Julia Best of Band 259

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DAS GRÖSSTE GESCHENK
Endlich hat Lederwarenmagnat Tristano den Beweis dafür, dass seine Konkurrentin Emily seine Designs kopiert! Mit diesem Wissen will er sie zwingen, ihren Firmenstreit beizulegen. Allerdings enden die Verhandlungen mit seiner schönen Rivalin völlig anders als geplant!

ZWISCHEN HERZ UND KRONE
Seine Aufgabe ist es, Prinzessin Chantal zu beschützen – aber Demetrius kann sich dem erotischen Charme seines Schützlings nicht entziehen. Es widerspricht seinem Berufsethos – und dennoch: er muss sie küssen. Auch wenn es für ihre Liebe keine Zukunft gibt …

PRINZESSIN FÜR EINE NACHT?
Ein ganz normales Mädchen aus Texas? Von wegen! Weil Hannah verblüffende Ähnlichkeit mit Prinzessin Emmeline hat, soll sie mit ihr die Rollen tauschen! Und plötzlich ist Hannah Prinzessin – und landet im Schlafgemach von König Zale, mit dem Emmeline verlobt ist …


  • Erscheinungstag 25.11.2022
  • Bandnummer 259
  • ISBN / Artikelnummer 0812220259
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Jane Porter

JULIA BEST OF BAND 259

1. KAPITEL

„Sie können mich nicht festnehmen.“ Ihre Stimme verriet nichts von der Eiseskälte, die Emily Pelosi innerlich spürte. „Ich habe nichts getan.“

„Treten Sie beiseite, Mademoiselle“, wiederholte der uniformierte Zollbeamte ungerührt und zerstörte damit die angenehme Wirkung seines weichen karibischen Tonfalls.

Emily versuchte, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen. So leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. Sie war nie schüchtern gewesen. Nach ihrem fünfjährigem Kampf, in dem sie Gleiches mit Gleichem vergolten hatte, stand sie mit beiden Beinen fest auf der Erde und galt, wie die „Times“ einmal geschrieben hatte, als „bemerkenswert kaltblütig“.

„Haben Sie eine rechtliche Grundlage für meine Festnahme?“, fragte sie ruhig.

Der Zollbeamte sah sie an, als wäre sie ein störrisches Kind. „Ja“, antwortete er knapp.

Emily überdachte kurz ihre Situation. Offensichtlich steckte sie in ernsthaften Schwierigkeiten. Es hatte keinen Sinn, sich diesen Mann zum Feind zu machen. „Ich verstehe“, erwiderte sie dann betont freundlich. „Könnte bitte jemand meine Freundin hereinholen? Sie wartet draußen.“

„Das lassen Sie mal unsere Sorge sein, Mademoiselle.“

Emily blickte beiseite und schluckte. Der lange Schleier ihres kastanienbraunen Haars verdeckte ihr Gesicht und verbarg ihre Verärgerung. Bleib ruhig, ermahnte sie sich. Anne wird bestimmt gleich zurückkehren, und wir werden das Problem irgendwie lösen.

Ihr Kopf dröhnte, und ihre trockenen Augen brannten nach dem langen Flug von London nach Anguilla. Aufmerksam betrachtete sie durch ein Fenster den kleinen Terminal des Inselflughafens. Das niedrige Betongebäude war völlig verlassen. Der Zollbeamte und sie waren ganz allein.

Zum ersten Mal wünschte sich Emily, sie hätte genau wie ihre Freundin Anne den Flug zum Schlafen genutzt. Stattdessen hatte sie die ganze Zeit an ihren neuen Entwürfen gearbeitet. Wie jeden Tag. Emily Pelosi, die Frau, die nur für ihren Job lebte.

Mit erschreckender Klarheit stand Emily plötzlich das Bild ihres merkwürdigen Lebens vor Augen – ein Leben auf internationalen Flughäfen und in fremden Hotels, bei Geschäftsbesprechungen und unzähligen Bechern grünen Tees.

Ich lebe gar nicht wirklich, ich kämpfe immer nur, dachte sie bedrückt. Wann nimmt das endlich ein Ende? Doch im Moment musste sie sich auf praktischere Dinge konzentrieren – zum Beispiel darauf, dass Anne draußen auf sie wartete. „Mir ist klar, dass es Sie nicht interessiert, ob meine Freundin sich Sorgen macht. Aber könnte ihr vielleicht jemand sagen, was passiert ist?“

„Ihrer Freundin ist bereits mitgeteilt worden, dass sie nicht auf Sie zu warten braucht.“ Der Zöllner verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber Sie, Mademoiselle, müssen hierbleiben, bis die Polizei eingetroffen ist.“

Die Polizei? Emily flog seit Jahren über Anguilla nach St. Matt’s und war hier noch nie aufgehalten worden. „Haben Sie etwa einen Haftbefehl gegen mich?“, fragte sie und spürte, wie ihr Magen sich vor Nervosität zusammenkrampfte.

„Ja, Mademoiselle. Wir sind von Interpol informiert worden, dass in Europa ein Haftbefehl gegen sie vorliegt.“ Die Stimme des Zöllners hatte den weichen Tonfall verloren, war härter geworden.

