Julia Ärzte zum Verlieben Band 168

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DAS KLEINE WUNDER VON ROM von SCARLET WILSON
Der Anruf kommt aus Rom: Die schöne Kinderchirurgin Autumn Fraser wird für eine sehr herausfordernde Operation angefragt. Gemeinsam mit dem umwerfend attraktiven Dr. Giovanni Lombardi! Bald geht es in der Ewigen Stadt um das gefährdete Leben von zwei Babys. Und um Autumns Herz …

HEILT LIEBE WIRKLICH ALLES? von CAROLINE ANDERSON
„Bist du blind?” Erst lacht Dr. Tom Stryker vergnügt bei Lauras Frage, als er stolpert. Es knistert zwischen ihnen wie damals; selbst dass sie Rivalen um einen Job im Krankenhaus sind, kann das nicht ändern. Doch dann geht er zum Augenarzt – was eine Katastrophe offenbart!

TRAUMDOC MIT GEFÄHRLICHEM GEHEIMNIS von SUSAN CARLISLE
So ein renommierter Mediziner! Die junge Ärztin Shay ist verblüfft – und misstrauisch. Warum nur will der weltmännische Traumdoc Matt Chapman ausgerechnet in ihrem kleinen Krankenhaus in der Provinz arbeiten? Instinktiv spürt sie, dass Matt ein gefährliches Geheimnis hat …


  • Erscheinungstag 26.08.2022
  • Bandnummer 168
  • ISBN / Artikelnummer 8031220168
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Scarlet Wilson, Caroline Anderson, Susan Carlisle

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 168

SCARLET WILSON

Das kleine Wunder von Rom

Sie ist die Richtige! Für eine Operation von siamesischen Zwillingen nimmt der Top-Chirurg Giovanni Lombardi Kontakt mit der erfahrenen Kinderchirurgin Dr. Autumn Fraser auf. Keine Sekunde denkt er dabei an ein privates Glück! Schließlich ist er mit seinem Job verheiratet. Doch dann lächelt die schöne Schottin ihn das erste Mal an …

CAROLINE ANDERSON

Heilt Liebe wirklich alles?

Nur einer kann den Job im Krankenhaus bekommen! Ausgerechnet mit Dr. Tom Stryker rivalisiert Laura um den medizinischen Posten. Nie hat sie vergessen, wie heiß das Verlangen damals zwischen ihnen loderte. Und noch bevor die professionelle Entscheidung fällt, wird die Leidenschaft zwischen ihnen erneut übermächtig – mit süßen, hochriskanten Folgen …

SUSAN CARLISLE

Traumdoc mit gefährlichem Geheimnis

Ein Arzt im Zeugenschutzprogramm: Bis er in Chicago gegen einen kriminellen Clan aussagt, taucht er unter dem falschen Namen „Matt Chapman“ unter. Niemand darf wissen, wer er ist. Doch als er in einem Landkrankenhaus am Mississippi zu arbeiten beginnt, verliebt er sich in seine junge Kollegin Shay Lunsford. Und bringt sie damit in Lebensgefahr!

1. KAPITEL

Es geschah innerhalb weniger Sekunden. Als Autumn sah, wie ihre Kollegen Sharon und Gavin sich während der Rede des Brautvaters zulächelten, wurde ihr schlagartig etwas klar.

Es war wie ein riesiger Neonpfeil, der auf das Brautpaar zeigte. Die Art, wie sie einander in diesem Moment anschauten. Liebe. Verbundenheit. Das Versprechen. Das Leben, das sie sich zusammen erhofften. All das in diesem einen Sekundenbruchteil.

Autumn Fraser musste unwillkürlich schlucken. Ihr Mund wurde trocken, während sie ihr korallenrotes seidenes Brautjungfernkleid glatt strich. Mechanisch griff sie nach dem Glas vor sich, um einen großen Schluck daraus zu trinken, verzog jedoch beinahe das Gesicht, weil der Wein schon zu warm geworden war.

Da es sich um eine recht zwanglose Hochzeitsfeier handelte, hatte sie zu dem Zeitpunkt, als die Reden begannen, die Brauttafel verlassen und sich neben Louis gesetzt. Der Mann, mit dem sie seit einem Jahr zusammenlebte.

Sie führten ein bequemes Leben. Durch ihren Beruf als Spezialistin für pädiatrische Chirurgie war Autumn oft rund um den Globus unterwegs, um bei besonders schwierigen Operationen zu helfen. Und als Neurologe war Louis genauso beschäftigt wie sie. Manchmal kam es ihr so vor, als wären sie wie Schiffe, die einander nachts passierten. Seit ihrer Begegnung vor ein paar Jahren waren sie eine lockere Beziehung eingegangen. Autumn mochte Louis, sehr sogar. Doch in diesem Augenblick empfand sie ein unbehagliches Gefühl in ihrer Herzgegend.

Bei einem Seitenblick bemerkte sie, wie auch er das Brautpaar eindringlich musterte.

„Wir sehen nicht so aus“, flüsterte sie kaum hörbar.

Ohne sie anzuschauen, sagte er leise: „Nein, tun wir nicht.“

Es war ein Eingeständnis von beiden Seiten. Zum Teil war Autumn erleichtert darüber, dass Louis es ebenfalls wusste, aber irgendwie spürte sie auch eine große innere Leere.

Schweigen trat zwischen ihnen ein, und Autumn versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie war nicht traurig, wirklich nicht. Aber Louis war ein netter Kerl. Ein intelligenter Gefährte, der sie zum Lachen brachte. Der in vielerlei Hinsicht fürsorglich war, aber auch einige nervige Eigenschaften besaß.

Sie wollte ihn nicht verletzen. Aber war nicht noch viel schmerzlicher, in einer Beziehung zu verharren, die für keinen der Beteiligten das Richtige war?

Im vergangenen Jahr hatten sie einfach so vor sich hingelebt, in einer eher zweckmäßigen Beziehung. Autumn war zu Louis gezogen, ohne jedoch ihre eigene Wohnung zu vermieten. Hatte sie möglicherweise immer geahnt, dass es zu dieser Situation kommen würde?

Die immer sehr angespannte schwierige Ehe ihrer Eltern hatte auf Autumn abgefärbt. Kontrolle war ihr unglaublich wichtig. Und wenn man sich verliebte, richtig verliebte, verlor man die Kontrolle. Sie war Chirurgin. Aufgrund von Gefühlen Kopf und Herz zu verlieren, das war in ihrem Leben einfach nicht vorgesehen.

Deshalb fühlte sie sich jetzt auch so verwirrt. Denn der Blick, den Sharon und Gavin eben miteinander gewechselt hatten, zeigte eine reine, unverfälschte Liebe. Genau das wünschte Autumn sich auch. Egal, wie sehr sie sich das Gegenteil einzureden versuchte.

Vielleicht lag es an den anderthalb Gläsern Wein, die sie getrunken hatte, dass sie durch die Mauern hindurchschauen konnte, die normalerweise ihr Herz fest umschlossen hielten. Diese plötzliche Erkenntnis erschreckte sie und brachte sie völlig durcheinander.

Ihre Eltern hatten weder ihr oder ihrem Bruder noch sich gegenseitig jemals direkt ihre Liebe gezeigt. Stattdessen waren die Kinder immer sehr schnell für jede Gefühlsäußerung getadelt worden. Freude, Liebe, Schmerz mussten grundsätzlich unterdrückt werden. Beide Elternteile hatten sich ausschließlich auf ihre akademische Karriere konzentriert. Da gab es keinen Platz für Emotionen. Sie waren davon überzeugt gewesen, dass jeder Mensch nur danach streben sollte, der Allerbeste in seinem Fach zu sein und alles andere beiseitezuschieben. Gefühle waren bloß Energieverschwendung.

Das hatte Autumn gelernt. Aber irgendetwas brach sich jetzt ganz unerwartet Bahn. Und ihr Herz zog sich zusammen, als sie sich Louis zuwandte. Auch er wirkte bestürzt.

Seine Stimme klang tief und brüchig. „Das will ich auch, Autumn. Ich wünsche mir dasselbe, was sie haben.“ Er schaute wieder zu Gavin und Sharon, die sich an den Händen hielten und gemeinsam über einen Scherz lachten.

Autumn legte ihre Hand auf seine. „Das wünsche ich dir auch.“ Dabei musste sie sich Mühe geben, damit ihre Stimme nicht schwankte. „Es ist Zeit, das wissen wir beide. Ich werde in meine eigene Wohnung zurückziehen.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie ihr Telefon und verließ den Festsaal. Obwohl sie den Tränen nahe war, weigerte Autumn sich, sie zuzulassen. Sie wollte es zwar nicht zugeben, aber in diesem Moment kam es ihr vor, als wäre ihr gerade eine schwere Last von den Schultern gefallen.

Giovanni Lombardi atmete tief durch, als seine Tochter Sofia auf seinen Schoß kletterte. Es war ein heißer schwüler Abend in Rom. Zu allem Überfluss hatte die Klimaanlage, für die er vor einigen Jahren ein Vermögen bezahlt hatte, mit einem merkwürdig surrenden Geräusch unvermittelt ihren Geist aufgegeben. Giovanni hatte die Fensterläden seiner Villa weit aufgerissen, doch draußen regte sich kein einziges Lüftchen.

Obwohl Sofia sich wie eine Wärmflasche anfühlte, drückte Giovanni sie an sich. Sie war sein Rettungsanker. Der wichtigste Mensch in seinem Leben.

Seine Frau war vor vier Jahren bei einem Rollerunfall auf den Straßen Roms tödlich verunglückt. Einige Monate lang hatte er das Gefühl gehabt, als würde die Welt um ihn herum zusammenbrechen. Sofia war der einzige Grund gewesen, um weiterzumachen.

„Ich mag die da, papà.“ Sie deutete auf ein Foto auf dem Computerbildschirm.

Giovanni war müde. Als Chefarzt der Chirurgie im St. Nicolino, dem renommierten Kinderkrankenhaus in Rom, arbeitete er gerade an einem der größten Fälle seiner Karriere. Das Krankenhaus war in ganz Italien als Zentrum für pädiatrische Spezialchirurgie sowie vorgeburtliche Versorgung bekannt. Vor fünf Wochen hatte er einen Fall von siamesischen Zwillingen überwiesen bekommen, der erst in der zwanzigsten Woche erkannt worden war.

Im Allgemeinen wurden derartige Fälle früher erkannt. Daher hatte er seine gesamte Aufmerksamkeit darauf konzentriert, dafür zu sorgen, dass die Bianchi-Familie die bestmögliche vorgeburtliche Versorgung erhielt. Sein Kollege Leon Cassanetti, ein Spezialist für Fetalmedizin, hatte Lizzy Beckley engagiert, die ihn bei der Entbindung unterstützen sollte. Nun war es an der Zeit für Giovanni, einen Partner oder eine Partnerin zu finden, die mit ihm gemeinsam die Trennungsoperation durchführen konnte.

