Die erfundene Verlobte des Earls

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Hugh Standish, Earl of Fareham, hat ein Problem. Um seine Mutter von Kupplungsversuchen abzuhalten, hat er immer wieder schwärmerisch von seiner Verlobten berichtet. Jetzt reisen seine Eltern an, um besagte Dame kennenzulernen – dabei ist sie frei erfunden! Zum Glück begegnet der Adelige der mittellosen Miss Minerva Merriwell, die genau auf die Beschreibung seiner Auserwählten passt. Augenblicklich stellt er sie als Schauspielerin ein. Doch bald hat Hugh ein neues Problem: Die bezaubernde Minerva spielt ihre Rolle derart überzeugend, dass er selbst an die Verlobung zu glauben beginnt. Könnte aus seiner Komödie am Ende doch noch Ernst werden?



  • Erscheinungstag 07.10.2022
  • Bandnummer 143
  • ISBN / Artikelnummer 0840220143
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

1. KAPITEL

Ende November 1825 …

Das Problem mit Lügen ist, dass sie dazu neigen, einen unerwartet wieder einzuholen, wenn man sie nicht geschickt genug lenkt. Hughs außer Kontrolle geratene, ekelhaft übertrieben ausgeschmückte Schwindelei glich einem tollwütigen Hund, der drauf und dran war, ihm die vor Schaum triefenden Zähne ins Hinterteil zu schlagen, und es gab absolut nichts, was er dagegen hätte tun können.

Er betrachtete den Brief noch einmal, in der armseligen Hoffnung, dass er die ausladende, schwungvolle Handschrift seiner Mutter vielleicht falsch gelesen hätte – aber nein, sein Schicksal war besiegelt! Sie hatte eine Passage auf einem Schiff gebucht, das am Ersten in Boston auslaufen und, sofern die Gezeiten, die Strömung und der Passatwind es zuließen, zu Weihnachten in Southampton ankommen würde. Das bedeutete, dass er den verfluchten Brief viel zu spät bekommen hatte, um die Reise zu unterbinden, was zweifellos auch beabsichtigt gewesen war, denn seine Mutter, sein Stiefvater und ein ganzer Berg von Ärger schaukelten gerade auf dem Atlantik auf ihn zu. Schlimmer noch – falls es überhaupt schlimmer kommen konnte –, diese ganze überstürzte und vollkommen unerwünschte Reise hatte nur einen Zweck.

Sie wollten unbedingt seine Verlobte kennenlernen, nachdem deren Trauerzeit endlich vorüber war.

Die Verlobte, die es nicht gab.

„Machen wir uns nichts vor, du bist erledigt.“ Sein bester Freund Giles, der mit wenig Begeisterung den Titel eines Dukes geerbt hatte, war ein unverbesserlicher Pessimist. Er steckte sich den achten Keks in den Mund und kaute gedankenverloren, während er an die Decke starrte. „Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt zum Weglaufen? Geh doch auf eine ausgedehnte Reise durch Europa und komm erst zurück, wenn sie auf dem Rückweg sind. Dein Stiefvater ist Geschäftsmann, oder nicht? Meiner Erfahrung nach sind Geschäftsmänner so furchtbar langweilig, dass sie es nicht ertragen können, ihr Geschäft für längere Zeit allein zu lassen.“

„Sollte ich weglaufen, kann ich meiner Mutter auch gleich alles erzählen. Wenn ich nicht auf sie aufpasse, gräbt sie während meiner Abwesenheit so lange nach, bis sie die ganze Wahrheit ans Tageslicht gebracht hat, und dann hat mein letztes Stündlein geschlagen. Wenn ich dich daran erinnern darf, habe ich Minerva überhaupt nur erfunden, weil sie gedroht hat, herzukommen und mir dabei zu helfen, eine Braut zu finden. Du hast ja keine Ahnung, wie hartnäckig diese Frau sein kann. Sie ist vollkommen besessen von meinem Glück, seitdem sie losgezogen ist und aus Liebe geheiratet hat.“ Hugh verzog angewidert das Gesicht. „Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, dass ich nie wirklich glücklich sein werde, solange ich mich nicht an die Frau meiner Träume gefesselt habe. Wenn es sich bei dieser Frau nicht um ‚Minerva‘ handelt, dann findet sie schneller einen Ersatz für mich, als du ‚ich will‘ sagen kannst.“

„Nun ja, zumindest wünscht sich dein einziges noch lebendes Elternteil eine glückliche Ehe für dich. Mein Vater hat beschlossen, mir eine Pflichtehe aufzuzwingen, und stellt mir mindestens einmal in der Woche eine passende Kandidatin vor, egal wie oft ich versuche, ihn davon abzubringen. Ich habe inzwischen eine unvernünftige Angst vor dem Hyde Park entwickelt. Er hat mir die ganze Freude an den Ausritten dort genommen. Und auf der Rotten Row konnte man früher so leicht gleichgesinnte Damen kennenlernen.“

Mit gleichgesinnt meinte Giles diskret, offen für ein Techtelmechtel, freigiebig mit ihrer Gunst und ohne Sehnsucht nach einer dauerhaften Bindung.

„Das ist ja alles gut und schön – aber können wir uns bitte auf das aktuelle Problem konzentrieren? Mein Problem? Was soll ich denn jetzt tun?“

„Nun ja, wenn du nicht bereit bist wegzulaufen, musst du wohl in den sauren Apfel beißen, alter Junge. Ich habe mir sagen lassen, dass beichten gut für die Seele sein soll. Es sei denn, du kannst in den nächsten Wochen eine Verlobte herbeizaubern oder zumindest den Anschein einer Verlobung.“

Das half ihm überhaupt nicht. „Weil es bestimmt hundert junge Damen aus gutem Hause in Mayfair gibt, die sich freuen würden, temporär mit mir verlobt zu sein und sich durchs halbe Land schleifen zu lassen, um Weihnachten im trostlosen Hampshire zu verbringen.“

„Warum muss sie denn aus gutem Hause sein?“

„Weil Minerva aus gutem Hause ist! Genau so habe ich sie mir doch ausgedacht. Meine Mutter würde sich niemals mit weniger zufriedengeben, und ehrlich gesagt habe ich aus ihr ein Sinnbild all dessen gemacht, was jede Mutter sich für ihren Sohn wünscht, weil sie ein Produkt meiner Fantasie und außerdem nichts weiter als ein Mittel zu einem üblen Zweck ist.“

„Komm, täuschen wir mit heiterm Blick die Stunde: Birg, falscher Schein, des falschen Herzens Kunde!“

Hugh sah seinen Freund wütend an. „Musst du aus Theaterstücken zitieren, wenn ich in einer so misslichen Lage stecke?“

„Ich liebe nun einmal das Theater.“

„Ich habe dich um Hilfe gebeten. Um ein paar Worte der Weisheit, die mir den Weg aufzeigen, weil du doch angeblich mein bester Freund bist. Bis jetzt hast du nichts weiter getan, als einen Teller voll Kekse zu verputzen und mir zu sagen, dass ich erledigt bin.“

„Aber du bist erledigt.“ Giles wedelte mit einem weiteren Butterkeks. „Ich habe dir mit meiner ganzen Weisheit zur Seite gestanden, als du vor zwei Jahren mit dieser lächerlichen Scharade angefangen hast, und du hast meine Worte geflissentlich ignoriert.“

Noch weniger hilfreich. „Damals warst du auch der Meinung, dass Minerva ein Geniestreich ist. Daran kann ich mich so klar und deutlich erinnern, wie ich jetzt deine Nase vor mir sehe.“

„Das war ich, allerdings. Weil sie ein Geniestreich gewesen ist und mich sehr neidisch gemacht hat. Wenn nur mein Vater auf der anderen Seite eines Ozeans leben würde, sodass ich eine Verlobte erfinden könnte … Und ich muss sagen, dass du eine Gabe für überschwängliches Geschreibsel hast, die mir fehlt. Die ergreifenden Briefe, die du während ihres langen Ringens mit der Schwindsucht geschrieben hast, in denen du unerschütterlich an ihrem Krankenbett gesessen und ihr vorgelesen hast, während du still gebetet hast, dass sie geheilt werden kann, und gleichzeitig das launenhafte Schicksal verflucht hast, haben mir die Tränen in die Augen getrieben. Das kann ich dir sagen.“ Der Rest des neunten Kekses verschwand in seinem Mund. Dann wackelte sein Freund mahnend mit dem Zeigefinger. „Aber du musst auch daran denken, dass ich immer für ihren tragischen Tod gewesen bin. Bis dahin hatte sie ihn mehr als verdient, das arme Ding. Die Schwindsucht ist so eine romantisch ausufernde Krankheit und du hättest den hinterbliebenen Helden mit dem gebrochenen Herzen spielen können. Das hätte dir mindestens noch ein paar Monate gebracht. Aber du hast das Ganze unendlich in die Länge gezogen. Gegen meinen ausdrücklichen guten Rat, obwohl doch jeder weiß, dass jeder Spaß einmal ein Ende hat.“

„Ich konnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht töten! Wenn ich das getan hätte, wäre das Spiel nur wieder von vorne losgegangen und meine Mutter hätte wieder hemmungslos versucht, mich zu verkuppeln. Am Ende hätte sie noch eine Schiffspassage gebucht, um mich trösten zu können!“

Hugh wusste allerdings, dass sein Freund recht hatte. Auch wenn Giles sich nach außen hin mit großer Sorgfalt als oberflächlich und leichtfertig gab, hatte er ärgerlicherweise deutlich häufiger recht, als dass er sich irrte. Er stieß einen Atemzug aus, mit dem er sich ergab. Er hatte es übertrieben, und jetzt war sein wackliges Kartenhaus kurz davor, in sich zusammenzustürzen. „Schon gut, ich gebe ja zu, dass die wundersame Genesung ein bisschen weit hergeholt gewesen ist.“

„Nicht so weit hergeholt wie der überraschende Tod ihres Vaters in den Cairngorms im letzten Jahr! Hatte ich dich nicht davor gewarnt, deiner Mutter zu schreiben, wenn du betrunken bist?“

„Einverstanden. Das hast du und du hattest recht, aber dass Mama darauf bestanden hat, herzukommen und bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen, hat mich vollkommen unvorbereitet getroffen. Ich bin in Panik geraten. Es war höllisch schwierig, sie davon zu überzeugen, dass meine Lüge wahr ist. Es hat mir letztes Weihnachten meinen ganzen Besuch in Amerika verdorben.“ Vielleicht bekam Giles Mitleid mit ihm, wenn er versuchte, ihn zu beschwichtigen. „Ich hätte wirklich auf dich hören sollen. Bist du jetzt zufrieden?“

„Die Rückschau ist etwas Wunderbares, nicht wahr? Aber du hast sie eindeutig nicht wirklich überzeugt, alter Junge, sonst würde sie jetzt nicht herkommen. Noch dazu so außerordentlich kurzfristig. Es muss doch jedem klar sein, dass sie herkommt, um dich in die Falle zu locken.“ Giles grinste, offensichtlich amüsierte er sich königlich.