„Aber Anguilla gehört doch gar nicht zu Europa.“

„Nein. Trotzdem arbeiten wir eng mit den europäischen Zollbehörden zusammen, um den internationalen Schmuggel in den Griff zu bekommen.“

Internationaler Schmuggel. Plötzlich begriff Emily. „Wurde der Haftbefehl gegen mich etwa in Italien ausgestellt?“

„Das ist richtig, Mademoiselle. Genauer gesagt: Die Anzeige stammt von einer italienischen Designerfirma namens Altagamma.“

Altagamma. Emily verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. Natürlich. Allmählich fügten sich die Puzzleteile zu einem Bild zusammen. Altagamma war ein Konzern, der exklusive italienische Designermode verkaufte. In den letzten Jahren war die Nachfrage nach diesen edlen Kollektionen immer weiter gestiegen, sodass Altagamma inzwischen zu den weltweit führenden Unternehmen in der Modebranche gehörte. Und Tristano Ferre war der neue Vorstandsvorsitzende.

Emily spürte, wie ein Frösteln sie überlief.

Tristano Ferre. Er steckte also hinter dieser Sache.

Plötzlich spürte Emily eine ungeheure Wut in sich aufsteigen.

Es gab nur wenige Menschen, die sie so gut kannte wie Tristano. Wenige, die sie so heftig verabscheute. Tristano hatte vor einigen Jahren die Nachfolge seines Vaters angetreten. Briano Ferre war hart, unnachgiebig und gnadenlos gewesen. Doch Tristano war noch tausend Mal schlimmer.

„Ah, da sind sie ja.“ Der Zöllner atmete erleichtert auf. „Die Herren von der Polizei sind eingetroffen.“

Emily hörte einen metallischen Klang. Sie drehte sich um und sah, wie drei Männer durch eine Seitentür den kleinen Terminal betraten, zwei in Uniform und einer in Zivilkleidung. Ihr Kampf gegen die Familie Ferre hatte offensichtlich gerade erst begonnen.

Zwei Stunden später waren die Ermittler gegangen, und Emily saß allein in dem kleinen Raum, von dessen Existenz sie trotz ihrer zahlreichen Flüge zu der Insel bisher keine Ahnung gehabt hatte.

Sie fühlte sich müde und hungrig – man hatte ihr während der ganzen Zeit weder etwas zu essen noch zu trinken angeboten.

Nachdenklich blickte sie auf ihre Hände, die noch immer den Riemen der eleganten Handtasche umklammert hielten. An ihren Fingern funkelten keine Ringe, ihre Nägel waren unlackiert, glatt gefeilt und kurz, wie immer. Sie hatte praktische Hände, und trotzdem führte sie ein unpraktisches Leben.

All die Reisen nach China, die vielen Besprechungen Tag für Tag … Ursprünglich waren Emilys Geschäftsbeziehungen zu Asien nur ein Racheakt gegen die Familie Ferre gewesen. Doch inzwischen hatte sich daraus eine tief verwurzelte Bindung zu Land und Leuten entwickelt. Emily bewunderte die Kraft der Menschen, die sich auch unter schwierigen Umständen ihren Sinn für Humor bewahrt hatten und nun mit viel Kreativität und Fleiß versuchten, den Traum von einer eigenen, unabhängigen Existenz zu verwirklichen.

Die Tür öffnete sich beinahe lautlos. Doch Emily hatte es gehört und hob den Kopf.

Tristano stand auf der Schwelle. Sein dichtes dunkelbraunes Haar war ordentlich gekämmt. Trotz seiner eleganten Kleidung hatte er noch immer etwas ungeheuer Männliches. Er war sehr groß und breitschultrig. Kräftig und robust. Auf den ersten Blick glich er eher dem Bild eines phönizischen Seefahrers als dem eines international erfolgreichen Herstellers italienischer Designermode.

„Buongiorno, Emily.“ Der Klang seiner tiefen Stimme streichelte ihre Haut. Emily biss die Zähne zusammen und fühlte sich zum ersten Mal richtig elend.

Sie hatte sich schon gefragt, wann Tristano hier auftauchen würde. Hatte ihn erwartet, seit sie von dem Zöllner erfahren hatte, dass Altagamma hinter ihrer Festnahme steckte. Doch ihm jetzt gegenüberzustehen war schlimmer, als sie erwartet hatte. Sie hasste Tristano. Hasste ihn so sehr, dass es ihr beinahe den Atem raubte.

„Diesmal entkommst du mir nicht“, fuhr Tristano in freundlichem Tonfall fort, als wären sie zwei alte Freunde, die sich nach langer Zeit zufällig wiederbegegneten.

Natürlich hatte er nicht aufgegeben. Er würde niemals aufgeben. Nicht bevor er sie als Bedrohung für seine Firma ausgeschaltet hatte. Das letzte Gerichtsverfahren lag inzwischen zwei Jahre zurück. Doch er hatte weitergemacht. Das hätte ihr eine Warnung sein sollen.

„Tristano, was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?“

Er betrat den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Bei dem Klicken von Metall auf Metall zuckte Emily zusammen.

Tristano kam näher, und sie hätte den Blick am liebsten abgewandt. Doch diese Genugtuung wollte sie ihm nicht gönnen.

„Lass mich raten: Du willst mich höchstpersönlich verhören?“, fragte sie spöttisch. Ruhig schlug sie ein Bein über das andere und faltete die Hände im Schoß.

Er sah sie mit seinen ungewöhnlich dunkelblauen Augen eindringlich an. „Es ist mir ernst, Emily.“

Ein Anflug von Panik erfasste sie, während er immer näher kam. Sein eleganter Anzug saß perfekt. Unter dem blauen Hemd zeichneten sich deutlich die festen Muskeln ab. „Das bezweifle ich nicht, Tristano.“ Er war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Härter. Aber sie war ebenfalls stark und hart. Langsam verzog sie die Lippen zu einem kühlen, herausfordernden Lächeln. „Du hast Geld verloren.“

„Ja, ich habe Geld verloren, aber die Firma auch. Du verletzt nicht nur mich. Du schädigst viele, viele Menschen.“

„Nur weil Pelosi-Design immer erfolgreicher wird?“

„Ferre-Design“, verbesserte er sie.