Der Fall würde weltweites Aufsehen erregen. Es bestand kein Zweifel daran, dass er jeden Chirurgen, gleichgültig aus welchem Land, dazu veranlassen konnte, an dieser Operation teilzunehmen. Manche Chirurgen, die er kannte, würden vermutlich alles dafür geben. Seine oberste Priorität bestand jedoch darin, den absolut Richtigen zu finden.

Wen auch immer er aussuchte, derjenige musste bereit sein, mindestens für die nächsten vier Monate nach Rom zu kommen. Er musste mit Giovanni und etwa fünfzig weiteren Teamkollegen zusammenarbeiten, um diese Operation zu planen. Dazu gehörte es auch, viele Stunden mit intensiven Recherchen und Techniken zu verbringen sowie zahlreiche Übungsoperationen durchzuführen. Außerdem musste er oder sie die Fähigkeit besitzen, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen.

Giovanni selbst würde das eine Team leiten, und derjenige, auf den seine Wahl fiel, das andere. Es war äußerst wichtig, dass er diesem Kollegen oder dieser Kollegin vertrauen konnte, um Seite an Seite zu arbeiten. Sie mussten auf dieselbe Weise denken und fast vollständig miteinander übereinstimmen, um das Überleben beider Zwillinge sicherzustellen.

Ihm standen die Daten von Hunderten von Chirurgen auf der ganzen Welt zur Verfügung. Die beiden letzten Wochen hatte er damit verbracht, sie sorgfältig durchzugehen, um jemanden mit genau den Fähigkeiten und der Einstellung zu finden, die er benötigte. Leidenschaft und Engagement waren das Mindeste, was er erwartete.

Er beugte sich vor und betrachtete das Foto, auf das Sofia zeigte. „Ah, ja“, meinte er. „Sie heißt Autumn und kommt aus Schottland.“

Mittlerweile hatte Giovanni seine Liste auf zehn mögliche Kandidaten eingegrenzt. Alle waren brillant und imstande, eine solche Operation durchzuführen. Aber Autumn Fraser stand tatsächlich zusammen mit einem anderen Chirurgen ganz oben auf seiner Liste.

„Schottland … Da gibt es Burgen“, erklärte Sofia und lehnte sich an ihn. Sie wurde offenbar allmählich müde. „Glaubst du, da sind auch Feen in den Burgen?“

Lächelnd fuhr er ihr mit den Fingern durch die dunklen Locken. „Kann schon sein.“

„Sie ist hübsch“, stellte Sofia fest.

Giovanni war verblüfft. „Wirklich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“

Er lehnte sich nach vorn, um das Bild genauer zu betrachten. Denn er hatte seine Kandidaten ausschließlich nach ihrer Erfahrung und Kompetenz ausgesucht. Die Gesichter hatte er gar nicht beachtet.

Sofia hatte recht. Autumn Fraser war wirklich hübsch. Vielleicht sogar mehr als das. Ihr dunkles glänzendes und leicht welliges Haar ähnelte dem von Sofia. Die durchdringenden grünen Augen und der leicht gebräunte Teint mit ein paar Sommersprossen auf der Nase waren ihm jedoch völlig entgangen.

Wieder ging sein Blick zu diesen Augen. Aufrichtig, mitfühlend und mit einem Hauch von Humor. Erstaunt schüttelte Giovanni den Kopf. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt eine Frau so intensiv betrachtet hatte. Es verursachte ihm ein unbehagliches Gefühl. In den vergangenen Jahren hatte er zurückgezogen in seiner eigenen Welt gelebt, in der für derartige Gedanken kein Platz war.

„Was ist los, papà?“, fragte Sofa schläfrig an seiner Schulter.

„Nichts, Schätzchen.“ Liebevoll strich er Sofia über den Rücken, während er sich die Liste an Operationen noch einmal anschaute, die Autumn bereits durchgeführt hatte. Sie war spezialisiert auf Leber- und Unterleibsoperationen an Neugeborenen. Ihre Erfolgsbilanz war hervorragend. Sie hatte mehrere Aufsätze über Operationstechniken veröffentlicht und hielt auf der ganzen Welt Vorträge darüber, wie die Erfolgschancen solcher Kinder erhöht werden konnten.

Die meisten Leute nahmen an, die Trennungsoperation wäre der gefährlichste Moment bei der Trennung siamesischer Zwillinge. Aber auch wenn die Trennung an sich schwierig war, wussten diejenigen mit mehr Erfahrung auf diesem Gebiet, dass es noch viel schwieriger war, die zwei Babys, die häufig vollkommen unterschiedliche medizinische Probleme hatten, danach zu operieren.

Seufzend schaute Giovanni sich die Unterlagen des einzigen anderen Chirurgen an, der mit Autumns Erfolgen mithalten konnte. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein, und er kehrte zurück zu Autumns Seite.

Ja, da war es.

Er hatte die Liste der Veröffentlichungen überflogen, in der Annahme, dass alle sich auf chirurgische Themen bezogen. Aber hier gab es noch einen anderen mit dem Namen von Autumn als Forschungsleiterin: „Psychisches Trauma und seine Auswirkungen auf die Trennung siamesischer Zwillinge. Eine Langzeitstudie.“

Giovanni war verblüfft. Das hatte er zuvor übersehen. Eine schnelle Überprüfung zeigte ihm, dass der Artikel zwar in ihrem Lebenslauf aufgeführt war, allerdings erst in zwei Monaten in einer renommierten Chirurgenzeitschrift erscheinen sollte.

Er lächelte. Das Trennungstrauma solcher Kinder beschäftigte ihn schon lange. Bisher war er an zehn Trennungsoperationen von siamesischen Zwillingen beteiligt gewesen, und dies war genau der Forschungsbereich, dem er sich als Nächstes widmen wollte. Seine Kollegin war ihm da offenbar zuvorgekommen.

Rasch trug er Sofia ins Bett, wo er sie sorgsam zudeckte und ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn gab.

Sobald er sich davon überzeugt hatte, dass sie tief und fest schlief, kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück und griff nach dem Telefon.

Offenbar hatte er die perfekte Kandidatin gefunden.

Als Autumns Nachbar die Tür öffnete, wirkte er etwas fassungslos. „Autumn?“ Er musterte sie von oben bis unten, wobei er unsicher zu sein schien, ob es sich nicht um einen seltsamen Traum handelte.

Sie hatte noch immer Blumen im Haar und trug das lange korallenrote Brautjungfernkleid, das inzwischen schon etwas verschmutzt war. In der leichten Tasche in ihrer Hand befanden sich außer ein wenig Make-up nur noch ihr Telefon, ihr Portemonnaie und ihr Laptop, ohne den sie niemals das Haus verließ. Dazu noch ein Nähset für Hochzeitsnotfälle und ein bisschen Schokolade. Ihr Wohnungsschlüssel war dummerweise noch in Louis’ Haus.

„Was machst du denn hier?“

„Entschuldige die späte Störung. Ich muss in meine Wohnung und habe den Schlüssel vergessen. Hast du den Ersatzschlüssel noch?“

Barry rührte sich nicht. Noch einmal blinzelte er ungläubig und meinte mit einer langsamen Kopfbewegung: „Was hast du getan? Bist du von irgendeiner Hochzeit weggelaufen?“ Erschrocken weiteten sich seine Augen. „Etwa von deiner eigenen?“

Verneinend schüttelte Autumn den Kopf und streckte die Hand aus. Sie hatte Barry seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, aber es war spät, und sie war müde. Hoffentlich stand noch eine Flasche Wein in ihrer Wohnung. Alle anderen Lebensmittel waren mittlerweile sicher längst abgelaufen. Vermutlich konnte sie nur noch Kaffee und Teebeutel verwenden.

Noch immer schaute Barry sie an.

„Sag mal, bin ich manchmal eine Nervensäge?“, fragte sie.

„Was?“

„Ich wäre sehr froh, wenn du mir vielleicht ein paar Scheiben Brot und eine Dose Baked Beans abgeben könntest, falls du welche hast.“ Sie warf ihm ihr liebenswürdigstes Lächeln zu.

Barry schwieg verdutzt. Dann riss er sich sichtlich zusammen. „Okay, Schlüssel“, brummte er und ging in seine Küche.

Autumn hörte, wie er mehrere Schubladen und Schränke öffnete, ehe er zurückkam, ihren Schlüssel in der einen und einen Teller mit zwei Scheiben Brot, einer Dose Baked Beans sowie einigen Vollkornkeksen in der anderen Hand.

Sie seufzte erleichtert. „Danke, Barry. Du bist ein Engel.“

„Brauchst du auch Milch?“

„Nein danke.“ Das Telefon in ihrer Tasche vibrierte.

„Heißt das, du ziehst wieder ein?“, fragte Barry, als sie sich abwenden wollte.

„Ja“, antwortete sie. „War schön, dich wiederzusehen.“

Er nickte und schloss nach einem weiteren Blick auf ihr Kleid seine Wohnungstür.

Sobald Autumn ihre eigene Tür aufgeschlossen hatte, betrat sie das Apartment und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Dabei fiel ihr die abgestandene Luft auf. Da es draußen noch warm war, riss sie das große Wohnzimmerfenster weit auf und warf ihre Tasche aufs Sofa. Durch einige Verrenkungen gelang es ihr danach, auch das eng anliegende Kleid abzustreifen.

Obwohl sich der größte Teil ihrer Garderobe bei Louis befand, hatte sie noch ein paar alte abgelegte Kleidungsstücke hier, die sie schon lange nicht mehr getragen hatte. Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte sie daher in einen bequemen Schlafanzug.

Als sie in die Küche ging, fiel ihr ein, dass sie sich nicht einmal von dem Brautpaar verabschiedet hatte. Aber Sharon ging wahrscheinlich davon aus, dass Autumn zu einem Fall gerufen worden war. Also kein Problem. Autumn beschloss, den beiden morgen eine Entschuldigung zu schicken und ihnen schöne Flitterwochen zu wünschen.

Fünf Minuten später ließ sie sich mit ihren Baked Beans auf Toast und einem Becher Tee aufs Sofa fallen. Da hörte sie erneut das Geräusch aus ihrer Tasche. Ach ja, das Telefon.

Sie holte es heraus und wunderte sich über die unbekannte Nummer. Drei Anrufe hatte sie bereits verpasst.

Doch es war spät, und Autumn fühlte sich erschöpft. Sie aß einige Bissen, während sie überlegte, ob sie zurückrufen sollte.

Zwar hatte sie keine Rufbereitschaft, wurde aber trotzdem häufig angerufen, wenn Probleme mit Neugeborenen auftraten.

Sie stellte das Telefon auf Lautsprecher. „Autumn Fraser.“

Es entstand eine kleine Pause.

„Hallo? Ah, gut, Dr. Fraser. Ich glaube, ich kann Ihnen das Angebot Ihres Lebens machen.“

Die warm klingende Stimme besaß einen starken Akzent und erregte sofort Autumns Aufmerksamkeit.

