Julia Ärzte zum Verlieben Band 167

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

SÜSSE ÜBERRASCHUNG FÜR DR. CASSANETTI von ANNIE O’NEIL
Nur eine allerletzte Nacht der Lust! Mehr will Lizzy nicht von ihrem bindungsscheuen sexy Ex Dr. Leon Cassanetti. Ihre Hoffnung: Sobald sie ihr verzehrendes Begehren befriedigt hat, ist sie ein für alle Mal von ihm geheilt. Doch die Nacht in Leons Armen hat süße Folgen …

DIESE GLUT KANN NIEMAND LÖSCHEN … von SUSAN CARLISLE
Ausgerechnet mit dem attraktiven Arzt Travis Russell muss Smokejumperin Dana in ein abgelegenes Brandgebiet fliegen. Nie hat sie die peinliche Zurückweisung vergessen, als sie ihn einst küssen wollte! Trotzdem fühlt sie sich insgeheim sofort wieder zu ihm hingezogen …

AUCH EIN ARZT BRAUCHT LIEBE von DEANNE ANDERS
Als Dr. William Cooper vorübergehend für ein Baby sorgen muss, nimmt er dankbar Schwester Hannahs Hilfe an. Ein Fehler? Bald prickelt es immer verführerischer in Hannahs Nähe. Aber Vorsicht: Das Liebesglück, das die hübsche Singlemom verdient, kann er ihr nicht bieten …


  • Erscheinungstag 29.07.2022
  • Bandnummer 167
  • ISBN / Artikelnummer 8031220167
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Annie O’Neil, Susan Carlisle, Deanne Anders

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 167

ANNIE O’NEIL

Süße Überraschung für Dr. Cassanetti

Bei einem Kongress in New York trifft Dr. Leon Cassanetti seine faszinierende Kollegin Lizzy wieder, mit der er vor Jahren eine heiße Affäre hatte. Sofort gerät er erneut in ihren sinnlichen Bann und hat leidenschaftlichen Sex mit ihr. Doch schockiert erfährt er wenig später von den Folgen, die sein Leben als überzeugter Junggeselle auf den Kopf stellen …

SUSAN CARLISLE

Diese Glut kann niemand löschen …

Ausgerechnet Dana! Dr. Travis Russell stockt der Atem, als er die attraktive Smokejumperin erkennt, die ihn zu einem Patienten in ein vom Feuer bedrohtes Waldgebiet begleiten soll. Vom ersten Moment an ist da wieder diese unwiderstehlich erregende Anziehungskraft zwischen ihnen. Doch wird sie ihm jemals verzeihen, dass er ihr einst das Herz gebrochen hat?

DEANNE ANDERS

Auch ein Arzt braucht Liebe

Spontan bietet Hannah an, vorübergehend bei Dr. William Cooper einzuziehen und sich um seine kleine Halbschwester zu kümmern. Natürlich nur aus Mitleid, weil er vom Babysit-ter versetzt wurde – nicht, weil sie ihn insgeheim seit Langem begehrt! Denn sie weiß: Als einfache Krankenschwester passt sie auf Dauer nicht in seine Welt der Reichen und Schönen …

1. KAPITEL

„Da sind wir.“

Leon streifte Lizzys Hals mit dem Mund. Seine vertraute Berührung und die Stimme mit dem leichten Akzent lösten in ihren Nervenfasern ein Prickeln aus wie das Silvester-Feuerwerk über New York, von dem sie sich gerade weggeschlichen hatten. Gefährlich. Aufregend. Und stark genug, um tausend Erinnerungen zu wecken, die Lizzy seit ihrer letzten Begegnung so gut wie möglich in irgendeiner dunklen Ecke verschlossen gehalten hatte.

Jetzt versuchte sie erneut, diese Erinnerungen beiseitezuschieben, weil sie unbedingt daran glauben wollte, dass die Vergangenheit keine Rolle spielte. Zwar war Leon der einzige Mann, den sie je geliebt hatte, doch das durfte sie auf gar keinen Fall zugeben. Denn dann würde er sofort wieder nach Rom flüchten.

Vor fünf Jahren hatten sich ihre Wege das letzte Mal gekreuzt. Kaum verwunderlich, da Lizzy in Sydney arbeitete und er in Rom. Sowohl beruflich als auch privat waren sie nie mehr so miteinander verbunden gewesen wie damals in New York während ihrer chirurgischen Assistenzzeit.

Keine einzige E-Mail, kein Anruf, keine Nachricht. Nichts.

Dennoch kannte Lizzy ihn gut genug. Eine Liebeserklärung würde sofort verhindern, was hinter dieser Hotelzimmertür geschehen sollte. Aber sie wollte in dieses Zimmer. Sie wollte Leon.

Mit den Fingerspitzen streifte er ihre bloße Schulter, und sie unterdrückte ein Stöhnen. Von allen medizinischen Kongressen musste er ausgerechnet auf ihrem auftauchen. Als er über ihren Arm strich, verstärkte sich die glühende Hitze in ihrem Inneren noch mehr. Die Berührung war jedoch nur zufällig gewesen, da Leon in seiner Tasche nach der Schlüsselkarte suchte.

Als Lizzy dies bemerkte, veränderte sich auf einmal ihr Blickwinkel. Vielleicht war das Gefühl, an das sie sich in den vergangenen fünf Jahren geklammert hatte, gar keine Liebe gewesen. Ihre gemeinsame Leidenschaft für pränatale Chirurgie, ihr Streben danach, immer die Besten zu sein, ihr gegenseitiges Wetteifern, die eindeutige körperliche Anziehung zwischen ihnen … Vielleicht hatte all das ja einfach nur gute altmodische Lust ausgelöst.

Lizzy wollte mit ihm nicht über Gefühle reden oder über die Vergangenheit. Solche Dinge hatten ihre Beziehung niemals geprägt. Und vielleicht war es noch nicht mal eine Beziehung gewesen.

Das, was sie früher für Leon empfunden hatte, war dasselbe wie jetzt. Eine intensive, geradezu triebhafte Anziehung. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie beim letzten Mal zwei Jahre zusammen verbracht hatten, während es diesmal nur eine einzige Nacht war.

Lizzys Körper reagierte ebenso stark auf ihn wie bei ihrer allerersten Begegnung. Die Funken sprühten, als hätte es die sieben Jahre dazwischen gar nicht gegeben.

Nach der Zeit in New York hatte Lizzy in einer heimlichen Ecke ihres Herzens immer daran geglaubt, dass aus ihrer Beziehung vielleicht die große Liebe geworden wäre, wenn sie ihr eine echte Chance gegeben hätten.

Tatsächlich war sie selbst genauso bindungsscheu gewesen wie Leon, obwohl sie ihm nie den Grund dafür erzählt hatte. Warum sollte man jemanden mit der eigenen unglücklichen Kindheit belasten, wenn die Beziehung vor allem darauf beruhte, gemeinsam die Welt der pränatalen Chirurgie zu erobern?

Doch nun hatte der Beruf sie beide hierhergeführt, zu dem wichtigsten Kongress auf ihrem Fachgebiet. Und wieder fühlten sie sich voneinander angezogen wie die Motten vom Licht. Allerdings hatte Lizzy nicht die Absicht, sich von einer Nacht mit Leon ihre Selbstachtung zerstören zu lassen. Jahrelang hatte sie sich Vorwürfe gemacht, sich damals in ihn verliebt zu haben, obwohl sie sich geschworen hatte, es nicht zu tun.

Nein, heute Nacht würde sie sich beweisen, dass die Verbindung zwischen ihnen rein körperlicher Natur war, sonst nichts.

Keiner von ihnen wollte sich Gefühle eingestehen, die allzu beängstigend waren.

Lizzys Blick ging zu der Hotelzimmertür. Flitterwochensuite.

Leon sah, wie sie die goldfarbene Aufschrift las. Ihre Blicke trafen sich mit einer ungeheuren Intensität, die Lizzy wie flüssiges Feuer durchströmte. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so gefühlt. Außer Kontrolle.

„Ein Upgrade“, meinte sie ironisch.

Leon zuckte die Achseln. Solche Upgrades war er gewohnt. Der typische Cassanetti-Effekt. Er hob ihr Kinn, um sie zu küssen.

Doch Lizzy schob ihn lächelnd von sich. Sie hatte vor, sich eine perfekte Nacht voller Leidenschaft zu gönnen und danach die ganze Sache ein für alle Mal hinter sich zu lassen.

Sobald sie Leon beim Festdinner des Kongresses gesehen hatte, schien nur eine einzige Empfindung ihr ganzes Sein zu beherrschen. Begehren.

Sie hatte geglaubt, ihn nie wiederzusehen. Bei seinem Anblick war ihr schwindelig geworden, und sie war gleichzeitig ängstlich und aufgeregt gewesen. Ein ungeheurer Energieschub hatte sie erfasst. Entschlossen hatte Lizzy versucht, diese Gefühle abzuschütteln. Heute Abend ging es um ihre Karriere, und sie war die Hauptrednerin.

Leon hatte sich aus der Gruppe von Leuten gelöst und war direkt auf sie zugekommen. Er hatte ihre Hand genommen und wortlos an die Lippen gehoben.

Lizzy hatte ihn begrüßt, und zwar erstaunlicherweise ohne jede Bitterkeit. Danach waren sie den gesamten Abend über zusammengeblieben. Sie hatten nur wenig miteinander geredet. Irgendwie war das nicht nötig gewesen. Lizzy hatte sich nur mit einem kurzen Blick auf Leons Hand davon überzeugt, dass er keinen Ring trug. Genau wie sie.

Eine Weile lang hatten sie ihren Kollegen noch zugehört, während ihre Hände sich gelegentlich berührt, ihre Blicke sich getroffen und die prickelnde Spannung zwischen ihnen immer stärker geworden war. Bis zu dem Moment, als sie sich von der Menge entfernten und Leon seine Finger mit Lizzys verschränkte. So wie damals, als sie sich in einen Rufbereitschaftsraum geschlichen hatten, um sich zu bestätigen, was beide schon seit Monaten gewusst hatten.

Sie begehrten einander.

Und heute Abend war es nicht anders. Er wollte sie ebenso sehr wie sie ihn. Und sobald sie ihr körperliches Begehren befriedigt hatte, konnte sie sich ein für alle Mal von Leon Cassanetti befreien.

Ein erotischer Schauer überlief sie, als er seine Hand über ihre Taille gleiten ließ und dabei den Hüftausschnitt streifte, der ihre bloße Haut zeigte. Unwillkürlich stieß sie einen leisen Seufzer aus.

Erneut begegneten sich ihre Blicke, und während Leon weiter nach seiner Schlüsselkarte suchte, nutzte Lizzy die Gelegenheit, um ihn wirklich zu betrachten. Ihr Herz machte einen Sprung, doch dann rief sie sich wieder zur Vernunft. Hier ging es nicht um die Rückkehr zu einer unerwiderten Liebe, sondern darum, endgültig damit abzuschließen.

Nun ja, und um Lust …

Eine Nacht heißer Sex bedeutete ja nicht zwangsläufig, die Narben von damals wieder aufzureißen. Egal, was ihr Vater sagen mochte, sie war eine moderne Frau. Eine moderne Frau mit modernen Bedürfnissen. Genau wie beim letzten Mal würde Leon nach Rom zurückfliegen und sie nach Sydney. Nur dass diesmal sie zuerst gehen würde.

