Julia Ärzte zum Verlieben Band 166

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NUR DU KANNST MEIN HERZ HEILEN von TINA BECKETT
Der Liebe hat Dr. Snowden Tangredi nach einer gescheiterten Ehe endgültig abgeschworen. Trotzdem fühlt er sich mit jedem Tag mehr zu seiner attraktiven neuen Kollegin Kirsten hingezogen. Doch er muss sein Verlangen zügeln! Seine Wunden kann auch sie nicht heilen, oder?

EIN BABY, MEIN EX UND ICH von SUE MACKAY
War es ein Fehler, in der Klinik ihres Ex anzufangen? Lily kann Dr. Max Bryants Sex-Appeal nicht lange ignorieren – gleichzeitig sehnt sie sich danach, endlich eine Familie zu gründen. Aber Max scheint nach wie vor ein unverbesserlicher Playboy zu sein!

KÜSS MICH, DOC! von JULIETTE HYLAND
Dr. Milo Russell ist Schwester Quinns bester Freund, mehr nicht! Bis sie bei einem Brand ihr Zuhause verliert und vorübergehend bei ihm einzieht. Plötzlich prickelt es so sinnlich zwischen ihnen, dass sie einen allerersten Kuss riskiert. Mit ungeahnten Folgen …


  • Erscheinungstag 01.07.2022
  • Bandnummer 166
  • ISBN / Artikelnummer 8031220166
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Tina Beckett, Sue MacKay, Juliette Hyland

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 166

TINA BECKETT

Nur du kannst mein Herz heilen

Allein in New York, nimmt die junge Ärztin Kirsten spontan Dr. Snowden Tangredis Angebot an, ihr die Stadt zu zeigen. Aber Vorsicht! Auch wenn jeder seiner Blicke glühende Leidenschaft verspricht, spürt sie, dass Snow etwas vor ihr verbirgt. Und sie darf sich nicht noch einmal in jemanden verlieben, der nur eine flüchtige Affäre im Sinn hat!

SUE MACKAY

Ein Baby, mein Ex und ich

Nie hat Dr. Max Bryant der schönen Lily verziehen, dass sie ihn einst nach einer heißen Liebesnacht verließ. Dabei hatte er damals beschlossen, eine Beziehung zu wagen! Als er jetzt mit Lily zusammenarbeiten muss, knistert es sofort wieder zwischen ihnen. Doch während er ihr diesmal nur einen One-Night-Stand bieten kann, will sie plötzlich mehr. Was nun?

JULIETTE HYLAND

Küss mich, Doc!

Dr. Milo Russell versteht die Welt nicht mehr: Woher kommt plötzlich dieses erregende Prickeln, sobald er in Quinns Nähe ist? Die hübsche Krankenschwester und er kennen sich doch schon seit Ewigkeiten. Auf keinen Fall möchte er das aufs Spiel setzen! Trotzdem kann er die neu entdeckte sinnliche Seite ihrer Freundschaft immer schwerer leugnen …

PROLOG

Snowden Tangredi stand in der Kirche und zupfte an seiner Fliege. Es nützte nichts, sie fühlte sich immer noch erstickend eng an und machte ihm bewusst, wie stark der Puls an seinem Hals pochte. In seinem Kopf. In der Brust.

Wenigstens galt die Trauungszeremonie diesmal nicht ihm. Nein, das Opfer war sein bester Freund Kaleb Sabat.

Allerdings hatte Kaleb gesagt, dass er nie vor den Altar treten wollte. Sie hatten es sich sogar vor knapp einem Jahr bei ein paar Drinks geschworen! Und doch wartete Kaleb hier auf seine Braut.

Manche könnten sagen, dass Kaleb keine Wahl hatte, weil er der Vater ihres Babys war. Doch Snow kannte seinen besten Freund gut genug, um zu wissen, dass Kaleb nur das tat, was er wirklich wollte. Er war einer der eigensinnigsten Kerle, die Snow je über den Weg gelaufen waren, aber auch aufrecht und ehrlich wie kein Zweiter.

Kaleb sah zu ihm hinüber und grinste matt. Snow verstand sofort, was er ihm damit sagen wollte. Ihr Pakt, für den Rest ihres Lebens Junggesellen zu bleiben, würde in wenigen Minuten in Fetzen gerissen. Obwohl Kalebs Blick etwas Reumütiges hatte, so war doch kein Funken Bedauern darin zu lesen. Der Mann war bis über beide Ohren in Nicola und seine kleine Tochter verliebt. Und Nicola liebte ihn genauso innig.

Aber wie lange? Wie lange würde es dauern, bis der Reiz des Neuen verflog und die rosarote Brille schnöder Wirklichkeit weichen musste?

Snows Ausflug zum Altar hatte genauso begonnen wie dieser, voller Erwartungen und Hoffnungen. Endlich geheilt sein. So dachte er jedenfalls damals. Hätte er nur gewusst, was er heute wusste! Dass die Heilung, die er sich ersehnte, nie eintreten würde. Stattdessen war unterschwellig die Furcht gewachsen, er könnte wütend reagieren, zornig. Bis die Wut seine Klauen in ihn schlug und mit Macht hervorbrach. Snow fand schnell heraus, dass er für die Ehe nicht geschaffen war. Seiner Frau, inzwischen seine Ex, war das anscheinend auch klar geworden. Sie betrog ihn mit einem Kollegen.

Emotional unerreichbar. Zu kalt, distanziert. So beschrieb ihn Theresa, als sie ihm gestand, dass sie sich in jemand anders verliebt hatte. Dass sie die Scheidung wollte. Je eher, desto besser.

Und sie hatte recht. Er war nicht für sie da gewesen. Oh, natürlich hatte er sie anfangs geliebt, aber es fiel ihm schwer, auch außerhalb des Schlafzimmers Gefühle zu zeigen. Zusammen mit den hässlichen Emotionen wie Ärger und Zorn hatte er auch die zärtlichen hinter Schloss und Riegel verbannt. Die Belastung forderte von Tag zu Tag mehr Tribut, und obwohl ihn ihr Geständnis verletzte, konnte er es Theresa nicht verdenken, dass sie sich woanders suchte, was sie brauchte.

Verdammt. Junggeselle zu bleiben, war das Beste, was er für sich – und für jede Frau, die sein Interesse erregte – tun konnte. Nicht, dass ihn nach Theresa überhaupt eine interessiert hätte. Snow wusste, was auf dem Spiel stand, und war auf der Hut.

Die plötzlich einsetzende Dudelsackfanfare riss ihn aus seinen Gedanken. Er konzentrierte sich wieder auf das, was um ihn herum vorging. Alle Anwesenden erhoben sich und wandten sich dem Eingang zu. Und da erschien Kalebs Braut, die leuchtenden Augen auf den Bräutigam gerichtet. Ihre linke Hand lag auf dem Arm eines älteren Mannes, anscheinend ihr Vater. Dieser hielt in der anderen Armbeuge seine vier Monate alte Enkelin.

Das Dröhnen in Snows Kopf verstärkte sich, je näher die drei kamen. Es drängte ihn, die Flucht zu ergreifen, die Kirche auf der Stelle zu verlassen und ins Krankenhaus zurückzufahren. Das war seine Welt, dort bewegte er sich unbeschwert und sicher. Eine Welt, die er verstand und auf die er sich verlassen konnte.

Dort hinterging ihn niemand oder erwartete von ihm etwas, das er nicht bieten konnte.

Er hoffte nur, sein Freund würde nicht auf die harte Tour herausfinden, dass die Ehe nicht das Paradies auf Erden war, als das es immer gesehen wurde.

Allerdings gaben ihm das Feuer und die Leidenschaft in Nicolas Augen zu denken. Im Vergleich zu ihm schien Kaleb in der Liebe die glücklichere Hand zu haben. Andererseits lagen Welten zwischen seiner und Kalebs Kindheit.

Vielleicht, nur vielleicht würde diese Ehe überleben. Ein Leuchtfeuer der romantischen Liebe sein.

Kaleb hatte sein Glück gefunden. Und wer war er, dass er es infrage stellen wollte? Snow wusste nur, dass die Worte, die er bei seiner Abmachung mit Kaleb ausgesprochen hatte, für ihn genauso bindend waren wie die, die sein Freund gleich mit seiner Verlobten austauschen würde.

Bis dass der Tod uns scheidet.

Ein Versprechen, das Snow nie wieder geben würde. Während Kaleb und Nicola ihr Glück besiegelten, erneuerte er stumm einen anderen Schwur. Einen, den er sich vor Jahren gesagt hatte, als er noch ein Kind war. Und den er für Theresa gebrochen hatte.

Ich bleibe allein.

Die Sünden seines Vaters sollten nicht auf den Sohn übergehen. Jetzt nicht. Niemals.

Dafür würde Snow sorgen.

1. KAPITEL

Drei Monate später

Kirsten Nadif hatte sich verirrt.

Verflixt. Seit fast einem Monat arbeitete sie hier, und noch immer verlief sie sich. Das NYC Memorial war riesig. Ihr letztes Krankenhaus, wo sie nach dem Studium angefangen hatte, war höchstens ein Viertel so groß wie dieses hier. Verständlich, dass sie ein bisschen missorientiert war.

Sie musste lachen. Immer wieder übersetzte sie Disoriented fälschlicherweise mit missorientiert statt desorientiert. Es war eins dieser lustigen englischen Wörter, die sie vor Jahren im Libanon gelernt hatte, als sie Kurse für Englisch als Zweitsprache besuchte. Kirsten benutzte das Wort oft. Es half ihr, die Verbindung zu ihren Wurzeln zu halten, und erinnerte sie daran, warum sie in Amerika blieb. Selbst, nachdem ihr Vater in seine Heimat zurückgekehrt war.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob es richtig gewesen war, von Ohio nach New York zu ziehen. Aber sie hatte ihre Gründe, gute Gründe. Falls sie eines Tages bei ihrem Vater leben wollte, brauchte sie alles Wissen und jede Erfahrung, die sie bekommen konnte. Und das NYC Memorial gehörte zu den führenden Krankenhäusern in der Therapie von Lungenkrankheiten, einschließlich einer hohen Erfolgsrate bei Transplantationen. Ein Stadium, das ihre Mutter nicht einmal erreicht hatte, als sie vor zehn Jahren gestorben war. Es war nicht leicht gewesen, ihren Vater im letzten Jahr wieder in den Libanon gehen zu lassen, und Kirsten vermisste ihn schrecklich. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt, während Menschen an ihr vorbeiströmten.

Hab Geduld, Kirsten.

Eine Freundin hatte sie bereits gefunden. Nicola Sabat war ihr begegnet, als Kirsten an ihrem ersten Tag verwirrt in einem Flur stand, und hatte sie gefragt, ob sie ihr weiterhelfen könnte. Danach lud sie sie ein, mit ihr Mittag zu essen. Ihr Mann sei zu Hause – Daddypflichten, weil der Babysitter krank geworden war –, und sie würde sich über Gesellschaft freuen.

Sie hatten sich schnell angefreundet.