„Wie bitte?“

Am anderen der Leitung hörte sie ein leises Lachen. „Verzeihung. Hier ist Giovanni Lombardi, Chefarzt der Chirurgie am Kinderkrankenhaus St. Nicolino in Rom. Sie haben sicher schon von uns gehört.“

Autumn atmete tief durch. „Was genau wollen Sie von mir, Dr. Lombardi?“

Wieder dieses leise Lachen. „Nun ja, falls Sie die E-Mails gelesen hätten, die ich Ihnen im Laufe der letzten Stunden geschickt habe, wüssten Sie genau, was ich will.“

Sie war verärgert. Wer war dieser Kerl? „Ob Sie’s glauben oder nicht, Giovanni. Es mag Sie überraschen, aber ich habe nicht den ganzen Tag herumgesessen und darauf gewartet, dass irgendwelche E-Mails bei mir ankommen. Ich hatte heute frei und war auf der Hochzeit einer Freundin. Daher hatte ich nicht vor, ans Telefon zu gehen oder Mails zu beantworten.“

Je erschöpfter und gereizter sie war, desto stärker wurde ihr schottischer Akzent, dessen war Autumn sich bewusst. Sie entschuldigte sich nicht dafür, konnte sich jedoch lebhaft die verwirrte Miene des Mannes vorstellen, während er versuchte, ihre Worte zu übersetzen.

Missmutig nahm sie ihren Laptop aus der Tasche und klappte ihn auf. Nach wenigen Sekunden sah sie eine ganze Reihe von E-Mails. Sie öffnete die erste und beugte sich vor.

Was?

Schnell überflog sie die Mail und drückte dann automatisch auf die nächste, die detaillierte Ultraschallaufnahmen enthielt. Und so ging es weiter.

Offenbar wusste Giovanni Lombardi genau, was sie tat. Denn kurz darauf erkundigte er sich: „Darf ich jetzt mit Ihrer Aufmerksamkeit rechnen, Dr. Fraser?“

Er spielte Spielchen mit ihr, und sie war so gar nicht in der Stimmung dafür.

Doch ihr Herzschlag und ihre Atmung beschleunigten sich unwillkürlich. So viele Details. So viele Informationen. Zwei kleine Mädchen, die an Herz und Leber miteinander verwachsen waren.

„Wie ist es möglich, dass man das nicht früher erkannt hat?“, fragte Autumn, wobei sie immer weiter las.

„Die Zwillinge hatten beim Ultraschall in der elften Woche die Arme umeinander gelegt. Es war ein junger unerfahrener Arzt, der glaubte, sie würden sich einfach nur umarmen.“

Dadurch war viel wertvolle Zeit verloren gegangen, das wussten sie beide. „Sind die Zwillinge jetzt bei Ihnen?“

„Ja“, antwortete Dr. Lombardi. „Nach der Entbindung werde ich die Trennungsoperation leiten. Und ich möchte, dass Sie ein zweites Team leiten.“

Autumn lächelte unwillkürlich. „Natürlich. Niemand anders hat so viel Erfahrung mit Leber-Operationen an Neugeborenen wie ich.“

Sie sprang auf, griff nach ihrem Handy und lief hinüber ins Schlafzimmer. Dort deponierte sie das Handy auf dem Bett und holte ihren Koffer vom Schrank.

Giovanni Lombardi lachte belustigt. Das war offenbar typisch für ihn. Sie versuchte, sich diesen Italiener mit der sinnlichen Stimme vorzustellen. Doch das Letzte, was sie bei einem solchen Fall gebrauchen konnte, waren irgendwelche Ablenkungen. Vor allem, da die Vorbereitungszeit so knapp war.

„Es gab noch ein paar andere“, wandte er ein.

„Unsinn. Sie wollten die Beste und haben deshalb mich gefragt. Und glücklicherweise habe ich mich gerade zur Verfügung gestellt.“

Autumn rasselte eine ganze Liste an Forderungen herunter. Keine davon war übertrieben. Diese Art von Operation würde Geschichte schreiben, und sie war ziemlich sicher, dass das Krankenhaus in Rom ihr nichts abschlagen würde.

Giovanni Lombardi sagte nur ruhig „Sì“ zu all ihren Bedingungen.

Wahllos warf sie irgendwelche Kleidungsstücke in den Koffer. „Ich möchte mein eigenes Team zusammenstellen.“ Ihre besten Sachen waren noch bei Louis, genau wie die meisten ihrer alltäglichen Habseligkeiten. Normalerweise hätte sie das alles selbst abgeholt, aber jetzt musste sie wohl einen Lieferdienst damit beauftragen.

„Selbstverständlich. Ich habe viele Mitarbeiter, die Ihnen vielleicht als geeignet erscheinen würden, aber die Zusammensetzung eines Teams ist immer Sache des leitenden Chirurgen.“

„Ausgezeichnet. Was ist mit Flügen?“

„Ich habe mir erlaubt, Ihnen für morgen einen Flug erster Klasse ab Heathrow zu buchen“, erwiderte er.

„Das wird nicht nötig sein.“ Autumn lachte. „Mir stehen meine eigenen Transportmöglichkeiten zur Verfügung. Ich werde sofort alles Nötige veranlassen. Sie können am frühen Vormittag in Rom mit mir rechnen.“

Obwohl Giovanni sie nicht sehen konnte, machte es ihr Spaß, triumphierend ihr Haar über die Schulter zurückzuwerfen. Dass ihr Bruder ein bekannter Milliardär war, behielt sie im Allgemeinen für sich. Doch sie wusste, sobald sie Ryan anrief, würde seine Firma einen Flugplan für sie erstellen, damit sie in wenigen Stunden abreisen konnte. Ryan war stolz auf seine Schwester und half ihr oft bei ihren Reisen, wenn sie wegen eines Falles irgendwohin musste. Er war einer der wenigen Menschen, die ihr Bedürfnis nach Kontrolle verstehen konnte.

Ryan hatte den entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Er war früh von zu Hause ausgezogen, um seinen Eltern zu entkommen, und hatte ein verrücktes Leben geführt. Ohne Regeln und Vorschriften. Aber dann hatte er etwas entdeckt, was ihn zum Milliardär gemacht hatte. Von da an hatte er begonnen, bereitwillig die Kontrolle zu übernehmen. Auf eine positive Weise. Dabei hatte er auch die perfekte Frau getroffen und besaß nun eine perfekte Familie. Trotz seines großen Vermögens war er immer auf dem Teppich geblieben, und er vergaß nie, sich um Autumn zu kümmern. Für sie würde er alles tun.

„Das könnten Sie schaffen?“, fragte Giovanni Lombardi erstaunt.

„Auf jeden Fall“, erklärte sie selbstbewusst. „Was halten Sie davon, wenn ich morgen früh um neun zu Ihnen ins Krankenhaus komme?“

„Neun Uhr“, bestätigte er, wobei sein Tonfall entschieden verwundert wirkte.

Es gefiel ihr, Mr. Superlässig aus dem Konzept gebracht zu haben.

Doch er hatte sich schnell wieder erholt. „Aber Ihnen ist bewusst, dass ich zunächst feststellen muss, ob Sie in unser Team passen.“

„Ich hatte noch nie ein Problem damit, mich in ein Team einzufügen, Giovanni.“ Sie bemühte sich, seinen lässigen Ton zu imitieren. „So schwierig werden Sie ja wohl nicht sein, oder?“

Er lachte. „Touché!“ Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: „Müssen Sie Ihren Einsatz bei uns mit Ihrem Krankenhaus abklären?“

„Nein“, antwortete Autumn. „Ich bin frei. Ich habe einen Sponsor. Obwohl ich in London wohne, kann ich daher völlig frei entscheiden, weltweit an jedem Fall mitzuarbeiten, der mich interessiert. Solange ich keine chirurgischen Verpflichtungen oder aktuelle Fälle zu betreuen habe.“

„Ziemlich ungewöhnlich“, stellte Giovanni skeptisch fest.

„Das stimmt. Aber mein Sponsor wird bei all meinen Veröffentlichungen erwähnt, ebenso wie bei allen Fällen, die öffentliche Aufmerksamkeit erregen.“

„Verstehe“, sagte er dann.

Autumn atmete tief durch. Tatsächlich hätte das Timing nicht besser sein können. Sie würde vier oder fünf Monate fort sein und dadurch die Gelegenheit bekommen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Genau wie Louis. Sie hoffte sehr, dass er eine Frau fand, die ihn so ansah, wie er es sich wünschte. Eine Frau, mit der er eine solche Verbundenheit spürte, wie Autumn und er sie nie erlebt hatten. Die Art von Verbundenheit, die sie zwischen ihren Freunden gesehen und sich dadurch noch einsamer gefühlt hatte als je zuvor.

Bestand die Möglichkeit für sie, so etwas auch zu finden? Mit einem leichten Frösteln verscheuchte sie diesen Gedanken. Schon vor langer Zeit hatte sie beschlossen, dass ein solcher Lebensstil niemals zu ihr passen würde. Viel zu riskant.

Diese Operation würde ihr eine einmalige Chance bieten. Daher musste sie all ihre Konzentration darauf richten. Sie wollte eine Lieferfirma damit beauftragen, ihre Sachen bei Louis abzuholen und in ihre eigene Wohnung zu bringen. Da sie unterdessen in einem anderen Land tätig war, würde die ganze Angelegenheit hoffentlich für sie beide weitgehend schmerzlos vonstattengehen.

„Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen zu dem Fall?“, meinte Giovanni. „Es gibt noch sehr viel zu besprechen.“

„Nein, ich ziehe es vor, das morgen persönlich zu tun.“

„Gut, dann freue ich mich darauf, Sie morgen früh um neun zu sehen.“ Wieder lachte er. „Allerdings hatte ich gedacht, ich müsste mir mehr Mühe geben, um Sie für uns zu gewinnen.“ Seine Stimme wurde sanfter. „Aber ich bin froh, dass Sie gerade keine anderen dringenden Fälle haben, denn diese Familie braucht Sie. Wir alle brauchen Sie.“

„Und ich freue mich über Ihre Einladung“, erwiderte Autumn.

Als er den Anruf beendete, ließ sie sich rückwärts aufs Bett fallen.

Es war wie ein Traum. Eine faszinierende Operation. Die Gelegenheit, ein wunderschönes Land kennenzulernen und dort zu arbeiten. Zeit genug, um eine Beziehung zu den Eltern dieser kleinen Mädchen aufzubauen, damit sie Autumn vertrauen konnten. Außerdem die Möglichkeit, wirklich etwas zu einem erfolgreichen Gesamtergebnis für die Babys beitragen zu können.

Und Giovanni Lombardi hatte geglaubt, er müsste sie dazu überreden. Sie fing an zu lachen.

Aus dem Fenster schaute sie zu den Sternen am dunklen Nachthimmel hinauf. „Was soll ich sagen, Giovanni? Sie hatten mich schon von Anfang an auf Ihrer Seite.“

2. KAPITEL

Unruhig lief Giovanni in seinem Büro auf und ab.

Er war ein Frühaufsteher, genau wie Sofia. Und außerdem hatte er Unterstützung von seiner Schwester, die Sofia zur Kita brachte, abholte und oft auch bei sich zu Hause betreute.