„Auch das ist wenig hilfreich.“ Hugh erhob sich gekränkt. „Wenn dir nichts Besseres einfällt als Kritik, dann mache ich mich jetzt auf den Weg und frage meine vernünftigen Freunde um Rat.“

„Wir haben doch gar keine vernünftigen Freunde.“ Jetzt ging das schon wieder los: Giles hatte ärgerlicherweise genau dann recht, wenn man es nicht gebrauchen konnte und es richtiggehend unerträglich war. „Aber wenn du mich schon verlassen willst, könntest du dann auf dem Weg nach draußen läuten?“ Er hob den leeren Teller von seinem Bauch und hielt ihn hoch. „Irgendjemand scheint die Kekse aufgegessen zu haben.“

Hugh machte sich auf den Weg ins White’s, was ihn nur noch niedergeschlagener machte, weil keiner seiner Freunde dort war, sondern nur traurige alte Junggesellen, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten, als in den bequemen Ohrensesseln zu sitzen und über den Lauf der Welt zu murren. Also ging er, schlenderte aber ziellos über den Piccadilly Circus, anstatt nach Hause zu gehen. Er besaß kein Talent zur Selbstkritik, denn trotz der erdrückenden Schuldgefühle, die ihn ständig zu plagten, war er im Grunde seines Herzens ein Optimist. Sich mit sich selbst zu beschäftigen machte ihn entweder weinerlich oder schuldbewusst. Beide Gefühlszustände quälten ihn schon genug, seitdem Payne, sein verlässlicher Butler, heute Morgen beim Frühstück diesen verfluchten Brief von seiner Mutter neben seinen zwei weich gekochten Eiern auf den Tisch gelegt hatte und Hugh klar geworden war, dass er kurz davor stand, seiner Mutter das Herz zu brechen.

Wieder einmal.

Genau wie sein Vater.

Die Nachricht – und der unvermeidliche Vergleich – hatte ihm jeden Appetit geraubt. Er hatte den ganzen Tag noch überhaupt nichts gegessen. War es ein Wunder, dass sein Geist Schwierigkeiten hatte, sein Problem zu lösen? Folgenschwere Entscheidungen und wichtige Vorhaben durften nicht mit leerem Magen erfolgen. Er beschloss, sich ins Löwe und Lamm in der Conduit Street zu begeben. Das Gasthaus war ein Garant für eine herzhafte Mahlzeit, und er würde dort bestimmt niemandem begegnen, der in der vornehmen Gesellschaft irgendeine Rolle spielte, sodass er in Ruhe über sein Dilemma nachdenken konnte. Er nahm eine Abkürzung durch die engen Nebenstraßen und grübelte über sein Problem nach.

Was sollte er tun?

Wenn er alle Leichtfertigkeit beiseiteließ, wünschte er sich, dass er Minerva schon vor langer Zeit hätte sterben lassen, genau wie Giles gesagt hatte. Seine falsche Verlobte war als vorübergehende Lösung gedacht gewesen. Ein Mittel, um seine Mutter fernzuhalten, zu verhindern, dass er sich mit ihr überwarf und sich selbst eine Auszeit zu verschaffen. Er hasste Streiterei noch mehr als Selbstkritik und hasste es, Menschen zu enttäuschen. Und vor allem hasste er es, Menschen wehzutun. Gerade seiner Mutter.

Von ihrer nervtötenden Gewohnheit ihn zu verkuppeln abgesehen betete er die Frau an. Sie hatte das alles nicht verdient. Sie hatte immer nur das Beste für Hugh gewollt und hatte sich unermüdlich für sein Glück aufgeopfert. Er hatte sie gleichsam dazu zwingen müssen, die Liebe ihres Lebens zu heiraten, weil sie sich Hugh so vollkommen verschrieben hatte. Genau das war es zweifellos auch, was sie dazu veranlasste, ihn unter Druck zu setzen, dasselbe zu tun. Sie hatte Schuldgefühle, weil sie sich ein Stückchen Glück für sich selbst gesichert hatte. Diese Gefühle wurde sie nur dadurch wieder los, dass sie dafür sorgte, dass er auch glücklich war.

Für sie bedeutete das, dass er heiraten musste, mochte der Himmel wissen, warum! Trotz des offensichtlichen Erfolgs, in den ihr zweiter Gang zum Altar gemündet war, war die Erinnerung an ihren ersten noch immer frisch in ihrem Gedächtnis, und so würde es auch immer bleiben. Wie auch nicht, wenn sein Vater und er sich glichen wie ein Ei dem anderen?

Oder zumindest beinahe.

Der liebe Papa hatte einen ausgezeichneten Schlaf gehabt, während Hugh wusste, dass er nie zur Ruhe kommen würde. Wie sollte man schlafen, wenn man der Grund für solchen Schmerz war, eine so große Schuld mit sich herumtrug? Er schauderte unbewusst und schüttelte unwillkürlich den Kopf, während er weitermarschierte. Er hatte Grundsätze. Ein Mann sollte sich nur auf eine Ehe einlassen, wenn er fest vorhatte, seinen Schwur zu halten. Ein so nobles Unterfangen setzte jedoch zwei Charakterzüge voraus, von denen Hugh ziemlich sicher war, dass sie ihm nicht eigen waren: einen Blick, der nicht zum Ausschweifen neigte, und ein Herz, das selbstlos genug war für die große Liebe.

Er hatte in seinen zweiunddreißig Jahren auf dieser Welt viele Frauen geliebt, und nicht eine von ihnen hatte je dafür gesorgt, dass sich einer dieser wankelmütigen Körperteile so benahm, wie man es von einem guten Ehemann erwarten konnte. Stattdessen hatte er die Neigung der männlichen Standishs zur Verstellung und das eigenwillige Blut seines Vaters, eines notorischen Frauenhelden, floss in seinen Adern. Daran würde sich auch nie etwas ändern. Nein, der Weg der ehelichen Zweisamkeit war wirklich nichts für ihn. Sosehr er hoffte, niemals ein trauriger alter Junggeselle wie die bei White’s zu werden, die nur so regelmäßig zu White’s gingen, weil sie zu Hause niemanden hatten, der auf sie wartete, so entschlossen hatte er sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er würde unweigerlich neben Giles in einem Ohrensessel bei White’s sitzen, und sie beide würden gemeinsam über den Lauf der Welt murren. Bis einer von ihnen starb …

Und jetzt war er schon wieder weinerlich und malte sich eine traurige Zukunft aus, obwohl es noch ein wenig dauerte, bis er alt war, und er noch immer ein sorgloser junger Stier war, der es genoss, sich die Hörner abzustoßen.

Zumindest hatte er es genossen. Während des letzten Jahres war der Glanz ein wenig verblasst, und er hatte sich häufig zum Ausgehen zwingen müssen, allein, um seinen Ruf bei seinen Freunden zu wahren, die sich immer noch einen Sport daraus machten. Das bereitete ihm Sorgen. Es war ein Signal, dass das Alter ihm auf den Fersen war, obwohl er sich so vor den Ohrensesseln bei White’s fürchtete.

Hugh hatte sich geschworen, sich mehr Mühe zu geben, sein Junggesellenleben zu genießen, doch er suchte heutzutage immer öfter Ausflüchte. Er neigte dazu, die Spelunken zu meiden, an denen ihm so viel gelegen hatte, als er sich Minerva ausgedacht hatte, und er gab sich auch keine große Mühe, Frauen mit loser Moral nachzustellen. Er hatte einige Techtelmechtel gehabt – natürlich hatte er das – aber die unbequeme Wahrheit war, dass sein sorgloses Junggesellenleben nicht mehr so sorglos war wie früher.

Aber hier ging es ums Prinzip.

Tief drinnen im tiefsten, aufrichtigsten Inneren seiner Seele, dessen Existenz er so gut es ging leugnete, solange man ihn nicht zur Selbstkritik zwang, wusste er, dass er sich an das Trugbild Minerva geklammert hatte, um seiner Mutter gegenüber nicht eingestehen zu müssen, dass er seinem Vater zu ähnlich war, um auch nur darüber nachzudenken, sich häuslich niederzulassen. Diese tragische Wahrheit hätte ihr mit Sicherheit das Herz gebrochen. Er gab sich große Mühe, niemandem das Herz zu brechen. Gebrochene Herzen verheilten zwar mit der Zeit – aber sie wurden nie wieder richtig ganz. Das wusste Hugh aus erster Hand, denn seines war in zwei Teile zerrissen worden, als er endlich herausgefunden hatte, dass der Vater, den er anbetete und dem er immer nachgeeifert hatte, nicht der großartige Mensch war, für den er ihn immer gehalten hatte. Und er konnte zwar akzeptieren, dass er dieselben Charakterfehler hatte, aber er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass sie zu Waffen wurden, mit denen er andere verletzte.

Aber indem er sich zu lange an seine selbstgerechte Rebellion geklammert hatte und dem fürchterlichen, ehrlichen Gespräch aus dem Weg gegangen war, das Minerva überflüssig gemacht hätte, hatte er es vermasselt. Er hoffte aufrichtig, dass sich die Lösung seiner Probleme wie durch ein Wunder offenbaren würde, wenn er erst einen vollen Magen hatte. Andernfalls war er verdammt.

Er befand sich auf halbem Weg die Sackville Street hinunter, als er einen lautstarken Streit bemerkte.

„Ich werde Sie bezahlen, wenn ich dazu bereit und in der Lage bin und nicht früher.“ Der ältere Herr stand oben auf der kurzen Treppe vor der Eingangstür eines Hauses. Seiner Kleidung nach zu urteilen wollte er entweder gerade ausgehen oder war eben zurückgekommen. Unter ihm auf dem Bürgersteig, mit dem Rücken zu Hugh, stand eine Frau. Genau wie der Gentleman trug sie einen dicken Wintermantel, auch wenn ihrer schon bessere Tage gesehen hatte und sie ihn mit einem dicken Wollschal und nicht zueinanderpassenden gestrickten Fausthandschuhen kombiniert hatte. Beides sah aus wie selbst gestrickt. Ihr Kopf versank in einer riesengroßen Haube aus Samt.