Heute war Nicola jedoch nirgends zu sehen und Kirsten spät dran zu einem Termin mit einer Patientin und dem Chefarzt der Transplantationschirurgie.

An der nächsten Ecke erspähte sie ein Schild. Intensivstation. Endlich! Ein Blick auf ihr Handy verriet, dass sie schon vor zehn Minuten hätte hier sein müssen.

Und sie hatte einen Anruf verpasst, weil sie auf Lautlos gestellt hatte. Na toll!

Kirsten drückte auf Rückruf und eilte in die Richtung, die ihr die Pfeile wiesen. Nach dem ersten Klingeln wurde abgehoben.

„Tangredi.“

Sie stutzte, weil ihr der Name nicht geläufig war, erinnerte sich dann aber, dass der Arzt, mit dem sie sich treffen sollte, so hieß. „Hi, hier ist Dr. Nadif. In ein, zwei Minuten bin ich da. Ich hatte mich verlaufen, tut mir leid.“

Sekundenlang herrschte Stille, und ihr wurde die Brust eng. Hatte er einfach aufgelegt? Sie nahm das Handy vom Ohr, um darauf zu schauen, als sie wieder seine Stimme hörte. „Vermutlich sehe ich Sie dann in ein, zwei Minuten.“

Die Leitung war tot.

Oje. Obwohl er sanft geklungen hatte, spürte sie, dass er verärgert war. Zu Recht. Sie hätte anrufen sollen, aber bis sie herausgefunden hatte, wie sie ihn erreichen konnte, wäre sie wahrscheinlich noch später gekommen. Außerdem war sie zu einem Notfall in die Pädiatrie gerufen worden. Die Zehnjährige litt unter chronischer Bronchitis, und nach besorgniserregenden Röntgenaufnahmen ordnete Kirsten ein MRT an, das in der nächsten Woche gemacht werden sollte. Wahrscheinlich eine übertriebene Maßnahme, aber nachdem ihre Mom …

Kirsten schüttelte den Kopf, während sie ihr Handy wieder in die Tasche gleiten ließ. An so etwas sollte sie jetzt nicht denken. Diesen Chefarzt traf sie gleich zum ersten Mal, und das kurze Telefonat war vielleicht kein gelungener Start in eine gute Beziehung.

Beziehung? Sie war nicht auf der Suche nach einer Beziehung. Ihre Erfahrungen auf dem Gebiet verlockten nicht gerade zu einer Wiederholung. Abgesehen davon, plante sie in ein, zwei Jahren ihren großen Umzug.

Sie beschleunigte ihre Schritte, als sie die u-förmig angelegte Stationszentrale mit den weiß glänzenden Schreibtischen entdeckte. Es ging schneller, wenn sie dort nach dem Weg fragte, statt sich selbst auf die Suche nach dem betreffenden Zimmer zu machen.

Am Stützpunkt stand ein Pfleger und unterhielt sich mit einer der Krankenschwestern.

„Entschuldigen Sie, kann mir jemand sagen, in welchem Raum Tany Latimer liegt?“

Der Mann drehte sich zu ihr um, und als Erstes fielen ihr seine eisblauen Augen auf. Hohe Wangenknochen prägten ein Gesicht mit harten, ernsten Zügen, und unwillkürlich überlief sie ein Schaudern.

Die Krankenschwester hinter dem Tresen blickte auf Kirstens Namensschild und sagte: „Ich glaube, das ist die, auf die Sie gewartet haben, Dr. Tangredi.“

Ya ilahi! Das war kein Pfleger, sondern der Arzt, mit dem sie verabredet war. So peinlich und vor Publikum hatte sie sich die Begegnung nicht vorgestellt. „Oh … Hallo.“ Sie streckte die Hand aus. „Ich bin Dr. Nadif.“

Als ihre Finger sich berührten, fühlten sie sich überraschend warm an. Es passte nicht zu seiner strengen Ausstrahlung. Kirsten bekam eine Gänsehaut, die nichts mit der klimatisierten Krankenhausluft zu tun hatte.

„Ich weiß, wer Sie sind.“

Die Bemerkung verwirrte sie im ersten Moment, bis Kirsten begriff, dass nicht nur die Schwester ihr Namensschild gelesen hatte. Ihre Wangen wurden warm.

„Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.“

„Ich habe die Medizinstudenten zum Mittagessen geschickt.“

„Die Medizin… Oh, natürlich.“ Es wurde immer schlimmer. Nicht nur den Chefarzt hatte sie warten lassen, sondern auch die Gruppe der Studierenden. Natürlich hätte sie erwähnen können, dass sie bei einem Notfall gewesen war – und sich nicht in der letzten Viertelstunde in einem Liebesroman verloren hatte.

Obwohl dieser Mann von Liebesgeschichten keine Ahnung zu haben schien – der leere Ringfinger und der eisige Tonfall sprachen für sich.

Du bist unfair, Kirsten. Sicher hat er eine Freundin. Abgesehen davon, dass ihm jeder Charme abging, sah er umwerfend aus. Fest entschlossen, sich von ihm nicht einschüchtern zu lassen, sagte sie: „Ich kann später wiederkommen, wenn es dann besser passt.“

„Nein, die Patientin wartet. Bevor wir weitere Entscheidungen zu ihrer Behandlung treffen, möchte ich Ihre Einschätzung hören.“

„Natürlich.“ Sie drückte den Rücken durch. „Wollen wir?“

Er nickte der Krankenschwester zu, und Kirsten lächelte sie kurz an, bevor sie Dr. Tangredi den Flur entlang folgte. Nach ein paar Schritten hatte sie ihn eingeholt. „Was können Sie mir zu der Patientin sagen?“

„Tanya Latimer, Mitte zwanzig. Primäre pulmonale Hypertonie. Ihr Zustand hatte sich stark verschlechtert, sodass sie auf die Transplantationsliste gesetzt wurde. Gestern hat sie neue Lungen bekommen.“

Aus seinem Mund hörte es sich alltäglich an. Als würde man sich in einem Ersatzteillager einfach zusammensuchen, was man brauchte. In Wirklichkeit waren Lungen, Leber, ein Herz nicht so leicht zu bekommen. Lange Wartezeiten und oft eine Tragödie in einer anderen Familie waren der Preis. Und manchmal lief die Zeit ab, ehe ein Spenderorgan gefunden wurde. Das wusste sie aus eigener Erfahrung.

„Wie geht es ihr?“

„Die Sauerstoffsättigung im Blut ist besser als vor der Transplantation, aber nicht da, wo wir sie zu diesem Zeitpunkt haben wollen.“

„Irgendwelche Anzeichen von Abstoßung?“

Wieder sah er ihr in die Augen. „Nein. Und wir hoffen, dass es nicht dazu kommt.“

„Solange der Spender keine gesundheitlichen Probleme hatte, sollte sich der Wert bald verbessern.“

„Ich selbst habe ihn untersucht.“

Na und? War er unfehlbar? Nun, sie rieb es ihm nicht mit Vergnügen unter die Nase, aber auch die besten Ärzte der Welt konnten den zerstörerischen Verlauf einer Krankheit nicht immer aufhalten. Ihre Mom war der Beweis.

„Okay, aber ich würde trotzdem gern Ihre Notizen lesen, falls das möglich ist. Nur, um zu sehen, ob …“

… Sie vielleicht etwas übersehen haben, hätte sie beinahe gesagt, hielt sich dann aber zurück. Verrückt. Seit wann hatte sie Angst, ihre Meinung zu sagen? Du hast keine Angst, du bist nur vorsichtig.

„Ich lasse sie Ihnen mailen. Aber im Moment möchte ich, dass Sie sie sich ansehen – und zwar richtig. Ein paar Notizen zu überfliegen und ein flüchtiger Blick, das genügt nicht.“

Kirsten straffte die Schultern. Sie untersuchte ihre Patienten immer gründlich! War das eine Retourkutsche, weil sie Zweifel an seiner Expertise angedeutet hatte? „Deshalb bin ich hergekommen“, betonte sie.

Sie starrten einander lange an, bis Dr. Tangredi etwas vollkommen Unerwartetes tat. Er lächelte. Herzlich und voller Wärme, die seine Augen in einem dunkleren Blau schimmern ließen. Es nahm ihr den Atem.

„Nennen Sie mich Snow. Bitte. Das tun die meisten hier.“

Nicht nur die plötzliche Verhaltensänderung zerrte an ihrem inneren Gleichgewicht, sondern auch der abrupte Themenwechsel. Kirsten fühlte sich … Sag es nicht.

Doch ihr Gehirn füllte die Lücke sofort. Kirsten fühlte sich desorientiert.

Du musst wirklich ein neues Lieblingswort finden!

Snow. O ja, der Name passte. Aber solange der Mann keine weiteren Eisspeere in ihre Richtung warf, kam sie mit dem Namen klar.

„Ich bin Kirsten.“

„Okay, Kirsten, gehen wir zu unserer Patientin.“

Er stieß die Tür zum Krankenzimmer auf, und das Erste, was Kirsten wahrnahm, war … Lärm. Viel Lärm. Natürlich war sie geschult, durch ihr Stethoskop feine Veränderungen der Lungenfunktion herauszuhören. Sie kannte die Geräusche, wenn ein Asthma-Patient auf ihre Bitte hin in ein Peak-Flow-Meter blies, um die Strömungsgeschwindigkeit der Atemluft zu messen. In diesem Intensivpflege-Raum herrschte jedoch eine erschreckende Kakofonie. Die Töne der Herzmonitore mischten sich mit dem Zischen von Beatmungs- und anderen Geräten.

Die Patientin wurde über einen Tubus im Hals künstlich beatmet. Sie lag mit offenen Augen da und beobachtete, wie Snow und Kirsten ans Bett traten.

„Hallo, Ms. Latimer. Ich bin Dr. Nadif, eine Kollegin von Dr. Tangredi und Lungenfachärztin. Ich würde mir gern ansehen, wie es Ihnen geht, wenn das für Sie in Ordnung ist.“

Die Frau nickte. Es musste eine bedrückende Erfahrung sein, von Maschinen und medizinischem Personal abhängig zu sein, nicht seine Atmung kontrollieren oder sprechen zu können. Kirsten empfand tiefes Mitgefühl mit ihr.

Am Spender an der Wand desinfizierte sie sich die Hände und streifte Handschuhe über. Dann griff sie nach der linken Hand der Patientin. „Dr. Tangredi wird mir helfen, Sie zu untersuchen. Sollten Sie dabei Schmerzen verspüren, drücken Sie bitte meine Hand, ja?“

Erneut ein Nicken.

Kirsten blickte Snow an. „Könnten Sie mir das Stethoskop in die Ohren stecken, damit ich nichts kontaminiere? Mit einer Hand kann ich das nicht. Es steckt in meiner Tasche.“

Snow schien sich über ihre Bitte zu wundern, kam ihr jedoch nach. Er kam näher und schob seine behandschuhte Hand in ihre Kitteltasche. Ein seltsames Gefühl überrieselte sie, als seine Finger sich um das Instrument schlossen und kurz über ihre Hüfte strichen. Bevor sie das Gefühl richtig deuten konnte, zog er das Stethoskop heraus und stellte sich vor Kirsten, um die Ohrbügel zu platzieren.