Es war acht Uhr, und Giovanni hatte sich bereits mit Leon und Lizzy getroffen, um mit ihnen über die Bianchi-Zwillinge zu sprechen. Abgesehen davon hatte er auch alle anderen Patienten auf den Stationen begutachtet, die zurzeit bei ihm in Behandlung waren. Und er hatte schon mehrere fachspezifische Anfragen aus aller Welt beantwortet.

Auf seinem Schreibtisch stand ein dampfender Kaffeebecher.

Da sah er auf einmal, wie eine schwarze Limousine vor dem Eingang des Krankenhauses anhielt. Eine Frau mit dunkelbraunem schulterlangem Haar stieg aus. Sie trug Schuhe mit flachen Absätzen, einen schwarzen Hosenanzug und eine hellrosa Bluse. Nachdem sie sich das Haar gelockert hatte, schüttelte sie dem Fahrer die Hand und wechselte ein paar Worte mit ihm. Beide lachten, und sie winkte ihm nach.

Sie hatte nur eine Tasche umgehängt und zog einen kleinen Trolley hinter sich her. Dabei sollte Autumn Fraser für vier Monate hier sein. Hatte sie es sich etwa anders überlegt?

Kurz darauf hörte Giovanni die Stimme seiner Sekretärin, und die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich.

Als Autumn Fraser eintrat, sah sie nicht aus wie jemand, der hektisch gepackt hatte und lange unterwegs gewesen war.

„Sie sind früh dran, Dr. Fraser“, begrüßte er sie. „Ich bin beeindruckt.“

Sie lächelte und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, während sie ihren Trolley mit hereinbrachte. Giovannis geräumiges Büro besaß breite Fenster, von denen aus man den Parkplatz überblicken konnte, aber auch eine herrliche Aussicht auf die Stadt hatte.

„Nicht jeder kommt in einer Limousine hier an.“ Lächelnd gab er ihr die Hand. Ihr Händedruck war warm und fest.

„Ich habe Beziehungen“, gab sie leichthin zurück. „Wenn ich unterwegs bin, möchte ich mich lieber auf den jeweiligen Fall konzentrieren, an dem ich arbeiten werde, und mich nicht durch eine anstrengende Reise belasten.“ Mit dem Kinn wies sie auf den großen Tisch an der gegenüberliegenden Seite. „Sollen wir uns dorthin setzen?“

Ehe Giovanni antworten konnte, war Autumn Fraser schon hinübergegangen und machte ihren Trolley auf. Darin befanden sich keine Kleider, wie er erwartet hatte, sondern ein Laptop und ein Haufen Unterlagen, die sie teilweise markiert hatte. War sie die ganze Nacht wach gewesen?

In diesem Moment schaute sie zu ihm auf, ein ernster Ausdruck in ihren grünen Augen. „Fangen wir am besten gleich an.“ Sie breitete ihre Papiere auf dem Tisch aus. „Ich möchte gerne einen Überblick über den Zustand der Babys bekommen und mögliche Techniken besprechen.“

Offensichtlich arbeitete sie genauso wie er, indem sie gleich zur Sache kam. Aber diesmal wollte er es anders angehen.

„Eigentlich, Dr. Fraser … Oder soll ich Sie Mrs. nennen oder Autumn?“

„Autumn reicht vollkommen“, antwortete sie schnell.

„Gut, dann Autumn. Ich würde Ihnen gerne zuerst das Krankenhaus zeigen, Ihnen einige Kollegen vorstellen und danach den Fall diskutieren. Nachdem wir das erledigt haben, bringe ich Sie zu den Bianchis, damit Sie sie kennenlernen. Aber zuallererst werde ich mit Ihnen frühstücken gehen.“

Sie wirkte verblüfft. Anscheinend hatte sie angenommen, dass Giovanni sofort mit der Arbeit beginnen würde. Normalerweise wäre dies auch der Fall gewesen, aber Autumn Fraser war ganz anders, als er erwartet hatte. Sie schien nicht im Geringsten müde oder nervös zu sein. Ihre Selbstsicherheit überraschte ihn, aber das war in Ordnung.

Und Sofia hatte absolut recht. Autumn Fraser war hübsch. Mehr als hübsch. Auf eine Weise, die ihr selbst offenbar gar nicht bewusst war. Von ihren erstaunlichen grünen Augen bis hin zu den weichen Locken und der hochgewachsenen schlanken Figur. Jeder Mann würde sich nach ihr umdrehen. Er selbst eingeschlossen, und das ärgerte ihn. Er war Ablenkungen bei der Arbeit nicht gewöhnt.

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich frühstücke in der Regel nicht.“

Als sie ihn mit diesen durchdringenden grünen Augen ansah, stockte ihm der Atem. Wow.

Giovanni hob die Brauen. „Hat Ihnen noch nie jemand gesagt, dass das die wichtigste Mahlzeit des Tages ist?“

Sie verdrehte die Augen, stand jedoch auf, als er auf die Tür deutete.

Er lächelte. „Lassen Sie sich von mir zu einem traditionellen italienischen Frühstück einladen.“

Das Ganze lief in die völlig falsche Richtung. Während des gesamten Fluges hatte Autumn ständig an diese lässige Stimme denken müssen. Aber sie hatte sich verboten, eine Internet-Recherche über Giovanni Lombardi durchzuführen. In der Hoffnung, dass ihre Befürchtungen sich nicht bewahrheiten würden. Doch hier war er nun, der umwerfende Italiener schlechthin.

Oje!

Mit seinen breiten Schultern, dem maßgeschneiderten Anzug, den funkelnden dunkelbraunen Augen und seiner lockeren Art war er ein italienischer Traummann wie aus dem Bilderbuch. Selbst bis hin zu dem Fünftagebart, der unglaublich sexy wirkte.

Das war so gar nicht das, was Autumn momentan gebrauchen konnte. Sie hatte einen Fall vor sich, der ihre Karriere entscheidend voranbringen würde. Deshalb wollte sie sich durch nichts davon ablenken lassen.

Sie musste schlucken. Normalerweise war in ihrem Gehirn kein Raum für solche Gedanken. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sie zusammen mit Louis an der Hochzeit ihrer Freundin teilgenommen. Auch wenn sie sich freundschaftlich getrennt hatten, war Autumn davon überzeugt gewesen, dass es ihr monatelang nicht in den Sinn kommen würde, einen anderen Mann auch nur anzusehen.

An langfristigen Beziehungen hatte sie nie großes Interesse gehabt. Das negative Beispiel ihrer Eltern war abschreckend genug gewesen. Weder ihre Mutter, eine herausragende Physikerin, noch ihr Vater, ein angesehener Geschichtsprofessor, hatten sich dafür interessiert, Eltern zu sein.

Tatsächlich wusste Autumn gar nicht so genau, wie sie und ihr Bruder überhaupt auf die Welt gekommen waren. Es schien fast so, als hätte die akademische Welt ihren Eltern nahegelegt, dass sie zwei Kinder haben sollten, und diese Aufgabe hatten sie pflichtgemäß erfüllt. Da sie während ihrer gesamten Kindheit und Jugend immer zu Perfektion, Kontrolle und zum Lernen gedrängt worden war, hatte Autumn niemals gelernt zu spielen. Geschweige denn zu lieben. Obwohl manche ihrer Freunde eine Ehe und Familie wollten, hatte sie sich solche Gedanken niemals gestattet.

Stattdessen konzentrierte sie sich ausschließlich auf ihren Beruf. Da sie auf keinen Fall so werden wollte wie ihre Eltern, kamen ein Ehemann und Kinder für sie nicht infrage.

Doch alles an Giovanni Lombardi löste Panik in ihr aus. Seine Stimme verursachte ihr jedes Mal ein aufregendes Prickeln auf der Haut. Wie sollte sie ihre Arbeit tun, ohne ihn anzusehen oder ihm zuzuhören? Vermutlich blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Sinne einfach abzuschalten, weil seine Anziehungskraft so stark war, dass es ihr schwerfiel, sie zu ignorieren.

Autumn konnte sich nicht daran erinnern, jemals derart intensiv auf einen Mann reagiert zu haben. Und das war ein riesiges Problem.

Sie stand auf und folgte ihm hinaus aus seinem Büro. Das Krankenhaus war eindrucksvoll. Von außen sah es aus wie viele alte Gebäude in Italien, besaß jedoch alles an hochtechnologischer Ausstattung, was für die bevorstehende Trennungsoperation nötig war.

Während sie durch die langen Flure gingen, versuchte Giovanni, Small Talk zu machen. Autumn hoffte, er würde mit ihr in die Cafeteria gehen. Aber nein, vom Haupteingang aus führte er sie zu einem großen SUV, auf dessen Rücksitz sie einen Kindersitz bemerkte.

Wenig später hielt Giovanni vor einem kleinen Café am Stadtrand. Trotz des dichten Verkehrs hatte er den großen Wagen geschickt durch die engen Straßen gesteuert.

Rasch stieg er aus und öffnete für Autumn die Beifahrertür. „Bitte sehr. Mein Lieblingsort zum Frühstücken.“

Interessant. Es war weder protzig noch schick, sondern ein kleines Café zwischen zahlreichen anderen Geschäften und Lokalen.

„Hier gibt es den besten Kaffee und den besten Maritozzo in ganz Rom.“ Giovanni küsste seine Fingerspitzen.

Autumn lachte. „Den besten was?“

Drinnen ging er mit ihr an eine Glasvitrine voller Gebäckstücke. „Oder wenn Sie wollen, können Sie auch ein Croissant, einen Bombolone oder Biscottate haben.“

In den nächsten vier Monaten würde sie bestimmt alles einmal probieren. „Ich nehme dasselbe wie Sie“, meinte sie daher.

Giovanni nickte und sagte in schnellem Italienisch etwas zu der Frau hinter dem Tresen. Als Autumn ihn in seiner Muttersprache sprechen hörte, fühlte sie sich wie verzaubert. Es dauerte einen Moment, bis sie merkte, dass er sich wieder ihr zuwandte, um zu fragen, wie sie ihren Kaffee am liebsten trank.

Kurz darauf saßen sie draußen an einem Tisch.

„Wo sind Ihre Koffer?“, wollte Giovanni wissen. „Sie haben doch noch mehr Gepäck, oder?“

„Ich habe sie auf dem Weg zum Krankenhaus in meinem Hotel abgestellt“, erwiderte sie.

Sichtlich erleichtert lehnte er sich auf dem Metallstuhl zurück.

Autumn, die das Gebäck vor sich betrachtete, verbarg ein Lächeln. Hatte er wirklich geglaubt, sie sei ohne Gepäck gekommen?

„Und Sie wollten nicht erst ein bisschen schlafen oder sich frisch machen, bevor Sie zum Krankenhaus gekommen sind?“ Er lachte etwas verlegen. „Verzeihung. Das kam irgendwie falsch raus.“

Sie blickte an ihrer alten, aber noch immer durchaus präsentablen Kleidung herab. Nichts davon war verknittert. Dann sah sie Giovanni direkt an. „Ich habe im Flugzeug geduscht und mich vor dem Aussteigen umgezogen.“

Es entstand eine Pause, in der er offenbar überlegte, in was für einem Flugzeug es eine Dusche gab.