„Es sind nicht deine Entwürfe, sondern meine. Pelosi-Design.“

Tristano stand hoch aufgerichtet vor ihr und blickte mit halb zusammengekniffenen Augen zu ihr hinab. Nur der Tisch war zwischen ihnen. „Weshalb sind deine Handtaschen und Koffer dann exakte Kopien von unseren?“

Emily zuckte mit den Schultern. „Es ist so, wie ich den Ermittlern bereits gesagt habe: Diese Taschen und Koffer sehen sich einfach nur sehr ähnlich. Mein Unternehmen ist völlig legal.“

„Unsinn. Mit deiner neuen Kollektion bist du endgültig zu weit gegangen. Du verkaufst die Taschen unter dem Namen Ferre & Pelosi, aber diese Bezeichnung steht exklusiv für die Produkte meines Unternehmens.“

Emily zuckte mit den Schultern. „Der Name stammt nicht von mir. Wenn die Händler die Waren so nennen, wie soll ich sie davon abhalten? Ich lebe in London und nicht in Chicago oder San Francisco.“

Tristano beugte sich über den Tisch und sah ihr in die Augen. Seine Stimme wurde so leise, dass sie sich anstrengen musste, um seine Worte zu hören. „Was du tust, ist gefährlich, cara.“

Cara, Liebste. Sie war einmal seine cara gewesen. Damals, als sie noch jung und unschuldig gewesen war. Und voller Vertrauen. Tristano hatte ihr dieses Vertrauen genommen und alles andere auch. Deshalb sagte sie nichts, sondern hielt seinem Blick trotzig stand. In gewisser Weise war sie sogar dankbar dafür, dass der Kampf endlich von Angesicht zu Angesicht stattfand.

Ihr Schweigen provozierte ihn, und seine Miene wurde hart. „Wo sind die moralischen Grundsätze geblieben, die dir doch angeblich so wichtig sind?“, fuhr er Emily an und beugte sich so weit vor, dass sie den herb-würzigen Duft seines Rasierwassers roch.

„Und wo sind deine?“, erwiderte sie.

„Alles, was ich tue, ist legal. Während du … Du bist eine Freibeuterin.“

Eine Freibeuterin? Emily musste beinahe lachen. Tristano hatte recht. Sie kam sich manchmal wirklich wie eine Freibeuterin vor – wie einer der vielen Seeräuber und Schmuggler, die sich im 17. Jahrhundert in der Karibik niedergelassen hatten.

„Man sollte meinen, dein Vater hätte mehr Wert auf deine Erziehung gelegt und dir etwas Anstand beigebracht“, fuhr er scharf fort.

„Lass meinen Vater bitte aus dem Spiel. Ich tue nur, was ich tun muss.“

„Trotz aller Konsequenzen?“

„Ich habe keine Angst.“

„Nein, du bist einfach wahnsinnig“, schloss er und schüttelte unmerklich den Kopf. Er bemerkte das Blitzen in ihren grünblauen Augen und erkannte, wie entschlossen sie war, ihn zu Fall zu bringen.

Alles in Emily war auf Rache ausgerichtet. Auf Rache an ihm und seiner Familie. Doch sie ging nicht nur verwegen vor, sondern auch klug. Äußerst klug und erstaunlich vorsichtig. Nur leider war er ebenso klug und noch vorsichtiger als sie. Diesmal würde er dafür sorgen, dass seine Beschuldigungen hieb- und stichfest waren.

Diesmal würde Emily Pelosi zur Verantwortung gezogen werden.

„Das Polizeiflugzeug ist startbereit“, sagte er und setzte sich dicht neben sie auf die Tischkante, rückte ihr regelrecht zu Leibe.

Er sah, dass sie die Lippen heftig zusammenpresste. Emily mochte nicht bedrängt werden, schon gar nicht von ihm. Ihr Pech. Diesmal würde sie nicht bekommen, was sie wollte. Diesmal behielt er die Oberhand.

Sie legte den Kopf zurück, und das lange Haar fiel über ihren Rücken. „Die Maschine ist startbereit? Dann leb wohl, Tristano.“

Er musste sie einfach bewundern. Die Frau hat Schneid, dachte er und genoss das Funkeln in ihren Augen. Emily war nie einem Kampf ausgewichen, schon als Kind nicht. Sie hatte sich immer heftig für ihren Standpunkt eingesetzt und ihre Familie und auch ihre Freunde leidenschaftlich geliebt. Während ihrer Kindheit und Jugend hatte er sie nie als Engländerin betrachtet. Für ihn war sie immer durch und durch eine Italienerin gewesen.

Doch jetzt war sie kein junges Mädchen mehr, sondern eine Frau – und der Inbegriff von Verschlagenheit und Kälte.

„Die Polizisten werden dich nach San Juan bringen, wo die weiteren Vernehmungen stattfinden.“

„In Ordnung.“

„Sie werden dich ins Gefängnis stecken.“ Er verzog die Lippen und fuhr mit leicht er Verbitterung in der Stimme fort: „Zu all den anderen Dieben, Schmugglern und Kriminellen, die auf ihren Prozess warten.“

Emily schob ihr Bein höher den anderen Schenkel hinauf, ohne eine einzige Knitterfalte in ihrer makellosen Nadelstreifenhose zu erzeugen. Zu dem teuren Designerstück trug sie ein schwarzes rückenfreies Top, das ihre schmalen blassgoldenen Schultern und ihren schlanken Hals freigab. „Wunderbar. Sag ihnen, dass ich bereit bin.“

„Es macht dir nichts aus, ins Gefängnis zu gehen?“

„Nein.“

„Du wirst mit gefährlichen Leuten eingesperrt werden. Mit Leuten, die keinerlei Respekt vor einem Menschenleben …“

„Meinetwegen“, unterbrach Emily ihn und hob ihr Kinn an. „Du hast ebenfalls keinerlei Respekt vor Menschenleben. Ehrlich gesagt, ich wäre lieber dort als hier mit dir.“

Maledizione. Emily war wirklich eine Freibeuterin. Eine bösartige Schönheit – tapfer, raffiniert, entschlossen und gefährlich. Hätte sie im 17. Jahrhundert gelebt, wäre sie garantiert den Spuren so berühmter Piratinnen wie Grace O’Malley, Anne Bonne und Mary Read gefolgt.