Es war kurz nach Mitternacht.

Lizzy blickte auf die geschlossene Tür, ehe sie Leon ansah. In seinen Augen erkannte sie sein Begehren. Eine Leidenschaft von derselben Intensität wie die Liebe, die sie all die Jahre gefangen gehalten hatte.

Sein Begehren war wie ein Rausch. Genau deshalb hatte Lizzy in den letzten Jahren kein Interesse an anderen Männern gehabt. Auch wenn sie es niemals zugegeben hätte, jener Moment, als Leon sich vor fünf Jahren umgedreht hatte und gegangen war, hatte sich angefühlt, als hätte er ihr das Herz aus der Brust gerissen. Dabei war es im Grunde ihre eigene Schuld, weil sie geglaubt hatte, man könnte Gefühle einfach an- und abschalten. Sie hatte sich an den Funken Hoffnung geklammert, dass er sie bitten würde, mit ihm nach Rom zu gehen.

Jetzt waren sie hier. Fünf Jahre später, ein bisschen älter, ein bisschen klüger. Wie geplant, hatte Lizzy Karriere gemacht und hatte nun eine großartige Stelle als Spezialistin für Fetalchirurgie. Sie galt als eine der Besten ihres Fachgebiets. Leon hingegen hatte gerade die Leitung der pränatalen Abteilung des renommiertesten Kinderkrankenhauses in Rom übernommen.

Er war noch attraktiver, als sie ihn in Erinnerung hatte. Fantastisch.

Noch immer fiel ihm sein dunkles, welliges Haar in die Stirn und bis zum Kragen. Es war nicht so schwarz wie das vieler Römer, da sein Vater Däne war. Doch Leons Augen waren absolut italienisch. So dunkel wie der starke Espresso, den er immer getrunken hatte, wenn der Wecker für einen weiteren Tag im Krankenhaus zu einer unzivilisierten Zeit klingelte.

Mit siebenunddreißig wirkte er noch immer jung und vital, doch er besaß auch die Ausstrahlung eines „richtigen Mannes“, wie ihr Vater solche Männer beschrieb, die er bewunderte. Männer, die die Zügel in der Hand hielten und den Frauen sagten, was sie von ihnen wollten und was nicht.

Mit einem Lächeln zückte Leon schließlich seine Karte. Dann kam er einen halben Schritt auf Lizzy zu. Die Hand an ihrer Hüfte, blickte er sie fragend an. „Lizzy, bist du dir sicher? Wir müssen das nicht tun.“

Anstatt einer Antwort nahm sie ihm die Schlüsselkarte ab und hielt sie an das elektronische Schloss, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Ein grünes Licht leuchtete auf, und die Tür klickte.

Ein Lächeln umspielte seine vollen Lippen. Es hatte ihm immer gefallen, wenn Lizzy die Führung übernahm.

Ja, sie wollte ihn. Seit fünf Jahren.

Ihr Rücken fühlte sich unter seiner Berührung warm und prickelnd an, als Leon ihr die Tür aufhielt und sie hineinführte.

Von diesem Schlafzimmer im zwanzigsten Stock aus funkelten die hellen Lichter Manhattans wie Sterne, was dem Raum einen magischen Zauber verlieh. Doch die erotischen Funken, die zwischen ihnen hin- und herflogen, brauchten keine Verstärkung von außen.

Während Lizzy so tat, als würde sie sich für die Aussicht interessieren, stand Leon hinter ihr. Tatsächlich betrachtete sie jedoch sein Spiegelbild im Fenster. Heute Nacht wollte sie den dunklen Geist loswerden, der sie schon viel zu lange begleitete.

Sie erschauerte, denn Leon strich ihr sanft das schulterlange Haar zur Seite, damit er ihren Nacken mit federleichten, sinnlichen Küssen bedecken konnte. Lizzy spürte seine Lippen auf ihrer Schulter, an dem schmalen Träger ihres Kleides. In einer einzigen raschen Bewegung streifte Leon ihr beide Träger herab, wodurch das Kleid zu Boden glitt. Gleich darauf waren sie Haut an Haut, ihre Atmung wurde schneller, erregter und die Küsse so intensiv und verzehrend, dass die ganze Welt um sie herum versank.

Ja, es war die richtige Entscheidung. Im Augenblick zählte nur Leon. Wenn der Morgen kam, würde sie aufstehen, ihm einen Abschiedskuss geben und diesem Mann, der ihr Herz viel länger in Beschlag genommen hatte, als er verdient hatte, Lebewohl sagen.

2. KAPITEL

„Dottore Cassanetti?“

Leon, der bereits seit einiger Zeit ein fetales Herzultraschallbild betrachtete, blinzelte flüchtig. Dann sah er zu der Krankenschwester hinüber, die offenbar schon eine ganze Weile versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Er tippte auf den Bildschirm und erklärte: „Schwierige Sache, Constanza.“

Fetalchirurgie war nie einfach. Aber eine Herzoperation bei einem sechsundzwanzig Wochen alten Baby im Mutterleib erhöhte den Schwierigkeitsgrad derart, dass nur wenige Spezialisten für pränatale Herzchirurgie damit umgehen konnten. Leon war einer davon. Und die einzige andere Chirurgin, der er vertraute, befand sich auf der anderen Seite der Welt.

Wieder einmal spielten ihm seine Augen einen Streich, wie so oft seit seiner Rückkehr aus New York. Ein strohblonder Schopf tauchte kurz hinter Constanzas Schulter auf, begleitet von dem Hauch eines blumigen Parfums. Doch jedes Mal, wenn Leon nachschaute, ob sie es war, war natürlich niemand dort.

Entschlossen räusperte er sich und zwang sich dazu, sich zu konzentrieren. Er hatte sich seinen Platz in der pädiatrischen Medizin auf die altmodische Art verdient. Nämlich, indem er sich mit jeder Faser seines Seins der Arbeit verschrieben hatte.

Von Kindheit an hatte seine Mutter ihm eingebläut, wie wichtig es war, sich auf sich selbst zu verlassen, und wie sehr die Liebe schiefgehen konnte. Beziehungen hielten nicht lange, der Beruf dagegen schon. Sie war mit gutem Beispiel vorangegangen und hatte all ihre Energie in ihren Job bei einer Kunstgalerie gesteckt, nachdem die Beziehung mit Leons Vater in die Brüche gegangen war.

Auf diese Weise vorgewarnt, und weil er selbst niemals den Groll und die Verbitterung erleben wollte, die seine Mutter in sich trug, hatte Leon seine Zukunft genauestens vorhergeplant. Studium in England. Die medizinische Fakultät in Harvard. Assistenzzeit in der Chirurgie am Lehrkrankenhaus der Columbia University in New York City, um so viele Kontakte wie möglich zu knüpfen, bevor er in seine geliebte Heimatstadt Rom zurückkehrte. Und danach eine Stelle als Kinderkardiologe am St. Nicolino-Krankenhaus, einem der angesehensten Kinderkrankenhäuser auf der ganzen Welt.

Dem historischen Gebäude mit seinen Steinmauern sah man nicht an, was es in seinem Innern beherbergte: ein hochtechnologisches medizinisches Zentrum, in dem einige der kompliziertesten Fälle von überallher behandelt wurden. Die Mitarbeiter hier waren leidenschaftlich bei der Sache, vereint in ihrem Bestreben um die bestmögliche vor-und nachgeburtliche medizinische Versorgung.

Der Tag, an dem Leon die Leitung der pränatalen Abteilung übernommen hatte, war einer der stolzesten Momente seines Lebens gewesen. Was konnte schöner sein, als ein hervorragendes Team medizinischer Fachkräfte zu leiten, die Müttern und ihren ungeborenen Babys dabei halfen, ein erfülltes, gesundes Leben zu führen?

Jemanden zu haben, mit dem man es teilen konnte?

Rasch verdrängte er den Gedanken. Für Beziehungen war er einfach nicht geschaffen.

Nun ja, vielleicht stimmte das nicht ganz. Das Wiedersehen mit Lizzy hatte zahllose Fragen in ihm ausgelöst, die ihn hartnäckig verfolgten und sein bisheriges Lebensprinzip infrage stellten.

Arbeite hart und spiele auf eigene Gefahr.

Abgesehen von der Assistenzzeit in New York hatte er sich immer danach gerichtet. Das war die einzige Möglichkeit, einen solchen Schmerz zu vermeiden, wie ihn seine Mutter hatte ertragen müssen, als sein Vater sie beide vor fast dreißig Jahren verlassen hatte.

Einmal war Leon nach Dänemark geschickt worden, um den Sommer bei ihm zu verbringen. Sein Vater hatte ihm jedoch sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht als Teil der Familie betrachtet wurde. Tatsächlich hatte er die Anwesenheit seines Sohnes kaum zur Kenntnis genommen, nicht einmal mit einem einzigen Lächeln.

Danach war Leon nie wieder nach Dänemark zurückgekehrt, und er hatte die schmerzliche Erfahrung dieses Besuchs mit derselben chirurgischen Präzision aus seinem Leben herausgeschnitten, die er täglich anwendete. Sauber, ordentlich und dauerhaft.

Deshalb besaß er den Ruf, sich auf Terrain vorzuwagen, bei dem andere Chirurgen zögerten. Er führte Eingriffe durch, über die andere Kardiologen nur Berichte lasen. Seit seiner Reise nach New York war er allerdings auch der einzige Spezialist für Fetalchirurgie, der seine Freizeit damit verbrachte, vom Sex mit einer Frau zu träumen, die er vermutlich nie wiedersehen würde.

Lizzy Beckley.

In dieser Nacht war sie voller Leidenschaft gewesen. Genau wie er. So als ob alles nur darauf hingeführt hätte, dass er und Lizzy für ein paar Stunden ein fantastisches Liebesspiel miteinander haben konnten. Noch nie hatte Leon sich mit einem anderen Menschen so intensiv verbunden gefühlt.

Beim Aufwachen war er allein gewesen.

Er hatte den scharfen Schmerz ihrer Abwesenheit so heftig gespürt, dass es ihm seitdem schwerfiel, richtig tief durchzuatmen.

Ungeduldig trommelte Constanza mit den Fingern auf ihre Hüften.

Leon warf einen letzten Blick auf das EKG. Die Zukunft eines Kindes hing von seiner zielsicheren Konzentrationsfähigkeit ab. Diese Tagträumereien mussten aufhören. Es tat ihm nicht gut, und außerdem hatte Lizzy sehr deutlich gemacht, dass sie ihr Leben weitergelebt hatte. Das musste er respektieren, auch wenn es ihn in den Wahnsinn trieb.

„Könnten Sie bitte in die Radiologie mitkommen?“, wiederholte Constanza nicht unfreundlich.

Sie war offensichtlich an in Gedanken versunkene Ärzte gewöhnt und daher sehr geduldig. Leon folgte ihr den Korridor entlang zur Radiologie, wo er schon zahllose Stunden damit verbracht hatte, Röntgenaufnahmen, EKGs und Ultraschallaufnahmen zu studieren, ehe er seine hochkomplizierten Eingriffe vornahm.