„Mr. Richards – dieses Geld steht mir zu.“ Sie hatte eine angenehme Stimme, selbstbewusst und ruhig. Beinahe reif. Sie drückte sich außerdem gewählt aus, was ihn angesichts ihres Aufzugs überraschte. Dem Schnitt ihres Mantels nach zu urteilen, der seit mindestens zehn Jahren aus der Mode war, nahm er an, dass sie eine Witwe zwischen dreißig und vierzig sein musste. Vielleicht war sie mit mehreren Kindern zurückgelassen worden, die sie ganz allein durchbringen musste. Für manche Menschen war die Welt ein grausamer Ort. Darüber dachte er oft lange und intensiv nach.

Sie richtete sich auf und drückte stolz ihre schmalen Schultern zusammen. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie dem Kerl einen verächtlichen Blick zuwarf und musste feststellen, dass er ihre Haltung unterstützte. „Ich habe bereits vier Wochen gewartet, Sir und ich werde mich dieses Mal einfach weigern zu gehen, bis sie mich bezahlt haben.“

Der ältere Herr bemerkte, dass Hugh ihn beobachtete, und wurde rot im Gesicht. „Wie können Sie es wagen, mich vor meinem eigenen Haus zu überfallen und eine Szene zu machen!“

„Wie können Sie es wagen, mich zu engagieren, um eine Arbeit zu erledigen, und sich dann zu weigern, mich dafür zu bezahlen. Es ist ein ganzer Monat vergangen, Mr. Pinkwell. Ein kalter noch dazu. Ich habe lange genug gewartet.“

Hugh fühlte, wie sein Blut zu kochen begann. Dieser Mistkerl! Die arme Frau brauchte das Geld offenbar dringend. Es war nicht richtig, dass sie sich auf der Straße so demütigen lassen musste, um zu bekommen, was ihr eindeutig zustand. „Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten, Madam? Es sieht ein wenig so aus, als könnten Sie sie gebrauchen.“ Sicherheitshalber bedachte er den Mann mit einem verächtlichen Blick.

Sie drehte sich um, und er bemerkte, dass sie ganz und gar keine Madam war, sondern eine Miss. Eine sehr hübsche Miss. Wirklich sehr hübsch. So sehr, dass es ihm den Atem verschlug.

„Oh, vielen Dank, Sir. Sie sind ein echter Gentleman.“ Ihr Blick fiel wieder auf den Geizkragen, der sie betrogen hatte, und sie sah ihn so voller Abscheu an, dass sie mit ihrem Blick Milch hätte sauer werden lassen können. „Der gute Mr. Pinkwell hat mich damit beauftragt, eine Illustration für eine Werbeanzeige anzufertigen, und obwohl die Anzeige im Morning Advertiser, in der London Tribune – zweimal – und heute sogar in der Times erschienen ist, habe ich die Summe immer noch nicht erhalten, auf die wir uns für meine Arbeit geeinigt hatten. Er schuldet mir neun Schilling und drei Pence.“

Hugh musste seinen Blick von ihrem entzückenden Gesicht losreißen. „Und was haben Sie zu der Angelegenheit zu sagen, Mr. Pinkwell?“

„Ich werde sie bezahlen, wenn ich dazu bereit und in der Lage bin und nicht vorher.“

„Sind Sie mit der Arbeit der Dame nicht zufrieden gewesen?“

Der ältere Mann hatte sichtlich etwas dagegen, dass man ihn zur Rede stellte. „Ich habe schon bessere Zeichnungen gesehen.“

„Aber Sie fanden sie gut genug, um sie in der Times, im Morning Advertiser und in der London Tribune erscheinen zu lassen?“

„Zweimal“, fügte die bezaubernde junge Dame entschlossen hinzu. „Und ich möchte sagen, dass die Anzeige ihm jede Menge neue Aufträge verschafft hat. Ich nehme sogar an viel mehr, als die neun Schilling und drei Pence, die er versäumt hat, mir zu bezahlen, weil es eine Illustration ist, die wirklich ins Auge fällt.“

Sie holte eine herausgetrennte Zeitungsseite aus ihrem Täschchen und reichte sie Hugh. In der Mitte der Zeichnung befand sich die gelungene Darstellung eines Medizinfläschchens, auf dessen Etikett „Pinkwells Patentiertes Lebertonikum“ prangte. Links von dem Fläschchen sah man einen hager wirkenden Mann, der jeden Augenblick vor Erschöpfung umzufallen schien, rechts denselben Mann, der nach nur einer Woche der Einnahme von Mr. Pinkwells patentiertem Tonikum wiederbelebt und bei bester Gesundheit zu sein schien. Ein großer Schriftzug über die ganze obere Breite der Anzeige versprach „Nie wieder müde mit Pinkwells“. Sehr einprägsam.

„Das ist eine Illustration, die wirklich sofort ins Auge fällt. Ich bin sogar versucht, mir selbst etwas von dem Zeug zuzulegen. Sie haben wirklich Talent, Miss …?“

„Merriwell. Und vielen Dank für das Kompliment, Sir.“

„Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, Mr. Pinkwell, aber wenn Sie gestatten, würde ich sagen, dass diese vorzügliche Illustration durchaus neun Schilling wert ist – mindestens.“ Hugh sah den Kerl absichtlich hochmütig an. Auch wenn Mr. Pinkwell ganz offensichtlich im grundlegendsten Sinne des Wortes ein Gentleman sein mochte, war mindestens ebenso offensichtlich, dass Hugh dem Hochadel angehörte.

„Das hat nichts mit Ihnen zu tun, Sir.“

Vielleicht war es doch nicht so offensichtlich. „Mylord, nicht Sir.“

Hugh hatte noch nie jemanden dafür zurechtweisen müssen, dass er seinen Titel nicht benutzt hatte, aber Mr. Pinkwell schien den einen oder anderen Dämpfer gebrauchen zu können. „Verweigern Sie der Dame die Bezahlung, weil Sie es sich nicht leisten können? Befinden Sie sich in finanziellen Schwierigkeiten, Sir?“ Er hatte das absichtlich in lauterem Tonfall gesagt, sodass die neugierigen Passanten alles mitbekamen, die ihre Schritte verlangsamt hatten, sodass sie mithören konnten. „In diesem Fall gewährt Miss Merriwell Ihnen vielleicht die Ratenzahlung der ausstehenden Summe.“

Diese Beleidigung wirkte ganz ausgezeichnet auf Mr. Pinkwell, der regelrecht purpurrot anlief. „Wie können Sie es wagen!“ Aber er hatte bereits seinen dicken Geldbeutel hervorgeholt und angefangen, darin zu kramen. Offensichtlich war er sehr darauf erpicht, dass sie ihn in Ruhe ließen. Hugh konnte nicht widerstehen: Er streckte die Hand aus und zählte jede Münze laut, die er überreicht bekam.

„Da. Soll Sie der Teufel holen. Neun Schilling.“ Der ältere Mann wollte seinen Geldbeutel zurück in seine Tasche stecken.

„Und drei Pence.“ Hug zwinkerte Miss Merriwell zu. „Vergessen Sie die drei Pence nicht, Sir.“

Er wurde gleichsam mit den Münzen beworfen. „Guten Tag, Ihnen beiden! Ich werde Ihre Dienste nicht noch einmal in Anspruch nehmen, Miss Merriwell!“ Mr. Pinkwell mühte sich eine ganze Weile mit dem Schlüssel im Türschloss ab, ehe er praktisch ins Haus rannte und die Tür hinter sich zuknallte.

Als sie allein auf dem Bürgersteig zurückgeblieben waren, lächelte Hugh. „Hier, bitte sehr.“ Er ließ das ganze Geld in ihren Fausthandschuh fallen. „Am Ende hatten wir doch noch Erfolg.“

Sie strahlte ihn an, und das war ein Gefühl, als badete er in flüssigem Sonnenschein. Ihr Gesicht, das eben noch außergewöhnlich hübsch gewesen war, wurde nur einen Augenblick später wunderschön. Sie hatte bezaubernde Augen. Tiefgrün, ein bisschen katzenhaft geformt und von langen dunklen Wimpern umgeben.

„Ich stehe in Ihrer Schuld, Mylord. Vielen Dank für Ihr schnelles Eingreifen. Das war sehr freundlich von Ihnen.“

„Nichts zu danken. Ich habe eine besondere Schwäche für Jungfern in Nöten.“ Er hätte es zwar nie zugegeben, aber Hugh hatte eine Schwäche für jeden, der in Nöten war, von Jungfern über streunende Hunde bis zu den Elenden, den Unglücklichen und allen Findlingen der Welt. Diese Schwäche hätte er nie im Leben zugegeben. Die sorglosen, draufgängerischen Junggesellen der Stadt verschwendeten keine Zeit damit, sich über solchen Unsinn Gedanken zu machen, davon, sich jedes Mal zu kümmern, wenn sein verfluchtes Gewissen sich meldete, ganz zu schweigen. „Ich habe mich immer schon für einen Ritter in schimmernder Rüstung gehalten.“ Jungfern waren das eine, ein maßloses soziales Gewissen etwas ganz anderes. Hugh hätte sich zum Gespött gemacht, wenn seine Wohltätigkeit allgemein bekannt geworden wäre.

„Nun ja, für mich sind Sie das auf jeden Fall gewesen.“ Aus irgendeinem Grund sorgte diese Bemerkung dafür, dass er sich auf einmal riesengroß vorkam. „Ich habe alles versucht, um ihn dazu zu bewegen, dass er zahlt. Nach dem Überfall heute hätte ich nicht gewusst, was ich noch tun soll. Und es hätte nicht funktioniert, wenn Sie nicht gerade zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht wären.“

„Oh, das bezweifle ich. Ich hatte den Eindruck, dass Sie ziemlich fest entschlossen waren.“

„Neun Schilling sind neun Schilling.“ Sie zuckte mit den Schultern, als sie das sagte, als ob es ihr hauptsächlich ums Prinzip gegangen wäre, aber er wusste, dass es nicht so war. Ihre Kleider hatten schon bessere Zeiten gesehen, ihre Stiefel waren alt und die Absätze abgelaufen, und wenn er das Geld nicht dringend brauchte, ließ sich niemand dazu herab, in Mayfair lautstark Bezahlung zu verlangen, auch wenn das hier der am wenigsten vornehme Teil des Viertels war. „Wenn sich herumspricht, dass ich ausstehende Zahlungen nicht eintreibe, kann ich auch gleich umsonst arbeiten.“ Sie steckte das Geld sorgfältig in ihr Täschchen und lächelte ihn wieder an. „Noch einmal vielen Dank, Mylord. Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag.“ Sie wollte sich auf den Weg machen, und aus irgendeinem Grund wollte er das nicht zulassen.