Er war so nahe, dass ihr ein Hauch seines herben Aftershaves in die Nase stieg. Seine Hände streiften ihre Wangen, während er dafür sorgte, dass das Stethoskop richtig saß. In diesem Moment war sie froh über die Geräuschkulisse im Zimmer. So merkte er nicht, wie ihre Atmung sich veränderte. Kirsten fühlte es deutlich. Die Wärme in ihren Wangen, den Puls am Hals, der beschleunigte.

„Danke, so ist es gut.“ Sie hätte es selbst versuchen sollen, statt ihn so dicht an sich heranzulassen. Aber nach der Trennung von Dave hatte sie gedacht, sie wäre Männern gegenüber immun. Keine Ahnung, warum sie so empfindsam auf Tangredi reagierte.

Zum Glück trat er ein paar Schritte zurück, sah sie einen Moment lang mit seinen eisblauen Augen an und blickte dann zu seiner Patientin.

Kirsten nahm sich zusammen. „Ich werde Ihre Lungen abhorchen“, sagte sie zu Tanya. „Nicht erschrecken, die Membran kann etwas kalt sein.“ Während sie ihr die Hand hielt, schob sie mit der anderen das Krankenhaushemd zur Seite, um genug Platz zu haben. Um sie am Rücken abzuhorchen, hätten sie Tanya aufrichten müssen, und das wollte Kirsten möglichst vermeiden, um ihr weitere Schmerzen zu ersparen. Sicher war sie schon genug gedreht und gewendet worden.

Sie mied die Drainage-Schläuche und die frische OP-Wunde in der Mitte ihrer Brust und setzte das Stethoskop sanft an den Seiten der Patientin sowie unter ihrem Schlüsselbein an. Aufmerksam lauschte sie den Bronchialgeräuschen und auch, wie sich die Lungen aufblähten.

Kein Rasseln zu hören, das war schon einmal gut. Tanyas Herz schlug kräftig, und am Zustand der Halsschlagader las Kirsten ab, dass die Durchblutung des Gehirns normal funktionierte. „Alles klingt, wie es sollte. Wie stark sind Ihre Schmerzen, auf einer Skala von eins bis zehn? Sie können entsprechend oft meine Hand drücken oder die Finger heben.“

Nach kurzer Pause hob Tanya die freie Hand und streckte vier Finger. Kirsten blickte Snow an. „Ist das in diesem Stadium zu erwarten, oder braucht sie eine höhere Dosis?“

Snow checkte die Patientenkarte und sah Tanya an. „In einigen Minuten bekommen Sie wieder ein Schmerzmittel. Ist das okay für Sie?“

Sie nickte.

„Gut“, sagte Kirsten und begann, ihr den Bauch abzutasten. Anschließend ließ sie Tanyas Hand los, um die Beine zu untersuchen. „Keine peripheren Ödeme, wie ich sehe.“

„Ja, das ist mir auch aufgefallen.“

„Ich finde, sie sieht gut aus. Auch die Hautfarbe. Meiner Meinung nach sollte genau beobachtet werden, dass die Sauerstoffsättigung nicht weiter sinkt. Ich erwarte, dass sich morgen oder übermorgen eine Besserung einstellt.“ Sie sah die Patientin an. „In ungefähr einer Woche dürften auch die Schmerzen nachlassen. Wenn der Schnitt anfängt zu heilen, wird es allerdings noch ein weiter Weg sein, bis Sie völlig beschwerdefrei sind.“

Tanya nickte wieder. Aber irgendetwas schien sie zu beschäftigen. Kirsten las etwas in ihren Augen, sodass sie am liebsten bei ihr geblieben wäre. Doch das ging nicht. Also lächelte sie sie an, inspizierte kurz die Infusionsbeutel, Medikation und Tropfgeschwindigkeit. „Darf ich morgen wiederkommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht?“

Augenblicklich schien sich die Patientin zu entspannen. Sie wirkte erleichtert, als sie die Augen schloss. Kirstens Instinkt hatte sie nicht getrogen. Als sie jedoch Snow anblickte, war er offensichtlich alles andere als erfreut. Glaubte er etwa, sie wollte ihm die Patientin ausspannen? Bestimmt nicht. Er war der Transplantationsspezialist, sie kannte sich nur mit Lungen aus. Und anscheinend hatte die Patientin funktionstüchtige neue Organe erhalten. Dennoch blieb die Ahnung, dass da … noch mehr war. Etwas, das sie nicht benennen konnte. Aber es kam selten vor, dass ihr Bauchgefühl sie im Stich ließ.

„Begleiten Sie mich nach draußen?“, sagte Snow, bevor er die Patientin anlächelte. Doch die Kälte war in seine Augen zurückgekehrt. „Am späten Nachmittag schaue ich noch einmal vorbei, Ms. Latimer.“

Kirsten streifte sich die Handschuhe ab und warf sie beim Hinausgehen in den Abfalleimer. Dann rollte sie ihr Stethoskop zusammen und steckte es wieder in die Kitteltasche.

Ehe Snow sie kritisieren konnte – sie nahm an, dass er das vorhatte –, beschloss sie, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nicht, indem sie ihm von ihrem Bauchgefühl erzählte, das wäre schwieriger zu erklären. Doch sie wusste, wie sie weiter vorgehen wollte. „Ich habe eine erste Einschätzung vorgenommen“, begann sie. „Um eine genaue Prognose zu erstellen, ob sich Ms. Latimers Zustand verbessert, möchte ich sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden beobachten. Deshalb haben Sie mich doch konsultiert, oder?“

„Ja. Mir war nur nicht klar, dass einmal nicht genügt, um Sie zu befriedigen.“

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, begriff jedoch schnell, dass seine Antwort keine versteckte Anspielung war. Ihre Reaktion auf den Mann heizte ihre Fantasie an. Zeit, sich auf die Gründe zu besinnen, warum sie nach New York gekommen war. „Ist die Sauerstoffsättigung nach einer Lungentransplantation normalerweise höher als um die 80?“

„Ja. Für gewöhnlich zeichnet sich gleich danach eine dramatische Besserung ab. Allerdings ist ein 80er-Wert immer noch besser als alles, was wir vor der Operation sehen. In den nächsten beiden Tagen müsste er stetig steigen.“

„Warum haben Sie sich dann um diese Patientin besondere Sorgen gemacht?“

Er schwieg kurz, bevor er antwortete. „Mir ist aufgefallen, dass sie in letzter Zeit teilnahmslos wirkte, was die Transplantation betraf. Wenn jemand auf die Liste für ein Spenderorgan gesetzt wird, hat er vorher ein gründliches Untersuchungsprogramm durchlaufen. Sie hat es bestanden, aber …“ Snow zuckte mit den Schultern. „Ich würde sagen, es ist mehr ein Bauchgefühl, doch meine Instinkte haben auch schon einmal Schwächen gezeigt.“

Kirsten war felsenfest davon ausgegangen, dass Snowden Tangredi seine Entscheidungen selbstbewusst und in hundertprozentigem Vertrauen auf seine Fähigkeiten traf. Doch vermutlich hatte jeder einmal einen schlechten Tag und beging Fehler. Aber es auch noch zuzugeben? Das überraschte sie sehr, weil sie das nach ihrem ersten Eindruck von ihm nie erwartet hätte.

Wobei hatte ihn sein Gespür getäuscht? Bei einer Diagnose? Etwas anderem?

„Woran machen Sie diese Gleichgültigkeit fest?“

„Ich bin nicht sicher. Wie gesagt, es ist nur ein Gefühl, aber sie hat in den Stunden vor der OP weder Begeisterung gezeigt noch Furcht. Irgendetwas störte mich. Doch sie war schon als Empfängerin anerkannt, und es war fast zu spät, meine Bedenken zu melden. Wenn ich nun Alarm schlug und mich irrte, würde ich eine Patientin, die dringend ein Spenderorgan brauchte, der Gefahr aussetzen, dass es nach einer erneuten Prüfung zu spät sein könnte. Das Risiko wollte ich nicht eingehen.“

Snowdens hellblondes Haar war ein bisschen zu lang, es wellte sich an den Spitzen und auf dem Kopf. Wie es ihm in die Stirn fiel, auf eine verwegene Art, machte etwas mit ihr. Kirsten spürte eine prickelnde Wärme im Bauch. Und seine Augen … Nichts schien ihnen zu entgehen. Der Mann irritierte sie.

Er lehnte sich mit einer Schulter gegen die Wand und musterte Kirsten. „Wie lange sind Sie schon am NYC Memorial? Ich weiß, dass Dr. Billings im Ruhestand ist, wusste aber nicht, wer seinen Platz eingenommen hat.“

Zwei Tage, bevor ihr Vorgänger offiziell in Rente ging, war sie hier angekommen. Dadurch blieb kaum Zeit, sich einzuarbeiten. Sie waren zuallererst seine Patientenakten durchgegangen, und Dr. Billings hatte ihr die Gründe für seine Behandlungsmethoden erklärt. Sie unterschieden sich stark von dem, was sie an ihrem früheren Arbeitsplatz gemacht hatte.

„Fast einen Monat. Ich vermute, es hat etwas länger gedauert, jemanden zu finden, der als Ersatz für Dr. Billings qualifiziert war, obwohl ich nicht sagen kann, warum man mich bevorzugt hat. Es war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich fühlte mich etwas desorientiert.“

Er stutzte. „Desorientiert?“

Kirsten wurde rot. „Ich meine …“

„Ich weiß, was es bedeutet.“ Sein Mundwinkel zuckte, und dann lächelte er, genau wie vorhin. Das Problem war, dass sein Lächeln ihre Anspannung zwar lockerte, an anderer Stelle jedoch Spannung aufbaute. Wild und unberechenbar.

Wild und unberechenbar konnte sie nicht gebrauchen. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt ihres Lebens.

Kirsten räusperte sich. „Nun, es ist eins dieser lustigen Wörter, zumindest für mich. Es hilft mir, mich nicht allzu ernst zu nehmen. Ich finde, die ganze Welt hat sich das angewöhnt. Zu ernst zu sein. Zu … distanziert. Wir sollten mehr Verbindungen schaffen.“

Verbindungen? Was zum Teufel redete sie da?

Snow schien das Gleiche zu denken. Sein Lächeln schwand. „Als Arzt finde ich es besser, zu meinen Patienten eine gewisse Distanz zu wahren.“

Das klang, als hätte er eine ähnliche Diskussion schon einmal geführt. Vielleicht war sie nicht die erste, die der Meinung war, dass sein Name zu ihm passte. Allerdings hatte sie bereits ein, zwei Risse in seinem Eispanzer erlebt. „Natürlich“, stimmte sie zu.

Er schob sich die ungebändigte Strähne aus der Stirn, fuhr mit den Fingern durchs Haar, um sie an ihrem Platz zu halten.