In einer der schwierigsten Phasen des Krankenhauses hatte Constanza ihrem Namen, der Beständigkeit bedeutete, alle Ehre gemacht. In den Tagen von Covid-19, als es auf eine so beängstigende Weise um Leben und Tod ging, wie es noch keiner von ihnen jemals erlebt hatte. Abgesehen von Constanza, die aus einem vom Krieg zerrütteten afrikanischen Land stammte. Sie meinte, sie hätte einem echten Feind ins Auge geblickt und überlebt. Von einem unsichtbaren Feind würde sie sich ebenso wenig einschüchtern lassen.

Als er gesehen hatte, wie Familien aus Angst vor dem Virus zu den schmerzlichsten und schlimmsten Zeiten auseinandergerissen wurden, war Leon dankbar dafür gewesen, keine eigene Familie zu haben, um die er sich Sorgen machen musste. Keine Kinder, um deren Zukunft er fürchtete. Mit seinem großartigen Team hier im St. Nicolino rettete er jeden Tag Leben. Und dann ging er nach Hause zu seinem sauberen, ruhigen Zufluchtsort, um sich für den nächsten Tag zu regenerieren, an dem er erneut an die Grenzen des medizinisch Möglichen ging.

Kurz gesagt, er war ein Mann, der die Träume seiner Mutter erfüllt hatte. Sie hatte dafür gesorgt, dass ihr Sohn sich auf niemand anderen verließ, weil sie davon überzeugt war, es wäre besser so. Wenn man sich auf andere Menschen verließ, wurde man bloß enttäuscht. Falls man seinen erotischen Bedürfnissen nachgeben wollte, musste man darauf achten, sich zu trennen, solange man noch dazu imstande war.

Am meisten hatte sich seine Mutter über das Fachgebiet gewundert, das Leon gewählt hatte. „Wieso willst du dein Leben mit Dingen verbringen, die du selbst nie gewollt hast?“, hatte sie gefragt. „Mit Kindern, Familien.“

Das hatte er immer lachend abgetan. Aber seit ihrem Tod vor einigen Monaten fühlte es sich manchmal unbehaglich an, in seine leere Wohnung zurückzukehren, nachdem er den Tag mit schwangeren Frauen, besorgten Vätern und neugeborenen Babys verbracht hatte. Seine Mutter war ohne einen Geliebten oder Lebensgefährten an ihrer Seite gestorben.

Seit ihrem Tod spürte Leon eine große Leere in sich. Nicht weil er sie vermisste, denn dazu hatte sie ihn nie nahe genug an sich herangelassen. Sondern es war eher eine Art Sehnsucht. Ein schwarzes Loch, das sich in seinem Inneren aufgetan hatte und mit Licht gefüllt werden wollte.

Mit dem Licht von Lizzy.

Wie er es geschafft hatte, vor der einzigen echten Beziehung wegzulaufen, die er jemals gehabt hatte, war ihm unbegreiflich. Wahrscheinlich, weil er zu jung gewesen war. Zu naiv. Eigentlich hatte er bezweifelt, dass Lizzy ihre unausgesprochene Vereinbarung einhalten würde, am Ende der gemeinsamen Assistenzzeit getrennte Wege zu gehen, ohne Tränen oder Reue. Aber sie hatte es getan.

Damals hatte es ihm nicht allzu viel ausgemacht.

Und diesmal war er davon ausgegangen, dass er nach ihrer gemeinsamen leidenschaftlichen Nacht erfrischt und voller Energie wieder an seine Arbeit zurückgehen würde. Doch zum ersten Mal war eine Nacht nicht genug gewesen. Längst nicht genug. Und nun wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte.

„Dr. Lombardi wartet auf Sie.“ Constanzas Tonfall deutete darauf hin, dass sie ihren Satz wiederholen musste. Schon wieder.

Giovanni Lombardi war einer der besten Chirurgen, mit denen Leon je zusammengearbeitet hatte. Seit vier Jahren verwitwet, hatte sein Kollege ein süßes kleines Mädchen namens Sofia. Das gesamte Krankenhaus war vernarrt in die Kleine, aber vor allem Giovanni, dessen Welt sich im Grunde nur um sie und seine Arbeit drehte.

Dennoch zog der Mann die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich. Leon hatte keine Ahnung, ob manchmal auch irgendetwas daraus wurde. Er hielt sich absichtlich immer von den Gesprächen nach einer Operation fern, da jede Unterhaltung unweigerlich bei ihm und seinem auffälligen Mangel an Privatleben landete. Manche Kollegen betrachteten dies als Schwäche, er hingegen empfand es als Stärke.

Si. Natürlich. Scusi, Constanza. Ich …“ Er machte eine unbestimmte Handbewegung, woraufhin die Krankenschwester die Augen verdrehte.

In den letzten paar Wochen hatte er diese Reaktion bei seinen Kollegen häufiger gesehen. Dabei benötigte Leon seine gesamte Konzentration, vor allem bei dem neuen Fall, den Giovanni mit ihm besprechen wollte.

Eine Stunde später floss Adrenalin durch seine Adern, und sein Geist war glasklar. Giovanni hatte ihm eine einmalige Chance geboten: eine pränatale Operation bei siamesischen Zwillingen. Die Liste möglicher Komplikationen war ellenlang, aber Leon durfte sich sein eigenes medizinisches Team zusammenstellen, um zu gewährleisten, dass alles gut lief. Er hatte die Gelegenheit, zwei kleinen Mädchen dabei zu helfen, ein gesundes, normales und hoffentlich auch glückliches Leben zu führen.

Giovanni fasste den Fall noch einmal zusammen. Es ging um eineiige Zwillinge mit zwei fast vollständigen Herzen. Das MRT der einundzwanzigsten Woche zeigte, dass die kleinen Mädchen sich eine kritische Aortenklappe teilten. Und Baby A hatte offenbar auch ein hypoplastisches Linksherzsyndrom. Ohne chirurgischen Eingriff würde das Mädchen sein Leben lang im Krankenhaus behandelt werden müssen.

Außerdem teilten sich die Zwillinge eine Brustwand, die Herzinnenhaut sowie die Leber. Diese Probleme konnten alle bei der Trennungsoperation in Angriff genommen werden, die in Giovannis Verantwortung lag. Doch die Gesundheit der werdenden Mutter, die Entbindung der Babys sowie das Linksherzsyndrom von Baby A fielen in Leons Fachbereich.

Gabrielle Bianchi, die Mutter, war achtundzwanzig Jahre alt und im fünften Monat schwanger. Sie war erst seit Kurzem verheiratet, und es handelte sich um ihre erste Schwangerschaft. Sie hatte Angst, aber da sie von einem Arzt in der Schweiz, dem sie vertraute, hierher überwiesen worden war, hofften sie und ihr Mann, dass ihre kleinen Mädchen den großen Eingriff überleben würden. Der Ehemann sollte in einem Krankenhaus-Apartment in der Nähe wohnen, während Gabrielle zur Beobachtung im St. Nicolino bleiben würde.

Erneut vertiefte Leon sich in die komplexe medizinische Fallgeschichte. Als er aufschaute, sah Giovianni ihn direkt an.

„Bist du sicher, dass du der Sache gewachsen bist?“

„Absolut.“

„Nur wenige Krankenhäuser auf der Welt haben so etwas bisher versucht.“

Leon lachte. „Und das soll mich einschüchtern?“

„Nein.“ Giovanni rieb sich über den Nacken. „Ich will bloß, dass du komplett auf diesen Fall fokussiert bist. Du weißt genauso gut wie ich, dass die Sache viel komplizierter sein wird, als die Unterlagen es vermuten lassen.“

Leon nickte. „Das ist mir klar, aber bis jetzt hast du dir noch nie Sorgen wegen meiner Konzentrationsfähigkeit gemacht.“

„War ja auch nicht nötig.“

Verärgert stieß Leon seinen Stuhl zurück und schob die Papiere von sich. „In meinem OP wurde noch kein einziger Fehler gemacht.“

„Ich weiß, aber du scheinst irgendwie …“ Giovanni brach ab.

Leon straffte die Schultern. „Spuck’s schon aus.“

Giovanni fuhr mit dem Finger über den Tisch. „Es ist nichts, was du getan hast. Aber seit du aus New York zurück bist, konnte ich die typische Cassanetti-Energie nicht mehr erkennen, die mir sagt, dass du und dein Team imstande sein werdet, euch dorthin vorzuwagen, wo noch kein anderes Kinderkrankenhaus gewesen ist. Das ist keine Kritik. Deine Arbeit war immer tadellos. Aber da ist irgendwas, was ich nicht genau beschreiben kann.“

„Ach ja?“

Giovanni warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass Leon genau wusste, was das Problem war. Und er hatte recht.

Das Problem war weiblich, eins fünfundsechzig groß, mit seidig blondem Haar, zarter Haut und einem Verstand, der den der meisten Menschen in den Schatten stellte. Von ihren überragenden chirurgischen Fähigkeiten ganz zu schweigen. Dennoch war Leon nicht in der Stimmung, darüber zu reden.

Giovanni schob ihm die Unterlagen wieder zu und stand auf. „Ich will damit nur sagen, falls es etwas in deinem Privatleben gibt, was deine Konzentration beeinträchtigt, erledige es, bring es in Ordnung oder schieb es beiseite, bis dieser Fall vorbei ist. In den nächsten drei Monaten wird sich dein Leben ausschließlich um die Bianchi-Zwillinge drehen. Falls du das willst.“

„Auf jeden Fall“, erwiderte Leon, ohne zu zögern.

„Gut.“ Giovanni schüttelte ihm die Hand. „Ich weiß, du wirst ein Team zusammenstellen, mit dem das Leben dieser Mädchen gerettet werden kann.“

Da hatte Leon plötzlich eine Idee. Vielleicht war es total verrückt, aber warum nicht? „Ich kann jeden holen?“

Giovanni nickte. „Es ist ein sehr prominenter Fall für unser Krankenhaus.“

Leon setzte eine gespielt beiläufige Miene auf. „Hast du schon mal von Dr. Elizabeth Beckley gehört?“

Giovanni schaute aus dem Fenster, wo die Wintersonne gerade in einem herrlichen Farbenspiel aus Orange- und Rottönen unterging und dabei die Vatikanstadt auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses erleuchtete. „Ich vermute, eine Spezialistin für pränatale Kardiologie. Engländerin?“

„Australierin“, erklärte Leon. „Eine der besten. Spezialisiert auf pränatale Kardiologie, aber sie hat auch eine Vielzahl anderer pränataler Operationen durchgeführt. Ich hätte sie gerne mit dabei.“

„Für die Linksherz-Operation? Wunderbar.“

„Nein, für den Rest der Schwangerschaft.“

Es gab gute Gründe dafür, während der gesamten restlichen Schwangerschaft eine Kardiologin vor Ort zu haben. Bei den siamesischen Zwillingen konnten noch alle möglichen Probleme auftreten. Allerdings wäre das sehr teuer.

Giovannis Augenbrauen schossen in die Höhe. „Gibt es niemanden hier in der Nähe?“

„Wir haben zusammen unsere Assistenzzeit in New York verbracht“, erwiderte Leon.