„Also sind Sie Künstlerin?“

„Vielleicht. Ich fertige Holzschnitte an.“

„Holzschnitte?“

„Kleine Klötze, in die Bilder geschnitzt sind … Sie wissen schon … die von Druckereien benutzt werden.“ Sie stellte etwas mit den Armen dar, was wahrscheinlich eine Druckerpresse sein sollte. „Ich glaube, man könnte mich in gewisser Weise Graveurin nennen. Ich arbeite nach Entwürfen, die die Kunden mir geben – Blumen, Schriftzüge … Lebertonika.“

„Das ist ein ziemlich seltener Beruf.“

„Das stimmt.“ Ihr Lächeln kam ihm niedergeschlagen vor. „Sehr selten.“

„Ich habe auf jeden Fall noch nie eine Graveurin kennengelernt und ich heiße Hugh, Miss Merriwell.“ Er reichte ihr seine Hand. „Hugh Standish, Earl of Fareham.“

Sie nahm seine Hand und schüttelte sie. Seine schien ihren eigenen Kopf zu haben und hätte ihre am liebsten einfach weiter festgehalten.

„Ich habe noch nie einen Earl kennengelernt, also sind wir quitt. Und ich heiße Minerva.“

Die Welt schien soeben aufgehört zu haben, sich zu drehen. Das konnte doch nicht sein!

„Minerva?“

„Ich weiß … das klingt ein wenig hochtrabend. Mein Vater hat sich selbst für einen Gelehrten gehalten. Er hat alle seine Töchter nach römischen Göttinnen benannt. Meine ist die Göttin der Weisheit und der Künste, also passt sie in gewisser Weise zu mir. Ich bin schließlich doch auf eine Art Künstlerin, vom Lebertonikum abgesehen.“

„Ich habe bis heute noch nicht das Glück gehabt, eine Frau kennenzulernen, die Minerva heißt.“ Hugh spürte, dass er grinste, als in ihm zarte Knospen der Erlösung sprossen. „Was für eine außerordentlich glückliche Fügung.“

2. KAPITEL

Was ist mit der echten Minerva passiert?“

Sie konnte nur hoffen, dass ihr Gesichtsausdruck angemessen misstrauisch und nicht leidend war, während sie versuchte, sich nicht um den eiskalten Schneematsch zu kümmern, der ihr in den Schuh sickerte und ihre kratzigen, dicken gestopften Strümpfe durchnässte. Es kam nicht jeden Tag vor, dass ein Mitglied des Hochadels einem anbot, sich ein Wochenende lang in seinem Herrenhaus in Hampshire als seine Verlobte auszugeben. Diese Bitte war sogar so bizarr, dass nur eine Närrin auf einen solchen Vorschlag hin nicht misstrauisch wurde, und Minerva war keine Närrin. Sie war jedoch weniger misstrauisch, als der gesunde Menschenverstand eigentlich vorgesehen hätte, denn er hatte ihr für ihre Mühe zwanzig Pfund angeboten.

Ganze zwanzig Pfund!

Ein Vermögen.

Es war auf jeden Fall mehr Geld, als sie je zuvor in den Händen gehabt hatte, und genau zwanzig Pfund mehr als die schwer verdienten neun Schilling und drei Pence, die sie jetzt gerade in ihrem abgenutzten alten Täschchen hatte. Diese neun Schilling würden ohnehin nicht lange reichen. Sie schuldete fünf davon dem Hausbesitzer, bei dem sie mit der Miete im Rückstand war, und sie brauchte sie, um zu verhindern, dass sie sofort die Wohnung räumen mussten. Ein weiterer Schilling war ihre Vorauszahlung für den nächsten Monat. Den siebten musste sie in Ackermanns Künstlerbedarfsgeschäft in der Strand ausgeben, denn jemand, der Holzschnitte machte, konnte damit ohne Stifte, Tinte und kleine scharfe Meißel kein Geld verdienen, selbst wenn er nur gelegentlich Arbeit hatte und verarmt war. Damit blieben ihr nur noch zwei Schilling und drei Pence für Luxusgüter wie Essen, bis sie den nächsten Auftrag erhielt. Bei der augenblicklichen wirtschaftlichen Lage konnte das Wochen dauern.

Obwohl sie für ihre Arbeit nur die Hälfte dessen verlangte, was ihre Konkurrenten berechneten, verfügte sie nicht über die nötigen Kontakte, um regelmäßig Aufträge zu bekommen. Das war ihre eigene Schuld. Sie hatte jahrelang ausschließlich für eine Druckerei in der Nähe von St. Paul’s gearbeitet. Der alte Mr. Morton hatte ihr jede Menge Aufträge gegeben, weil seine gut betuchten Kunden aus der vornehmen Gesellschaft, vor allem die Damen, ihre Entwürfe für Visitenkarten liebten.

Mit den komplizierteren Bildern, die für Plakate und Anzeigen benutzt wurden, war mehr Geld zu verdienen, aber diese Aufträge hatte sie nur selten ergattert, während sie mit den Visitenkarten ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte. Als ihr Lebensunterhalt noch gesichert gewesen war, hatte sie es versäumt, sich einen größeren Kundenstamm zu erarbeiten, weil das nie nötig gewesen war. Doch dann war Mr. Morton gestorben, und sein bis dahin florierendes Geschäft war vor knapp einem Jahr ganz geschlossen worden. Seitdem mühte sie sich ab, um Aufträge zu bekommen, ohne dass sie jemanden hatte, dessen Empfehlung sie vorweisen konnte.

Wenn sie es sich doch nur hätte leisten können zu inserieren, dann hätte sie ihr Einkommen mit Sicherheit über Nacht verdreifachen können. Die Menschen nahmen Werbeanzeigen sehr ernst, vor allem, wenn sie ins Auge stachen – was bei ihren immer der Fall war.

„Es gibt keine echte Minerva. Ich habe sie erfunden.“ Ihr Ritter in schimmernder Rüstung sah sie bei diesem Geständnis wunderbar kleinlaut an. Kleinlaut stand ihm, obwohl ihm ehrlich gesagt wahrscheinlich alles gestanden hätte. Mit seinem Gesicht und seinem Körperbau hätte er auch in Sack und Asche gehen können.

„Aber wozu?“ Ein Mann, der so attraktiv war wie er und dann auch noch ein Earl, der seinen tadellos geschnittenen, maßgefertigten Kleidern nach zu urteilen über ein beträchtliches Vermögen verfügen musste, hatte doch sicherlich keine Schwierigkeiten, eine ganze Schar von Frauen zu finden, die sich darum gerissen hätten, seine tatsächlich Verlobte zu sein und nicht nur eine ausgedachte. Er hatte mit Sicherheit keine Löcher in den Schuhsohlen. Wenn überhaupt sah er mit seiner Größe, seinen wunderbar breiten Schultern, dem sandfarbenen Haar und funkelnden blauen Augen genau so aus, wie sie sich immer einen echten Ritter in schimmernder Rüstung vorgestellt hatte. Wenn sie je einen Anlass dazu bekäme, einen zu zeichnen, würde sie sich die Inspiration dafür bei Lord Fareham holen. Er sah schon im Mantel beeindruckend aus; im Kettenhemd wäre sein Anblick verheerend gewesen. Wenn sie wirklich ganz ehrlich war, war das ein weiterer Grund dafür, dass sie sich noch immer nicht verabschiedet hatte. Ihr Künstlerauge wurde von so viel männlicher Perfektion angezogen.

Er seufzte und wand sich ein wenig. „Sie halten mich bestimmt für ziemlich armselig, aber ich fürchte, es führt kein Weg daran vorbei. Ich habe sie erfunden, um der andauernden Kuppelei meiner Mutter ein Ende zu setzen.“

„Ist das nicht ein wenig extrem?“ Wozu um alles in der Welt brauchte er eine Heiratsvermittlerin? Die Frauen mussten sich ihm doch an den Hals werfen! Neben ihm herzugehen reichte aus, ihren Herzschlag verrücktspielen zu lassen, und das ging bestimmt nicht nur ihr so. Minerva hatte allein in den letzten fünf Minuten bewundernde Blicke von mindestens drei Frauen bemerkt. Das war im Mittel alle neunzig Sekunden eine Frau, die hin und weg war, und es waren nicht gerade viele Menschen unterwegs. Wenn viele Menschen aufeinandertrafen, kam er bestimmt auf eine pro Minute.

„Extrem?“ Er blieb plötzlich stehen und drehte sich zu ihr um. Die weniger vernünftige Frau in ihr hätte bei diesem Anblick beinahe laut geseufzt. „Haben Sie Familie, Miss Merriwell?“

„Allerdings. Ich habe zwei jüngere Schwestern.“ Und wahrscheinlich auch einen auf Abwege geratenen Vater irgendwo, obwohl niemand genau hätte sagen können, wo. Nach allem, was sie wussten, konnte er auch tot sein. Ein Teil von ihr hoffte, dass es so war, weil das zumindest eine plausible Erklärung dafür gewesen wäre, warum er sie alle ihrem Schicksal überlassen hatte. Ein größerer Teil von ihr erwartete nichts weniger und hatte das auch nie getan. Ihr Vater war nie ein besonders verlässliches Elternteil gewesen.

„Treiben die Sie manchmal in den Wahnsinn?“

Ständig. Meistens hätte sie alle beide kaltlächelnd umbringen können. „Gelegentlich, Mylord. Familien haben wohl die Neigung, dazu.“

„Dann verstehen Sie doch sicher, wie die engsten Familienmitglieder einen manchmal an den Rand der Verzweiflung treiben können und warum man dann voreiliger handelt als ratsam wäre. Meine Mutter ist so ein Mensch. Ich liebe sie sehr … Selbstverständlich tue ich das. Sie ist eine wunderbare Frau. Gutherzig, großzügig, wohlwollend. Sie hat mich ganz allein großgezogen, nachdem mein Vater gestorben war, und hat ihre Sache hervorragend gemacht. Ich habe ihr alles zu verdanken … aber manchmal könnte ich …“ Er seufzte voller Verzweiflung.

„Sie erwürgen?“

Daraufhin grinste er, sodass eine Reihe perlweißer Zähne sichtbar wurde und sich in seinen Wangen charmante, draufgängerisch aussehende Grübchen bildeten. Du lieber Gott, sah er gut aus.

Gefährlich gut.