Trug er es sonst kürzer? Kirsten hoffte, nicht. Die Länge gefiel ihr. Sein Haar schien das Einzige an ihm zu sein, das nicht so streng kontrolliert war wie der Mann selbst. Eher wild und unberechenbar.

Ya ilahi! Der stumme Fluch hallte in ihrem Kopf wider. Waren ihr nicht gerade eben exakt dieselben Worte durch den Sinn gegangen? Hatte sie nichts Besseres zu tun, als über seine Haarlänge zu sinnieren oder sich zu fragen, wie viel Selbstbeherrschung Snowden Tangredi aufbringen konnte?

„Danke, dass Sie mich zu Ms. Latimer gerufen haben. Es ist Ihnen doch recht, dass ich morgen noch einmal bei ihr vorbeischaue? Wenn Sie möchten, kann ich es während Ihrer Visite einrichten.“

„Nicht nötig. Und ich glaube, sie freut sich auf Ihren Besuch. Sie schien aufzuleben, als Sie an Ihrem Bett standen. Ihre Hand hielten. Solche Reaktionen bekomme ich für gewöhnlich nicht.“

„Wahrscheinlich ein konditioniertes Verhalten.“ Sie wollte nicht wieder auf das Thema professionelle Distanz zurückkommen, zumal sie gerade Schwierigkeiten hatte, sie in Bezug auf ihn einzuhalten!

„Wie bitte?“

Kirsten zuckte mit den Schultern. „Es ist möglich, dass Sie mit Ihnen Schmerz oder Unbehagen verbindet. Oder Furcht. Ich war nicht bei ihr, um eine Behandlungsmethode durchzuführen, also hat sie mich nicht als bedrohlich empfunden.“

„Bedrohlich.“ Aus seinem Mund klang es unheilvoll, und das hatte sie überhaupt nicht gemeint.

„Nicht in physischer Hinsicht. Mit Ihnen persönlich hat es nichts zu tun, da bin ich sicher. Es ist ähnlich wie die Furcht vieler vorm Zahnarzt. Er kann noch so nett und behutsam sein, ein Besuch bei ihm bleibt unangenehm, obwohl er notwendig ist.“

„Und Sie haben damit nichts zu tun?“

„Nein. Ich untersuche sie nur. Von mir hat sie keine Behandlung zu erwarten. Unbewusst beruhigt sie das.“

„So habe ich es nie gesehen.“

„Ich bin sicher, dass sie Ihnen für alles, was Sie tun, dankbar ist.“ Kirsten zögerte. „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich versuche, mit ihr über die Operation zu reden? Darüber, was sie für sie bedeutet? Vielleicht ist ihre Teilnahmslosigkeit Ausdruck von Angst?“

„Angst. Verdammt, das wollte ich nicht.“ Snow stieß den Atem hörbar aus. „Okay. Aber ich möchte auf dem Laufenden bleiben. Keine Geheimnisse, selbst wenn sie Sie bitten sollte, mir nichts zu sagen. Es geht um ihr Leben. Ich will keine Missverständnisse oder versteckte Informationen.“

Das war deutlich. „Natürlich. Mir ist klar, dass sie Ihre Patientin ist, nicht meine. Falls sie mir etwas anvertraut, das ich für wichtig halte, informiere ich Sie. Mein Wort darauf.“

„Danke.“ Er schwieg kurz. „Können Sie mich anrufen, nachdem Sie bei ihr waren? Ich lege meine Visite dann in den Nachmittag, damit ich mich gleich darum kümmern kann, wenn sie irgendwelche Sorgen hat. Meine Nummer müssten Sie haben, da ich Sie angerufen habe.“

„Ja, ich speichere sie bei meinen Kontakten.“

„Gut.“ Snow stieß sich von der Wand ab und ging den Flur hinunter. Hochgewachsen, schlank, mit lässigem Gang. Der Mann strahlte ein ungezwungenes Selbstbewusstsein aus. Und warum auch nicht? Bei ihm stimmte alles, Aussehen, Können, Persönlichkeit … Kirsten überlegte. Nun, er konnte charmant sein, wenn er wollte. Allerdings wurde sie das Gefühl nicht los, dass man ihn sich nicht zum Feind machen sollte.

Sie würde ihn ganz bestimmt nicht absichtlich provozieren, aber wenn er sich wegen irgendwelcher Kleinigkeiten auf den Schlips getreten fühlte, hatte sie nicht vor, sich zu entschuldigen – nur um ihn zu besänftigen!

Kirsten besaß selbst einen starken Willen. Hoffentlich kam keiner von ihnen auf die Idee, die Grenzen des anderen austesten zu wollen.

Sie war nämlich ziemlich sicher, dass das Ergebnis weder ihr noch Snow gefallen würde.

2. KAPITEL

Snow wartete den ganzen Vormittag auf ihren Anruf.

Es ärgerte ihn, dass er mehr Zeit als geplant in seinem Büro verbracht hatte, im Kopf ihre Stimme. Ihr leichter Akzent verlieh ihr eine Melodie, die für seine Ohren ungewohnt klang. Obwohl er in einer Weltstadt wie New York schon viele verschiedene Akzente gehört hatte.

Doch dann benutzte sie die Worte Bedrohung und Angst im Zusammenhang mit seiner Patientin. Sie katapultierten ihn augenblicklich in eine andere Welt. Eine, in der diese beiden Worte eine völlig andere Bedeutung hatten.

Zu Hause, als Kind, hatte er gelernt, Stimmlagen zu deuten, um rechtzeitig fliehen zu können. Verwaschene Worte, die ineinander übergingen, Sätze, die keinen Sinn ergaben – bedrohliche Zeichen für die, die in diesem Haushalt lebten. In solchen Momenten hatte er sich sein Fahrrad geschnappt und war zu seinem Freund Kaleb gesaust.

Die Sabats sprachen ruhig miteinander. Kontrolliert. Niemand brüllte. Diese sanften Stimmen hatte Snow verinnerlicht, sich damit einen inneren Zufluchtsort gebaut, den er zu Hause nutzte, wenn es ganz schlimm kam. Und er hatte gelernt, dass es möglich war, seine Emotionen im Zaum zu halten.

Wenigstens hoffte er, dass er immer dazu in der Lage war. Bei Theresa war es ihm gelungen, indem er kaum über seine Kindheit gesprochen hatte. Aber wenn seine Selbstkontrolle eines Tages doch versagte?

Vor langer Zeit hatte er beschlossen, dass er sich niemals einer Situation aussetzen würde, in der er seine Gefühle nicht mehr im Griff hatte. Die Scheidung war ein Geschenk des Himmels gewesen. Er brauchte nicht länger zu fürchten, dass ihm der Geduldsfaden riss. Musste sich nicht bei jeder Diskussion wie auf rohen Eiern bewegen, damit sie nicht in einem heftigen Streit eskalierte.

Während seines Gesprächs mit Kirsten hatte sie einmal leicht verärgert geklungen, aber es bestand keine Gefahr, dass sie seinen Patienten gegenüber einen scharfen Ton anschlug. Stattdessen war er etwas gereizt gewesen, und das gefiel ihm gar nicht. Dass jemand, den er kaum kannte, ihn dazu provozieren konnte, wenn es nicht einmal Theresa gelungen war.

„Werd doch mal wütend, Snow!“, hatte sie ihm gegen Ende ihrer Ehe entgegengeschleudert. „Deine Kälte ist unerträglich.“

Natürlich konnte sie nicht verstehen, dass Wut zu den Gefühlen gehörte, die er für sich gestrichen hatte. Es war die letzte richtige Unterhaltung mit seiner Ex gewesen, bevor sie in den Armen eines anderen fand, was sie suchte.

Sein Fehler. Snow machte sich da nichts vor. Und er hatte die Zeichen schon seit Längerem gesehen – wie damals in seiner Kindheit. Er war jedoch weder fähig noch willens gewesen, etwas zu unternehmen. Es hätte bedeutet, dass seine Vergangenheit ihr hässliches Haupt erhoben und seine Schutzmauern niedergerissen hätte.

Hatte sich so sein Dad gefühlt, jedes Mal, wenn er zur Flasche griff? Jedes Mal, wenn er im Zorn die Hand erhob?

Snow trank nur noch selten. Ein-, zweimal war er sturzbetrunken gewesen, hatte sich in den Rausch geflüchtet. Das eine Mal mit Kaleb, als sie in einer Bar seine Scheidung begossen hatten. Und das zweite, als ihm klar geworden war, dass sein Freund gefunden hatte, was Snow verwehrt geblieben war: Liebe. Zwar war er kein Alkoholiker, so wie sein Dad, aber vor einem halben Jahr hatte er beschlossen, die Finger vom Alkohol zu lassen. Sonst würde immer die nagende Furcht bleiben, dass die Probleme seines Dads auch eine genetische Ursache hatten, die sich eines Tages auch bei ihm bemerkbar machen würde.

Anscheinend hatte Kirstens beiläufige Bemerkung einen wunden Punkt getroffen.

Snow blickte zum Telefon auf seinem Schreibtisch. Verdammt. Es wurde Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Er hatte Kirsten gesagt, dass er am Nachmittag nach ihrer Patientin sehen würde, aber vielleicht sollte er früher hingehen. Moment mal. Ihre Patientin – wie in gemeinsame Patientin? Gestern hatte er es auch schon gesagt.

Er presste die Lippen zusammen. Tanya Latimer war seine Patientin! Er hatte sie operiert, er hatte die Vorbereitungen für den Eingriff getroffen. Er trug die Verantwortung für sie. Wenn er nicht auf Draht war, würde niemand herbeieilen, um sie zu retten. Genau wie damals kein Wunder geschehen war, um ihn und seine Mom zu retten.

Gerade, als er aufstand, klingelte das Telefon. Adrenalin schoss durch seine Adern. Er nahm sich einen Moment, um sich zu beruhigen, bevor er zum Hörer griff und sich meldete. Trotzdem klang es wie ein Knurren.

Verflucht, was war mit ihm los?

„Dr. Tangredi – Snow?“

„Ja.“ Er erkannte ihre Stimme auf Anhieb und ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken. „Wie geht es ihr?“

Snow verdrehte die Augen, als er sich selbst zuhörte. Etwas höflicher Small Talk hätte nicht geschadet!

„Ich habe mich mit ihr unterhalten.“ Kirsten schwieg eine Weile. „Können wir uns irgendwo treffen? Ich glaube, so etwas lässt sich besser persönlich besprechen als am Telefon.“

Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Vielleicht hatte Tanya sich entschieden, den Arzt zu wechseln. Sollte das der Fall sein … „Passt es Ihnen jetzt? Entweder in meinem Büro oder im Personalraum, was Ihnen lieber ist.“

Wieder eine Pause. „Sie hat mir erlaubt, Ihnen zu sagen, was sie mir anvertraut hat. Aber es fiel ihr nicht leicht. Deshalb denke ich, wir sollten uns an einem privaten Ort treffen, um ihren Wunsch zu respektieren.“

Ein privater Ort. Ihre manchmal ungewöhnliche Art, sich auszudrücken, gefiel ihm. Zum Beispiel, wenn sie „desorientiert“ sagte. Es verlieh ihr etwas Einzigartiges und war …

Verdammt attraktiv.