Stattdessen war sie hier mit ihm allein – schön, stolz und kampfbereit.

Und er begehrte sie. Er kam sich wie ein Kopfgeldjäger vor, so lange war er schon hinter ihr her, um sie an die Leine zu legen und sein Leben und Ferre-Design wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch im Gegensatz zu einem Kopfgeldjäger wollte er die Frau nicht im Gefängnis sehen, sondern in seinem Bett.

Er würde sie nicht den Behörden ausliefern. Aber das brauchte sie nicht zu wissen. Sollte sie ruhig glauben, dass er sie der Polizei übergeben wollte. Dass sie keine Wahl hatte, obwohl es in Wirklichkeit nicht der Fall war.

Es war an der Zeit, dass Emily Pelosi den Tatsachen ins Auge sah, und das würde sie diesmal tun. An einem einsamen Ort, an dem es kein Entkommen gab.

„Und was passiert jetzt?“, fragte sie. Sie klang beinahe gelangweilt, äußerst selbstzufrieden.

„Nach der Ausweisung oder nach deiner Zeit im Gefängnis?“

Sie verzog keine Miene. „Ich dachte eher an meine Freundin Anne. Was passiert mit ihr?“

„Sie ist schon auf dem Rückflug nach London.“

Tristano bemerkte ein kurzes Flackern in ihren Augen. Besorgnis? Furcht? Bedauern? Dann war der Ausdruck verschwunden, und ihr perfekt geformtes ovales Gesicht wirkte heiter wie zuvor.

„Macht dir der Gedanke, ins Gefängnis zu kommen, keine Angst?“, fragte er und versuchte Emily zu verstehen. Vor allem wollte er begreifen, wie sie sich seit der Zeit, als sie enge Freunde gewesen waren, derart hatte verändern können. „Freunde“ war allerdings nicht ganz der passende Ausdruck. Emily und ihn hatte mehr als Freundschaft verbunden. Sie waren ein Liebespaar gewesen. Einige Wochen in jenem August hatten sie jede freie Minute gemeinsam verbracht.

Tristano versuchte sich zu erinnern, wann er Emily das letzte Mal gesehen hatte. Allzu lange konnte es nicht her sein. Bis vor Kurzem hatte sie in denselben Kreisen verkehrt wie er. Sie stammten beide aus wohlhabenden italienischen Familien, die neben großen Häusern in Mailand weitläufige Güter in der Toskana besaßen, wo der Wein wuchs und die Olivenhaine scheinbar endlose Flächen bedeckten. Doch die Probleme mit Emilys Vater hatten zu einem tiefen Bruch zwischen den beiden befreundeten Familien geführt. Kurz darauf waren die Pelosis von Italien nach England zurückgekehrt, woher Emilys Mutter stammte.

Doch obwohl halb Europa zwischen ihnen lag, war er öfter mit Emily zusammengetroffen, als man vermutet hätte. Vor ein oder zwei Jahren hatten sie beide eine Party in Siena besucht. Außerdem hatte es eine Begegnung auf dem Flughafen gegeben. Emilys Maschine war soeben gelandet, und seine Maschine hatte gerade starten sollen. Beide Male hatten sie nicht miteinander gesprochen, sondern sich nur angesehen. Dann waren sie weitergegangen.

Irgendwann hatte er einsehen müssen, dass Emily tatsächlich nicht mehr mit ihm reden wollte. Und er selbst war sich auch gar nicht sicher gewesen, was er ihr hätte sagen können.

Nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte sie bitten wollen, den Kampf gegen seine Familie zu beenden, bevor er ernsthafte Maßnahmen ergreifen musste. Doch als sie ihn bei der Begegnung auf dem Flughafen mit so viel Hass in den Augen und so eiskalt angesehen hatte, war er nicht in der Lage gewesen, den Graben zu überwinden und vernünftig mit ihr zu reden.

Emily.

Er war nur vier Jahre älter als sie. Doch er kam sich wie ein alter weiser Mann vor. Er wusste, dass ihre Situation diesmal hoffnungslos war. Die Sicherheitsbehörden hatten genügend Beweise gesammelt, genügend Muster, die Emily alles kosten würden – absolut alles.

„Du möchtest doch nicht wirklich ins Gefängnis“, sagte Tristano grob, wohl wissend, dass Emily nicht auf ihn hören würde. Wenn eine gemeinsame Woche mit ihm sie nicht davon überzeugen konnte, ihren Kurs zu ändern, würde er den Rechtsweg einschlagen müssen und dafür sorgen, dass sie die ganze Macht des Gesetzes treffen würde. Aber zunächst wollte er eine Woche mit ihr verbringen. Ein gemeinsames Weihnachtsfest.

„Es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht möchte und die trotzdem geschehen“, antwortete Emily und blickte auf ihre Armbanduhr, als müsste sie dringend zu einem Termin. Erneut staunte er über ihre Kaltblütigkeit und ihre unglaubliche Willenskraft.