Sie brauchte ihren ganzen Verstand, wenn sie mit ihm zu tun hatte. „In der Tat. Sie ist eine Furcht einflößende Person, und sie ist es gewohnt, dass die Dinge nach ihrem Kopf laufen. Sie scheint zu glauben, dass ich sehr viel glücklicher wäre, wenn ich eine Ehefrau an meiner Seite hätte.“

„Und Sie sind ganz und gar dagegen?“ Sie setzte sich wieder in Bewegung, damit die merkwürdige Wirkung, die er auf ihren Herzschlag hatte, sich nicht in ihrem Gesicht spiegelte. Außerdem drang der Schneematsch durch das Stück Öltuch, mit dem sie das Loch in der Sohle ihres linken Stiefels gestopft hatte, wenn sie stillstand.

„Selbstverständlich!“ Ihre Frage schien ihn zu überraschen. „Mein Leben ist wunderbar so wie es ist. Warum um alles in der Welt sollte ich mich an eine Frau binden, die dann ständig an mir herumnörgelt?“

„Nicht alle Frauen nörgeln, Mylord.“

„Das ist sehr richtig – aber ich bin ein Mann, der auch die Geduld der gelassensten Frau an ihre Grenzen bringen kann, sodass sie doch zu nörgeln anfängt. Das ist so unausweichlich wie die Nacht, die auf den Tag folgt.“ Sein verschmitztes Lächeln hatte eine merkwürdige Wirkung auf sie. „Und es ist nicht so, als ob ich dafür kein Beispiel hätte. Meine Mutter hat früher nie genörgelt. Ich übernehme die volle Verantwortung dafür, sie dazu gebracht zu haben. Ich bin zu leichtlebig, müssen Sie wissen … Zu selbstbezogen. Als Ehemann und Vater wäre ich eine schreckliche Enttäuschung.“

„Meiner Erfahrung nach …“ Die umfangreich war. „… sind viele Männer enttäuschende Ehemänner und Väter. Aber das scheint sie dennoch nicht daran zu hindern, Ehemänner und Väter zu werden.“

„Auch das – sehr richtig … Aber im Gegensatz zu diesen Männern bin ich mir meiner Schwächen bewusst und leide schrecklich unter Schuldgefühlen. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich meiner armen Ehefrau das Leben schwer machen würde, ganz zu schweigen davon, was ich für ein Vorbild für mögliche Nachkommen wäre. Söhne entwickeln sich gezwungenermaßen wie ihre Väter, und ich würde meine Töchter verderben, ehe sie dafür überhaupt alt genug sind.“

Das war eine unkonventionelle Sichtweise. In mancherlei Hinsicht war sie erfrischend. „Und so gehen Sie jeglicher Verantwortung aus dem Weg.“ Wenn sie das nur auch gekonnt hätte.

„Soweit es möglich ist.“ Nach diesem Geständnis schwieg er, als ob er sich seiner Worte schämen würde. Das Zwinkern in seinen tiefblauen Augen verschwand, und es fehlte ihr sofort. Doch dann ging ein Ruck durch ihn, und seine Augen fingen an vergnügt zu funkeln. „Und es heißt doch, dass man hin und wieder Fünfe gerade sein lassen muss, Miss Merriwell. Das tue ich eben. Ich bin einfach nicht für die Ehe gemacht. Dafür braucht man ein Pflichtbewusstsein und eine Selbstlosigkeit, die mir einfach nicht in die Wiege gelegt wurden. Ich bin viel zu oberflächlich, und das ist auch gut so.“ Er schwieg und warf ihr einen besorgten Seitenblick zu. „Wahrscheinlich klingt das in Ihren Ohren schrecklich verwöhnt und selbstsüchtig.“

„Es steht mir nicht zu, über Sie zu urteilen.“

Er grinste und sorgte damit dafür, dass ihr Herz von Neuem zu flattern begann. „Dann sind Sie die erste Frau, die das nicht tut. Das ist sehr anständig von Ihnen.“

Sie erwiderte sein Lächeln. Sie konnte nicht anders. Trotz der vielen Fehler, die er selbst eingestanden hatte, war er selbstlos eingeschritten, um ihr zu helfen, was seit Ewigkeiten niemand mehr getan hatte.

Das war natürlich kein Grund, sein lächerliches Angebot anzunehmen.

„Ich glaube grundsätzlich, dass niemand das Recht hat, über andere zu urteilen, solange er nicht in deren Situation gewesen ist, Lord Fareham.“

Allerdings hätte sie jeden bemitleidet, der dumm genug gewesen wäre, sich in ihre Lage zu begeben. Ihr Leben hatte überhaupt gar keine Annehmlichkeiten, und es war ganz und gar nicht so, wie sie es sich gewünscht hätte. Unglücklicherweise brauchte es wohl mehr als zwanzig Pfund, um daran etwas zu ändern. „Ehrlich gesagt kann ich sogar sehr gut nachvollziehen, dass Sie die Verantwortung scheuen. Verantwortung kann einem die Luft zum Atmen nehmen.“

Wie ihr zum Beispiel. Aber die Verantwortung für zwei jüngere Schwestern und alles, was damit zusammenhing, war einfach an ihr hängen geblieben. Sie hatte diesen Mädchen sowohl die Mutter als auch den Vater ersetzt, seitdem sie neunzehn geworden war. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als diese Aufgabe zu schultern und zu tun, was nötig war, bis die Mädchen in den sicheren Hafen der Ehe eingelaufen waren.

Sosehr sie ihre Schwestern liebte, stellte Minerva sich dennoch wenigstens einmal in der Woche vor, wie schön es wäre, wenn sie zur Abwechslung einmal nur für sich selbst verantwortlich wäre. Was wäre das für ein luxuriöses Leben! Neue Schuhe, ein paar neue Kleider, bessere Stifte und Meißel für ihre Holzschnitte. Eine eigene Wohnung, in der sie ihre Ruhe haben konnte. Nur ein paar Stunden ungestörte Ruhe am Tag … war das denn wirklich zu viel verlangt?

Stattdessen hockten sie alle in drei winzigen Zimmern aufeinander und jeder Penny, den sie verdienten, wurde für das Nötigste zum Leben gebraucht. Als ob er sie an diese Notwendigkeiten erinnern wollte, grummelte ihr Magen, der sich dagegen wehrte, dass sie nichts zum Frühstück gegessen hatte, weil ihr heute Morgen das Geld dafür gefehlt hatte. Genau wie gestern Morgen, Mr. Pinkwell sei Dank. Mit zwanzig Pfund konnte sie sich ein ganzes Jahr lang für sie alle drei täglich Frühstück, Mittag- und Abendessen leisten …

Du lieber Gott! Wenn das so weiterging, ließ sie sich noch auf sein ungeheuerliches Angebot ein, von seiner Gegenwart und dem verführerischen Gedanken an Toast und Butter dazu verleitet und ohne dass sie die Einzelheiten kannte.

Minerva versuchte, ihrem Gesicht einen gelassenen und ein wenig zweifelnden Ausdruck zu verleihen. „Sie wollten mir gerade erklären, warum die Kuppelei Ihrer Mutter so unerträglich für Sie war!“

„Unerträglich und erdrückend. Ich habe sie so lange ich konnte mit Gleichmut über mich ergehen lassen. Jahrelang hat sie mir eine junge Lady nach der anderen vor die Nase gesetzt. Wo auch immer ich hingegangen bin, was auch immer ich vorhatte, es war immer schon jemand da – mit flatternden Wimpern. Sogar mein eigenes Haus ist zum Folterkeller geworden.“ Sie fing einen Hauch von seinem Rasierwasser auf und war schwer in Versuchung, sich vorzubeugen, um den Duft einzuatmen. „Ich habe endlose Teegesellschaften und Abendessen erduldet, belangloses Zeug mit fest entschlossenen jungen Damen geredet, die mich unbedingt in die Klauen bekommen wollten. Und einige von diesen Damen sind wirklich hartnäckig gewesen, das kann ich Ihnen sagen. Sie haben sich alle möglichen Listen ausgedacht, Miss Merriwell. Unvorstellbare Pläne, in die meine Mutter zuweilen vollständig eingeweiht war. Damit haben sie mir das Leben sehr schwergemacht. Es ist ehrlich gesagt ein echtes Wunder, dass ich es geschafft habe, Junggeselle zu bleiben. Vor nicht einmal zwei Jahren habe ich aus einer Laune heraus und weil mir nichts anderes eingefallen ist Minerva erfunden, um dem allen ein Ende zu setzen.“

„Ich verstehe.“

Allerdings verstand sie überhaupt nichts. Eine Verlobte zu erfinden kam ihr selbst unter so schwierigen Bedingungen sehr altmodisch vor. Dass er dieses Spiel so lange weitergespielt haben wollte, ohne dabei erwischt worden zu sein, erschien ihr sehr unwahrscheinlich. Vor allem da seine Mutter doch angeblich so darauf erpicht war, ihn unter die Haube zu bringen. Hätte sie dann seiner Behauptung nicht nachgehen müssen? Sie hätte seine erfundene Verlobte doch gewiss kennenlernen wollen?

„Bedeutet das, dass Ihre Mutter das ganze Jahr über in Hampshire wohnt?“

Das wäre eine Erklärung dafür gewesen, warum die Mutter seine Minerva noch nie getroffen hatte. Es war unwahrscheinlich, aber wohl möglich. Und jetzt ging das schon wieder los: Sie glaubte an das Unmögliche. Warum wollte sie nichts Schlechtes von ihm annehmen, obwohl sie die bittere Erfahrung gemacht hatte, dass Männer normalerweise genauso oberflächlich waren? Eine alberne Frage, denn sie kannte die Antwort bereits: zwanzig ganze Pfund und ein Paar breite Schultern, die ein schöner Anblick waren. Zwei beschämende Wahrheiten, die sie wahrscheinlich ebenfalls ziemlich oberflächlich machten, obwohl sie immer stolz darauf gewesen war, wie charakterfest sie war.

„Im Augenblick lebt sie in Boston. In Amerika, nicht in Lincolnshire. Hatte ich nicht erwähnt, dass mein Stiefvater Amerikaner ist?“

„Sie hat von Amerika aus weiter versucht, Sie zu verkuppeln?“ Also das war eine erstaunliche Leistung, und es machte seine Geschichte trotz der ansprechenden Schultern nicht gerade glaubwürdiger.