Allerdings sollte er sie nicht anziehend finden. Nicht ihr rabenschwarzes Haar. Nicht die blauen Augen, die einen faszinierenden Gegensatz zu ihrem olivfarbenen Teint bildeten. „Wie wäre es dann hier in meinem Büro?“

Privater ging es nicht.

„Okay. Welche Nummer?“

„403.“

„Bin gleich da.“

Flüchtig überlegte er, ob es besser gewesen wäre, außerhalb des Krankenhauses einen Kaffee zu trinken. Irgendwo, wo ihnen niemand vom Krankenhauspersonal über den Weg laufen würde. Die Privatsphäre wäre gewahrt, ohne dass sie sich allein miteinander treffen müssten.

Zu spät. Er hatte sie bereits in sein Büro gebeten.

Bald darauf klopfte es. Also war sie in der Nähe gewesen. Wahrscheinlich in ihrem Zimmer, da alle Büros im 4. Stock lagen.

„Herein.“

Kirsten streckte den Kopf ins Zimmer, wie um sich zu vergewissern, dass sie den richtigen Raum erwischt hatte, kam schließlich herein und schloss leise die Tür hinter sich. „Hi. Danke, dass Sie Zeit haben.“ Sie sah auf die Tür, musterte sie.

„Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie heute Morgen vergessen hätten, mich anzurufen.“ Verflucht. Das hörte sich an, als hätte er die ganze Zeit neben dem Telefon gehockt und händeringend auf ihren Anruf gewartet!

Sie setzte sich auf einen der Stühle und warf wieder einen Blick zur Tür. „Gibt es etwas, das ich über dieses Krankenhaus wissen sollte?“

Machte sie sich Sorgen, weil sie mit ihm allein war? Der Gedanke setzte ihm zu. „Zum Beispiel …?“

„Sie haben ein zweites Schloss an Ihrer Tür. Meine hat nur das im Türknauf.“

Erleichterung erfasste ihn. Es war die Tür, die sie misstrauisch machte, nicht er. Und sie hatte recht. Er hatte einen Sicherungsbolzen einbauen lassen. Noch eine Angewohnheit, die er nicht ablegen konnte. „Nein“, entgegnete er. „Nur die Tatsache, dass wir in einer Großstadt leben.“

„Brauche ich auch mehr Schlösser?“

Verdammt, er hoffte es nicht. „Es war ein Angebot, als ich an diesem Krankenhaus anfing. Man muss tun, womit man sich am wohlsten fühlt.“ Tatsächlich hatten sie es ihm nicht explizit angeboten, doch er war gefragt worden, ob er besondere Wünsche für sein Büro hätte. Da er gelegentlich hier auf dem Sofa schlief, wenn der Zustand eines Patienten kritisch war, hatte er um ein Extraschloss gebeten. „Manchmal muss ich hier übernachten.“

„Ah, okay. Verstehe.“

Er hatte den Eindruck, dass sie nicht wirklich verstand, doch mehr würde sie von ihm zu diesem Thema nicht hören. „Aber Sie sind bestimmt nicht gekommen, um das Schloss an meiner Tür zu diskutieren.“

„Nein.“ Sie beugte sich vor. „Haben Sie mit Tanya jemals über ihre Zukunftspläne gesprochen?“

Snow rekapitulierte die zahlreichen Gespräche mit ihr, ihrem Mann und ihren Eltern. „Als ich sie kennenlernte, war sie ziemlich krank. Sie befand sich im letzten Stadium ihrer pulmonalen Hypertonie, was ohne neue Organe den sicheren Tod bedeutete. Ihr Herz war schon vergrößert und drohte zu versagen. Sie brauchte zum Überleben dringend neue Organe. Alle sagten, dass sie die Transplantation wollte. Einschließlich Tanya selbst.“ Er ging mehr ins Detail als nötig war. Vielleicht, weil er keine Ahnung hatte, worauf Kirsten hinauswollte. Konnte er während der Besprechungen etwas Wichtiges übersehen haben? „Falls sie Bedenken hatte, hätte sie sie ansprechen sollen, bevor sie dem Eingriff zustimmte.“

„Mit der Transplantation hat es nichts zu tun. Nun ja, irgendwie doch, aber nur indirekt.“

„Worum geht es dann?“

„Es hat mit ihren Immunsuppressiva zu tun.“

Er lehnte sich zurück, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, seine Finger verwickelten sich kurz darin. Ich muss endlich die verdammten Locken abschneiden! Snow achtete darauf, dass seine Stimme ruhig klang, als er antwortete: „Sie nicht zu nehmen, ist keine Option und wird es niemals sein. Tanya wusste von vornherein, dass diese Medikamente unabdingbar sind, um eine Abstoßungsreaktion des Körpers zu verhindern. Und zwar ein Leben lang. Wenn ihre Versicherung die Kosten nicht abdeckt oder es andere finanzielle Probleme gibt, können wir darüber reden. Das Krankenhaus bietet in solchen Fällen ein Programm an, das …“

„Es geht nicht ums Geld. Jedenfalls nicht bei dem, was sie mir anvertraut hat.“

Kirsten rutschte auf ihrem Stuhl herum. Scheute sie sich immer noch, das Thema anzusprechen, wusste nicht, wie sie anfangen sollte?

Er half ihr auch nicht gerade, wenn er auf jeden ihrer Sätze mit Nachdruck reagierte. Natürlich war er nicht laut geworden, hatte sogar bewusst ruhig gesprochen. Aber vielleicht war sie genauso gut wie er im Heraushören von Untertönen. Was er bei ihr las, war ungewöhnlich. Empathie, eine Spur Mitleid. Und Ungeduld. Snow war ziemlich sicher, dass sie ihn betraf.

Tja, er wurde allmählich auch ungeduldig, obwohl er sich große Mühe gab, gelassen zu bleiben. „Dann erzählen Sie mir endlich, was es ist. So war es abgesprochen. Dass Sie mir keine Informationen vorenthalten.“

So, wie er Theresa etwas verschwiegen hatte? Dinge, über die er mit ihr hätte reden sollen. Nein, dies war eine völlig andere Situation!

„Ich weiß.“ Ihre Stimme klang sanfter als seine. „Wie wirken sich diese Medikamente auf … Fruchtbarkeit aus? Vor allem im Bereich von Fehlbildungen?“

Ach, daher wehte der Wind! Tanya war eine junge Frau Mitte zwanzig. Vor der Transplantation hatten sie ihr die Standardfragen gestellt, immer wieder Bluttests genommen, unter anderem gecheckt, ob sie schwanger war. Das übliche Prozedere.

„Sie kann nicht schwanger werden. Das heißt, sie sollte es nicht. Jedenfalls nicht jetzt.“

„Da haben Sie’s. Wenn Sie wissen wollen, was mit ihr los ist, dann ist es das …“ Kirsten unterbrach sich, als suche sie nach den richtigen Worten. „… kurz gesagt.“

Wieder brachte ihn ihre Ausdrucksweise zum Lächeln und löschte seine Gedanken an die Kindheit. „Verstehe. Zum jetzigen Zeitpunkt sollte sie nicht schwanger werden. Aber das heißt nicht, dass sie nie ein Kind wird austragen können. Mit einer Schwangerschaft sind allerdings hohe Risiken verbunden. Sie muss Geduld haben. Zurzeit bekommt sie die höchst zulässige Dosis an Immunsuppressiva, weil die Gefahr der Organ-Abstoßung sehr hoch ist. Sobald ihr Zustand stabiler ist, fahren wir die Medikation langsam zurück.“

„Es besteht also die Chance, dass sie Kinder bekommen kann?“

„Ja. Doch es wird nicht einfach werden. Sie kann nicht spontan entscheiden, schwanger zu werden. Alles muss sorgfältig geplant werden. Einige Präparate wirken sich schädlich auf die Schwangerschaft und den Fetus aus. Aber wir würden die Medikamente entsprechend anpassen und Tanyas Verfassung genau beobachten.“

„Das sind gute Neuigkeiten. Ich wusste zwar, dass Frauen nach einer Transplantation Kinder bekommen können – schließlich kann auch eine Gebärmutter verpflanzt werden –, aber in diesem speziellen Fall war ich mir nicht sicher.“ Sie schwieg kurz. „Es hat eine Weile gedauert, bis sie in der Lage war, mir ihre Befürchtungen anzuvertrauen. Sie musste alles aufschreiben, weil sie noch beatmet wird, und sie war dabei sichtlich aufgewühlt.“

Was er nachvollziehen konnte. Er selbst würde auch lange brauchen, seine innersten Gefühle und Gedanken preiszugeben. Falls er es überhaupt jemals tun würde. Dennoch hatte Kirsten in weniger als drei Stunden das Vertrauen seiner Patientin gewonnen. Er sollte bei ihr auf der Hut sein.

Sie zog ein Blatt Papier aus der Kitteltasche und faltete es auseinander, um ihm zu zeigen, was Tanya geschrieben hatte. Stellenweise war die Schrift verschmiert, als wäre Feuchtigkeit darauf getropft. Snow blickte Kirsten an.

„Sie hat geweint“, beantwortete sie seine stumme Frage.

Sein Magen fühlte sich an wie ein steinharter Ball. „Verdammt. Warum hat sie mich nicht vor dem Eingriff danach gefragt? Ich hätte sie beruhigen können.“

„Tanya hatte Angst zu sterben, wenn sie nicht bald operiert wurde. Ihr Überlebensinstinkt beherrschte alles andere, und als die Transplantation in greifbare Nähe rückte, packte sie zu. Sicherte sich den rettenden Strohhalm. Inzwischen kann sie wieder über die Zukunft nachdenken, und ihr werden die Folgen ihrer Entscheidung bewusst.“

Auch das verstand er nur zu gut. Eine Zeit lang war sein Überlebenswille so stark gewesen, dass ihn andere nicht kümmerten. Empathie fiel ihm schwer. Er war dazu fähig, das wusste er, doch dieses Gefühl war unter all dem Müll begraben, der sein Leben bestimmt hatte.

Seine Mom und Kaleb gehörten zu den wenigen Menschen, die ihm etwas bedeuteten. Zwei der wenigen, denen er vertraute. Und seiner Mom drohte endlich keine Gefahr mehr. Sein Dad hatte sie krankenhausreif geschlagen, sodass sie wochenlang auf der Intensivstation liegen musste. Als sie wieder gesund war, saß er für das, was er getan hatte, bereits hinter Gittern, und sie ließ sich scheiden. Snow hatte in den zehn Jahren, die sein Dad im Gefängnis war, keinen Kontakt zu ihm. Dieser verfluchte Mistkerl!