Sie trank einen Schluck von ihrem Caffè macchiato, einem Espresso mit etwas Milchschaum. „Da Sie mich sehr kurzfristig erreicht haben, war die Hälfte meiner Garderobe außerhalb meiner Reichweite. Es könnte also sein, dass ich Sie bitten werde, mir jemanden zu nennen, der mir ein paar gute Bekleidungsgeschäfte in Rom zeigt.“

Ungezwungen winkte er ab. „Sie brauchen niemand anderen. Das kann ich übernehmen.“

„Sie kaufen Damenkleidung?“ Autumn warf einen Blick auf ihren Maritozzo. Es hatte sich herausgestellt, dass es sich dabei um ein süßes italienisches Gebäckstück handelte, das mit Creme gefüllt war und wahrscheinlich eine Million Kalorien hatte.

Giovanni reichte ihr eine große Serviette und steckte sich seine eigene in den Hemdkragen. Achselzuckend meinte er: „Alle Italiener wissen, wo man am besten einkaufen sollte.“

Da fiel ihr der Kindersitz in seinem Auto wieder ein, und sie schaute auf seine Hand. Kein Ehering. Was bei einem Chirurgen, der sich ständig die Hände waschen musste, allerdings nicht ungewöhnlich war.

„Ich habe den Kindersitz in Ihrem Wagen gesehen“, sagte Autumn so beiläufig wie möglich. „Haben Sie Kinder?“

Sein Gesicht leuchtete auf. „Eine Tochter, Sofia. Sie ist fünf und mein Ein und Alles.“

„Erzählen Sie mir von ihr.“

„Sie ist toll. Wahrscheinlich bin ich voreingenommen, aber das ist mir egal. Sie ist intelligent, tut aber gerne so, als wäre sie es nicht. Sie hat mir schon gesagt, dass Chirurg-Sein langweilig ist und sie lieber Astronautin werden möchte. Sie versucht, ständig was Neues zu lernen, aber …“ Giovanni hielt inne. „Ich glaube, sie wird etwas ganz anderes machen.“

„Wieso?“, fragte Autumn neugierig. Mit Kindern hatte sie kaum Erfahrung. Mit Babys hingegen schon. Und obwohl es traurig klingen mochte, wenn Babys auf der Neugeborenenstation waren, gab es dort eine gewisse Kontrolle. Sie konnten sorgfältig überwacht und ihre Medikation angepasst werden. Man konnte ihnen Geborgenheit geben und ihre Ernährung weitgehend regulieren.

Natürlich ging manchmal etwas schief, aber solange die Babys bei ihr in Behandlung waren, hatte Autumn das Gefühl, so viel für diese winzigen wunderbaren und hilflosen kleinen Menschen tun zu können, wie es nur irgend möglich war. Sobald sie größer wurden und sich bewegen konnten, laufen, herumrennen, alles in den Mund stecken, was sie fanden, dann wurden sie zu einem unkalkulierbaren Sicherheitsrisiko. Nein. Die Willkürlichkeit und Unvorhersehbarkeit dieser Kinder jagten ihr Angst ein. Deshalb interessierte es sie, ob ein Elternteil wirklich imstande war vorherzusagen, was sein Kind im späteren Leben mal tun würde.

„Sie ist sehr gesellig. Sofia mag andere Leute. Alle Arten von Leuten, überall. Ich war noch nie irgendwo mit ihr, wo sie niemanden gefunden hätte, mit dem sie sich unterhalten konnte. Und sie redet mit den Leuten, weil es sie wirklich interessiert. Sie will alles von ihnen wissen.“

Giovanni hob die Schultern. „Sie ist noch zu klein, um zu verstehen, wie wichtig das ist. Und sie ist sehr intuitiv. Wenige Sekunden, nachdem sie jemanden kennengelernt hat, sagt sie mir, ob sie denjenigen mag oder nicht. Anfangs habe ich darüber gelacht, weil wir das alle tun. Wir alle bekommen einen ersten Eindruck von anderen Menschen. Aber es gab schon einige Male, da lag sie richtig und ich falsch.“ Mit seinen dunklen Augen sah er Autumn an. „Sagen wir, ich habe gelernt, ihre Meinung ernst zu nehmen.“

Plötzlich ertönte direkt neben ihnen ein lautes Hupen, und beide zuckten zusammen. Unwillkürlich quetschte Autumn das Gebäckstück zusammen, in das sie gerade hineinbeißen wollte, sodass ein großer Klecks Creme auf dem Teller landete. Ein Moped schoss zwischen zwei Autos hindurch, wobei es einen Fußgänger nur um wenige Zentimeter verfehlte.

Der hiesige Verkehr war chaotisch. Zum Glück hatte Autumn bereits beschlossen, kein Auto zu mieten. Aber ihr Hotel lag in einiger Entfernung vom Krankenhaus. Also musste sie Giovanni nach öffentlichen Verkehrsmitteln fragen.

Sie überlegte, ob sie den Cremeklecks mit dem Finger aufnehmen sollte, hielt das jedoch für allzu unhöflich. Obwohl sie noch nie so etwas zum Frühstück gegessen hatte, fing ihr Magen erwartungsvoll an zu knurren.

„Das klingt, als hätten Sie eine wundervolle Beziehung zu Ihrer Tochter“, antwortete sie.

„Ja, natürlich. Es gibt nur sie und mich.“ Er sagte es so schlicht, als hätte er es schon unzählige Male gesagt.

Autumn brauchte nicht zu fragen. Es war ihr sofort klar, dass seine Frau ihn nicht verlassen hatte. „Es tut mir leid, das zu hören, Giovanni. Aber ich bin sicher, dass Sofia alles hat, was sie braucht, weil ihr Vater sie ganz offensichtlich über alles liebt.“

Seufzend lehnte er sich zurück. Er streifte die umliegenden Straßen mit seinem Blick und verzog das Gesicht, als noch weitere Rollerfahrer allzu riskante Manöver machten.

Er senkte die Stimme. „Meine Frau starb kurz vor Sofias erstem Geburtstag. Auf dem Weg zu einem Notfall im Krankenhaus. Sie fuhr mit dem Roller und wurde von einem Auto erfasst, das viel zu schnell war.“

Autumn fröstelte. Seitdem sie hier saßen, hatte es bereits mehrere Beinaheunfälle gegeben. Und der Vorfall, den Giovanni gerade beschrieben hatte … Solche Dinge erschreckten sie. So beliebig, sinnlos und unbeherrschbar. Sie verabscheute alles, was sie nicht kontrollieren konnte.

Als Studentin hatte sie eine Zeit lang angstlösende Medikamente genommen und war zu einer Therapeutin gegangen, um akzeptieren zu lernen, dass es immer Dinge geben würde, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen. Es hatte vier Jahre gedauert, aber nach und nach war es ihr gelungen. Als die Therapeutin jedoch etwas tiefer nach ihren Gefühlen, unterdrückten Emotionen und ihrem Elternhaus forschen wollte, hatte Autumn die Therapie abgebrochen. Sie hatte bekommen, was sie benötigte, um in ihrem Leben und ihrem Beruf gut genug zu funktionieren.

Aber wenn sie solche Geschichten wie eben hörte, stieg immer ein leichtes Panikgefühl in ihr auf. Das Handeln eines Menschen, der zu schnell unterwegs gewesen war, hatte Giovannis Leben und das seiner Tochter für immer verändert. Und jedes Mal fragte Autumn sich, wie die Betroffenen ein derartiges Unglück verkraften konnten.

„Sie fehlt Ihnen sicher sehr“, meinte sie leise.

Er lächelte schmerzlich, und seine Augen wirkten noch dunkler als zuvor. „Es macht mich traurig, dass sie ihren Platz in Sofias Leben verloren hat. Sie waren sich so ähnlich. Ich glaube, Anna hätte große Freude daran gehabt, Sofia aufwachsen zu sehen. Allerdings glaube ich auch, dass sie sich oft gestritten hätten.“

Sein Lächeln wurde weicher, als würde er sie beide vor sich sehen. Dann hob er seinen Blick. „Dennoch können wir nicht in der Vergangenheit leben. Es ist meine Aufgabe, Sofia dabei zu unterstützen, jeden Tag auszukosten. Wir sprechen über Anna, und ich zeige ihr Bilder, aber ich achte darauf, dass ihr Leben voller Freude ist.“

Autumn musste ihre Tränen unterdrücken. Wow. Damit hatte sie nicht gerechnet. Trotzdem war sie froh darüber, Giovanni nicht nach seiner Frau gefragt zu haben. Und sie war erleichtert, dass es ihm offenbar nicht allzu schwerfiel, darüber zu sprechen. Obwohl er traurig wirkte, schien er nicht todunglücklich zu sein.

Er fing an, seinen Maritozzo zu essen. Dabei hatte er seine Serviette perfekt platziert, um jeden möglichen Cremeklecks aufzufangen. Anscheinend war er ein Experte darin. Etwas nervös nahm Autumn ebenfalls einige Bissen von ihrem Gebäck.

Lachend erklärte sie dann: „Das darf auf gar keinen Fall zur Gewohnheit werden. Bei all dem Kaffee und Zucker heute Morgen werde ich wahrscheinlich den ganzen Tag unruhig sein. Von den Kilos, die ich dabei zunehmen würde, ganz zu schweigen.“

Giovanni wirkte wieder entspannt, und die Schatten, die sie in seinen Augen gesehen hatte, waren verschwunden.

Mit einem Blick zu ihm setzte Autumn hinzu: „Sie essen das mit Sicherheit auch nicht jeden Tag!“

Er hatte kein einziges Gramm Fett zu viel an sich. Er war schlank, aber muskulös. Das konnte man sogar durch sein Jackett erkennen. Bei dem anzüglichen Lächeln, mit dem er Autumn ansah, schoss ihr unwillkürlich heiße Röte in die Wangen.

„Entschuldigen Sie, so wollte ich das eigentlich nicht ausdrücken.“

Ein amüsiertes Glitzern lag in seinen Augen, und sie musste zugeben, dass es ihr gefiel.

„Vielleicht haben Sie es genau so ausgedrückt, wie Sie es gemeint haben.“ Giovanni schaute auf seine Uhr. „Ich denke, wir sollten jetzt zurückfahren, damit ich Ihnen alles zeige. Und dann können wir uns in die Arbeit stürzen.“

Schnell tupfte Autumn sich den Mund ab und hoffte dabei inständig, dass sie nicht mit Creme im Gesicht an ihrem neuen Arbeitsplatz auftauchte.

Wenig später waren sie schon wieder im St. Nicolino. In Giovannis Begleitung durch das Krankenhaus zu gehen, war eine interessante Erfahrung. Jeder blieb stehen, um mit ihm zu reden. Lächelnd erinnerte Autumn sich an das, was er über seine Tochter gesagt hatte. War ihm denn nicht bewusst, von wem sie ihr Kommunikationstalent geerbt hatte?