Giovanni nickte verstehend. „Bring mir die entsprechenden Anträge, dann kriegen wir das schon hin.“

Schlagartig merkte Leon, wie die typische Cassanetti-Energie sein gesamtes System wieder in Schwung brachte.

3. KAPITEL

Ein Smiley.

Lizzy schüttelte das Teststäbchen. Das Smiley blieb.

Auf einmal war ihre Zukunft tausendmal komplizierter geworden als drei Minuten zuvor. Sie lehnte die Stirn an die kühlen Kacheln auf der Krankenhaus-Toilette und versuchte, ihren inneren Aufruhr zu beruhigen.

Sie war schwanger.

Von Leon Cassanetti.

Oh nein. Leon war brillant, leidenschaftlich, getrieben. Jemand, der so sehr in seiner Arbeit aufging, wie Lizzy es bei keinem anderen Chirurgen erlebt hatte. Er war bindungsscheu, wollte keine Kinder, keine Familie. Und auch sie wollte er nicht.

Trotzdem …

Einen Gedanken konnte sie nicht abschütteln. Das ist deine Chance.

Tief in ihr vergraben spürte sie die Sehnsucht, einem Kind die unbeschwerte, liebevolle und unschuldige Kindheit zu schenken, die sie selbst nie erlebt hatte. Eine Zukunft voller Möglichkeiten und Hoffnungen. Auch mit ein paar Warnhinweisen versehen, ja, aber nicht so, dass er oder sie solche Angst hatte, sich auf Beziehungen einzulassen, wie Lizzy.

Die Trennung damals war nicht nur Leons Schuld gewesen. Nein, Lizzy hatte sich in den einzigen Mann im Universum verliebt, der absolut perfekt für sie war. Abgesehen davon, dass er sie nicht liebte. Er hatte seine Chance gehabt. In jener Nacht, als sie ihm eine Liebeserklärung gemacht hatte.

Bis heute war sie nicht sicher, ob er es überhaupt gehört hatte. Es war in einer belebten Bar in Manhattan gewesen, am Ende ihrer Assistenzzeit. Der Tequila war in Strömen geflossen, die Leute hatten sich umarmt und Adressen ausgetauscht. Und da hatte Lizzy sich dummerweise zu dem Mann hinübergebeugt, mit dem sie die letzten zwei Jahre verbracht hatte, und gesagt: „Ich liebe dich.“ Nicht mehr und nicht weniger. Aber er hatte nicht reagiert, deshalb hatte auch sie so getan, als hätte sie nichts gesagt.

Natürlich würde sie ihn über ihre Schwangerschaft informieren. Doch sie würde ihm auch sehr deutlich zu verstehen geben, dass weder sie noch das Kind sich in sein Leben einmischen würden. Sie wollte ihn nur darum bitten, dass sein Kind Kontakt zu ihm aufnehmen durfte.

Zum ersten Mal legte sie sich schützend die Hand auf den Bauch. Lizzy war fest entschlossen, alles dafür zu tun, dass Leon Cassanetti ihr Kind niemals so verletzen würde, wie er sie verletzt hatte. Wissentlich oder unwissentlich.

Ein paar Stunden später auf der Neugeborenen-Intensivstation lief ein Pfleger mit einem Telefon auf sie zu.

„Ein Anruf für Sie, wegen eines Jobs.“

Sehr gut, dachte Lizzy. Ein „Job“ war die Kurzform für einen schwierigen Fall, und das wiederum bedeutete, sie konnte sich zumindest vorübergehend davon ablenken, dass sie in sechs Monaten ein Baby bekommen würde.

„In Italien“, flüsterte der Pfleger ihr erfreut zu.

Mit zitternder Hand nahm sie das Telefon entgegen.

„Lizzy?“

Ihr ganzer Körper schien vor Nervosität zu vibrieren, während sie zuhörte, wie Leon ihr von den siamesischen Zwillingen berichtete und dann sagte, er würde sich geehrt fühlen, wenn sie bereit wäre, für die nächsten drei Monate zu ihm nach Rom zu kommen.

„Klar.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Nicht am Telefon. Dazu stand zu viel auf dem Spiel. In den nächsten drei Monaten würde sich ein für alle Mal entscheiden, was für ein Leben ihrem Baby bevorstand.

Diese eine leidenschaftliche Nacht hatte eigentlich dazu dienen sollen, das Kapitel Leon Cassanetti endgültig abzuschließen. Doch jetzt war alles anders.

Entschlossen richtete Lizzy sich auf. Leon befand sich vermutlich nur wenige Meter von ihr entfernt, während sie auf der Damentoilette im St. Nicolino ihr Spiegelbild anstarrte. Wie zum Teufel war sie bloß in diesen Schlamassel geraten? Ausgerechnet die zwei Menschen auf der ganzen Welt, die am wenigsten dazu geeignet waren, Kinder zu haben, bekamen gemeinsam ein Baby.

Sie versuchte, ein heiteres Lächeln aufzusetzen, aber sosehr sie ihre Worte auch einüben mochte, es würde dadurch nicht einfacher werden.

Also straffte sie sich und trat hinaus auf den Flur. Wenige Augenblicke später stand sie an der Tür zu Leons Sprechzimmer, und ihr Herz hämmerte wie verrückt.

Leon war in irgendeine Lektüre auf seinem Tablet vertieft, natürlich das neueste Modell. Und er sah ganz so aus wie der erstklassige Chirurg, zu dem er während des Medizinstudiums hatte werden wollen. In seinem Sprechzimmer gab es mehrere Hightech-Bildschirme, zwei elegante, aber bequem wirkende Lederstühle und selbstverständlich eine schicke Espressomaschine, aber ansonsten kaum etwas anderes. In diesem Krankenhaus wurde offenbar ohne altmodische Stapel an Papierkram gearbeitet.

Sein Haar wirkte etwas länger als bei ihrer letzten Begegnung, und sein Bartschatten war deutlich zu erkennen. An Silvester hatte Lizzy anscheinend die kultiviertere Version von Leon mitbekommen.

Allerdings hatte er schon immer etwas Ungezähmtes an sich gehabt, was unglaublich attraktiv wirkte. Wie die souveräne, beherrschte Sinnlichkeit eines Tigers auf der Jagd.

Lizzy klopfte an der Tür. „Leon?“

Als er sich umdrehte und sie erblickte, flammte etwas in seinen Augen auf. „Lizzy. Come stai?

Er sprang auf und war mit wenigen langen Schritten bei ihr. Er nahm sie leicht bei den Schultern, um ihr die obligatorischen italienischen Begrüßungsküsse auf die Wangen zu geben. Dabei wurde sie sofort von seinem Duft eingehüllt. Vanille und irgendetwas Würziges.

Schließlich hielt Leon sie auf Armeslänge von sich ab. „Ich wollte schon einen Suchtrupp losschicken.“

„Nicht nötig. Da bin ich.“ Ich und dein Baby.

„Hattest du einen guten Flug?“ Er musterte sie eindringlich, als würde es ihn tatsächlich interessieren.

Unwillkürlich zog sich ihr Herz zusammen. Bedeutete sie ihm womöglich wirklich etwas? Lizzy überlegte, ob sie einen Scherz über die fehlenden Erdnüsse an Bord machen sollte, beschloss jedoch, jeden Small Talk zu überspringen.

„Ich bin schwanger.“

Verdutzt schüttelte Leon den Kopf. „Scusa?“

„Entschuldige, ich wollte nicht ganz so direkt sein …“

Forschend sah er sie an, während offensichtlich gerade zahllose Fragen auf ihn einstürmten. „Es ist von mir?“, fragte er nach einer Pause.

Lizzy nickte, ihre Wangen hochrot.

„Aber wir …“

Sie nickte. Ja, sie hatten verhütet. Mit Kondomen.

Regungslos stand Leon da. So, als wäre er von einem unsichtbaren, undurchdringlichen Energiefeld umgeben. Absolute Stille.

Lizzy senkte die Lider. Als sie wieder aufschaute, gingen seine Blicke hin und her. Zweifellos rief er sich die leidenschaftlichen Momente jener Nacht wieder in Erinnerung.

Noch einmal schüttelte er den Kopf, als wollte er versuchen, die Dinge neu einzuordnen.

„Komm mit“, meinte er dann mit einem liebenswürdigen, aber leicht abwesenden Lächeln. „Du musst erschöpft sein. Was hältst du davon, wenn ich dich zuerst dem Team vorstelle und danach ins Hotel bringe, damit du dich ausruhen kannst? Dann fangen wir morgen frisch an, si? Um neun kommen die Eltern der Zwillinge. Und von da ab werden wir die Mamma hierbehalten.“

Leon hatte also nicht die Absicht, auf ihre Neuigkeit einzugehen? Oh Mann. Mit dieser Reaktion hatte Lizzy nicht gerechnet. Ärger, Freude, Verwirrung, das ja. Aber komplettes Nichtwahrhabenwollen? Das war jedenfalls nicht die Reaktion, die sie von dem Leon erwartet hatte, den sie zu kennen glaubte. Er war zwar vielleicht nicht der Typ für einen romantischen Heiratsantrag, aber er war ein freundlicher, ehrenhafter Mann. Zumindest hatte sie das gedacht.

Nun musste sie also die bittere Pille schlucken. Offenbar hatte sie ein völlig falsches Bild von ihm gehabt. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie den wahren Leon überhaupt nicht kannte.

Irgendwann hatte sie anscheinend aus der gemeinsamen Assistenzzeit in New York die Fantasie einer aufkeimenden Liebe heraufbeschworen, obwohl es in Wahrheit ganz anders gewesen war. Nämlich nichts weiter als zwei willensstarke, sexuell aneinander interessierte Chirurgen in der Ausbildung, die eine tolle Zeit damit verbrachten, miteinander zu wetteifern und sich gegenseitig auszustechen, um danach ihre aufgestaute Anspannung im Bett wieder loszuwerden. Das war alles.

Beide hatten bereits Jobangebote in anderen Ländern gehabt, noch ehe ihre Assistenzzeit vorüber gewesen war. Und keiner hatte jemals angeboten, zu dem jeweils anderen zu ziehen. Nun ja, Lizzy hatte ab und zu mal eine Andeutung gemacht, auf die Leon aber nie eingegangen war. Vielleicht hatte er diese genauso ignoriert wie jetzt die Tatsache, dass sie von ihm schwanger war.

Es war dumm gewesen zu glauben, dass es sich bei der Anziehung zwischen ihnen um Liebe handelte. Und zu glauben, mit einer weiteren Nacht alles beenden zu können, war noch dümmer gewesen.

Wie betäubt ließ Lizzy die Vorstellungsrunde über sich ergehen. Sie lächelte, schüttelte Hände und lachte, als die Kollegen ihr holpriges Italienisch lobten.

Niemals hätte sie zugegeben, dass sie die beiden ersten Jahre in Sydney damit verbracht hatte, all diejenigen medizinischen Fachbegriffe zu erlernen, die sie benötigen würde, falls Leon sie anrief. Doch der Anruf war nie gekommen. Also hatte sie ihre Träume so gut wie möglich begraben. Daher war ihr Italienisch mit der Zeit etwas eingerostet.

