahrertür.

Levi hatte sich bereits auf den Weg gemacht, ohne zu warten, bis sie selbst eingestiegen und losgefahren war. Sie ihrerseits hatte den Moment abgepasst, wo er außer Sicht gewesen war, bevor sie sich wie ein nasser Sack auf den Fahrersitz hatte fallen lassen und mit beiden Händen die Beine hineingezogen hatte. O Gott, wie das wehtat. Selbst die Fußsohlen schmerzten.

Als sie sich schließlich nach oben in ihre Wohnung schleppte und bei jedem quälenden Schritt vor sich hin fluchte, fühlte sie sich, als würde sie jeden Moment sterben. Ihre Arme waren kaum stark genug gewesen, um den Corolla zu steuern, sodass sie betend durch den Verkehr in D. C. gefahren war. Ihr Wagen war nicht gerade ein Panzer oder eine Rakete, wie sie die Männer offensichtlich bevorzugten, aber verdammt, sie hatte ihn vergangenes Jahr gekauft und war stolz genug darauf, um ihn nicht zu Schrott fahren zu wollen. Sie hatte ihn so gut gepflegt, dass er sogar immer noch den wunderbaren Duft eines Neuwagens verströmte, obwohl ihre Ausdünstungen dem heute womöglich ein Ende gesetzt hatten.

Jina ging sofort ins Badezimmer, denn sie wusste, dass sie sich, dreckig, wie sie war, nirgends hinsetzen konnte, ohne die Bezüge zu ruinieren. Außerdem sehnte sie sich danach, sich in der heißen Wanne auszustrecken. Doch als sie sich im Spiegel sah, war ihr klar, dass dies nicht sofort passieren konnte. Sie war von Kopf bis Fuß mit rotem Staub bedeckt, der sich mit angetrocknetem Schweiß und Matsch vermischt hatte. Entsetzt starrte sie auf ihr Haar. O mein Gott! Das bekam sie nie wieder hin. Es in einem Pferdeschwanz zurückzubinden hatte nicht viel geholfen, höchstens dazu beigetragen, dass es jetzt mit Matsch an ihrem Kopf pappte.

Sie stellte die Dusche an, und während das Wasser sich erhitzte, pellte sie sich unter Schmerzen aus ihren verschmutzten Klamotten. Am schlimmsten waren die Socken, denn Schlamm, Staub und Sand hatten sich durch sie hindurchgearbeitet und ihre Hacken wund gerieben. Die Blasen waren aufgeplatzt, sodass der Stoff jetzt an der Haut festklebte. O verdammt, ihre Füße würden morgen extrem wund sein. Mach dir nichts vor, dachte sie verbissen, jede Stelle an in ihrem Körper würde schmerzen, ob sie nun ein heißes Bad nahm oder nicht.

Sie wusch ihr Haar zweimal durch, das Spülwasser rann rot gefärbt an ihrem Körper hinab. Die Fußsohlen brannten in dem heißen Wasser. Das war die quälendste Dusche, die sie sich je hätte vorstellen können, und das Gemeine war, dass sie es sonst eigentlich sehr genoss, zu duschen. Als das Spülwasser endlich klar war, setzte sie den Stöpsel ein, stellte die Dusche aus und ließ die Wanne volllaufen.

Das heiße Wasser war nach der langen Dusche nun bereits verbraucht, bevor sie die Wanne zur Hälfte gefüllt hatte.

Fluchend versuchte sie, so gut wie möglich in die Wasserpfütze einzutauchen. Vielleicht bekam sie die Wanne später noch mal voll, bevor sie ins Bett ging … vielleicht auch nicht.

Störrisch, wie sie war, hielt sie durch, doch sie schluckte eine Tablette gegen die Muskelschmerzen. Auf die Fußsohlen rieb sie antibiotische Salbe und klebte extrabreite Pflaster darauf. Dann trank sie viel Wasser, obwohl sie keinen Durst mehr hatte. Und sie aß mit wenig Enthusiasmus ein Tiefkühlessen, gefolgt von einem Schokoriegel. Das war schon besser.

Gerade als sie sich die Reste der Schokolade von den Fingern leckte, klingelte das Telefon mit dem speziellen Klingelton für ihre Mutter. »Hallo Mom, wie geht’s?«

»Ich wollte mich nur mal melden«, sagte ihre Mutter sanft. Alles an ihrer Mutter war sanft und zierlich, von der Stimme zur schmalen Figur und dem hellen Haar. Jinas Schwestern Ashley und Caleigh ähnelten ihr mit ihren hellen melodiösen Stimmen. Jina klang dagegen wie ihr Vater und hatte zudem sein dunkles Haar geerbt, nicht das blonde ihrer Mutter. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, doch als Kind war sie oft unsicher gewesen und hatte versucht, so wenig wie möglich zu sprechen. Was allerdings nicht sehr gut funktioniert hatte, da sie es nur selten schaffte, den Mund zu halten. »Gibt es was Neues?«

Wenn ihre Mutter so fragte, wollte sie wissen, ob Jina inzwischen einen interessanten Mann kennengelernt hatte. Jina verzog das Gesicht. Es war nicht so, dass sie über die Jahre keine Beziehungen gehabt hätte. Außerdem gab es schon ein paar Enkelkinder in der Familie: Ashley, die Älteste, hatte zwei Kinder, und die Frau von Jordan, dem zweiten, war schwanger. Wahrscheinlich wünschte sich ihre Mutter, dass ihre Kinder alle nacheinander eine Familie gründeten, und zwar der Reihe nach. Was bedeutete, dass Jina die Nächste wäre.