Autumn hörte ein Gemisch unterschiedlicher Sprachen um sich herum. Nach Italien zu kommen, hatte sie etwas beunruhigt, da sie nicht fließend Italienisch konnte. Doch seit ihrer Ankunft hatte sie festgestellt, dass die meisten Mitarbeiter in diesem Krankenhaus sie auf Englisch ansprachen. Das war zwar eine Erleichterung, aber sie wollte sich trotzdem bemühen, etwas besser Italienisch zu lernen.

St. Nicolino war ein hochmodernes Krankenhaus und die Führung entsprechend ausgedehnt. Autumn bekam sowohl die normalen Stationen als auch die Intensivstationen zu sehen, ebenso wie die Abteilung mit den Operationssälen. Giovanni versicherte ihr, dass ihr dort alle Rechte als Chirurgin zustanden. Danach besuchten sie die radiologische Abteilung, wo sie den Mitarbeitern vorgestellt wurde, ehe Giovanni ihr noch die Umkleideräume, die Büros, die Bereitschaftsräume sowie die verschiedenen Cafeteria-Möglichkeiten zeigte.

Schließlich führte er sie einen ruhigeren Gang entlang und öffnete die Tür zu einem besonders großen Raum. „Hier werden wir den größten Teil unserer Zeit verbringen.“

Erstaunt blickte sie sich um. Es handelte sich offensichtlich um einen Übungsraum, wo Ärzte ihre klinischen Fähigkeiten trainieren konnten. Im Laufe ihres Berufslebens hatte Autumn schon viele solcher Räume kennengelernt, aber keiner war diesem hier ähnlich gewesen.

Der Raum war voller kleiner Modelle aus dem 3D-Drucker. Perfekt hergestellte winzige Babys, alle anatomisch korrekt und in einem unterschiedlichen Operationsstadium.

Fragend sah sie Giovanni an. „Alle Operationen werden hier geübt?“

Ein riesiger Kostenfaktor. Sie hatte schon häufiger darum gebeten, dass ein spezielles Modell für sie angefertigt wurde, um eine Operation zu üben, die sie bis dahin noch nicht durchgeführt hatte. Und sie wusste genau, wie teuer deren Herstellung war. Als ihr jedoch klar wurde, dass sie hier die Möglichkeit bekommen würde, ihre Operationen wieder und wieder zu üben, lächelte sie übers ganze Gesicht. Das war fantastisch.

Giovanni nickte bestätigend. „Wir haben unser eigenes Design-Team und unsere eigenen 3D-Druck-Möglichkeiten. Es wurden schon Modelle der Bianchi-Zwillinge angefertigt, an denen Lizzy und Leon üben können. Um die Wahrheit zu sagen, wir wissen nicht genau, wann wir die Zwillinge operieren werden. Wir müssen jederzeit darauf vorbereitet sein. Und wie Sie wissen, spielt die Größe bei solchen Operationen eine sehr wichtige Rolle. Natürlich hoffe ich, dass uns noch viele Wochen zur Vorbereitung bleiben. Aber unser Team macht wöchentlich neue Ultraschallaufnahmen, und jedes Mal stellen unsere Modellierer aktuelle 3D-Modelle der Zwillinge her. Manchmal in vielfacher Ausfertigung. Die Operation, die Sie und ich durchführen, wird eine ganz andere sein als die von Lizzy und Leon.“

Mit einem Nicken ging Autumn zu einem der Zwillings-Modellpärchen. Dieses befand sich noch in der Fruchtblase. Bei einem der Babys würde voraussichtlich eine Herzoperation im Mutterleib erforderlich sein. Die Präzision dieses Eingriffs war absolut entscheidend. Eine Operation im Mutterleib durchzuführen, war äußerst heikel und erforderte hohe Kompetenz. Sie beneidete Lizzy und Leon nicht um diese Aufgabe.

Die Beleuchtung in diesem Übungslabor war genauso hell wie in einem Operationssaal, und auf den Tischen an der Seite lag ein ganzes Sortiment an winzigen Instrumenten bereit. Als Autumn herantrat, suchte sie auf den Tabletts mit ihren Blicken automatisch nach den Instrumenten, die sie vermutlich benötigen würde.

Da sie nicht einmal gehört hatte, wie Giovanni sich bewegte, fuhr sie beim Klang seiner Stimme hinter sich zusammen. „Geben Sie mir einfach eine Liste von allem, was Sie brauchen. Sie werden es innerhalb weniger Tage bekommen.“

Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Nacken. Er stand dicht bei ihr, weil er anscheinend ebenfalls die Instrumente betrachtete.

Autumn presste die Lippen zusammen, schloss flüchtig die Augen und atmete tief ein. Es war noch viel zu früh. Und dennoch hatte sie einem Mann gegenüber noch nie eine solche Anziehung gespürt. Das brachte sie vollkommen aus der Fassung. Im Allgemeinen war sie der ruhigste und ausgeglichenste Mensch überhaupt. Warum fühlte sie sich heute so anders?

„Das meiste, was ich brauche, ist schon da. Vielleicht noch ein paar ganz spezielle Instrumente. Ich gebe Ihnen die Liste später.“ Sie trat zur Seite und drehte sich zu Giovanni um. „Können wir jetzt zu den Eltern gehen?“

„Selbstverständlich.“

Als er sich zur Tür wandte, stieß sie den Atem aus, den sie angehalten hatte. Die Klimaanlage hielt die Temperatur hier im Raum auf einem gleichmäßigen Niveau. Autumn wünschte, ihr Körper würde das auch tun.

Sie war müde, das musste es wohl sein. Seit Giovannis Anruf gestern Abend war ihr Adrenalinspiegel unglaublich hoch. Auf keinen Fall wollte sie sich eingestehen, wie sehr ihre Haut prickelte und ihr Herzschlag sich beschleunigte, sobald sie in der Nähe dieses Mannes war.

In den kommenden Monaten mussten sie beide eng zusammenarbeiten, und das Wohlergehen der siamesischen Zwillinge erforderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Giovanni Lombardi stellte eine Ablenkung dar, die sie in dieser Situation wirklich nicht gebrauchen konnte.

3. KAPITEL

Giovanni führte Autumn zu einem geräumigen Zimmer am anderen Ende der Entbindungsstation. Es befand sich nahe genug an allen Notfalleinrichtungen, ohne mitten in einer unpersönlichen Abteilung zu sein.

Mit einem liebenswürdigen Lächeln ging er hinein. „Gabrielle, Matteo, ich möchte Ihnen Autumn Fraser vorstellen, eine Fachchirurgin aus Schottland.“ An Autumn gewandt, meinte er: „Autumn, dies sind Gabrielle und Matteo Bianchi. Gabrielle kommt aus Genf, wo die beiden leben. Matteo ist von hier und hat eine Wohnung in Rom gemietet. Gabrielle steht bei uns unter ständiger Beobachtung.“ Er nahm auf einem bequemen Sofa Platz.

Autumn sah die Besorgnis in den Gesichtern der Eltern. Sie hatten sicher den Schock ihres Lebens bekommen, als sie erfuhren, was mit ihren Babys los war. Die Anspannung und Belastung war ihnen deutlich anzusehen.

Autumn gab beiden die Hand. „Es freut mich, Sie kennenzulernen.“ Sie wusste, wie wichtig es war, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen. Sie selbst wäre an deren Stelle ganz sicher genauso besorgt.

Sie setzte sich neben Giovanni, der fortfuhr: „Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich eine Chirurgin finden würde, die das zweite Team leitet. Ich werde das Team leiten, das sich um Hope kümmert, und Autumn wird das Team leiten, das sich um Grace kümmert.“

„Die Babys haben Namen? Das ist wunderbar“, erklärte sie. „Es sind sehr schöne Namen.“

Gabrielle lächelte ein wenig, legte sich die Hand auf den großen Bauch und sah ihren Mann an. „Das haben wir vor ein paar Wochen so entschieden. Wir dachten, wenn wir ihnen jetzt schon Namen geben, bringt uns das vielleicht Glück.“

„Dann bin ich also für das Team Grace zuständig“, meinte Autumn. „Ich verspreche Ihnen, dass wir sehr sorgfältig für Ihre beiden Töchter planen und alles tun werden, was in unserer Macht steht, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.“

Nur allzu gern hätte sie den Bianchis versprochen, ihre Babys zu retten. Aber solche Operationen beinhalteten immer zahlreiche Risiken. Daher konnte sie nur zusagen, dass sie für Grace alles tun würde, was sie konnte. Alles andere wäre unethisch gewesen.

Giovanni beugte sich vor. „Autumn und ich werden mit Ihnen alle Aspekte der Trennungsoperation besprechen. Aber wir möchten Sie nicht überfordern. Sie wissen ja, dass zuerst Leon und Lizzy ihre Operationen durchführen müssen. Sobald sie fertig sind, werden wir übernehmen. Sie sollten nur wissen, dass wir hinter den Kulissen sehr hart daran arbeiten werden, um alles für unsere Operationen nach dem Kaiserschnitt vorzubereiten.“ Er drückte Gabrielle die Hand. „Ein Schritt nach dem anderen. Denken Sie daran, dass wir immer für Sie da sind.“

Mit Tränen in den Augen nickte Gabrielle.

Dann erhob er sich, und Autumn folgte seinem Beispiel. „Es war schön, Sie kennenzulernen“, sagte sie. „Falls Sie mit mir sprechen wollen, sagen Sie einfach den Mitarbeitern Bescheid. Dann komme ich sofort.“

Als sie draußen nebeneinander den Flur entlanggingen, streifte Giovannis Hand ihre, woraufhin ihr sofort ein elektrisierendes Prickeln über den Arm lief.

„Das erste Treffen ist immer das Schwierigste“, bemerkte er. „Ich bemühe mich, ihnen Zeit zu lassen, um alles zu verarbeiten, ohne sie zu überfordern. Im Augenblick sind Lizzy und Leon ihre Hauptansprechpartner.“

Da Autumn die Augenbrauen hob, nickte er. „Ja, es fällt mir schwer, nicht ständig alles zu kontrollieren. Aber ich habe jeden Morgen eine kurze Besprechung mit Lizzy und Leon, und einmal am Tag schaue ich bei den Bianchis vorbei.“

„Es ist wichtig, dass sie Lizzy und Leon vertrauen“, sagte Autumn.

„Unbedingt. Wir übernehmen dann, sobald wir dran sind.“ Er blieb stehen, lehnte sich ans Geländer und blickte über den weitläufigen Eingangsbereich unter ihnen. „Dies ist einer der kompliziertesten Fälle, die wir hier je gehabt haben.“

Auch Autumn schaute hinunter auf die geschäftige Betriebsamkeit im Foyer. Jeder, der durch die Eingangstür hereinkam, wirkte erleichtert, in dem klimatisierten Krankenhaus der sengenden Hitze Roms entronnen zu sein. Unwillkürlich fröstelte sie, wobei sie nicht wusste, ob es an der Raumtemperatur, dem Mann neben ihr oder der ungeheuren Belastung der bevorstehenden Operation lag.

„Haben Sie eine Vorstellung davon, in welcher Schwangerschaftswoche wir voraussichtlich operieren müssen?“, erkundigte sie sich.