Zum Glück wurde sie von Leons Mitarbeitern freundlich aufgenommen, und Lizzy spürte, dass es ihr Freude machen würde, hier zu arbeiten.

Nachdem sie die Runde beendet hatten und wieder allein waren, warf Leon ihr einen höflichen Blick zu und hielt sein Telefon hoch. „Ich sag meinem Team nur schnell Bescheid, wie lange ich weg bin, um dich zu deiner Unterkunft zu bringen.“

„Ein Taxi reicht vollkommen“, gab sie rasch zurück. „Du musst mich nicht …“

„Doch, muss ich“, unterbrach er sie. „Du bist hier Gast. In meinem Krankenhaus, in meiner Stadt. Und auf gar keinen Fall werde ich zulassen, dass die Mutter meines Kindes in Rom allein unterwegs ist.“

Lizzy wusste nicht, wie sie das interpretieren sollte. Einerseits wirkte es rücksichtsvoll und freundlich, andererseits grenzte es an Kontrolle, und das konnte sie gar nicht leiden.

Er winkte ihr, damit sie ihm folgte. „Gehen wir.“

Sie hängte sich ihre große Tasche über die Schulter. „Wir leben nicht mehr in den Fünfzigern, Leon. Ich denke, du hast schon genug getan, um mir zu ‚helfen‘, vielen Dank auch.“

Als sie den verletzten Ausdruck in seinen Augen sah, bereute sie ihren scharfen Ton. Sie fühlte sich genauso verunsichert wie er. Und sie hatte ihn gerade mit einer Realität konfrontiert, die er nie gewollt hatte.

Deshalb versuchte sie es erneut. „Im Ernst, Leon. Ich komme schon zurecht. Wenn du willst, können wir uns später treffen, aber ich kann allein in mein Hotel fahren.“

„Lizzy.“ Er fasste nach ihrem Handgelenk, um sie zurückzuhalten.

Doch sie befreite sich aus seinem Griff. „Lass mich in Ruhe, okay?“

Besänftigend hielt er die Hände hoch. „Du hast mir gerade gesagt, dass du mit meinem Kind schwanger bist. Unserem Kind.“ Gereizt fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. „Du hattest Zeit, um das zu verdauen. Findest du nicht, dass ich auch ein bisschen Zeit verdient habe?“ Er atmete tief durch. „Vielleicht war meine Reaktion etwas ungeschickter, als dir lieb gewesen wäre. Aber mich wegzustoßen, hilft niemandem. Auch nicht dem Kind.“

Er hatte recht. Lizzy zwang sich dazu, Leon anzublicken und die Dinge mal aus seiner Perspektive zu betrachten. Er sah genauso erschrocken und kampfbereit, aber auch irgendwie hoffnungsvoll aus, wie ihr zumute gewesen war, als sie den Schwangerschaftstest gemacht hatte. Dadurch wurde die Sache wesentlich komplizierter. Tatsächlich hatte sie gedacht, dass es ganz einfach wäre. Sie wollte es Leon mitteilen, er würde ihr viel Glück wünschen, und sie würde nach Australien zurückkehren, um dort ihr Kind großzuziehen.

Nun schaute sie ihn direkt an. „Gut, gehen wir.“

4. KAPITEL

Leon führte Lizzy durch die geschäftigen Krankenhausflure, wobei er hoffte, dass sie nicht mitbekam, wie er zwischendurch immer wieder lächelte.

Lizzy war noch dieselbe wie früher. Hitzig, leidenschaftlich und so kampflustig wie eh und je, wenn es um altmodische Ritterlichkeit ging. Als ob das Angebot, ihr eine Tür zu öffnen, sie gleich zu einem Leben in Knechtschaft verdammen würde. Das Letzte, was Leon wollte, war es, Lizzy in „ein patriarchales System hineinzulocken, das dazu geschaffen wurde, Frauen zu unterdrücken, um männliche Egos aufzublähen“. Das waren ihre Worte, nicht seine. Vermutlich hatte es etwas mit ihrem Vater zu tun, einem führenden Kardiologen, der nicht gerade für einen liebenswürdigen Umgang mit seinen Patienten bekannt war.

Obwohl sie beide kaum über ihre jeweilige Vergangenheit gesprochen hatten, nahm Leon an, dass Lizzy kein besonders herzliches Verhältnis zu ihrem Vater gehabt hatte, sonst wäre er sicher häufiger in ihren Gesprächen aufgetaucht.

Sie am Handgelenk zu packen, war ein Fehler gewesen. Aber er hatte es ernst gemeint, dass er sie beschützen wollte, nicht nur auf Roms Straßen, sondern auch sonst. Ihre überraschende Ankündigung hatte einen instinktiven Teil in ihm angesprochen, der nicht bloß beschützen wollte, sondern dies tun musste.

Ein Kind.

Er, Leon Cassanetti, ein eingeschworener Junggeselle, der sich ganz seiner Berufung verschrieben hatte und für andere Leute neues Leben auf die Welt brachte, wusste jetzt schon tief in seinem Inneren, dass er die breite Grenze überschreiten würde, die er zwischen sich und dem Rest der Welt gezogen hatte.

Und das, obwohl er sich jahrelang darin geübt hatte, immer nur rein wissenschaftlich vorzugehen. Gefühle waren etwas, womit seine Patienten es zu tun hatten. Männer und Frauen, die aus ihm unverständlichen Gründen beschlossen hatten, ihre emotionale Ausgeglichenheit zu riskieren, indem sie ein Kind in die Welt setzten.

Seine eigene Geburt war der Anfang vom Ende der Beziehung seiner Eltern gewesen. Was also bedeutete das Kind für ihn und Lizzy?

Schnell verdrängte Leon diese Gedanken, um sich auf die Dinge zu beschränken, die im Augenblick wichtig waren. Er telefonierte mit der Anmeldung, wo Lizzy ihr Gepäck abgegeben hatte, und ordnete an, dass es ihnen per Taxi nachgeschickt werden sollte. Danach sagte er alle restlichen Termine des Tages ab, während er sich zugleich bemühte, nicht an das Motto seiner Mutter zu denken: Solange du andere Menschen auf Distanz hältst, kann nichts schiefgehen.

Auf dem Weg zur Tiefgarage, wo sein Roller stand, warf er Lizzy einen Seitenblick zu. Sie hatte leichte Schatten unter den Augen. Immerhin war sie gerade um die halbe Welt geflogen. Aber als er genauer hinschaute, bemerkte er das typische Strahlen, das ihre Schwangerschaft verriet. Ihr blondes Haar zeigte diesen besonderen Glanz, und wenn sich ihre Blicke trafen, lag eine größere Intensität darin als sonst.

Plötzlich hielt Leon abrupt inne. „Ich kann dich nicht hinfahren.“

Erstaunt sah Lizzy ihn an.

„Ich bin mit dem Roller hier“, erklärte er.

Achselzuckend erwiderte sie: „Hast du einen zweiten Helm?“

Natürlich. Und an der Anmeldung lagen auch immer zusätzliche Helme bereit. Nein, auf keinen Fall. „Ein Auto wäre sicherer.“

„Leon, ich bin nicht aus Glas.“

„Aber du bist mit unserem Kind schwanger.“

Die Arme verschränkt, fixierte sie ihn. „Interessant. Sagst du all deinen Patientinnen, dass sie bis zur Entbindung in unfallsicheren Autos fahren und sich in Watte packen sollen?“ Ihre Miene deutete darauf hin, dass ihm zwischen hier und der Abteilung für pränatale Medizin offenbar einige Gehirnzellen abhandengekommen waren.

In ihrer üblichen energischen Art fuhr sie beinahe amüsiert fort: „Du weißt genauso gut wie ich, dass Frauen seit Tausenden von Jahren mit ihren Schwangerschaften zurechtgekommen sind. Und ich schätze, hier in Rom sind schon zahllose schwangere Frauen Roller gefahren mit ihrem …“ Unwillkürlich biss sie sich auf die Lippen.

Da ging ein junges Paar mit einem Neugeborenen an ihnen vorbei, und Lizzys Augen verdunkelten sich.

„Alles in Ordnung mit dir?“

Sie vermied es, ihn anzusehen. „Ja, klar. Komm, lass uns fahren.“

Schweigend gingen sie zu dem Roller hinüber. Als Leon ihr seinen zweiten Helm gab, berührten sich ihre Finger, und für einen flüchtigen Moment erkannte er auf einmal Lizzys Verletzlichkeit, obwohl sie eine so starke Frau war. Sobald sie seinen Blick auffing, schaute sie weg.

Er wollte nicht, dass jeder seiner Vorschläge in ein Machtspiel zwischen ihnen ausartete. Er respektierte Lizzy. Sie war ihm wichtig, und sie mussten gemeinsam herausfinden, wie es weitergehen sollte.

Nachdem er ihren Kinnriemen befestigt hatte, stieg er auf und bedeutete ihr, sich hinter ihn zu setzen. Da wurde ihm schlagartig klar, weshalb sie eben gezögert hatte. Sie musste auf der Fahrt ihre Arme um ihn legen.

Sie stieg auf, wobei sie sich bemühte, so viel Abstand wie möglich zwischen ihnen zu lassen. Doch als Leon den Motor startete und losfuhr, hielt sie sich automatisch an ihm fest.

An einer roten Ampel strich er ihr leicht übers Bein. Eine Geste, die all die Gefühle ausdrückte, die er nicht in Worte fassen konnte. Leider besaß er nicht die Gabe vieler Italiener für blumige Sprache. Bisher hatte er es nie über die Lippen gebracht, eine Frau Cara oder Amore zu nennen. Nicht mal Lizzy. Stattdessen hatte er sie lieber scherzhaft Patatina, Kartöffelchen, genannt.

„Das sieht aber nicht aus wie ein Hotel.“ Sie deutete auf das Gebäude mit der Stein-und-Marmor-Fassade, vor dem Leon angehalten hatte.

„Nein, das ist mein Apartmenthaus.“

Verblüfft starrte sie ihn an. Im Allgemeinen war ihm seine Privatsphäre heilig. In New York hatten sie beide jeweils ihre kleinen Einzimmer-Apartments behalten, auch wenn die Mietpreise wahnsinnig hoch gewesen waren.

„Ich dachte, ich wohne in einem Hotel.“ Lizzys Stimme klang zurückhaltend.

„Das hier ist sinnvoller.“

„Für wen?“

„Für uns beide. Per favore. Ich habe ein Gästezimmer, du hast also deinen eigenen Bereich. Und wenn es dir wirklich nicht gefällt, bringe ich dich zum Hotel. Aber wir haben sehr viel zu besprechen.“

„Das heißt aber nicht, dass ich deshalb bei dir wohnen muss.“

„Lizzy, bitte. Ich möchte, dass du bei mir wohnst.“

Der skeptische Ausdruck, mit dem sie vom Roller stieg, entging ihm keineswegs.

Und als sie den kleinen schmiedeeisernen Aufzug betraten, der schon über siebzig Jahre alt war und sich nur sehr langsam bewegte, meinte sie gereizt: „Ist nicht gerade der größte Aufzug, oder?“

Leon blickte auf die Lücke zwischen ihnen herab. Da wurde ihm plötzlich bewusst, dass diese in sechs Monaten von Lizzys rundem Bauch ausgefüllt sein würde. Doch dann durchzuckte ihn ein unbehaglicher Gedanke. In sechs Monaten könnte sie womöglich schon wieder in Sydney sein.