Seine Mom hatte eine Therapie gemacht. Und er selbst? Snow war seit Langem unabhängig. Keine Therapie würde ihm helfen, den Schaden zu vergessen, den sein Vater angerichtet hatte. Vielleicht war es besser so. Eine warnende Erinnerung.

„Diese Folgen sind nicht von Dauer. In einem Jahr können wir ans Kinderkriegen denken.“ Zu spät fiel ihm auf, dass sein letzter Satz falsch aufgefasst werden könnte. „Tanya und ihr Mann, meine ich.“

Kirsten lächelte, und in ihrer Wange vertiefte sich ein bezauberndes Grübchen. „Ich hatte Sie schon richtig verstanden. Wir Kinder kriegen? Das wäre eine sehr schlechte Paarung. Außerdem, wer weiß, wo ich in einem Jahr bin?“

Snow hing noch ihrer Bemerkung nach, dass sie kein gutes Paar abgeben würden, als ihn auch ihr letzter Satz stutzig machte.

„Denken Sie jetzt schon daran, das NYC Memorial wieder zu verlassen?“

„Nein. Noch nicht. Aber wir wissen nie, wohin das Schicksal uns führt, stimmt’s?“

Eine direkte Antwort hatte sie vermieden. Vielleicht versuchte ein anderes Krankenhaus, sie abzuwerben. Oder sie war hier nicht glücklich. Nun, es ging ihn nichts an. Sollte sie morgen kündigen, würde sein Leben weitergehen wie bisher. Trotzdem könnte er sich bemühen, eine freundliche Arbeitsatmosphäre zu schaffen, ein bisschen von dieser verloren gegangenen Empathie zutage zu fördern.

„Danke für Ihre Hilfe. Ich werde mit Tanya über das Thema Schwangerschaft sprechen.“ Er blickte auf das Blatt Papier mit den Tränenspuren seiner Patientin.

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mit ihr rede? Das macht es sicher leichter für sie, da wir bereits darüber gesprochen haben. Wenn Sie mir erklären, wie die nächsten Schritte aussehen, gebe ich es weiter.“

Gute Idee. Schließlich hatte Tanya sich Kirsten anvertraut und nicht ihm. Und er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass die Lungenfachärztin ein sehr viel mitfühlenderes Gesicht zeigte als er. Er selbst trieb sich von Aufgabe zu Aufgabe, arbeitete tagtäglich mentale Checklisten ab.

Gefühle zu zeigen, geschweige denn, darüber zu reden, fiel ihm nicht leicht. Beruflich und auch im Privatleben machte er einen Bogen darum. Kirsten, so war jedenfalls sein Eindruck, schien damit keine Schwierigkeiten zu haben. Genau wie Theresa. Was Gefühle betraf, hatte sie sehr viel mehr in ihre Ehe eingebracht, als sie zurückbekam. Deshalb beschloss sie irgendwann, dass es die Mühe nicht wert war. Snow konnte es ihr nicht verdenken.

Nur die Affäre nahm er ihr übel. Warum hatte sie ihn nicht einfach um die Scheidung gebeten? Musste sie ihn erst betrügen, um ihn loszuwerden?

Aber Kirsten und er waren Kollegen, mehr nicht. Er brauchte sich also keine Gedanken zu machen, ob sie zueinanderpassten oder nicht. In erster Linie ging es darum, dass seine Transplantationspatientin auf dem Weg in ein halbwegs normales Leben war.

Und da das aktuelle Problem anscheinend gelöst werden konnte, brauchte er lediglich das zu tun, was er gut konnte: Sich um die körperlichen Belange seiner Patienten zu kümmern und die emotionale Seite jemand anderem zu überlassen.

Sein Handy, das er auf den Schreibtisch gelegt hatte, vibrierte. Er warf einen Blick aufs Display. „Tut mir leid, da muss ich rangehen.“

„Okay, wir reden später.“

Snow nickte, griff zum Telefon und bellte seinen Namen hinein. Kurz hörte er dem Arzt aus der Notaufnahme zu, sprang auf, lief zur Tür und streckte den Kopf in den Flur. Kirsten entfernte sich bereits mit eiligen Schritten.

„Hey, Kirsten, können Sie einen Moment warten?“

Stirnrunzelnd drehte sie sich um, machte sich aber auf den Weg zurück zu ihm.

Snow wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Kollegen zu. „Ich bin gleich unten. Unsere neue Pneumologin bringe ich mit.“

Er hoffte es jedenfalls. Vielleicht musste sie zu ja zu einem anderen Patienten.

„In die Notaufnahme wurde ein Mann eingeliefert, der vor einiger Zeit eine neue Lunge bekommen hat. Er ist nicht von hier, hat Verwandte in New York besucht, als er plötzlich Atemprobleme bekam. Haben Sie Zeit, ihn sich mit mir anzusehen?“

„Klar, sicher. Wissen Sie Näheres?“

Inzwischen standen sie vor den Fahrstühlen und warteten.

„Er ist Mitte dreißig, die Sauerstoffsättigung ist mau, und es sieht so aus, als hätte ein Virus die Lungen befallen. Eine Vermutung zunächst, aber sie wollen mich dabeihaben, falls der Körper beginnen sollte, das verpflanzte Organ abzustoßen.“

Der Aufzug kam, sie betraten die Kabine, und Snow drückte den Knopf für den 1. Stock.

„Und warum mich?“

„Vier Augen sehen mehr als zwei. Den Patienten von jemand anderem zu behandeln, ist manchmal nicht einfach.“

Kirsten zog die Brauen hoch. „Oder mit den Ärzten klarzukommen, die ihn behandelt haben.“

Das brachte ihn zum Lächeln. „Haben Sie da jemand Bestimmtes im Sinn?“

Gespielt überrascht machte sie große Augen. „Natürlich nicht. Ich streite mich nie mit den Ärzten anderer Patienten.“

Snow lachte. „Irgendwie kann ich das nicht ganz glauben.“

Sie verließen den Lift in der 1. Etage und eilten zur Notaufnahme. Die Krankenschwester am Empfang telefonierte gerade, zeigte jedoch wortlos auf den ersten Untersuchungsraum auf der linken Seite. Es war einer der Schockräume.

Snow stieß die Türen auf, und Kirsten folgte ihm ins Zimmer.

Dr. Lawson stand bei einem Patienten, der eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht hatte. „Danke, dass Sie so schnell kommen konnten“, sagte er. „Dies ist Randy Stewart. Er besucht für ein paar Tage seine Eltern und klagte plötzlich über ein Engegefühl in der Brust.“

Snow trat zum Patienten. „Hi, Randy. Ich bin Snowden Tangredi, Leiter der Transplantationschirurgie. Dr. Nadir ist Lungenfachärztin. Sie haben also Schwierigkeiten mit dem Atmen?“

Randy nickte. Ein pfeifendes Geräusch begleitete jede Ausatmung, was Snow gar nicht gefiel. „Seit zwei Stunden ungefähr.“

„Okay. Dr. Lawrence wird Sie bereits abgehorcht haben, aber ich werde mir Ihre Lungen auch noch einmal anhören, okay?“

Mit dem Stethoskop lauschte er den Lungengeräuschen, stutzte, als er meinte, etwas zu wahrzunehmen, das … Snow winkte Kirsten näher. „Können Sie sich das einmal anhören und mir sagen, was Sie davon halten?“

Kirsten kam seiner Bitte nach und horchte konzentriert, die Augen geschlossen.

Snow betrachtete sie. Obwohl er, von Tanya abgesehen, noch nicht mit ihr zusammengearbeitet hatte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sehr gründlich war. Und bei Tanya war sie schnell zum Kern des Problems vorgestoßen.

Einer der Gründe, warum er sie hier dabeihaben wollte.

Sie öffnete die Augen, suchte seinen Blick. „Ich höre ein trockenes melodisches Geräusch.“

„Ich auch.“ Er sah zu Dr. Lawrence.

Der nickte bestätigend. „Wenn ich nicht wüsste, dass wir es mit einem Transplantationspatienten zu tun haben, würde ich sagen, er hat einen Asthmaanfall.“

„Sehe ich auch so“, meinte Kirsten. „Bei meinen Asthmapatienten ist es genauso.“

Seltsam. „Haben Sie schon mit Randys Chirurg gesprochen?“

„Nein, er macht Urlaub auf den Bahamas. Aber man stellt uns die Akte zur Verfügung.“

Randy zog die Maske ein Stückchen vom Gesicht weg. „Erst vor einem Monat war ich zu einem Check-up bei ihm, und es war alles in Ordnung.“

„Das heißt, Sie hatten keine Probleme, bevor Sie hierherkamen?“

„Richtig.“

„Wo wohnen Sie?“

„Montana.“

„Montana bietet vielleicht nicht so viele Allergene wie wir hier in New York“, sagte Kirsten zu ihm.

Die Luftverschmutzung war in der letzten Woche wieder besonders hoch gewesen.

„Hat Ihr Arzt erwähnt, ob bei den Spenderlungen gesundheitliche Probleme diagnostiziert worden waren?“

„Nein. Der Spender erlitt bei einem Verkehrsunfall eine schwere Hirnverletzung. Die Lungen waren kerngesund. Er war jung, keine zwanzig.“ Sichtlich bewegt presste Randy Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel, als wollte er die aufwallenden Gefühle unterdrücken.

Über den Spender zu sprechen, war für Transplantationspatienten immer besonders hart. Sie wussten, dass sie ihre Rettung dem Tod eines anderen Menschen zu verdanken hatten.

Kirsten trat zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. „Dieser Teenager hat Ihnen Ihr Leben geschenkt. Ich bin sicher, dass es ihn glücklich machen würde, wenn er davon wüsste.“

Randy ließ die Hand sinken. „Danke.“

Sie besaß etwas, das Snow nicht hatte – die Fähigkeit, auf emotionaler Ebene Zugang zu Patientinnen und Patienten zu finden und sie zu beruhigen. Es war ihr bei Tanya gelungen, nachdem er dazu nicht in der Lage gewesen war. Ein weiteres Zeichen, dass ihm diese besondere Empathie fehlte. Von Natur aus? Oder anerzogen?

Verdammt, war das überhaupt wichtig? Sein Dad hatte ihm viel genommen. Jemandem seine tiefsten Gefühle anvertrauen? Intuitiv Verbindungen zu Menschen herstellen? All das konnte Snow nicht. Vielleicht, weil er niemandem genug vertraute, um sich verletzlich zu zeigen.

Dafür war er besonders gut darin, Sachverhalte objektiv, durch die wissenschaftliche Brille und unbeeinflusst von Gefühlen zu bewerten.

Das tat Kirsten sicher auch, aber ihre Kompetenz ging sehr viel weiter. Und ein Teil von ihm wünschte sich diese Fähigkeit auch.

Dieser Wunsch würde sich nicht erfüllen. Es ist, wie es ist, dachte er. Allerdings musste er bei Kirsten vorsichtig sein. Wenn sie eine natürliche Gabe besaß, Menschen tief verborgene Gefühle zu entlocken, könnte sie auch in seinem emotionalen Schutt wühlen und etwas zutage fördern, das er lieber begraben sah.