„Du hast noch andere Möglichkeiten“, sagte er.

Emily atmete langsam ein und ebenso langsam wieder aus. Sie war erschöpft, und sie wusste, dass sie nicht ewig kämpfen konnte. Aber sie wusste auch, dass sie weitermachen würde, bis sie Tristano besiegt und die Ehre ihrer Familie wieder hergestellt hatte. „Ich werde nicht aufgeben“, erklärte sie.

Seine Mundwinkel zuckten. Doch seine dunkelblauen Augen blickten hart und verrieten keinerlei Mitgefühl. „Das erwarte ich auch gar nicht.“

„Also, welche Möglichkeiten habe ich dann? Wie kann ich meine Verhaftung verhindern?“

„Du kannst sie nicht verhindern, denn sie ist bereits erfolgt. Aber es liegt an dir, wo du die Weihnachtstage verbringen wirst.“ Er hielt inne, und Emily sah ihn erwartungsvoll an. „Du kannst in die Maschine nach San Juan steigen“, fuhr er ungerührt fort. „Oder du kannst mit zu mir nach Hause kommen.“

„Zu dir nach Hause?“

„Nach St. Matt’s.“

„St. Matt’s ist nicht dein Zuhause.“

Tristano zog die Augenbrauen in die Höhe, und Emily biss sich heftig auf die Unterlippe. Was hatte dies alles zu bedeuten? Ein Dutzend Fragen schoss ihr durch den Kopf. Doch sie würde keine einzige stellen. Sie musste kühl bleiben, gefasst, und durfte ihre restliche Würde nicht verlieren. Tristano sollte auf keinen Fall merken, wie sehr er sie erregte. Und er erregte sie nur allzu sehr. Nicht als Gegner, sondern als Mann.

Und das machte ihn zum gefährlichsten Gegner überhaupt.

„Habe ich dich richtig verstanden?“, begann sie, stand vom Tisch auf und wich vor seinem kraftvollen Körper zurück.

In den letzten fünf Jahren war sie mit gewaltigen Schwierigkeiten konfrontiert worden – mit mehr Problemen, als sie sich jemals hätte träumen lassen. Trotzdem hatte sie alle Krisen überstanden, indem sie einen kühlen Kopf bewahrte und sich ihre wahren Gefühle nicht anmerken ließ. Doch das fiel ihr jetzt unwahrscheinlich schwer. Anstatt nach einem Ausweg für ihr Problem zu suchen, dachte sie ständig an ihn. „Ich stehe weiterhin unter Arrest, werde aber nicht ausgewiesen, wenn ich einwillige, dich in dein Haus auf St. Matt’s zu begleiten?“

Tristano nickte zustimmend.

„Wie praktisch für dich“, sagte sie spöttisch und warf ihm einen eisigen Blick zu.

„Ich würde es eher als unpraktisch bezeichnen. Aber wozu über Worte streiten?“

„In der Tat.“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. Sie sah Tristano einen langen Moment an. Dann wandte sie den Kopf ab und verzog die Lippen zu einem harten Lächeln. Wenn dies ein Krieg war – und sie führten seit Jahren Krieg –, dann hatte Tristano soeben eine wichtige Schlacht gewonnen. Aber nicht den Kampf. Noch hatte er sie nicht zur Strecke gebracht.

Immer noch ein wenig lächelnd, sah sie ihn wieder an. „Vielleicht möchte ich lieber nach San Juan fliegen.“

„Das würde mich nicht erstaunen, liebste Em. Du hast schon immer den unbequemeren Weg vorgezogen.“ Emily schluckte ihre Bemerkung hinunter. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und schob ihr Kinn vor. „Würdest du mich bitte Emily nennen und nicht Em?“ Sie hasste diese Abkürzung. Ihr Vater hatte sie so genannt. Es tat weh, wenn Tristano ausgerechnet diese intime Form ihres Vornamens verwendete.

Tristano hatte dazu beigetragen, ihren Vater zu vernichten. Er hatte ihm alle Kraft geraubt, alle Macht genommen, seinen Stolz und seine Würde – bis ihr Vater innerlich völlig leer gewesen war. Tot.

„Wenn es dich glücklich macht, cara.“

„Was willst du wirklich, Tristano?“

Er stand auf, trat näher und richtete sich hoch vor ihr auf. „Das weißt du genau. Die Frage ist, ob du zu einer Zusammenarbeit mit mir bereit bist.“

„Du denkst doch gar nicht an eine Zusammenarbeit. Du willst meine Firma zu Fall bringen.“

„Deine Firma ist keine Firma!“ Tristano hob die Stimme. Seine Verärgerung war beinahe mit Händen zu greifen. „Sie beruht einzig und allein darauf, meine Entwürfe zu kopieren und meine Preise zu unterbieten.“

„Ich biete den Käufern ein vergleichbares Produkt zu niedrigeren Kosten an. So etwas nennt man freien Handel. Das solltest selbst du begreifen.“

Er kniff die Augen ein wenig zusammen. Winzige Fältchen bildeten sich in den Winkeln. Seine Verärgerung war unübersehbar. „Es wäre freier Handel, wenn du tatsächlich ein vergleichbares Produkt anbieten würdest. Aber das tust du nicht. Du ahmst unsere gesamte Kollektion bis ins letzte Detail nach und überschwemmst den Markt mit gefälschten Lederwaren, die mein Unternehmen vernichten.“

„Wie schrecklich.“ In Wirklichkeit fand Emily diese Tatsache alles andere als schrecklich.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Tristano an jenem Weihnachtsmorgen bei ihr gewesen wäre. Wenn er versucht hätte, ihren Vater zu retten, bevor ihre Mutter ihn entdeckte … Wenn er mit eigenen Augen die regungslose Gestalt am Boden gesehen und die zunehmende Hoffnungslosigkeit gespürt hätte, während er verzweifelt versuchte, Luft in die leblosen Lungenflügel zu pressen. Vielleicht hätte Tristano dann begreifen können, was Emily jetzt empfand. Es ging hier nicht um Designerstücke. Es ging um Gerechtigkeit.