„Meine Mutter ist eine sehr tatkräftige Frau, Miss Merriwell. Und eine schreckliche Romantikerin. Mich unter die Haube zu bringen ist ihr einziges Lebensziel, und sie hat sich von der Entfernung nicht im Mindesten abschrecken lassen. Solange sie hier war, konnte ich die Dinge wenigstens im Auge behalten oder mich aus dem Staub machen, sobald ich Wind von ihren Plänen bekommen habe.“ Er verzog das Gesicht. „Nachdem sie ausgewandert war, sind ihre Intrigen immer unberechenbarer geworden. Sie hat es nur durch Briefe geschafft, ihre Bemühungen, mich festzusetzen, noch viel energischer voranzutreiben, und da sie einen großen Bekanntenkreis hier in der Stadt hat, hat sie eine ganze Armee von Helfershelfern gefunden, die da weitergemacht haben, wo sie aufgehört hatte. Nur wenige Monate nach ihrer Abreise bin ich mit Einladungen überschüttet worden, und jeden Tag hat mir eine reife Gesellschaftsdame oder ein karrierebewusster Gentleman einen Überraschungsbesuch abgestattet, die unbedingt ihre Tochter verheiraten wollten. Bei Abendgesellschaften bin ich überfallen worden und belagert, sobald ich das Haus verlassen habe.“

„Sie Armer.“ Menschen, die reich waren und Adelstitel führten, hatten ganz andere Probleme als sie. Minerva hätte alles gegeben, um mit ihm tauschen zu können. In seiner Welt zu leben war sicherlich angenehmer als in ihrer. Elegante Kleider. Bequeme Möbel. Personal, das einem jeden Wunsch erfüllte …

„Nachdem ihre Bemühungen fehlgeschlagen waren, hat meine Mutter mir damit gedroht, allein nach England zurückzukommen und ihr eigenes Glück dafür zu opfern, dass wir gemeinsam die perfekte Braut für mich finden. Sie wusste, dass ich die unvermeidlichen Schuldgefühle nicht ausgehalten hätte, denn ich leide sehr unter ihnen, auch wenn ich mir überhaupt gar keine Schuld zuzuschreiben habe. Außerdem wusste sie ganz genau, wie wenig mir die notwendige Nähe zwischen uns gefallen hätte, die ein derartig aufopferungsvoller Besuch zweifellos mit sich gebracht hätte. Ein Gentleman sollte schon aus Prinzip immer gegen seine Eltern aufbegehren, meinen Sie nicht?“

„Ich nehme an, ein wenig Aufbegehren sorgt wohl dafür, dass man selbstständig wird.“ Was wäre es für ein wunderbarer Luxus gewesen, aufbegehren zu können!

„Ganz genau! Allerdings … muss ich zugeben, dass dieses Prinzip in meinem Fall ziemlich außer Kontrolle geraten ist, und ich bin in Panik geraten, als sie kurz davor stand, eine Schiffspassage zu buchen. Ich habe Minerva erfunden – eine junge Dame aus gutem Hause, die mich aus meinem bedeutungslosen, selbstsüchtigen Dasein befreit und mir gezeigt hat, dass es noch viel mehr im Leben gibt.“

Er wies auf sie, als ob sie ganz genau zu der Rollenbeschreibung passen würde, und wand sich wieder ein wenig. „Eine wie Sie, Miss Merriwell, ich bin geschickt mit der Feder – nur dass ich schreibe und nicht zeichne. Da ich die Vorliebe meiner Mutter für romantische Geschichten kannte, habe ich ihr erklärt, dass es nicht nötig ist, nach Hause zu kommen, weil Amors Pfeil mich endlich getroffen hat, und ich mein Herz hoffnungslos verloren habe. Ich habe ihr in schwärmerischen Einzelheiten erzählt, dass ich eine schöne Jungfer in Nöten von einem durchgegangenen Gespann gerettet und mich sofort Hals über Kopf in sie verliebt hätte, nachdem ich das erste Mal in die berauschenden Augen geblickt hatte. Es war eine sehr überzeugende und, wenn ich das sagen darf, berührende Geschichte, aber keine auf die ich besonders stolz bin.“

„Minerva zu erfinden war ein Akt der Verzweiflung?“ Über Verzweiflung wusste sie alles. Verzweiflung konnte eine junge Dame dazu bringen, ernsthaft darüber nachzudenken, ob sie sich für mickrige zwanzig Pfund als Verlobte eines Gentleman ausgeben sollte.

„Das war sie – und einer, der nur eine vorübergehende Lösung sein sollte. Aber ich muss zugeben, dass ich mich von der Begeisterung meiner Mutter und durch die Aussicht auf ein Ende ihrer Kuppelei dazu habe hinreißen lassen, mich in die Geschichte ein wenig hineinzusteigern. Ich habe die Lüge weiter ausgeschmückt, um den Zustand aufrechtzuerhalten.“

„Ganze zwei Jahre lang?“ Es muss angeborene Unterschiede zwischen Männern und Frauen geben, dachte sie innerlich den Kopf schüttelnd. Etwas, das den Männern erlaubte, sich selbstsüchtig zu verhalten und gegen alle Regeln des Anstands zu verstoßen.

„Die Freiheit war einfach zu verführerisch, Miss Merriwell. Freiheit ist eine potente Droge.“ Er starrte einen Augenblick lang ins Nichts, sodass sie ihr Künstlerauge ungehindert über sein markantes Profil schweifen lassen konnte und das mit größerer Sehnsucht, als gut für sie war. Dann stieß sie einen heftigen Seufzer aus, weil sie ihren gesunden Menschenverstand für den Moment verloren hatte. Als sie sich das letzte Mal von seelenvollen Augen und breiten Schultern hatte verführen lassen, war es nicht gut für sie ausgegangen. „Aber leider hat meine unerschrockene Mutter, trotz all meiner ausschweifenden Bemühungen sie hinzuhalten, beschlossen, es genug sein zu lassen. Sie hat eine Passage auf einem Schiff nach England gebucht, um bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen. Ich fühle mich deswegen ganz schrecklich. Wenn sie herausfindet, dass ich sie die ganze Zeit angelogen habe, wird es ihr das Herz brechen. Ich hatte nie vor, ihr wehzutun …“ Er sah aufrichtig traurig aus. Charmant verloren. „Deswegen brauche ich Sie. Wenn Sie sich als meine Verlobte ausgeben, braucht sie die schreckliche Wahrheit über meine Lügen nie zu erfahren.“

„Aber zögern Sie das Unvermeidlich nicht nur heraus, indem Sie die Lüge weiter aufrechterhalten?“

„Ich habe nicht die Absicht, sie aufrechtzuerhalten. Sie müssten nur ein paar Wochen lang meine Minerva sein. Höchstens einen Monat, sodass meine Mutter Sie kennenlernen kann, mit eigenen Augen sieht, dass die Hochzeit geplant wird, und dann …“ Er zuckte mit den Schultern und runzelte auf wenig beruhigende Art und Weise die Stirn. „… dann müssen wir uns nur noch einen überzeugenden Grund ausdenken, warum unsere lange Verlobung plötzlich gelöst werden muss, und meine Mutter wird mich in meinem Herzschmerz trösten.“

Und da war sie, die ungenießbare Wahrheit der Situation. Die Erinnerung daran, dass die zwanzig Pfund der Lohn für etwas schlecht Ausgedachtes waren.

„Sie wollen, dass ich den Bösewicht spiele, obwohl wir sie beide anlügen?“

„Über die Einzelheiten bin ich mir noch nicht im Klaren.“

„Offensichtlich.“

Trotz der verführerischen Aussicht auf zwanzig Pfund hielt sie den Mann für vollkommen verrückt, wenn er glaubte, dass sein unmöglicher Plan aufgehen und sie sich darauf einlassen würde. Eine Lüge war eine Lüge, ganz egal, wie sehr man sie ausschmückte. Die Merriwells standen vielleicht an der Schwelle des Armenhauses, aber sie hatten Moral. Einige von ihnen zumindest. „So etwas Schreckliches kann ich einer vollkommen Fremden nicht antun, Lord Fareham. Ihre Mutter hat mir nichts getan, aber mein Handeln wird sie zweifellos verletzen, wenn sie unsere List durchschaut hat. An so etwas will ich nicht beteiligt sein.“

Minerva drehte sich um, nachdem sie ihre moralisch einwandfreie Entscheidung getroffen hatte, doch dann fiel ihr wieder ein, dass er ihr bei Mr. Pinkwell geholfen hatte. „Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe, Mylord, das war sehr freundlich von Ihnen. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Bewältigung Ihrer Schwierigkeiten und einen sehr schönen Tag.“

Damit verabschiedete sie sich von dem abwegigen Traum von zwanzig ganzen Pfund. Er war schön gewesen, solange er gedauert hatte.

Genau wie er.

Während sie neben ihm hergegangen und es gewagt hatte, davon zu träumen, was sie alles mit seinem Geld anfangen konnte, hatte sie sich für eine Weile wieder wie vierundzwanzig gefühlt.

„Und wenn ich vierzig Pfund daraus mache?“

Sie wäre beinahe gestolpert. Von vierzig Pfund konnte sie mindestens zwei Jahre lang die Miete bezahlen, und es bliebe noch eine Menge Geld für einen bescheidenen Luxus übrig. Oder sie konnten endlich aus der beengten Wohnung in Clerkenwell ausziehen und irgendwo von vorn anfangen, wo es schöner war. Wo sie Aussicht auf einen besseren Platz in der Gesellschaft der Stadt hatten. Mit vierzig Pfund konnte Minerva in der Zeitung inserieren und ihre Dienste anbieten, konnte ihren Kundenkreis über ihre kleine Ecke der Stadt hinaus ausdehnen, vielleicht konnte sie dann einen ordentlichen Lebensunterhalt mit ihren Illustrationen verdienen.

Vierzig Pfund eröffneten ihr ganz neue Möglichkeiten. Möglichkeiten, durch die sich ihr ganzes Leben verändern konnte.

3. KAPITEL

Mir gefällt das trotzdem nicht.“ Diana hatte denselben Satz wenigstens zwanzigmal gesagt, seitdem sie London verlassen hatten. „Das ist alles viel zu einfach. Möglicherweise gefährlich und ehrlich gesagt falsch, wenn du meine Meinung hören willst.“

Das wollte Minerva nicht. Sie wollte lesen oder aus dem Fenster auf die üppig grüne Landschaft hinaussehen, die an ihnen vorbeiflog. Sie wollte auf keinen Fall über das lächerliche, wenn auch zweifellos lukrative, Geschäft nachdenken, in das sie sie alle verwickelt hatte, bis sie kurz vor der Ankunft bei seinem Herrenhaus waren.