Hoffentlich nicht, verdammt!

Eine Krankenschwester kam herein und reichte ihm einen Tabletcomputer. „Die Patientendaten aus Montana. Sie haben sie gerade geschickt.“

„Großartig, danke.“

„Und, Dr. Lawrence, ich habe vorn einen Patienten, der über Brustschmerzen klagt.“

„Komme sofort.“ Der Kollege warf ihm einen bedauernden Blick zu. „Können Sie hier übernehmen?“

„Jepp, wir kümmern uns drum.“

Wir. Kirsten und er.

Nun, man hatte ihn hergebeten, nicht sie beide. Dennoch war die Entscheidung, sie mitzubringen, richtig gewesen.

Snow scrollte durch die Berichte, speicherte mental dieses und jenes ab. Randy hatte recht. Kein Hinweis auf Asthma beim Spender. Was nicht bedeuten musste, dass er nichts in der Richtung gehabt hatte. Vielleicht nur in den Anfängen, sodass noch keine Diagnose gestellt worden war.

Er legte das Tablet hin und wartete, da Kirsten gerade etwas zu dem Patienten sagte. Etwas, das diesen zum Lachen brachte. Zu seinem Erstaunen verspürte Snow einen Stich. War er neidisch? Weil sie locker mit jemandem scherzen und lachen konnte, den sie kaum kannte?

Natürlich nicht!

„Ich möchte bei Ihnen einige Tests durchführen“, sagte er zu Randy. „Und sollten sie zeigen, was ich vermute, würde ich Ihnen eine Atemtherapie verschreiben.“

„Dann ist es keine Abstoßung?“ Die Furcht war ihm anzuhören.

„Ich glaube nicht.“

„Dem Himmel sei Dank. Meine Frau ist mit den Kindern zu Hause geblieben. Sie weiß nicht, dass ich im Krankenhaus bin, ich habe sie noch nicht angerufen. Es sollte ein kurzer Besuch bei meinen Eltern werden, um ihnen bei ihrem Testament zu helfen.“ Er schwieg einen Moment. „Ich bin Anwalt, und ich wollte die Angelegenheit nicht jemand anderem überlassen.“

„Verständlich.“

Kirsten sah ihn an. „Dann denken Sie, es handelt sich um eine Asthmaattacke?“

„Ja. Was meinen Sie?“

„Das Gleiche. Randy sagte, dass die Enge in der Brust etwas nachlässt.“

„Gute Neuigkeiten.“ Snow zwang sich zu einem Lächeln. „Dann sehen wir zu, dass wir Sie versorgen, damit Sie verschwinden können. Oder wollten Sie noch ein bisschen bleiben?“

Randy lachte. „Nein. Von Krankenhäusern habe ich genug.“

„Kann ich mir vorstellen.“

„Dann könnte ich übermorgen nach Hause fliegen?“

„Ja, vorausgesetzt, meine Prognose stimmt. Aber ich möchte, dass Sie sich mit Ihrem Hausarzt in Verbindung setzen. Besser heute als morgen. Möglicherweise verordnet er Ihnen ein Notfallspray, das Sie immer bei sich tragen sollten. Aber ich hoffe, dass es nicht nötig sein wird.“

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll!“

Diesmal musste Snow sich nicht zum Lächeln zwingen. „Leben Sie das beste Leben, und genießen Sie jeden Atemzug.“

„Danke. Genau das habe ich vor.“

Kirsten hätte sich nach ihrem Gespräch mit Snow besser fühlen müssen. Vor allem, nachdem sie zusammen Randy Stewart behandelt hatten. Der Transplantationschirurg hatte mit seiner Diagnose den Nagel auf den Kopf getroffen. Sollte sie nicht froh sein, dass sie in dieselbe Richtung gedacht hatten, und wie unproblematisch die Zusammenarbeit mit Snowden Tangredi gewesen war?

Als sie jedoch eine halbe Stunde später ihr Bürozimmer verließ und zum Fahrstuhl ging, verspürte sie ein nagendes Unbehagen. Nicht wegen des Patienten. Nein, das Zusatzschloss an Snows Zimmer machte ihr zu schaffen. Sie hatte einen Blick auf jede andere Tür in dieser Etage geworfen und festgestellt, dass alle so aussahen wie ihre. Snow hatte es damit erklärt, dass er manchmal im Büro übernachten musste. Aber da war er sicher nicht der einzige Arzt hier. Rechnete er wirklich damit, dass jemand bei ihm einbrach und ihn im Schlaf überraschte?

Kirsten überlief es kalt. Vielleicht brauchte er die zusätzliche Sicherung aus einem völlig anderen Grund. Damit niemand ihn überraschen konnte? Bei etwas Verbotenem?

Hör auf, Kirsten. Der Mann ist kein Junkie.

Nichts in seinem Verhalten deutete darauf hin, dass er drogenabhängig sein könnte. Er war immer völlig klar, wenn sie mit ihm redete. Doch wie oft hatten Ärzte ihre Sucht geschickt verborgen? Persönlich kannte sie zwar keinen, hatte jedoch ein paar Geschichten gehört.

Der Lift hielt, und sie war gerade eingestiegen, da tauchte eine schlanke Männerhand an der Tür auf und hinderte sie am Zugleiten. Snow stand im Türrahmen und wirkte mehr als ein bisschen einschüchternd. Als hätte er ihre Gedanken empfangen und genau gewusst, wo er Kirsten finden konnte.

Lächerlich!

„Ich bin auf dem Weg zum Mittagessen. Leisten Sie mir Gesellschaft?“ Er betrat die Kabine und drückte den Knopf fürs Erdgeschoss.

Einen winzigen Moment lang fehlten ihr die Worte. Zwischen dem Snow in seinem Büro und dem, der sie bat, mit ihm zu Mittag zu essen, lagen Welten! „Essen Sie irgendwo in der Nähe? Ich muss in einer Stunde wieder hier sein.“

„Gleich um die Ecke ist ein Bistro, wo es Suppe und Sandwichs gibt … Das Sergio’s. Waren Sie schon einmal dort?“

Sie aß selten auswärts, da sie noch nicht viele Leute kannte und ungern allein im Restaurant saß. Viele Frauen hatten da weniger Berührungsängste. Kirsten wusste nicht, woher ihre Scheu kam. Vielleicht fühlte sie sich dann noch einsamer. Vielleicht vermisste sie auch nur ihren Dad. Oder die Kolleginnen und Kollegen in ihrem letzten Krankenhaus. Wie auch immer, die Vorstellung, mit jemandem zusammen zu essen, war verlockend. Selbst mit dem Mann, mit dem sie keinen glücklichen Start gehabt hatte.

„Nein, aber ich würde es gern ausprobieren.“

„Okay. Ich verspreche auch, nicht zu fachsimpeln.“

„Fach… was?“

„Über die Arbeit und Patienten zu reden.“

Worüber sollten sie sich sonst unterhalten? „Kein Problem, das interessiert mich immer. Außerdem können Sie bestimmt von faszinierenden Fällen erzählen.“

„Sie sicher auch.“ Er lächelte. „Aber seit einer Stunde schreit mich mein Magen an, und da mir klar ist, dass ich nicht zu den freundlichsten Kollegen am NYC Memorial gehöre, möchte ich nicht schuld sein, dass Sie sich einen neuen Arbeitsplatz suchen.“

Wie kam er denn darauf …? Oh, ihre Bemerkung, dass sie nicht wüsste, wo sie in einem Jahr sein würde. Hatte er sie zum Essen eingeladen, um mehr herauszufinden? Na großartig!

„Wie gesagt, habe ich nicht vor, demnächst zu kündigen. Und falls doch, mache ich es nicht von Ihnen oder irgendjemand anderem abhängig. Sie brauchen mir also deswegen kein Mittagessen zu spendieren. Ich bin ein großes Mädchen. Ich komme auch mit Ärzten klar, die nicht zu den freundlichsten gehören“, fügte sie hinzu.

Er lächelte. „Das ist nicht der einzige Grund. Sie waren bei Tanya – von Randy einmal abgesehen – eine große Hilfe und kommen erst jetzt zu Ihrer Mittagspause, weil es ewig gedauert haben muss, bis Tanya ihre Liste geschrieben hatte. Ich dachte, es steckt etwas Einfacheres hinter ihrer Apathie. Zum Beispiel, dass sie sich keine großen Hoffnungen machen wollte, weil immer die Gefahr der Organabstoßung besteht.“

Der Aufzug hielt, und sie stiegen aus. „Ich bin froh, dass ich für sie da sein konnte. Und für Randy.“

„Wahrscheinlich werden wir in ein, zwei Tagen die künstliche Beatmung ganz einstellen können.“

Kirsten fiel etwas ein. „Ach ja, das wollte ich noch erwähnt haben. Ihre Sauerstoffsättigung ist um einen weiteren Prozentpunkt gestiegen, sodass Sie sich an der Front keine Sorgen mehr zu machen brauchen. Man hat die Beatmung bereits nach Ihren Anweisungen zurückgefahren, und es waren keine negativen Auswirkungen zu beobachten.“

„Das sind sehr gute Neuigkeiten.“

Vielleicht war es doch keine schlechte Idee, mit ihm Mittag zu essen. Sie könnte sehen, wie er außerhalb der Arbeit war – und möglicherweise herausfinden, was es mit dem doppelten Schloss auf sich hatte.

Er ist kein Junkie.

Da war er schon wieder, dieser Gedanke. Fast hätte sie aufgelacht. Seit wann war sie so misstrauisch?

Sie gingen durch die Eingangshalle mit der vier Stockwerke hohen Decke. Auf jeder Etage waren Geländer angebracht, hinter denen Sitzgruppen standen, damit Besucher und Gäste auf das Foyer hinunterblicken konnten. In der Mitte hing ein riesiger Kronleuchter, der einem Nobelhotel alle Ehre gemacht hätte. Kirsten musste zugeben, dass das NYC Memorial ein wunderschönes Krankenhaus war. Prestigeträchtig und renommiert. Gut, das Prestige war ihr nicht wichtig. Was hinter der prachtvollen Fassade steckte, das interessierte sie.

Ähnlich wie bei Snow. Was verbarg sich hinter seinem attraktiven Äußeren? Seine Patienten schienen ihm am Herzen zu liegen. Sein Instinkt, dass Tanya etwas beschäftigte, hatte genau ins Schwarze getroffen. Also war er einfühlsam. Bei Medizinern ein wichtiger Wesenszug, den nicht jeder hatte. Oft konzentrierten sie sich zu sehr auf die körperlichen Symptome einer Krankheit, ohne anderen Anzeichen auf den Grund zu gehen. Doch Snow hatte nicht einmal tief graben müssen. Er ahnte, dass etwas nicht stimmte.

Im Umgang mit seinen Patientinnen und Patienten war er voll bei der Sache. Kirsten entspannte sich.