Es ging um Rache.

Und sie würde ihre Rache bekommen. Sie würde einen Weg finden, damit die arme Seele ihres Vaters endlich Frieden fand.

Und sie selbst vielleicht auch.

„Wie ich bereits sagte, Em: Die Sache ist ernst.“

Ihre Augen brannten, und ihr Herz hämmerte wie wild. Heftiger Schmerz erfasste sie. Zu deutlich stand ihr das Bild ihres leblosen Vaters noch vor Augen. Es hatte sich für immer in ihr Gedächtnis gegraben. „Das ist mir klar.“

„Ich werde dich anzeigen.“

„Davon bin ich überzeugt.“ Sie lächelte erneut, wenn auch nur, um die Tränen zu unterdrücken, ihre angespannten Gesichtsmuskeln zu lockern und ihre Nervosität, ihr Begehren und ihr Verlustgefühl unter Kontrolle zu bringen. „Du verfolgst mich aus einem einzigen Grund: weil ich erfolgreich bin. Ich schade deinem Geschäft. Ich bin gut – so gut, dass du gezwungen bist, mich zu stoppen, um deine Verluste wieder auszugleichen.“

Tristano sagte nichts. Doch sie erkannte an seiner Miene, an seinem verkniffenen Mund und der Härte in seinen Augen, dass sie recht hatte. Sie war gut. Ihre neue Kollektion erfreute sich – sehr zu seiner Bestürzung – immer größerer Beliebtheit. Wie sollte es auch anders sein? Die Entwürfe waren ausgezeichnet, und Tristano selbst hatte ihr gezeigt, wie man ein Unternehmen erfolgreich führte.

Sie hatte sich von der Familie Ferre nicht einschüchtern lassen, sondern ihr Wissen genutzt. Dank Tristanos Vorbild war sie eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau geworden, die internationale Anerkennung in der Modebranche genoss.

„Es wird eine ziemlich hässliche Sache werden, wenn ich vor Gericht gehe“, sagte er jetzt.

„Mit deiner Klage wirst du keinen Erfolg haben.“

„Oh doch, das werde ich. Diesmal hast du keine Chance. Ich werde die Klage zunächst in den Vereinigten Staaten einreichen. Und die amerikanischen Gerichte werden zweifellos anerkennen, dass deine Taschenkollektion eine Kopie der Entwürfe von Ferre-Design ist.“

„Obwohl die Ferres nicht die geringste künstlerische Ader in ihren habgierigen Leibern haben?“

„Die amerikanische Verfassung schützt geistiges Eigentum.“

„Ganz genau. Und eure Entwürfe stammen von meinem Vater.“

Tristano verschränkte die Arme vor der Brust. „Allein die Gerichtskosten werden dich ruinieren.“

Emily dachte an die harten Jahre nach dem Selbstmord ihres Vaters, die Verzweiflung ihrer Mutter und die Angst vor dem finanziellen Ruin. „Ich bin vorbereitet.“

„Emily!“

„Du kennst die Wahrheit“, sagte sie verbittert und trat wütend näher. Glaubte Tristano etwa, dass sie Angst vor ihm hatte? Glaubte er, er könnte ihr noch mehr antun, als er bereits getan hatte? „Ihr habt uns vernichtet, Tristano. Du und dein Vater. Bilde dir ja nicht ein, dass ich dir das jemals vergeben könnte. So großherzig bin ich nicht. Ich kann nicht vergeben, und ich kann nicht vergessen. Und damit basta.“

Tristano atmete tief ein und hielt bebend die Luft an. Emily stellte seine Willenskraft auf eine harte Probe. Er wollte sie berühren. Er wollte sie in seine Arme ziehen, seine Lippen auf ihre pressen und ihren Mund in Besitz nehmen, bis sie endlich Verstand annahm. Oder ihn endgültig verlor. Doch er riss sich energisch zusammen.

„Du kennst nicht die ganze Wahrheit, Em“, sagte er leise und starrte auf ihre vollen, sanft geschwungenen Lippen. Sie hatte den Mund eines italienischen Filmstars. Doch ihre Augen waren von dem verblüffenden Blaugrün echter englischer Schönheiten. „Wenn die Sache vor Gericht geht, wirst du die Wahrheit erfahren. Gemeinsam mit Tausenden von Fremden.“

Leichte Röte überzog ihre Wangen. „Damit werde ich schon fertig.“

„Emily, Emily …“ Tristano schüttelte den Kopf. „Das glaube ich kaum.“

„Du hast keine Ahnung …“

„Nein, du hast keine Ahnung“, unterbrach er sie scharf, und seine tiefe Stimme klang brüchig vor Ärger und Ungeduld. „Wenn du glaubst, es ertragen zu können, jeden Tag neue Geschichten über dich und deinen Vater in der Zeitung zu lesen, dann denke wenigstens an deine Mutter. Könnte sie es auch? Hat sie das verdient? Ist das wirklich das Beste für sie?“

Emily blickte Tristano eindringlich an. Ihre blaugrünen Augen schienen eine dunklere Färbung angenommen zu haben. Er sah den Hass in ihrem Blick und merkte, wie aufgewühlt sie war. Doch sie wandte den Kopf ab, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. „Sie wird damit fertig werden“, erklärte sie heiser. „Sie hat schon eine Menge ausgehalten.“

Tristano lachte freudlos. „Dann zieh die Sache durch, cara. Lass deine Mutter noch mehr leiden.“

Er ging zur Tür und klopfte einmal, um zu verkünden, dass er fertig war. Die Tür öffnete sich, und der Zöllner in der grünen Uniform tauchte wieder auf. „Ist sie bereit?“, fragte er und nickte in Emilys Richtung.