Sie sollte sich als Verlobte eines verwöhnten Mitglieds des Hochadels ausgeben, damit er nicht bei einer ungeheuerlichen Lüge erwischt wurde. Minerva brauchte Dianas finsteres Gesicht auf der anderen Seite der engen Kutsche nicht zu sehen, um sich unbehaglich zu fühlen. Denn wenn sie ehrlich war, schämte sie sich dafür, dass sie sich auf dieses Vorhaben eingelassen hatte. Allerdings hatte sie das zu ihrer Verteidigung nur getan, weil ihre Lage so trostlos gewesen war.

Vollkommen trostlos, ehrlich gesagt.

Sie tröstete sich damit, dass die Alternative noch viel schrecklicher war.

Wenn ihr Ritter in schimmernder Rüstung nicht unerwartet aufgetaucht wäre, um dem knauserigen Mr. Pinkwell die neun Schilling und drei Pence aus den Wurstfingern zu reißen, hätten sie jetzt gerade alle auf der Straße schlafen müssen. Bei dieser kleinen Notlüge mitzuspielen würde dafür sorgen, dass sie noch jahrelang nicht auf der Straße landeten, und es schadete auch nicht, dass sie für kurze Zeit im Luxus leben durften.

Diana verschränkte die Arme und sah sie wütend an. „Wann genau, liebste Schwester, sind wir eigentlich so tief gesunken?“

Als du deine Arbeit in der Leihbücherei verloren hast, weil du dich mit einem Kunden angelegt hast und wir uns die Miete nicht mehr leisten konnten!

Minerva dachte diesen Satz verdrossen, sagte aber nichts. Es war alles in allem nicht gerecht, Diana die ganze Schuld zuzuschieben. Wenn sie in derselben Situation gewesen wäre wie ihre Schwester, als der Gentleman sie eine geistlose Idiotin genannt hatte, hätte sie wahrscheinlich dasselbe getan, ehe sich ihr gesunder Menschenverstand und die reine Verzweiflung gemeldet hätten. Sie waren alle viel zu geradeheraus und schrecklich stolz. Und auch wenn er der letzte Nagel zum Sarg der Schwestern Merriwell gewesen war, war Dianas Wutausbruch kaum der einzige Grund dafür, dass sie sich rapide auf dem Weg nach unten in die Mittellosigkeit befunden hatten. Es war auch nicht Dianas Schuld, dass Minerva ihre Moral für die stattliche Summe von vierzig Pfund an einen gut aussehenden, aber fragwürdigen Mann verkauft hatte.

Vierzig Pfund, von denen sie hoffte, dass sie die Schuldgefühle besänftigen würden, die sie hatte, weil sie ihre Moral überhaupt verkauft hatte.

Vee kaute nervös an ihren Lippen und erinnerte Minerva damit daran, dass ihre jüngste Schwester, ganz gleich wie reif und ernsthaft sie nach außen wirkte, erst siebzehn war. „Von der Unschicklichkeit ganz abgesehen – drei unverheiratete Mädchen, die ohne Anstandsdame auf dem Landsitz eines Junggesellen zu Gast sind.“ Sie achtete sehr auf die Schicklichkeitsregeln der vornehmen Gesellschaft, die sie mit den Büchern, die sie verschlang, in sich aufsog, obwohl sie weiß Gott keinen Grund dazu hatte. Schließlich führten sie ein sehr bescheidenes Leben und hatten keinerlei Aussicht auf irgendwelche Verehrer aus gehobenen Kreisen. Jetzt starrte sie ihre behandschuhten Hände an. „Und wir haben nur sein Wort und das des Dieners, den er geschickt hat, dass er wirklich der Earl of Fareham ist.“

„Er hat sich benommen wie ein Earl.“ Natürlich hatte Minerva noch nie zuvor einen kennengelernt. Earls waren in ihrem Teil von London nicht gerade dicht gesät. Clerkenwell war die Heimat einer immer weiter sinkenden Zahl von Uhrmachern und bekannten Händlern, ein paar Tunichtguten und Taschendieben und eines großen Teils der arbeitenden Massen. Aber es war billig, und sie durften nicht wählerisch sein. „Ganz gleich, ob er es ist oder nicht, er ist offensichtlich reich genug, um sich diese elegante Kutsche leisten zu können – und das ist nur seine Ersatzkutsche!“

Ihr wurde klar, dass sie sich vielleicht ein wenig von den Zeichen seines Reichtums hatte einlullen lassen und nicht so vernünftig und ruhig war, wie sie es als älteste Schwester, die das Sagen hatte, normalerweise zu sein hatte. Sie sah die beiden streng an und konfrontierte sie mit der nackten Wahrheit: „Mir ist klar, dass ihr beide meine Entscheidung nicht gutheißen könnt. Ich finde sie selbst ja auch nicht richtig. Angesichts unserer aussichtslosen derzeitigen Lage hätte jedoch nur eine Närrin ein derartig lukratives Angebot ablehnen können.“

„Es wäre mir bloß lieber gewesen, wenn du ihn uns zuerst vorgestellt hättest, Minerva. Dann hätten wir uns selbst ein Bild von seinem Charakter machen können. Vielleicht hättest du ihn zum Tee zu uns einladen sollen …“

Minerva spürte, wie sie innerlich zusammenzuckte, wenn sie daran dachte, dass er sehen könnte, wie sie wirklich lebten, mit abgenutzten Möbeln aus dritter Hand, abblätternder Farbe und dem Geruch des Elendsviertels vor der Tür, der sich nicht vertreiben ließ. „Ich konnte ihn doch kaum mit nach Hause bringen, oder?“ Seinen Butler ins Haus zu bitten war schon schlimm genug gewesen. Der Blick des Mannes war durch die ganze Wohnung gewandert, ehe er sie mitleidig angesehen hatte. „Lord Fareham wohnt in Mayfair!“

Vee vergaß sofort wieder, dass sie siebzehn war, und sah sie erschrocken durch ihre Brille an. „Armut ist keine Schande, Minerva.“

Dieses Sprichwort hatte ihr Vater oft gebraucht, als sie noch Kinder gewesen waren, und sie hätte es vielleicht geglaubt, wenn er sie nicht mit Freuden im Stich gelassen hätte, als ihm alles zu viel geworden war. Zufällig war das gerade dann geschehen, als Minerva alt genug gewesen war, um die Rolle der Ernährerin zu übernehmen. Der Halunke hatte sie genau dazu aufgezogen!

„Aber sie bringt auch keine Freude, Vee. Nur Unglück – das wissen wir doch alle genau.“ Mit jedem Jahr, das verging, wurde es schwerer, und Minerva war, genau wie ihre Schwestern, viel zu reif für ihr Alter.

Alt, müde und ziemlich erschöpft von den gnadenlosen Herausforderungen des Lebens.

Die traurige Bilanz ihrer vierundzwanzig Jahre auf dieser Welt. „Wir arbeiten alle so hart wie wir können, tagein und tagaus, und trotzdem kommen wir kaum über die Runden.“

Das Leben war hart und wurde von Tag zu Tag härter. Wenn ihr Schicksal sich nicht bald grundlegend änderte, musste sogar Vee für ihren Lebensunterhalt den ganzen Tag lang schuften. Minerva hatte sie so gut sie konnte von der Ärmlichkeit ihrer Umgebung abgeschirmt, aber sobald sie sich in die Reihen der verzweifelten Arbeiterschaft einreihen musste, war es damit vorbei. Vee musste schnell erwachsen werden, sonst würde man ihre sanfte, belesene, sensible kleine Schwester gnadenlos ausnutzen.

„Mir ist klar, das ihr eure Zweifel an Lord Farehams seltsamem Vorschlag habt, das könnt ihr mir glauben, denn er ist wirklich seltsam und ganz und gar ungewöhnlich. Ich weiß sehr gut, dass es moralisch fragwürdig ist, was ich tue, aber ich muss euch eins ganz klar sagen: Wenn es sein muss, gebe ich mich auch gerne bist Ostern als seine Verlobte aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Leben auf dem Landsitz eines Earls in Hampshire, bei dem man sich als jemand anders ausgeben muss und fürstlich dafür bezahlt wird, schwerer sein kann, als unser jetziges Leben. Moralische Grundsätze bringen kein Essen auf den Tisch und kein Dach über dem Kopf!“

„Kann sein.“ Vee war selbstverständlich noch immer besorgt, und daraus konnte ihr auch niemand einen Vorwurf machen!

Die letzten Tage waren ein Strudel von Ereignissen gewesen. Am Mittwoch hatte ihre älteste Schwester das Haus verlassen, um Mr. Pinkwell ins Gewissen zu reden, damit sie ihr Dach über dem Kopf behalten konnten. Am Donnerstag hatte eben diese Schwester sie gleichermaßen gewaltsam in die Kutsche eines Fremden befördert, die auf dem Weg an die Südküste war, ohne dass sie mehr als ein Versprechen vorzuweisen hatte, dass sie unter einem anderen Dach unterkommen durften. Das Dach eines ein wenig skandalumwitterten und vollkommen verwöhnten Junggesellen. Wenn Vee oder Diana nach Hause gekommen wären und verkündet hätten, dass sie packen und sich als die falsche Familie eines möglichen Schurken ausgeben sollten, hätte Minerva Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um dies zu verhindern. Dass sie beide, wenn auch widerstrebend, mitgekommen waren, war nur Minervas unglücklicher Rolle als Oberhaupt der Familie geschuldet. In dieser Rolle wurde sie gleichermaßen respektiert und bedauert.

„Ich wünschte nur, dass wir mehr über ihn wüssten.“

„Vielleicht ist er ein Mörder?“ Diana war immer schon diejenige von ihnen gewesen, die die meiste Fantasie hatte. „Und vielleicht ist das alles nur ein komplizierter Vorwand, um seinen unstillbaren Durst nach Blut zu befriedigen?“

„Du verbringst viel zu viel Zeit bei dieser Zeitung.“ Ihre Schwester versuchte immer wieder, Artikel einzureichen in der Hoffnung, dass sie eines Tages veröffentlich wurden, aber der Inhaber des Schmierblatts zahlte ihr einen Hungerlohn dafür, dass sie Woche für Woche Rechtschreibung und Grammatik seiner weniger talentierten männlichen Reporter verbesserte, ehe sein geschmackloses Blatt gedruckt wurde. „Du glaubst immer, dass alle etwas Böses im Schilde führen.“ Mit gerade einmal zweiundzwanzig Jahren urteilte Diana über die Welt sogar noch zynischer als Minerva.