„Wie geht es deiner Mutter?“, erkundigte sich Lizzy, um das Schweigen zu brechen. „Lebt sie noch in Rom?“

„Sie ist leider vor Kurzem gestorben.“

All ihre Gereiztheit löste sich plötzlich auf. „Oh, Leon, das tut mir leid. Das wusste ich nicht, sonst hätte ich …“

Er winkte ab. „Schon gut, wirklich.“

Das stimmte nicht. Tatsächlich hatte es ihn hart getroffen. Aber anders, als er erwartet hatte.

„Ich dachte immer, dass du dich ihretwegen auf pränatale Medizin spezialisiert hast.“ Lizzys Tonfall war sanft.

Leon hatte mit ihr so gut wie nie über seine Mutter gesprochen. Verneinend schüttelte er den Kopf, fragte sich aber zugleich, ob nicht doch etwas Wahres dran war. Wenn eine Mutter sich nicht wohlfühlte, litt auch das Kind, das sie in sich trug. Seine Mutter hatte einen heftigen psychischen Schock erlitten. Eine posttraumatische Belastungsstörung durch ihre Trennung. Insofern war Leon auch nicht dagegen immun gewesen.

„Hat sie weiterhin hier in Rom gelebt?“, fragte Lizzy.

Leon lächelte, dankbar für den Themenwechsel. „Ja. Ich glaube, um nichts auf der Welt wäre sie je von hier weggegangen.“

„Nein?“

Lächelnd schüttelte er erneut den Kopf. Seine Mutter hätte sicher nie einen Preis für Mütterlichkeit gewonnen, aber sie war ein echte Persönlichkeit gewesen. Eine schillernde Persönlichkeit. Und sie hatte ihm weniger über die Kraft der Liebe beigebracht als vielmehr etwas über unerschütterliche Loyalität.

Als sein Vater sie beide verlassen hatte, war sie geblieben. Sie hatte Leon ernährt, gekleidet und ihm fragwürdige Überlebensstrategien eingetrichtert, auch wenn ein Teil von ihm immer gewusst hatte, dass seine Mutter gerne genau dasselbe getan hätte wie sein Vater. Nämlich einfach weggehen und so tun, als würde ihr Kind nicht existieren.

„Sie war leidenschaftliche Römerin“, erwiderte er. „Manchmal, wenn im Sommer zu viele Touristen in der Stadt waren, ist sie auch mal ans Mittelmeer gefahren. Falls der jeweilige Freund gerade dafür passte.“

„Sie hat also nie wieder geheiratet?“

„Nein.“ Leon lachte. „Da hätte schon ein Wunder passieren müssen, ehe sie dazu bereit gewesen wäre.“

Lizzys Mundwinkel hoben sich ein wenig, doch er merkte ihr an, wie sie die Puzzleteile zusammensetzte, die ihr zuvor unbekannt gewesen waren. Ebenso, wie er kaum etwas von ihrer Kindheit wusste. Bis vor einer Stunde hatte diese unausgesprochene Regel für sie beide gut funktioniert. Aber da sie jetzt zusammen ein Kind haben würden, musste alles anders werden. Dazu gehörte auch die Art, wie er sein eigenes Leben betrachtete.

Leon hatte die Bitterkeit seiner Mutter in Bezug auf die Liebe nicht eine Sekunde infrage gestellt, weil er deren Ursache kannte. Sein Vater hatte ihr niemals einen Grund für seinen abrupten Weggang genannt. Er war einfach eines Abends vom Tisch aufgestanden, weggegangen und hatte ein Flugzeug bestiegen. Dann hatte er durch eine Sekretärin Bescheid geben lassen, dass ein Kurier seine Sachen abholen würde. Das war alles. Keine Erklärung. Kein Abschied. Nichts.

Dieser schmerzhafte Verlust hatte Leon derart erschüttert, dass er nie wieder eine so tiefe Verletzung und Zurückweisung erleben wollte. Und jetzt stand er hier im langsamsten Aufzug der Welt, zusammen mit der zukünftigen Mutter seines Kindes, die offenbar nicht wollte, dass er am Leben seines Kindes teilhatte. Eine Frau, die ihm nicht über den Weg traute.

Erneut ging sein Blick zu Lizzys flachem Bauch. Er stellte sich vor, wie er diesem Kind all das Misstrauen und die Skepsis weitergeben würde, die seine Mutter ihm eingepflanzt hatte.

Was für eine selbstsüchtige Art der Liebe. Um ihrem Kind beizubringen, dass seine Liebe niemals erwidert werden würde, musste der Schmerz seiner Mutter unendlich tief gewesen sein.

Plötzlich traf ihn die Erkenntnis, dass das, was seine Mutter getan hatte, nicht besser war als das unvermittelte Verschwinden seines Vaters. Leon hatte immer geglaubt, er würde Lizzy und sich selbst vor unvermeidlichem Schmerz schützen. Tatsächlich hatte er nur das Fundament einer möglicherweise großartigen Beziehung zerstört. Falls Lizzy eine gewollt hätte.

Ob sie jetzt wohl noch eine Beziehung mit ihm haben wollte? Die Anziehung zwischen ihnen war nach wie vor da, ebenso wie der berufliche Respekt. Aber Liebe?

Eine wohlbekannte Panik schnürte ihm die Kehle zu.

Fragend sah Lizzy ihn an. „Ist alles okay?“

„Heirate mich.“

Sie lachte laut heraus. „Du spinnst.“

„Ich meine es ernst, Lizzy.“ Leon war selbst verblüfft darüber, aber es war so. Sie konnten zusammen eine Familie sein. Entweder hier in Rom oder in Sydney. Zwar hatte er noch keine Ahnung, wie es funktionieren könnte, aber auf gar keinen Fall sollte sein Sohn oder seine Tochter eine solche Ablehnung zu spüren bekommen, wie er sie selbst erlebt hatte.

„Dich heiraten?“ Lizzy musterte ihn, als ob sie nach Anzeichen von Verrücktheit suchen würde.

„Ich wäre nicht die schlechteste Wahl.“

Wieder lachte sie, wenn auch etwas zu schnell. „Aber auch nicht die beste.“

Das traf ihn mitten ins Herz. „Gibt es jemand anderen in deinem Leben?“

Ärger flammte in ihren Augen auf. „Ich denke, mein Privatleben geht dich nichts an. Abgesehen von dem Baby natürlich.“

Instinktiv ging ihre Hand zu ihrem Bauch, als der Lift mit einem Rütteln die letzten Zentimeter zum obersten Stockwerk hinaufächzte.

Leon legte seine Hand auf ihre. „Ich werde als Vater für unser Kind da sein. Und für dich als Ehemann. Es ist das einzig Richtige, und es ist meine Pflicht.“

5. KAPITEL

„Nein!“ Lizzy lachte zwar, doch ihr Herz pochte so heftig, dass es geradezu wehtat.

Nach dieser einen Frage hatte sie sich vor fünf Jahren insgeheim gesehnt. Aber so? Eine Heirat aus Pflichtgefühl?

Ganz sicher nicht. Um keinen Preis.

Genau das hatten ihre Eltern nämlich getan. Gleich im ersten Jahr nach ihrem Studium war ihre Mutter schwanger geworden. In einem langen Gespräch zwischen ihren beiden Vätern hatten diese daraufhin eine Mussehe zwischen Lizzys Eltern arrangiert. Und ihr Vater hatte ihrer Mutter dies immer wieder unter die Nase gerieben. Er war nur aus Pflichtgefühl bei ihr geblieben. Mehr nicht.

„Was, nein?“, fragte Leon.

„Nein, ich werde dich nicht heiraten“, erklärte Lizzy mit Nachdruck. „Nicht unter diesen Umständen.“ Weil er es nicht wirklich so meinte.

„Warum nicht?“, beharrte er.

Es ist unmöglich, hörte sie eine Stimme in ihrem Inneren.

Doch in Leons Augen blitzte etwas auf. Diesen Ausdruck kannte sie von ihm. Er bedeutete, dass er eine Herausforderung annahm.

„Alles ist möglich, Lizzy.“ Das hatte er früher ständig gesagt, wenn sie gemeinsam im OP standen. „Man muss nur den richtigen Weg finden.“

Sie spürte ein winziges Schwanken, was sie jedoch entschlossen ignorierte. Leon abzuwehren, war einfacher, als ihm ihr Herz auszuschütten. Ihm zu erzählen, dass sie mitbekommen hatte, wie ihre Mutter von einer schönen, glücklichen, lachenden Frau zu einem schüchternen, ängstlichen Schatten ihrer selbst geworden war und ihre eigene, gerade erst beginnende Karriere als Sozialarbeiterin aufgab, um ihren Mann und ihre Tochter zu unterstützen.

Wie sollte Lizzy zugeben, dass ein Teil von ihr fürchtete, Leon könnte genauso sein wie ihr Vater? Unter gar keinen Umständen war sie bereit, all das aufzugeben, wofür sie so hart gearbeitet hatte, um eine Ehe voller emotionaler Unterdrückung und Kontrolle einzugehen.

Als ihre Mutter vor drei Jahren gestorben war, ohne je die Liebe zu bekommen, die sie so sehr verdient gehabt hätte, hatte sich bei Lizzy etwas verändert. Verhärtet. An jenem Tag hatte sie sich geschworen, niemals in dieselbe Falle zu tappen. Niemals eine Ehe einzugehen in der Hoffnung, dass ihr Mann letztendlich irgendwann erkennen würde, dass er sie doch die ganze Zeit geliebt hatte.

Erwartungsvoll schaute Leon sie an, doch als er Lizzys Miene sah, ließ er ihre Hand los und wartete, bis der Lift endlich die siebte Etage erreicht hatte. Dann riss er ungehalten die Lifttür auf und marschierte über den Marmorboden zu seinem Apartment.

Lizzy folgte ihm in eine erstaunlich seelenlose Wohnung. Schon ein Kunststück angesichts der Tatsache, wie unglaublich schön sie war. Deckenhohe Fenster, eine breite Flügeltür, die sich weit öffnen ließ, um den frischen Frühlingsnachmittag hereinzulassen. Dichte, farbige Teppiche dämpften den Hall des Marmorfußbodens. Makellose Sofas standen in einem perfekten Halbkreis um einen modernen Kamin. Strategisch platzierte Tulpen brachten ein paar Farbtupfer in die sonst recht eintönige Einrichtung. Und an den Wänden hingen unpersönliche Schwarz-Weiß-Fotos.

Es ähnelte eher einem Muster-Apartment als einem gemütlichen Rückzugsort. Ganz anders als Lizzys kleines Häuschen in Sydney. Das war ihr Kokon am Strand, wo sie sich nach besonders harten Fällen im Krankenhaus wieder regenerieren konnte. Ihr Kühlschrank war übersät mit Kinderzeichnungen, und ihre Fensterbretter voller Danksagungskarten an sie und ihren Untermieter Byron, einem OP-Pfleger, der auch im Kinderkrankenhaus arbeitete.