Als ihr Bauch ein deutliches Knurren von sich gab, begriff sie, dass sie auch Hunger hatte. Snow betrachtete sie, die Brauen fragend hochgezogen, und sie lachte leise auf. „Okay, mein Magen hält es auch für eine gute Idee, etwas zu essen.“

„Freut mich, dass ich nicht der Einzige bin.“ Er deutete mit dem Kopf auf die Ampel vor ihnen. „Dort biegen wir rechts ab, und zwei Häuser weiter ist das Bistro.“

Keine zwei Minuten später waren sie am Ziel.

„Danke für die Einladung“, sagte sie.

„Gern geschehen. Ich hätte in meinem Zimmer oder der Kantine essen können, aber das hatte ich in letzter Zeit zu oft. Außerhalb des Krankenhauses zu essen, war verlockend.“

„Für mich auch.“ Natürlich sagte sie ihm nicht, dass sie sich an jedem Arbeitstag, seit sie hier angefangen hatte, etwas in der Kantine geholt und in ihrem Büro gegessen hatte – nur um nicht allein am Tisch sitzen zu müssen.

Nun, heute war sie nicht allein.

Ein Kellner führte sie zu einer sanft beleuchteten Nische mit Tisch und zwei Bänken. Die Bänke hatte hohe Rückenlehnen, in deren oberen Teil Milchglasscheiben eingelassen waren, was dem Platz ein intimes Flair verlieh. Aber das hier war ein Mittagessen unter Kollegen, kein Date. Es bestand kein Grund, sich unbehaglich zu fühlen.

„Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?“, fragte die Kellnerin. „Wir haben Bier, Wein, Softdrinks und verschiedene Limonaden.“

Kirsten hätte gern ein Glas Wein getrunken, aber da sie noch arbeiten musste, entschied sie sich dagegen. „Einen schwarzen Tee bitte und ein Wasser.“

„Ich nehme eine Cola, Marke egal“, fügte Snow hinzu.

„Wunderbar, bringe ich Ihnen gleich.“

Sobald die Bedienung gegangen war, fragte Snow, wie Kirsten sich am NYC Memorial eingelebt hatte.

„Gut, denke ich. Es ist sehr viel größer als das, wo ich zuletzt war, und manchmal noch ein bisschen überwältigend. Weshalb ich mich, wie Sie mitbekommen haben, gelegentlich verlaufe. Dr. Sabat war mir eine große Hilfe, und wir haben ein paarmal zusammen gegessen.“

„Dr. Sabat?“ Snow warf ihr einen seltsamen Blick zu. „Kaleb ist ein netter Kerl, aber er …“

„Oh!“ Ihr wurde klar, was er gedacht haben mochte. „Nein, ich meinte seine Frau, Nicola.“

Er lehnte sich entspannt zurück. „Ich vergesse immer wieder, dass Nicola den Nachnamen gewechselt hat. Sie sind beide großartig. Kaleb und ich kennen uns schon sehr lange.“

„Nach allem, was Nicola erzählt, müssen sie wahnsinnig verliebt sein. Und sie sind ganz vernarrt in ihr Baby.“

„Ja, das würde ich auch sagen, obwohl ich Kaleb nicht so oft sehe wie früher.“

„Sie sagten, Sie kennen ihn schon lange. Seit dem Medizinstudium?“

„Seit der Grundschule.“ Er lächelte.

Irgendwie konnte sie sich ihn nicht als Jungen vorstellen, auf einem Fahrrad, wie er mit Freunden durch die Gegend flitzte. „Wow, und Sie werden beide Ärzte und arbeiten am selben Krankenhaus?“

„Ja, das Leben geht seltsame Wege. Ihn hatte der Himmel geschickt, als … Nun, sagen wir, es gab eine Zeit, als ich wirklich einen Freund brauchte, und Kaleb war da.“

Seine Worte berührten sie, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Er schien eine schwierige Phase im Leben durchgemacht zu haben. Kirsten musste wieder an das zweite Schloss an seiner Zimmertür denken.

Sie überlegte, wie sie ihn dazu bringen konnte, mehr von sich zu erzählen, ohne neugierig zu wirken. Doch er sprach weiter: „Wohnen Ihre Eltern hier in der Gegend?“

„Nein. Mein Vater lebt seit Kurzem wieder im Libanon. Und meine Mom ist vor zehn Jahren gestorben.“

„Das tut mir leid, Kirsten.“

Es klang aufrichtig. „Danke. Sie hätte Ihre Hilfe brauchen können, als sie zur Behandlung in die USA kam.“

„Behandlung?“

„Mom hatte Mukoviszidose im Endstadium. Man hatte ihr von einer Schwangerschaft abgeraten, und so gesehen, war ich ein Unfall. Aber sie hat immer gesagt, ich sei ihr Wunderkind, ein unerwartetes Geschenk. Deshalb konnte ich Tanya gut verstehen.“

Die Kellnerin kam an den Tisch, um nach ihren Wünschen zu fragen. Kirsten entschied sich für das Geflügelsalat-Sandwich und Kartoffelsuppe. Snow bestellte ein Club-Sandwich mit Putenfleisch.

„Ihre Mutter wollte sich hier behandeln lassen?“

„Sie hoffte auf eine Transplantation. Doch die Liste war noch zu lang. Ein Jahr, nachdem wir nach New York gezogen waren, ist Mom gestorben. Mein Dad beschloss zu bleiben, weil ich Medizin studieren wollte. Das habe ich, und hier bin ich.“

„Es tut mir sehr leid, dass Ihre Mom nicht rechtzeitig operiert werden konnte.“ Snow sah sie an. „Sie sind Pneumologin geworden …“

„Ja, Mom ist der Grund, warum ich mich für Lungenheilkunde entschieden habe“, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. „Ich glaube, sie wäre froh darüber.“

„Ganz sicher. Es hätte ihr gefallen, wie Sie Tanya geholfen haben.“

„Viel habe ich nicht getan. Nur zugehört.“

„Genau das hat sie wohl am meisten gebraucht.“

Kirsten lächelte. „Brauchen wir das nicht alle von Zeit zu Zeit? Jemanden, der zuhört?“

Bevor er etwas sagen konnte, brachte die Kellnerin ihr Essen.

„Wo haben Sie gelebt, bevor Sie ans NYC Memorial gekommen sind?“, wollte Snow wissen, als sie wieder verschwunden war.

„Ich habe in einem kleinen Krankenhaus in Ohio gearbeitet. Meine Mom wurde an einer der größeren Kliniken behandelt.“

„Und Sie wollten nicht dort arbeiten?“

„Als ich mich nach einer Stelle umsah, war in der Pneumologie nichts frei. Dafür im NYC Memorial. Das ist okay. Ich glaube, ich brauchte sowieso einen Tapetenwechsel. Nachdem mein Dad in unsere Heimat zurückgegangen war, hielt mich nichts mehr in Ohio. Und ich dachte, in einer Großstadt würde ich nicht so … sehr auf ein Auto angewiesen sein, um zur Arbeit zu kommen.“

Nicht so einsam sein, hatte sie ursprünglich sagen wollen. Oder so oft an ihren Ex-Freund denken müssen, der sich aus ihrem Leben verabschiedet hatte, als hätte sie ihm nie etwas bedeutet. Im letzten Moment überlegte sie es sich anders. Snow musste nicht wissen, dass sie eine gescheiterte Beziehung hinter sich hatte.

Sie war zweiunddreißig, und lange hatte es nur diesen einen Mann für sie gegeben. Ihre einzige ernsthafte Beziehung. Kennengelernt hatten sie sich während des Medizinstudiums, doch der Druck durch das hohe Lernpensum, Prüfungen und später die Assistenzarztzeit forderte ihnen viel ab. Das wirkte sich wiederum auf ihre Beziehung aus. Kirsten hätte sich mehr emotionale Unterstützung und Ermutigung gewünscht, während Dave sich in der letzten Phase des Studiums strikt auf seine Aufgaben konzentrierte. Alles andere wurde nebensächlich. Kirsten fühlte sich verunsichert und im Stich gelassen. Wenn sie darüber zu reden versuchte, wich er aus.

Als sie an verschiedene Krankenhäuser wechselten, war es plötzlich aus, und er verschwand von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben. Ein Schlag, den sie schwer verkraftete. Sie schrieb ihm gelegentlich Nachrichten aufs Handy, die er entweder spät oder nie beantwortete. Seine offensichtliche Gleichgültigkeit rieb noch mehr Salz in die Wunde, und schließlich löschte sie seine Nummer.

Sie beschloss, nie wieder einem Mann die Gelegenheit zu bieten, sie derart verletzend zu behandeln. Das erleichterte ihr die Überlegung, in den Libanon zurückzukehren.

„Vermissen Sie den Libanon? Ihr Vater ist zurückgegangen.“

Jetzt wurde es schwierig. Kirsten wollte ihren Plan nicht an die große Glocke hängen, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Obwohl sie sich schon seit einer Weile damit befasste, war sie sich nicht sicher. Auf keinen Fall wollte sie sich die beruflichen Chancen am NYC Memorial vermiesen, indem sie durchblicken ließ, dass sie sowieso bald wieder kündigen würde. Es konnte ja sein, dass sie an diesem Krankenhaus eine Weile blieb.

„Ja, ich vermisse das Leben dort. Ich bin da aufgewachsen, und bis auf zwei Cousinen dritten Grades, die in Philadelphia wohnen, lebt meine gesamte Familie im Libanon.“ Cousinen, denen sie noch nie begegnet war und wahrscheinlich nie begegnen würde. Aber ihr Dad hatte ihr deren Namen und Telefonnummern dagelassen, falls sie Hilfe brauchen sollte. Kirsten hatte jedoch nicht vor, sie anzurufen.

„Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, sie so weit weg zu wissen.“

„Das stimmt. Aber ich mag New York auch. Sicherlich fühle ich mich mit der Zeit, und wenn ich ein paar mehr Freundschaften geschlossen habe, dann hier auch zu Hause.“

„Sagen Sie Bescheid, wenn Sie einen Fremdenführer brauchen, der Sie auf eine Sightseeingtour mitnimmt. Ich kenne jemanden, der sein ganzes Leben in New York verbracht hat.“

Kirsten war noch nicht dazu gekommen, sich die Sehenswürdigkeiten der Megacity anzusehen. „Das wäre großartig. Können Sie mir die Kontaktdaten geben?“

„Die haben Sie schon.“ Snow lächelte.

Wirklich? Sie konnte sich an nichts dergleichen erinnern. Waren sie in ihrer Willkommensmappe? „Ich habe mir noch nicht alles durchgelesen, was ich vom Krankenhaus bekommen habe, vielleicht habe ich es übersehen.“

„Ich meinte mich. Es ist das Mindeste, um mich für Ihre Hilfe bei Tanya zu revanchieren und dafür zu entschuldigen, dass ich Sie nicht gerade freundlich willkommen geheißen habe.“

„Mit Tanya habe ich gesprochen, weil ich es wollte. Und was das andere angeht – ich hatte mich verspätet und kann verstehen, dass Sie sich darüber geärgert haben.“

Autor

Tina Beckett
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Juliette Hyland
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