„Ich betrachte die Welt einfach lieber durch eine saubere, klare Brille an Stelle der rosaroten, die du in deiner Naivität ganz offensichtlich benutzt. Glaubst du denn im Ernst, dass das Leben als bezahlte Gesellschafterin eines Mannes wirklich besser ist? Ich begreife immer noch nicht, was du dir dabei gedacht hast, als du dich auf diesen ungeheuerlichen Schwindel eingelassen hast.“ Diana hatte es sich zur Aufgabe gemacht, hastig einige Nachforschungen bei der Zeitung anzustellen, ehe sie abgereist waren. Ihre Darstellung des Rufs, der Lord Fareham vorauseilte, war ein Grund zu großer Sorge, das konnte Minerva nicht abstreiten. Er war sowohl wegen seines lockeren Lebenswandels als auch wegen seiner angeblichen Liebesaffären in die Schlagzeilen geraten. Und das so häufig, dass sie ernste Zweifel daran hatte, dass die Verantwortung, die zu seinem Titel gehörte, wirklich so schwer auf ihm lastete, wie er so überzeugend behauptet hatte. In der Folge wurde er daher in ihrem Geist zu einem zweifelhaften Ritter degradiert – vielleicht war er überhaupt gar kein Ritter. Vielleicht eher ein Knappe oder eben ein Schurke.

„Dein Earl ist mit Sicherheit ein Wüstling. Ein Wüstling, der sich mit anderen Wüstlingen umgibt und wüste Taten begeht.“ Diana zeigte mit bebendem Finger auf sie. „Hör auf das, was ich sage! Er hat dich nach Hampshire gelockt, um dich zu verführen. Das wird dein Untergang sein.“

„Das hier kommt mir wie eine ganz schön lange Reise und eine Menge Aufwand vor für etwas, was er zu Hause genauso tun könnte.“ Als ihre beiden Schwestern sie mit weit aufgerissenen Augen ansahen, stellte sie hastig klar: „Nicht mit mir natürlich! Ich habe keinerlei Lust, mich von ihm verführen zu lassen, und ich werde das auch nicht zulassen.“

Von ihrem gesunden Misstrauen allen Männern gegenüber abgesehen – aristokratisch oder nicht – war sie auch keine Närrin. Eine Frau wie sie konnte für einen Earl niemals etwas anderes sein, als ein flüchtiges Tête-à-Tête. Minerva war vielleicht kein besonders guter Fang, aber sie hatte viel zu viel Selbstachtung, um es zu so etwas kommen zu lassen. Sie war nicht einmal in Versuchung. Er war viel zu oberflächlich, und trotz ihres ausschweifenden Künstlerinnenblicks hatte sie hohe Ansprüche. Natürlich hatte sie das. „Das einzige Verhältnis, das ich mit Lord Fareham haben will – und er mit mir – ist geschäftlich.“

„Und was meinen Untergang betrifft – ich glaube, dass sich niemand überhaupt einen feuchten Kehricht um meinen Ruf schert, ganz gleich, was ich tue. Um den von euch beiden übrigens auch nicht. Wir halten uns vielleicht für die Töchter eines Gentlemans und glauben deswegen, dass wir eine Stufe über unseren unglücklichen Nachbarn stehen, aber wir haben auch nur Papas Wort dafür, dass er wirklich ein Gentleman war. Und wir wissen ja alle, dass niemand so gut Geschichten erzählen konnte wie der liebe Papa.“

Sie lächelte ihren Schwestern zu, um den notwendigen Schlag abzumildern, den sie ihnen gleich verpassen musste. „Für den Rest der Welt sind wir Niemande. Nur drei weitere geplagte, gesichtslose, geknechtete Seelen in einer Stadt, die schon randvoll mit Menschen ist, denen es schlecht geht. Es kümmert wirklich niemanden, was wir tun. Und es wird sich auch keiner an unsere schlechten oder unsere guten Taten erinnern.“

„Das ist eine sehr zynische Sicht der Dinge und eine, die ich zufällig nicht teile. Es wird sich schon etwas ergeben. Es ergibt sich immer etwas.“

„Liebste Vee, glaubst du im Ernst, dass eines Tages ein anständiger Gentleman in Clerkenwell auftaucht, der deine zerlumpten und geflickten Kleider übersieht und die vornehme Dame darunter erkennt? Wenn du das denkst, würde ich dir deine romantischen Ambitionen gerne nehmen, denn dazu wird es niemals kommen, und ich lasse nicht zu, dass du so schrecklich enttäuscht wirst. Das wirkliche Leben ist kein Märchen.“

Minerva hatte früher selbst solche unsinnigen Träume gehabt. Doch dann war ihr klar geworden, dass Träume niemals wahr wurden. Es war schon komisch, wie pragmatisch sie die Welt sah, nachdem sie über Nacht in die Elternrolle hatte schlüpfen müssen. Für manche Menschen hatte das Schicksal ein schwieriges Leben vorgesehen, und ihres war so schwierig, dass nicht einmal ihr Vater es ertragen hatte. Genauso wenig wie der junge Mann, in den sie sich dummerweise verliebt hatte. Nachdem der festgestellt hatte, dass es drei Merriwell-Mädchen zum Preis von einem gab, hatte er überstürzt jeden Kontakt abgebrochen. Sie war deshalb nicht mehr verbittert, aber sie hatte ihre Lektion gelernt.

„Wir haben nur uns.“ Sie drückte ihrer kleinen Schwester die Hand. Sie kam sich grausam vor und war unglücklich darüber, dass sie es sein musste. „Deswegen mache ich diese schlimme Sache doch überhaupt – für uns. Denn uns hilft weiß Gott kein Mensch, wenn wir uns nicht selbst helfen. Vierzig Pfund konnte ich doch nicht ablehnen! Überleg doch mal, was wir mit dem Geld alles anfangen könnten! Ordentliche Mahlzeiten, ein schöneres Dach über dem Kopf, neue Schuhe. Eine hübsche neue Brille für dich, Vee, und vielleicht ein neues Kleid oder sogar zwei für jede.“

„Wenn wir nicht ermordet werden.“ Minervas pessimistische Ader war nichts gegen Dianas. „Ein Mann, der seiner eigenen Mutter gegenüber eine echte Lüge über zwei Jahre lang aufrechterhalten kann, ist meiner bescheidenen Meinung nach zu allem fähig. Wer würde denn einen Earl des wahllosen Mordes verdächtigen, vor allem so weit außerhalb von London? Wie du gerade mit Recht gesagt hast, sind wir Niemande, Minerva. Nichts. Gesichtslos und schnell vergessen. Die perfekten Opfer. Wahrscheinlich macht er sich andauernd an verarmte junge Damen ran, die in Schwierigkeiten sind. Er gibt sich ritterlich und charmant und hilfsbereit, lockt sie mit dem Versprechen auf leicht verdientes Geld in seine abartige Welt und dann …“ Sie fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. „… verstümmelt er dich, während du schläfst, ehe er deine nicht mehr wiederzuerkennenden Überreste in seinem Garten verscharrt. Oder in seinem Wald. Vornehme Landsitze haben oft eigene Wälder. Die armen Fasane und Rehe, die die Adligen ständig schießen, müssen ja irgendwo leben. Ich wette, dass diese Höhle der Verdorbenheit, zu der wir unterwegs sind, von Wäldern geradezu umgeben ist. Außerdem ist sie sicher bequem abgelegen. Denk an meine Worte.“

Vee runzelte die Stirn. „Inwiefern ist Abgelegenheit denn irgendwie bequem?“

„Weil niemand uns schreien hört.“

Minerva sah Diana wütend an. Sie hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, und ließ ihre Autorität spielen, in der Hoffnung, dass die beiden aufhören würden, ihr auf die Nerven zu gehen. Ihr eigenes Unbehagen und ihr Gewissen nagten schon genug an ihr.

„Mädchen – ich will die Sonderbarkeit und die möglichen Gefahren unserer Lage gar nicht schönreden. Und ich will auch nicht klingen, als wäre ich tollkühn oder rücksichtslos, aber auch trostlose Tatsachen bleiben Tatsachen. Wir brauchen dringend Geld, und er hat nicht nur ganze Berge davon, sondern auch nichts dagegen, sich im Tausch gegen eine kleine Unehrlichkeit davon zu trennen. Ich muss zugeben, dass ich an nicht viel anderes gedacht habe, als an die vierzig Pfund, als ich mich darauf eingelassen habe, ihm zu helfen. Die vierzig Pfund und die Aussicht auf ein schöneres Leben. Euch beide habe ich nur mitgeschleift, weil ich wusste, dass ihr euch Sorgen um mich macht, wenn ich es nicht tue. Wenn ihr dieses Spiel lieber nicht mitspielen wollt, verstehe ich das sehr gut. Ihr braucht es nur zu sagen, dann lasse ich euch beim nächsten Gasthaus absetzen, und ihr könnt mit der Postkutsche nach Hause fahren.“

Sie holte die zwei Silberschillinge und die beiden schmutzigen Pennys aus ihrem Täschchen. Dann präsentierte sie ihnen die kümmerliche Summe auf der offenen Handfläche, um sie daran zu erinnern, wie groß ihr augenblickliches Vermögen war. Einen Moment lang starrten alle drei schweigend die Münzen an. „Oder habt ihr vielleicht eine bessere Idee, wie wir schnell an so viel Geld kommen, denn wenn es so weitergeht wie bisher, sind wir bald mittellos und müssen unter einer Brücke schlafen, ehe der Winter zu Ende ist.“

Natürlich hatte keine ihrer Schwestern eine Idee.

„Dann hört jetzt netterweise auf zu jammern und zu mäkeln und lasst uns das Beste aus der Situation machen. Zumindest ist das Leben in Hampshire wirklich schöner.“

Das Klopfen des Kutschers an das Kutschendach unterstrich ihre Brandrede und machte sie zum letzten Wort. „Standish House!“

Dann beschrieb die vornehme Kutsche einen Bogen, sodass ihre gut gefederten Räder auf dem Kies der Einfahrt knirschten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ihr Schicksal war besiegelt. Minerva atmete langsam tief ein und hoffte, dass sie so die Schmetterlinge in ihrem Bauch besänftigen konnte. Es gelang ihr nicht. Sie sah aus dem Fenster, konnte aber nichts als dichte, mächtige Bäume am Wegesrand erkennen.

„Ich hab euch gesagt, dass ein Wald dazugehört.“ Diana benahm sich wie ein Hund, der einen Knochen ergattert hatte. „Niemand weiß, wo wir sind, also kann uns auch niemand retten.“ Sie fuhr sich abermals langsam und drohend mit dem Zeigefinger über die Kehle.

Autor

Virginia Heath
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