Tristano warf Emily einen scharfen Blick zu. „Ja, sie ist bereit. Sie freut sich schon auf Weihnachten in San Juan. Stimmt’s, Em?“

Emily wurde es glühend heiß. Mit einem flauen Gefühl im Magen drehte sie sich zu Tristano und lächelte unnatürlich ruhig. „Ja, das stimmt.“

Er sah sie einen Moment regungslos an. „Du bringst mich noch um, carissima.“

Manchmal brachte sie sich selbst halb um.

Irgendwie war sie furchtbar verbittert geworden.

Plötzlich wollte Emily nicht mehr so kalt und stark sein. Doch sie konnte die Vergangenheit nicht abschütteln, konnte nicht vergeben oder vergessen. Nicht nachdem ihre Familie so zerstört worden war, dass nur noch der Schmerz sie am Leben hielt.

„Es geht um Ferre-Design“, erklärte sie mit gebrochener Stimme, und ihre Trauer hallte durch den kahlen Raum. „Und nicht um mich.“

Tristano sah sie an, und ein Muskel zuckte in seiner Wange. „Bist du sicher?“, fragte er. Als sie nicht antwortete, hob er kurz resignierend die Schultern. „Sie gehört Ihnen“, sagte er zu dem Zollbeamten und drehte sich wieder zu Emily. „Ich wünsche dir schöne Weihnachten. Wir sehen uns vor Gericht.“

„Und wann wird das sein?“

„Im Januar oder Februar. Je nachdem, welchen Verhandlungstermin wir bekommen.“ Er zögerte kurz. „Ich werde deine Mutter anrufen und ihr den Namen und die Telefonnummer des Gefängnisses in San Juan …“

„Bitte nicht, Tristano.“

„Sie wird es wissen wollen.“

„Tristano …“

„Sie ist deine Mutter. Sie hat ein Recht auf die Wahrheit.“

Entschlossen verließ er den Raum, und Emily blieb mit dem Zollbeamten allein.

Die Wahrheit? wiederholte Emily stumm. Das war nicht die Wahrheit! Die Wahrheit war, dass Briano und Tristano Ferre ihren Vater vernichtet hatten und auf dessen Kosten reich geworden waren.

„Wenn Sie bitte die Hände nach vorn strecken würden, Mademoiselle …“

Die Stimme des Zollbeamten brachte Emily in die Wirklichkeit und in den kleinen trostlosen Raum zurück, indem sie vernommen worden war.

Sie blinzelte ein wenig, um klarer zu sehen. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht, als sie erkannte, was der Mann vorhatte. „Sie wollen mir Handschellen anlegen?“

„Wenn Sie bitte die Hände nach vorn strecken würden?“, wiederholte er.

Sie würde tatsächlich ausgewiesen und nach San Juan geschickt werden, wo sie unter wer weiß welchen Bedingungen leben musste. Obwohl sie keine Angst um sich selbst hatte, fürchtete sie doch um ihre Mutter. Ihre Mutter war krank. Es ging ihr seit Jahren nicht gut. Sie würde den Gedanken an die Verhaftung der Tochter nicht ertragen – schon gar nicht nach den entsetzlichen Schmerzen der letzten sechs Monate. Ihre Arthritis hatte sich furchtbar verschlimmert und sie völlig entkräftet. Sie durfte auf keinen Fall noch stärker belastet werden.

Rasch fasste Emily einen Entschluss. „Holen Sie ihn zurück“, forderte sie den Zöllner auf. „Fangen Sie Tristano Ferre ab, bevor er den Flughafen verlässt.“

2. KAPITEL

Tristano lächelte. Er hatte gewusst, dass der Hinweis auf ihre Mutter Wirkung zeigen würde.

Emily glaubte wahrscheinlich, dass er sie nicht verstand. Doch er durchschaute sie weitaus besser, als er sich anmerken ließ. Möglicherweise war es nicht fair, sie mit dem Hinweis auf ihre Mutter zu überlisten. Aber was war schon fair im Krieg und in der Liebe?

Tristano beobachtete, wie Emily aus dem Flughafenterminal in die helle Nachmittagssonne geführt wurde. Sie war beinahe drei Stunden in dem kleinen Raum gewesen. Er wusste, dass sie seit ihrer Ankunft nichts gegessen hatte. Auch dass man ihr nichts zu trinken angeboten hatte. Und sie hatte einen Nachtflug hinter sich.

Doch als sie jetzt auf ihn zukam, sah sie erstaunlich frisch aus. Die weiße Jacke ihres Nadelstreifen-Hosenanzugs war immer noch knitterfrei und baumelte lässig über ihrer nackten Schulter. Das lange Haar glänzte in der Sonne, und die High Heels betonten Emilys selbstbewussten Gang.

Sie hätte als professionelles Model arbeiten können. Mehrere große italienische Agenturen hatten sich bei ihr gemeldet, als sie ein Teenager war. Doch sie hatte abgelehnt, die Schule beendet und eine Lehre in der Firma gemacht.

Tristanos Inneres zog sich schmerzlich zusammen. Das ist kein Schuldgefühl, redete er sich ein. Nur ein kurzes Aufflackern von Gewissensbissen.