Hier hingegen gab es keinerlei Hinweis auf Leons Beruf. In Lizzys Haus hing eine ganze Wand voller Fotos von stolzen Eltern mit ihren Babys, bei denen sie geholfen hatte, sie auf die Welt zu bringen. Doch diese Wohnung hier sah aus, als ob kaum jemand hier lebte. Es fühlte sich einsam an, was ein unerwartetes Mitgefühl für Leon in Lizzy auslöste.

Der einzige Ort, der ihr gefiel, als er ihr die beiden Gästezimmer zeigte, von denen sie sich eins aussuchen durfte, sowie die offene Küche mit der unberührten Frühstückstheke, war die Dachterrasse, die einmal um das gesamte Gebäude herumführte. Sie war breiter als ein Balkon, und hier und da sah man ein paar Markisen, wodurch kleine geschützte Sitzecken geschaffen wurden. Und gleich außerhalb der Küche gab es einen Frühstücksbereich, von dem aus man den Sonnenaufgang sehen konnte, wie Leon sagte.

„Und tust du das auch?“, erkundigte sich Lizzy.

Er zuckte die Achseln. „Wenn ich gerade da bin und ihn sehe, dann ja. Sonst nicht.“

„Was machst du eigentlich, um Spaß zu haben?“

Verblüfft sah er sie an. „Spaß?“

„Ja. Du weißt schon, das, was wir früher gemacht haben, wenn wir nicht im OP waren“, gab sie zurück.

Doch Leon wirkte noch immer verwirrt. „Ich fand, die Operationen haben Spaß gemacht. Das andere dazwischen war …“ Er unterbrach sich, als ihre Blicke sich trafen.

„Das andere dazwischen“ waren immer sie beide gewesen. Wenn sie den Tag Revue passieren ließen. Die Operationen, den gelegentlichen Ärger mit Vorgesetzten und natürlich die vielen Stunden, die sie gemeinsam im Bett verbrachten.

Auf einmal fiel es Lizzy wie Schuppen von den Augen. Alles, was in New York passiert war, hatte irgendeinen Bezug zur Arbeit gehabt. Na ja, Arbeit und Sex. Wie dumm es doch gewesen war zu glauben, dass Leon sie genauso geliebt haben könnte wie sie ihn.

Sie stellte ihre Umhängetasche auf einen der Frühstückshocker. „Ja? Was wolltest du sagen? Das andere dazwischen war was genau? Ein Lückenfüller? Ohne jede Bedeutung? Nette Erinnerungen?“ Ihr Tonfall klang schärfer als beabsichtigt.

Leon rieb sich über den Nacken. „Es war toll, Lizzy. Das weißt du. Es war die Zeit mit dir.“ Er kämmte sich mit den Fingern durchs Haar. „Hör zu, du bist müde, und ich muss die ganze Sache erst mal verdauen. Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn du dich ein bisschen ausruhst. Ich gehe dann solange noch mal los und besorge uns was zu essen.“

Er öffnete die Kühlschranktür, um ihr dessen spärlichen Inhalt zu zeigen.

„Wenn du aufstehst, essen wir zusammen und besprechen alles in Ruhe“, fuhr er fort. „Morgen trifft sich das gesamte Team zum ersten Mal, damit wir die Behandlung der Zwillinge diskutieren. Und ich denke, du siehst es genauso wie ich, dass wir dafür einen guten Umgang miteinander brauchen, si?“

Am liebsten hätte Lizzy protestiert. Aber Leons mitfühlender Ton brachte sie dazu, den Jetlag wahrzunehmen, den sie bisher verdrängt hatte.

Immerhin hatte sie das Schlimmste hinter sich. Sie hatte Leon gesagt, dass sie zusammen ein Kind haben würden. Und anstatt wegzulaufen, war er geblieben und hatte ihr sogar einen Antrag gemacht. Während der Fahrt im Aufzug hatte er ihr im Grunde all das angeboten, was sie sich je von ihm gewünscht hatte. Abgesehen von seiner Liebe.

Ein ausgiebiges Gähnen war der Beweis dafür, dass Leon recht hatte und sie sich dringend ausruhen musste. Widerstrebend gab sie also nach und ging in eins der Gästezimmer, wo ein großes altmodisches Holzbett mit einer herrlich einladenden Decke sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf lockte.

Als sie einige Stunden später erwachte, fühlte sie sich angenehm erfrischt. Aus der Küche war das Klirren von Geschirr und Besteck zu hören. Ihr Handy, das sich automatisch auf die neue Zeitzone eingestellt hatte, zeigte sieben Uhr abends an.

Barfuß ging sie zur Küche, in dem T-Shirt einer Fluggesellschaft, das sie noch schnell übergezogen hatte, bevor sie eingeschlafen war. Ein abgelegtes Shirt von Byron, dessen langjähriger Lebensgefährte Pilot war.

Auch Leon hatte sich umgezogen. Statt des dunkelblauen Klinikanzugs trug er jetzt eine Jeans, die seine langen Beine zur Geltung brachte, sowie ein weißes Leinenhemd, das so perfekt saß, als sei es maßgeschneidert. Sobald Lizzy hereinkam, hellte Leons Miene sich auf. Doch als er ihr Outfit bemerkte, verdüsterten sich seine dunklen Augen.

Sie zupfte am Saum des T-Shirts und meinte verlegen: „Entschuldige, ich hätte erst duschen und mich anziehen sollen, ehe ich rausgekommen bin. Aber ich habe dich gehört und wollte mich erst vergewissern, dass ich noch genug Zeit habe, bevor du alles fertig hast.“

Er schüttelte nur vage den Kopf.

Lizzy schaute an ihrem Shirt herunter. Es war eindeutig ein Männer-T-Shirt. Dachte Leon etwa …?

„Gefällt es dir? Es ist von meinem Mitbewohner und sehr bequem zum Schlafen. Nicht so stylish wie italienische Mode, aber es erfüllt seinen Zweck“, meinte sie.

„Du lebst mit einem Mann zusammen?“

Er tat so betont gleichgültig, dass es schon wieder liebenswert wirkte. Leon Cassanetti, eifersüchtig auf einen Mann, bei dem das absolut nicht nötig war. Lizzy überlegte amüsiert, wann sie ihm verraten sollte, dass es sich bei Byron um einen sehr schwulen Mitbewohner handelte, der sich nie im Leben für Frauen interessieren würde.

Etwas zu schroff kippte Leon einige Antipasti in eine Schüssel, und lächelnd nahm Lizzy eine der herrlichen Oliven. Wieso schmeckte das Essen in Italien so viel besser als anderswo?

Leon stieß mit einem Glas gegen den Wasserhahn, wodurch es zerbrach, und warf es mit einem gedämpften Fluch in den Müll.

Na gut. Vielleicht war jetzt eine Erklärung angebracht. „Als ich vor ein paar Jahren mein Haus gekauft habe, dachte ich, es wäre klug, durch einen Mitbewohner meine Hypothekenraten zu reduzieren. Byron, einer der OP-Pfleger im Krankenhaus, hörte, wie ich mit jemandem darüber sprach, ob ich ein Zimmer vermieten sollte oder nicht. Dann hat er sich selbst bei mir gemeldet, und ich dachte, warum nicht?“

„Verstehe. Ihr seid also Kollegen?“ Leon wischte einen Tropfen Olivenöl von der Arbeitsfläche.

„Und Freunde.“

Mit mehr Kraftaufwand als nötig begann er, Karotten zu schneiden.

Lizzy hatte ihren Spaß an der Sache, auch wenn es ein bisschen gemein war.

„Ihr zwei unternehmt also Dinge zusammen?“, fragte Leon.

„Byron ist der einzige Grund, dass ich überhaupt so etwas wie ein gesellschaftliches Leben habe“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Nach ihrer Assistenzzeit in New York und nachdem sie eine Stelle am renommiertesten Kinderkrankenhaus von Sydney angenommen hatte, war Lizzy in einen Lebensrhythmus verfallen, der zu achtzig Prozent aus Arbeit, fünfzehn Prozent Schlaf und fünf Prozent Essen vorm Fernseher bestand. Doch das ließ Byron nicht zu. Er fand, das Leben wäre zum Genießen da und nicht dazu, sich DVD-Serien anzuschauen. Er meinte, Lizzy sei zu jung und hübsch, um ihre hohen Absätze an den Nagel zu hängen.

Als sie merkte, wie Leon sich abmühte herauszufinden, ob sie und Byron möglicherweise Freunde mit besonderen Vorzügen waren, hatte sie schließlich Mitleid mit ihm. Sie war ja nicht hergekommen, um grausam zu sein. „Wir gehen manchmal ins Kino oder in ein Konzert, wenn er gerade nicht mit seinem Freund loszieht, was sehr oft der Fall ist.“

Leons Schultern sackten um mehrere Zentimeter, und sein Lächeln zeigte eine Andeutung der spielerischen Fröhlichkeit, die sie früher an ihm gekannt hatte.

„Könntest du dir eventuell ein bisschen mehr anziehen?“, fragte er.

Dabei ging sein Blick zu ihren Oberschenkeln und glitt dann mit einer solchen Intensität wieder über ihren Körper hinauf, dass Lizzy spürte, wie unwillkürlich ihre Brustwarzen unter dem weiten T-Shirt hart wurden. Leon fand sie also noch immer attraktiv. Warum sie diese Möglichkeit völlig außer Acht gelassen hatte, wusste sie nicht. Sie musste schlucken. Vielleicht hatte er seinen Heiratsantrag ja wirklich ernst gemeint.

Glühende Hitze schoss ihr plötzlich in die Wangen, und da sie dem Blickkontakt mit Leon nicht mehr standhalten konnte, stürzte sie abrupt hinaus. Dann duschte sie schnell und sehr kalt, zog ihre langweiligsten Kleidungsstücke an und kehrte in die Küche zurück, bereit, ihre kleine Rede zu halten, die sie auf dem Flug geübt hatte.

„Ich bin nicht gekommen, um dich zu einer Heirat zu drängen“, begann sie.

Leon, der ihr einen Teller mit Antipasti reichte, wollte protestieren, doch sie hob abwehrend die Hand.

„Bitte, ich möchte das loswerden. Vor allem, weil ich es so lange geübt habe. Ich muss es einfach mal aussprechen, okay?“

Er nickte und schenkte ihr ein Glas Mineralwasser ein, ehe er zur Frühstückstheke kam und ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Ihr Vater hätte das garantiert nicht getan.

„Also, wie du vermutlich erraten hast, ist meine Schwangerschaft für mich genauso überraschend wie für dich. Aber wie du schon sagtest, hatte ich mehr Zeit, mich daran zu gewöhnen. Und nachdem ich sehr viel nachgedacht habe, ist mir klar geworden, dass ich das Baby unbedingt behalten will.“

Leon nickte erneut, die Brauen zusammengezogen, als hätte er eine andere Alternative nicht einmal in Erwägung gezogen. Wieder ein Pfeil, der sie mitten ins Herz traf und ihr ein warmes, flauschiges Gefühl gab. Das machte den nächsten Teil jedoch umso schwieriger.