Darum musste sie ihrer Mutter etwas erzählen, um zukünftige Komplikationen zu vermeiden. »Ich bin versetzt worden und hab einen neuen Job«, sagte sie. »Das heißt höheres Gehalt« – ein sehr viel höheres –, »und ich werde viel reisen müssen.«

»Wow, das klingt gut!« Ihre Mutter klang echt begeistert. »Mehr Geld und Reisen würde ich auch nicht gerade verachten. Du kannst im Urlaub doch immer noch nach Hause kommen, oder?«

»Zumindest ab und zu. Die Termine sind nicht lange im Voraus geplant.«

»Was tust du denn?«

»Computerzeug.« Was keine Lüge war. Das Erste, was man beigebracht bekam, wenn man bei ihnen anfing, war, wie man bei der Wahrheit bleiben konnte – was leichter zu behalten war – und trotzdem nichts verriet. Wenn ein Familienmitglied im Internet nach dem Firmennamen suchte, bekamen sie zu ihrer Beruhigung nur sehr oberflächliche Informationen zu lesen, zu denen Jobbeschreibungen wie »kurzfristig zu internationalen Krisenherden geschickt, Waffen und Sprengstoffgebrauch möglich« nicht gehörten.

»Fängst du sofort damit an?«

»Nein, ich muss erst noch eine Schulung machen.« Jeder schmerzende Muskel bestätigte ihr das. »Das heißt, dass ich fürs Erste Zwölfstundentage habe.«

»Ich hoffe, du bekommst die Überstunden bezahlt.«

Das würde sicher nicht der Fall sein. Sie ließ sich die neuesten Nachrichten aus der Familie erzählen – Dad wollte mit der Mutter eine Kreuzfahrt machen, was Jina aus vollem Herzen unterstützte. Taz, ihr jüngerer Bruder, war von der Armee nach Mexiko versetzt worden. Caleigh, die Jüngste, hatte eine Abmahnung im College bekommen, gehörte aber trotzdem zu den Besten ihres Studiengangs. Als ihre Mutter schließlich zum Ende kam, war Jina am Gähnen und schaffte es kaum noch, die Augen offen zu halten. »Ich muss Schluss machen, Mom«, murmelte sie. »Ich bin so müde, dass ich mich nicht mehr aufrecht halten kann, und morgen früh muss ich um fünf Uhr raus.«

Sie ließ die Mitleidsbekundungen über sich ergehen und versprach, bald anzurufen. Nachdem sie zweimal »Hab euch lieb« gesagt hatte, durfte sie endlich auflegen.

Jina humpelte ins Bad, putzte sich die Zähne und machte sich auf den Weg ins Bett, als sie merkte, dass ihr Haar noch nass war. Fluchend kehrte sie ins Bad zurück, lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Kommode und föhnte sich das Haar trocken. Es war ihr egal, wie es morgen aussah, denn zum Ersten würde sie es sowieso zu einem Pferdeschwanz binden, und zum Zweiten war es am Ende des Tages sowieso wieder mit Staub und Matsch verklebt.

»Perfektes Ende eines Scheißtages«, sagte sie sich, während sie ins Bett fiel. Und was noch schlimmer war – morgen würde es genauso beschissen werden.

Sie hatte recht gehabt. Nachdem sie den nervenden Wecker durchs Zimmer geschleudert hatte, weil er nicht zu klingeln aufhörte, versuchte sie in zwei Anläufen, ganz normal aus dem Bett aufzustehen – sich aufsetzen und die Beine über die Bettkante schwingen –, was aber so schmerzhaft war, dass sie es aufgab und sich von der Matratze rollte, bis sie auf den Knien landete. Der Wecker kreischte immer noch wie ein hysterisches Kind. Mit den Händen stützte sie sich auf, um sich aufzurichten, und stakste mit steifen Gliedern zum Wecker hinüber. Nach einigen Versuchen schaffte sie es, sich mit lautem Stöhnen und Fluchen herunterzubeugen und das Ding aufzuheben.

Sie würde heute ihren Hut nehmen. Sie konnte das Ganze nicht schaffen. MacNamaras Idee war idiotisch. Er konnte computerspielende Couch-Potatoes aus dem Büro nicht einfach auf Einsätze schicken. Warum brachten sie nicht einfach einigen der regulären Geheimagenten bei, wie man eine Drohne bediente – ach ja, richtig, die waren zu wertvoll, um sie aus dem aktiven Einsatzteam zu nehmen. Nun, das war sein Problem, denn sie war draußen, D-R-A-U-S-S-E-N, weg, tschüs.

Und Levi … Verdammt seien seine teuflischen Augen! Er würde feixen, hatte er doch von Anfang an gewusst, dass sie eine Luftnummer war.

Autor

Linda Howard

Linda Howard begann ihre Karriere als eifrige Leserin. Sie verschlang alle Bücher, die sie in die Hände bekam – ganz besonders hatten es ihr die Werke von Margaret Mitchell angetan. Rhett Butler, der Held aus „Vom Winde verweht“, beeindruckte sie so sehr, dass sie selbst mit dem Schreiben begann: Während...

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