„Ja“, erwiderte Giovanni. „Momentan gehe ich von etwa der zweiunddreißigsten Woche aus. Lizzys und Leons Operation wird demnächst stattfinden. Dann hängt alles davon ab, wie es Gabrielle und den Babys danach geht. Es könnte sein, dass wir sofort entbinden müssen, aber vielleicht gelingt es uns, die Geburt noch eine Weile hinauszuzögern.“

Autumn nickte bestätigend. Jeder wusste, dass Babys die besten Chancen hatten, je länger sie im Mutterleib bleiben konnten. Heutzutage wurden die meisten Zwillinge vor der vierzigsten Woche entbunden. Aber diese Babys würden es niemals so lange schaffen. Zweiunddreißig Wochen war jedoch nicht unwahrscheinlich. Wenn alles gut ging, wären beide Zwillinge dann imstande, mit minimaler Unterstützung selbstständig zu atmen. Außerdem könnten sie auch saugen, schlucken und Nahrung aufnehmen. Alle Babys waren verschieden, und genau würde man es erst nach der Geburt wissen, aber zweiunddreißig Wochen schien ein gutes Ziel zu sein.

Sie sah Giovanni an. „Das heißt, wir haben also maximal sieben Wochen, um uns auf die Operation vorzubereiten?“

Sie merkte, wie Panik in ihr aufstieg. Die Leberoperation, die sie durchführen würde, war schwierig und hochkomplex. Die Trennung der siamesischen Zwillinge allein wäre schon problematisch genug. Sobald diese gelungen war, musste Autumn buchstäblich eine neue Leber für Grace aufbauen. Und hoffentlich konnte sie auch für eine ausreichende Blutzufuhr sorgen.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Beunruhigt legte Giovanni seine Hand auf ihren Arm.

„Ja, bestens“, antwortete sie schnell. Am liebsten hätte sie sofort angefangen zu üben, aber das war keine gute Idee.

„Wie wäre es mit einem frühen Dinner?“, fragte er. „Ich kenne eine Fünfjährige, die Sie gerne kennenlernen würde.“

Autumn zögerte. „Sofia will mich kennenlernen?“

„Sie hat Sie ausgesucht“, gab er zurück.

„Wie bitte?“, fragte sie völlig verblüfft.

Giovanni nickte ernsthaft, während er auf den nächsten Korridor zuging. „Ehrlich. Sie hat sich alle Gesichter angeguckt, die auf meinem Bildschirm waren, und mir dann gesagt, ich sollte Sie nehmen.“

Autumn war verärgert. „Ich hoffe, das ist ein Scherz.“

Er zuckte die Achseln. „Sagen wir, Sie standen ohnehin schon zusammen mit jemand anderem ganz oben auf meiner Liste.“

Abrupt blieb sie stehen. „Zusammen mit jemand anderem?“, fragte sie entrüstet. „Wer war Ihrer Ansicht nach denn genauso gut geeignet?“

Giovanni nannte ihr den Namen eines anderen Chirurgen aus den USA, der auch auf pädiatrische Leberoperationen spezialisiert war. Daraufhin fühlte Autumn sich nicht mehr ganz so gekränkt, aber immer noch verärgert.

„Ich bin besser als er.“

Er öffnete die Tür zu dem Büro, in dem sie ihre Tasche, ihren Trolley und ihre Jacke gelassen hatte. „Ich habe mich wegen Ihrer Studie zum psychologischen Trauma bei Trennungsoperationen für Sie entschieden.“

Sie bückte sich gerade nach ihrer Tasche, hielt jedoch unvermittelt inne. „Tatsächlich? Sie wissen davon?“ Sie war überrascht. Die meisten Kollegen schauten lediglich auf ihre Qualifikationen und Erfolgsquoten. Andere medizinische Fachgebiete, mit denen Autumn sich beschäftigte, beachteten sie gar nicht.

Giovanni kam zu ihr. „Ja. Ich habe Ihre Arbeiten gelesen, und mir gefallen Ihre Denkansätze. Zwar besitze ich nicht Ihr umfassendes Wissen, aber ich habe mir auch schon oft Gedanken über das Trennungstrauma siamesischer Zwillinge gemacht.“

„Sie glauben also, dass es dabei auch eine psychische Komponente gibt?“ Sie kannte Wissenschaftler, die ein psychologisches Trauma bei Neugeborenen für unwahrscheinlich hielten. Es war daher beinahe eine Erleichterung, jemanden zu finden, der daran glaubte und sich dafür interessierte, mehr darüber zu erfahren. Allzu viele Chirurgen wollten ausschließlich über klinische Verfahren und Techniken sprechen.

„Selbstverständlich glaube ich das“, antwortete er mit Nachdruck. „Kommen Sie, wir holen Sofia ab und gehen zusammen essen. Danach setze ich Sie an Ihrem Hotel ab.“

„Macht es Ihnen nichts aus, so früh zu essen?“ Eigentlich waren Italiener für ihre späten Mahlzeiten bekannt.

„Nein, gar nicht“, erwiderte er. „Ich habe eine Fünfjährige, die zu einer vernünftigen Zeit schlafen gehen soll. Und glauben Sie mir, Sofia braucht keinen besonderen Vorwand dafür, um die halbe Nacht wach zu bleiben.“

Noch immer zögerte Autumn, weil sie erschöpft war. Andererseits musste sie auch etwas essen, und außerdem wusste sie nicht, wie sie zwischen dem Krankenhaus und dem Hotel hin und her kommen sollte. „Gut, danke“, sagte sie, ehe sie hinzufügte: „Ich würde Sofia auch gerne kennenlernen. Nur um ihr zu beweisen, dass ich wirklich die beste Kandidatin bin.“

Als sie Giovanni einen vielsagenden Blick zuwarf, lachte er.

Auf dem Weg zum Parkplatz zog Autumn die Augenbrauen zusammen. „Bei Ihrem Anruf gestern sagten Sie, Sie müssten sich vergewissern, ob ich ins Team passe. Aber da Sie mich den Eltern vorgestellt haben, nehme ich an, Sie halten mich für geeignet?“

Als er ihr die Beifahrertür aufhielt, meinte er mit einem belustigten Glitzern in den Augen: „Kann schon sein, aber die letzte Hürde steht Ihnen noch bevor.“

„Und die wäre?“

„Sofia.“ Mit einem jungenhaften Grinsen schlug er die Tür zu, griff nach ihrem Trolley und verstaute ihn im Kofferraum.

An Autumns Miene erkannte Giovanni, dass sie offenbar noch nicht recht wusste, was sie von seinen scherzhaften Bemerkungen halten sollte.

Er holte Sofia aus der Kita ab, und sie stürmte sofort zum Auto, als sie erfuhr, wer darin wartete. Noch ehe Giovanni ihre Tasche und Jacke in der Hand hatte, war sie bereits auf den Kindersitz gestiegen und befestigte ihren Sicherheitsgurt, während sie die ganze Zeit ununterbrochen redete.

„Sie sind Autumn? Wissen Sie, dass das eine Jahreszeit ist? Ich musste das nachgucken. Ich bin Sofia. Wie lange wollen Sie mit meinem papà zusammenarbeiten? Werden Sie bei uns wohnen?“ Sie begann, auf ihrem Sitz auf und ab zu wippen.

Nachdem Giovanni ebenfalls eingestiegen war, sah er Autumn an und lachte. „Sofia, immer mit der Ruhe. Warte, bis wir im Restaurant sind, bevor du anfängst, Fragen zu stellen.“

„Ihr Englisch ist hervorragend“, meinte Autumn erstaunt. „Viel besser als mein Italienisch.“

Er nickte stolz. „Ja, sie spricht Italienisch und Englisch. Aber sie kann auch ein bisschen Griechisch und Japanisch. Sie geht in die Vorschule der internationalen Schule und scheint Sprachen aufzusaugen wie ein Schwamm.“

Giovanni fädelte sich in den dichten Verkehr ein, in dem es viel Gehupe und Geschrei gab. Er selbst hatte auch keine Scheu davor.

Als jemand ihnen die Vorfahrt nahm, stieß er einen erbosten Ausruf aus, und Sofia lachte fröhlich. Doch Autumn hielt sich mit beiden Händen an ihrem Sitz fest. Zwar hatte sie schon von dem hektischen Berufsverkehr in Rom gehört, erlebte ihn aber jetzt zum ersten Mal. Heute Vormittag war es nicht ganz so schlimm gewesen. Sie warf Giovanni einen Seitenblick zu und fragte sich, wie ihm wohl zumute war, wenn er jeden Tag in diesem Gedränge fahren musste, in dem Bewusstsein, dass seine Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.

Autumn hatte das Gefühl, als könnte jederzeit ein solcher Unfall um sie herum geschehen. Sofia schien das nicht zu stören, aber vermutlich war sie dies als etwas Alltägliches gewöhnt.

Nach etwa zehn Minuten parkte Giovanni in einem älteren Stadtteil. Als Autumn ausstieg, klebte ihr das feuchte Haar im Nacken. Diese Fahrt hatte sie ziemlich mitgenommen, und sie war froh, dass es vorbei war.

Sofia, die aus dem Wagen sprang, rannte sofort ins Restaurant hinein.

Lächelnd fragte Autumn: „Sie kommen wohl oft hierher?“

Er lachte. „Sieht so aus. Passen Sie auf, sonst bestellt Sofia auch gleich für Sie mit.“

Als sie hereinkamen, wurde klar, dass es sich um ein Lokal von Freunden handelte. Sofia hatte sich bereits in eine Nische gesetzt und klopfte auf den Tisch. „Autumn, Sie sitzen neben mir.“

Giovanni rutschte auf die Bank gegenüber. „Ich bin also Schnee von gestern, ja?“, meinte er belustigt.

Eine ältere Frau erschien, die ihn auf beide Wangen küsste, ehe sie Wasser und Gläser auf den Tisch stellte. Dann sagte sie in schnellem Italienisch etwas zu Autumn. Doch Giovanni schüttelte den Kopf, wobei er erklärte, dass sie dies nicht verstehen würde.

Er deutete auf das Wasser. „Möchten Sie vielleicht lieber Wein zum Essen?“

„Nein, vielen Dank.“ Sie war müde, und ihr schwirrte der Kopf von all den neuen Eindrücken. Vermutlich würde schon ein einziger Schluck Wein genügen, um sie außer Gefecht zu setzen. „Wasser ist gut.“

Während sie die Bestellungen aufnahm, wechselte die ältere Frau problemlos zwischen Englisch und Italienisch hin und her.

„Was schmeckt am besten?“, wollte Autumn von Sofia wissen und zeigte auf mehrere Gerichte auf der Speisekarte.

Sofia machte es offensichtlich großen Spaß, die Bestellung für sie aufzugeben.

Kurz darauf hatte Autumn einen Teller voll köstlicher Rigatoni in einer cremigen Tomatensauce mit Schinken vor sich. Dazu gab es einen Korb voller Knoblauchbrot für alle. Herrlich. Genau das, was sie jetzt brauchte.