„Ich habe vor, in Australien zu leben. Du wirst keinerlei Belastungen finanzieller oder emotionaler Art haben. Aber wenn mein Kind alt genug ist, möchte ich deine Erlaubnis dafür, dass es Kontakt mit dir aufnehmen darf. Du weißt schon, um seinen leiblichen Vater kennenzulernen.“

„Nein.“

Lizzy fuhr zurück. „Was soll das heißen … Nein?“

6. KAPITEL

Beinahe bereute Leon es, dass er sich kein Glas Wein eingeschenkt hatte. Aber es war absolut wichtig, jetzt einen klaren Kopf zu behalten.

Er nahm Lizzys Hand, wobei er sich Mühe gab, nicht schroff zu reagieren, als sie sie ihm entzog und unter der Theke in den Schoß legte. Hier ging es nicht nur um Lizzys Kind, sondern es war ihr gemeinsames Kind. Ihre gemeinsame Zukunft. Und das bedeutete, dass alles, woran Leon bisher geglaubt hatte, null und nichtig war.

Wusste er, ob er imstande war, ein guter Ehemann zu sein? Nein.

Würde er ein guter Vater sein? Vielleicht besser als sein eigener, aber das wollte nicht viel heißen. Es würde eine steile Lernkurve für ihn werden. Aber er hatte sich noch nie vor etwas gescheut, was ihm Angst einflößte. Abgesehen von Beziehungen natürlich.

Also fing er noch einmal an. „Damit habe ich gemeint, dass unser Kind nicht extra Kontakt zu mir aufnehmen muss, weil es vom ersten Tag an Teil meines … unseres Lebens sein wird. Unser Kind braucht also nicht erst mit mir in Kontakt zu treten, weil ich sowieso immer bei ihm sein werde.“

Sein eigenes Gefühl spiegelte sich in dem Ausdruck wider, den er in Lizzys Miene sah. Dieser besagte: Wo ist der echte Leon geblieben?

Doch anstatt zu lächeln und sich erleichtert zu entspannen bei der Aussicht darauf, dass sie sich die Aufgaben des Eltern-Seins teilen würden, vertiefte sich die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen.

„Leon, ich lebe in Australien.“

Er wischte das Argument beiseite. „Reine Logistik. Du könntest auch hier leben, oder ich könnte dorthin ziehen. Oder wir pendeln. Was immer nötig ist.“

„Blödsinn.“

„Che cosa?“

„Ich sagte, das ist Blödsinn. Du willst weder heiraten noch eine Familie haben.“ Mit einer Geste umfasste sie seine Wohnung. „Schau dir nur dein Apartment an. Das ist doch kein Zuhause, das man für Kinder und eine Ehefrau kaufen würde, oder?“

Leon betrachtete die Räume mit ihren Augen. Chrom. Glas. Klare, glatte Linien. Alles in perfekter Ordnung. Abgesehen von dem Pullover, den Lizzy über die Rückenlehne eines Stuhls geworfen hatte.

Merda. Sie hatte recht. Kein einziges Detail in diesem Apartment wies auf den unterschwelligen Wunsch nach einer Familie hin. Und trotzdem, seit Lizzy hier war, fühlte es sich bereits viel schöner an.

Ja, es stimmte, er mochte die Dinge so, wie sie waren. Aber ein Baby veränderte alles. „Ich könnte umziehen. Oder wir könnten uns zusammen was Neues suchen.“

Sie lachte. „Klar kannst du umziehen. Aber nicht mit mir zusammen.“ Obwohl sie lächelte, schwang ein fast grimmiger Beschützerinstinkt in ihrer Stimme mit. „Ich wiederhole: Du willst kein Vater sein, Leon. Und du willst auch nicht verheiratet sein.“

„Du doch auch nicht“, entgegnete er. „Jedenfalls nicht damals in New York.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass du mich jemals gefragt hättest!“, fuhr sie ihn an, was eine Verletzlichkeit verriet, die er ihr nie zuvor angemerkt hatte.

Oh, verdammt. Sie hatte sich gewünscht, gefragt zu werden. Aber sie hatten beide so oft von ihrer beruflichen Karriere gesprochen – ihre in Sydney, seine in Rom. Deshalb war Leon einfach davon ausgegangen, dass sie beide wirklich dasselbe anstrebten.

Lizzy, die sich mit einer Kopfbewegung das Haar über die Schulter warf, fuhr mit ihrer Rede fort: „Du müsstest deine Arbeitsweise verändern und auch dein Privatleben, so wie es jetzt ist. Überall wird Spielzeug herumliegen. Und Wäsche. Du wirst mitten in der Nacht von einem schreienden Baby geweckt, für dessen Wohlergehen du nicht bezahlt wirst. Und seien wir mal ehrlich, Leon. Das Einzige, wovon du nachts geweckt werden möchtest, ist doch dein Pieper.“

„Lizzy“, erwiderte er in beschwichtigendem Ton. „Wenn du dich verändern kannst, wieso glaubst du, dass ich es nicht auch schaffen würde?“

Sie lachte kurz auf. „Ich kenne dich.“ Ihre Züge wurden sanfter. „Ich will nicht fies sein, ehrlich nicht. Ich versuche bloß, realistisch zu bleiben. Also können wir diese ganze Sache mit der Heirat bitte einfach mal beiseitelassen?“

Leon fuhr sich übers Gesicht. Er wollte das Beste für sie tun. Und jetzt, da er einen Blick auf einen Teil von ihr erhascht hatte, der ihm zuvor verborgen gewesen war, der Teil, der sich eine langfristige Beziehung erhofft hatte …

Nein, Lizzy hatte recht. Er war weder für die Liebe noch für eine Ehe noch für die Vaterrolle geschaffen. Wie auch? Seit seiner Kindheit war ihm eingetrichtert worden, dass Liebe nur Leid brachte. Elternschaft bedeutete, im Stich gelassen zu werden. Aber wenn Lizzy, die sich früher immer sehr darüber im Klaren gewesen war, dass sie keine Kinder wollte, ihre Einstellung ändern konnte, warum sollte nicht auch er dazu in der Lage sein?

Weil sie ihn nicht dabeihaben wollte.

Sie würde viele Jahre vor seinem Vater weggehen, was in mancher Hinsicht menschlicher war. Aber in anderer Hinsicht?

Ein Aufruhr der Gefühle durchströmte Leon, während er überlegte, was er tun sollte.

Lizzy, der sein Zögern nicht entging, schlug frustriert mit der Hand auf die Marmorplatte. „Wir sprechen hier nicht über einen Hauskauf oder Karriereschritte, sondern über ein Kind. Ein Baby. Das hatte ich nicht geplant, und du ganz sicher auch nicht. Dich zu heiraten, würde die Sache auch nicht besser machen.“ Sie rieb sich über die Wangen. „Okay, was hältst du davon? Morgen konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit auf die Zwillinge. Und nach ein paar Tagen, wenn wir beide etwas klarer denken, können wir zusammen einen Ultraschall machen.“

„Du hast das Baby schon gesehen?“

Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Ich bin schließlich in der dreizehnten Woche.“

Ja, natürlich.

„Gesehen und den Herzschlag gehört“, bestätigte sie.

Leon stieß den Atem so heftig aus, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst.

Plötzlich überfiel ihn die Erinnerung an ein Paar, das in der Phase des ersten Covid-Ausbruchs nicht bei seinem Kind sein durfte, als es eine Lungenentzündung hatte. Damals hatte er sich gesagt, dass ein solcher Schmerz genau der Grund war, weshalb er keine Beziehung haben wollte. Nun erkannte er, wie sehr er sich geirrt hatte. Falls er die Sache mit Lizzy vermasselte, wäre er derjenige, der von außen zuschauen müsste, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Leon füllte Lizzys Wasserglas noch einmal auf und trank selbst einen Schluck aus seinem eigenen Glas, ehe er sagte: „Ich weiß nicht, wie die Situation in Sydney während des Covid-Ausbruchs gewesen ist. Aber vor St. Nicolino standen Menschen, die hofften und beteten, dass ihre Kinder ihre Nähe spürten. Wenn möglich, machten sie Videoanrufe, um den Kindern zu zeigen, wie nahe sie ihnen waren. Irgendwann durfte eine Bezugsperson ins Krankenhaus, aber auch dann wurde sie oft nichts ins Zimmer hineingelassen. Geschwister durften überhaupt nicht kommen. Für viel zu viele Familien kamen die Lockerungen bei den Besuchsregeln zu spät. Es war herzzerreißend. Als wäre der Tod eines Kindes nicht schon schlimm genug, konnten sie einander nicht mal trösten, wenn sich die Situation weiter verschlechterte.“

„Ja.“ Sie nickte verständnisvoll. Offenbar hatte sie Ähnliches erlebt. „Und was genau willst du mir damit sagen?“

„Der Tod meiner Mutter.“ Leon hob die Hand, um jede Beileidsbekundung abzuwehren. Er wollte etwas erklären. „Als sie starb, war es für mich schwer, überhaupt irgendetwas zu fühlen.“

Verwundert zog Lizzy die Brauen zusammen. „Was meinst du damit?“

Kopfschüttelnd antwortete er: „Es war, als hätte sie sich vor fünfundzwanzig Jahren, als mein Vater gegangen ist, in ihren eigenen Lockdown zurückgezogen. Bis zu ihrem Tod war mir nicht bewusst, wie sehr sie jede Form von Nähe abgelehnt hat, denn danach gab es kaum eine Veränderung in meinem Leben. Im Grunde bei niemandem.“

Es war erschreckend gewesen, obwohl er es nur sich selbst eingestand. Während er zusammen mit fünf Fremden ihren Sarg getragen hatte, war ihm klar geworden, wie wenig er seine Mutter kannte. Kein Wunder, dass er sein Leben auf so wissenschaftliche Weise anging. So distanziert. Es war der einzige emotionale Werkzeugkasten, den er mitbekommen hatte.

Die Arme vor der Brust verschränkt, entgegnete Lizzy: „Ich dachte, es wäre dir lieber, dich von all diesem schwierigen Gefühlszeug fernzuhalten.“

„Das stimmt. Für einen Chirurgen ist emotionale Distanz wichtig. Das weißt du ja selbst. Gefühle trüben das Urteilsvermögen.“

Sie schnaubte missbilligend.

„Auf beruflicher Ebene glaube ich daran,“, erklärte Leon. „Aber als Sohn hatte ich nie die Chance, Gefühle in Bezug auf meine Familie zu entwickeln.“

Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Als sein Vater weggegangen war, hatte er den Schmerz gespürt, im Stich gelassen zu werden. Und auch die allmähliche Abkühlung seiner Zuneigung, als seine Mutter ihm ihre eigene immer mehr entzogen hatte.

Mit den Fingern tippte er auf die Marmorplatte, ehe er zu Lizzy aufschaute. „Erst als meine Mutter so isoliert und ohne Freunde gestorben ist, habe ich gemerkt, egal, wie sehr man glaubt, dass es hilft, andere Menschen auf Abstand zu halten, es funktioniert nicht. Es bedeutet einfach, dass du allein bist, wenn du stirbst.“

Autor

Annie O'Neil
Mehr erfahren
Susan Carlisle
Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
Mehr erfahren
Deanne Anders
Mehr erfahren