Bis dahin hatte sie ungefähr eine Million Fragen von Sofia beantworten müssen, die sich nun jedoch mit großem Appetit ihrem Essen widmete. Autumn lächelte, denn sowohl Giovanni als auch seine Tochter hatten sich die Servietten in ihre Kragen gesteckt.

Giovanni warf einen Blick zu Sofia. „Das ist der einzige Moment, in dem sie den Mund hält“, erklärte er in scherzhaftem Ton. „Nutzen Sie Ihre Chance, solange es geht.“

Autumn sah ihn an. „Sie ist entzückend.“

Sie konnte die Freude in seinen Augen erkennen. Als er wieder zu seiner Tochter hinschaute, war seine grenzenlose Liebe zu ihr förmlich spürbar.

Tatsächlich war Sofia längst nicht so beängstigend, wie Autumn befürchtet hatte. Sie hatte weder Getränke verschüttet noch mit dem Essen gekleckert.

Autumn, die kaum noch die Augen offen halten konnte, begann vor lauter Müdigkeit, mit ihren Gedanken abzuschweifen. Giovanni und seine Tochter schienen ein so gutes Verhältnis miteinander zu haben. Ob er wohl jemals streng zu ihr war?

Sie kannte sich mit Kindern überhaupt nicht aus. In ihrem Freundeskreis gab es zwar einige Paare mit Kindern, aber Autumn hatte wenig mit ihnen zu tun.

Oft blieb sie lange auf den Intensivstationen der Krankenhäuser in London, in denen sie arbeitete. Wenn sie ein kleines Baby auf dem Arm hielt und ihm sanft über den Rücken strich, um es zu beruhigen, war es tröstlich zu wissen, dass sie bei Bedarf innerhalb kürzester Zeit zehn Pflegekräfte zu Hilfe rufen konnte.

Sich in einem Krankenhaus mit winzigen Neugeborenen sicher zu fühlen, war leicht. Aber Autumn zweifelte keine Sekunde daran, wie schwer es war, zu Hause allein die Verantwortung für einen so kleinen Menschen zu tragen. Als sie Giovanni beobachtete, bewunderte sie ihn insgeheim. Sofia war ein liebes Kind. Aufgeweckt, fröhlich und gut erzogen.

„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte er sich leise.

Autumn zuckte unmerklich zusammen. Es war ihr peinlich, dabei ertappt zu werden, wie sie die beiden angesehen hatte.

„Ich bin bloß müde.“ Sie schob ihren Teller von sich. „Das Essen hier ist hervorragend. Ich muss mir unbedingt merken, wie ich den Weg hierher finde.“

Da spürte sie eine kleine Hand auf ihrem Arm. „Ohne mich können Sie aber nicht herkommen“, wandte Sofia mit ernstem Blick ein. „Ich muss Mamma Pieroni doch sagen, was Sie wollen.“

Autumn berührte ihre Hand. „Also gut. Wenn ich das nächste Mal hier essen will, sag ich deinem Dad Bescheid, und er kann schauen, ob du dann Zeit hast.“

Sofia überlegte einen Moment, bevor sich ihre Miene wieder aufhellte. „Okay.“

Während sie miteinander sprachen, war Giovanni aufgestanden und weggegangen. Als er zurückkam, meinte er: „Sofia, es ist Zeit, nach Hause zu fahren. Wir müssen Autumn in ihr Hotel bringen. Sie hat einen langen Tag hinter sich und ist sehr müde.“

„Tut mir leid.“ Rasch suchte Autumn nach ihrem Portemonnaie. „Bitte lassen Sie mich bezahlen. Ich habe nicht erwartet, von Ihnen zum Dinner eingeladen zu werden.“

Scherzhaft gab er zurück: „Es war doch kein Dinner, sondern ein Test. Schon vergessen?“

Seufzend stand sie auf. „Dann sagen Sie mir wenigstens, dass ich ihn bestanden habe.“

Beim Einsteigen sah sie auf der anderen Seite der Straße eine Bushaltestelle. „Ach, und können Sie mir auch sagen, wie ich am besten von meinem Hotel zum Krankenhaus komme? Soll ich den Bus, die Straßenbahn oder die U-Bahn nehmen?“

„Keins davon.“ Giovanni ließ seinen Sicherheitsgurt einrasten. „Ich hole Sie ab.“

„Das geht nicht“, widersprach sie sofort. „Ich möchte Ihnen keine Umstände machen. Vor allem, da Sie ja auch noch an Sofia denken müssen.“

„Das bereitet keine Umstände.“

Energisch schüttelte Autumn den Kopf. „Nein, es wäre eine absolute Zumutung. Außerdem muss ich lernen, mich alleine in der Stadt zurechtzufinden.“

Wieder steuerte Giovanni seinen Wagen mühelos durch den Verkehr. „Vielleicht in ein paar Tagen. Aber die ersten paar Male werde ich Sie abholen, um Ihnen noch ein paar Dinge zu zeigen und ein bisschen Zeit zu geben, sich einzugewöhnen.“

Natürlich wusste sie sein Angebot zu schätzen, aber sie war eine sehr unabhängige Frau. Auch wenn sie keine Lust hatte, in Rom Auto zu fahren, wollte sie auf jeden Fall selbstständig bleiben. „Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte sie daher entschieden. „Aber ich finde mich lieber selbst zurecht.“

Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, und falls Autumn nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht sogar darüber amüsiert. Sie wusste nicht, ob dies die typisch italienische Ritterlichkeit war oder er als ihr Kollege besonders auf sie aufpassen wollte. Aber sich darauf zu verlassen, dass sie von Giovanni zur Arbeit und wieder zum Hotel zurückgebracht wurde, kam für sie nicht infrage.

Sie würden ohnehin eng genug zusammenarbeiten. Es hatte noch nicht mal einen ganzen Tag gedauert, und sie versuchte schon, so zu tun, als würde sie diesen Mann nicht unglaublich attraktiv, interessant und sexy finden. Sie brauchte unbedingt etwas Freiraum, um sich von seiner Anziehungskraft zu erholen.

Obwohl er nicht sonderlich erfreut zu sein schien, nickte er zustimmend. „Wie wäre es dann, wenn ich Sie nur morgen früh abhole und Ihnen auf dem Weg zum Krankenhaus die Verbindungen des öffentlichen Verkehrs zeige, die Sie nutzen können? Es gibt einige Orte, die Sie meiden sollten, um Ihre Sicherheit nicht zu gefährden.“

„Gut, dann also morgen früh“, erwiderte Autumn widerstrebend.

Als sie die faszinierenden Sehenswürdigkeiten und Straßen Roms vorbeiziehen sah, war ihr klar, dass sie die Stadt auf eigene Faust erkunden wollte. Deshalb wandte sie sich Giovanni zu und erklärte bestimmt: „Und danach werde ich allein zurechtkommen.“

Ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Kein Problem“, meinte er.

Sobald er vor ihrem Hotel anhielt, stieß Autumn einen tiefen Atemzug aus. Lächelnd drehte sie sich zu Sofia um. „Es war schön, dich kennenzulernen, und ich hoffe, dass wir uns bald mal wiedersehen.“

Mit ihren großen braunen Augen sah Sofia sie eindringlich an. Nach ein paar Sekunden des Schweigens nickte das Mädchen. „Ich glaube, wir werden Freunde sein“, sagte sie.

Autumn lächelte erneut. „Das glaube ich auch.“

Da klickte ihre Tür. Giovanni war wieder ausgestiegen, um ihr die Tür zu öffnen. Das schien eine Angewohnheit von ihm zu sein. Außerdem hatte er inzwischen ihren Trolley aus dem Kofferraum geholt.

Sobald sie die Beine ausstreckte, schlug ihr sofort die warme Abendluft entgegen. Beim Aufstehen schwankte Autumn leicht, sodass Giovanni schnell den Arm um sie legte.

„Alles okay?“, fragte er.

Als sie ihn ansah, erstarrte sie förmlich. Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, was ihr schlagartig den Atem raubte.

Giovannis dunkle Augen schienen Autumn unwiderstehlich anzuziehen. Der schwache Duft seines Aftershaves hüllte sie ein. Sie hatte nach seinem Jackett gegriffen, um sich festzuhalten. An ihrer Taille spürte sie seine Hand, deren Wärme bis auf ihre Haut durchdrang.

Es war, als würde die Zeit stillstehen. Der Lärm der Stadt war zwar noch da, aber es kam ihr vor, als wären sie in einer Seifenblase eingeschlossen, in der nur sie beide existierten. Sie nahm jede Einzelheit an ihm wahr. Das dunkle Haar, den kurzen Bart, die feinen Linien um seine Augen …

„Habe ich den Test bestanden?“, fragte sie kaum hörbar.

Er lächelte. „Absolut.“

Zwischen ihnen entstand ein Moment der Stille, bis er schließlich seinen Arm sinken ließ und zurücktrat.

Erst jetzt konnte Autumn wieder atmen.

Ringsum wurden zahlreiche Leute zu dem Hotel gebracht. Es war zwar nicht so groß wie einige andere, aber offenbar sehr beliebt.

Auf einmal schien sich der Lärm um sie herum wieder zu verstärken, und Autumn rief sich rasch zur Vernunft. Was war da gerade passiert?

„Sieben Uhr morgen früh?“ Giovanni stand auf der anderen Seite des Autos und war im Begriff einzusteigen.

„Ja, gerne. Vielen Dank.“ Autumn winkte Sofia zu, ehe sie nach ihrem Trolley griff und sich dem Hoteleingang zuwandte.

Sie brauchte dringend etwas Schlaf. Das war alles. Seit dem gestrigen Anruf hatte sie die ganze Zeit unter Strom gestanden, und heute war einfach sehr viel auf sie eingestürmt. Obwohl sie damit gerechnet hatte, war es doch anders gekommen als erwartet.

Autumn ging durch das Hotelfoyer und drückte auf den Liftknopf. Es war alles in Ordnung. Jetzt wollte sie nur noch ihre Sachen auspacken, die sie am frühen Morgen hier abgestellt hatte, kurz duschen und dann sofort zu Bett gehen.

Aber schon als sie den Lift betrat, regte sich ein seltsames Gefühl in ihrer Magengrube. Und sie wusste, wessen Gesicht heute Nacht in ihren Träumen auftauchen würde …

4. KAPITEL

„Was ist los, papà?“

Gedankenverloren starrte Giovanni aus dem Fenster. Sofias Stimme brachte ihn abrupt in die Realität zurück, und er knöpfte sich das kurzärmlige Hemd zu, das er zur Arbeit tragen wollte.

„Gar nichts, Schätzchen“, sagte er schnell. „Ich bin gleich fertig.“

Sofia stieg auf den Stuhl neben ihm und schaute ihn durchdringend an. „Das machst du ständig“, stellte sie in strengem Ton fest.

Autor

Caroline Anderson

Caroline Anderson ist eine bekannte britische Autorin, die über 80 Romane bei Mills & Boon veröffentlicht hat. Ihre Vorliebe dabei sind Arztromane. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt und sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Suffolk, England.

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Susan Carlisle
Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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