Emily hatte ihre Arbeit geliebt.

Für sie war Ferre & Pelosi genauso wichtig gewesen wie für ihn. Doch man hatte ihr gekündigt, nachdem ihr Vater für das Unternehmen untragbar geworden war. Das musste sie tief verletzt haben. Rasch verdrängte er diesen Gedanken. Die Unterschlagungen ihres Vaters hätten die Firma beinahe ruiniert. Briano Ferre war keine andere Wahl geblieben, als sich von Alessandro Pelosi zu trennen.

„Na, hast du es dir anders überlegt?“, fragte Tristano, als Emily ihn erreicht hatte.

Sie schob das Kinn vor, und ihre Augen blitzten trotzig. „Besitzt du tatsächlich ein Haus auf St. Matt’s?“

„Ja, das tue ich.“

Sie sah ihn ungläubig an. „Die Flemmings haben es dir verkauft?“

„Schon vor fünf Jahren.“

„Das kann ich nicht glauben.“

„Weshalb nicht?“

„Sie hatten versprochen, es nicht zu tun.“

„Hast du die Flemmings jemals persönlich getroffen?“

Emily kniff die Augen leicht zusammen und betrachtete Tristanos hartes, aber attraktives Gesicht. Seine dunkelblauen Augen passten perfekt zu seinem dichten dunklen Haar und den dunklen Brauen. „Nein. Aber ich habe häufig mit ihnen telefoniert.“

„Aha“, sagte Tristano mit ausdrucksloser Miene. Emily ließ sich nicht anmerken, wie wütend sie war. Zwanzig Jahre hatte St. Matt’s ihrer Familie gehört. Zwanzig Jahre lang war die winzige Insel ihre zweite Heimat gewesen. Jedes Weihnachtsfest hatte die Familie dort verbracht. Doch am Ende war ihr Vater gezwungen gewesen, St. Matt’s an John Flemming zu verkaufen, einen reichen Amerikaner.

John Flemming war sehr nett gewesen und hatte den Kontakt mit ihnen aufrechterhalten. Er hatte sie wissen lassen, wann das Inselhaus frei war, für den Fall, dass die Pelosis St. Matt’s besuchen wollten.

Aber das hatten sie nie getan. Nicht nach dem Tod ihres Vaters. Obwohl es Tradition war, vor dem kühlen und feuchten Londoner Wetter in die karibische Sonne zu flüchten. Es wäre zu schmerzlich gewesen, hierher zurückzukehren, zu schmerzlich, alles wieder zu sehen, was sie geliebt und verloren hatten.

Tristano öffnete die Tür der bereitstehenden Limousine für sie. „Vielleicht hättest du etwas besser recherchieren sollen.“

Emily warf ihm einen finsteren Blick zu und glitt auf die Rückbank des Wagens. „Was soll das heißen?“

Er stieg nach ihr ein. „Dass es gar keine Flemmings gibt.“ Er schloss die Tür, und der Wagen fuhr los in Richtung Meer, wo eine Jacht auf sie wartete, um sie nach St. Matt’s zu bringen. „Um es genauer zu sagen: Es gibt zwar einen John Flemming. Aber die Insel gehört ihm nicht. Sie hat ihm nie gehört.“

Emily sah Tristano verwirrt an. „Das verstehe ich nicht.“

„John Flemming handelte in meinem Auftrag“, fuhr Tristano freundlich fort. „Er vertrat mich während des Kaufs von St. Matt’s.“

Emily wurde es ganz elend. Blind tastete sie nach dem Türgriff, als wollte sie aus dem fahrenden Wagen springen.

Tristano griff hinüber, legte seine Hand auf ihre und hielt sie fest. „Lass das lieber. Du würdest dir ein Bein brechen – oder Schlimmeres. Und anschließend noch mehr auf mich angewiesen sein, als dir lieb wäre.“ Seine Hand war hart, warm und viel zu intim. Unwillkürlich kehrten Emilys Gedanken zurück zu jenem Sommer vor vielen Jahren, als sie sich nichts mehr gewünscht hatte, als seine Hände auf ihrem Körper zu spüren. Nacht für Nacht hatte sie davon geträumt, wie seine Finger die sensible Stelle an ihrem Hals erforschten und dann verführerisch langsam tiefer glitten, bis sie weder atmen noch klar denken konnte.

Angewidert riss Emily ihre Hand fort. Tristano zog eine Braue in die Höhe und lächelte. Etwas ließ sie erschauern, und sie rutschte so weit wie möglich von ihm fort. „Rühr mich nicht an.“

„Du hast Angst vor mir.“

„Das habe ich nicht.“ Emily unterdrückte ihre Panik. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich heute buchstäblich in Tristanos Hände begeben hatte. Das ist nicht gut, dachte sie und blickte nervös aus dem Wagenfenster. Ich darf ihm nicht vertrauen.

„Wenn du keine Angst vor mir hast, warum zuckst du dann zurück, sobald ich näher komme?“

Sie erwiderte knapp: „Weil ich dich hasse.“

„Du hasst mich?“

Sie lachte. Es klang genauso verzweifelt, wie sie sich fühlte. Ihr Inneres brannte vor Erregung und dem beißenden Schmerz, der sich niemals legen wollte. „Ja, ich hasse dich.“ Sie sah Tristano an und ließ zu, dass er ihr in die Augen blickte. Ließ ihn sehen, was sie empfand, den brennenden Zorn in ihrem Innern. „Ich werde dir niemals vergeben, was du getan hast.“

„Du hasst mich, weil ich dich in dem Glauben gelassen habe, St. Matt’s würde den Flemmings gehören?“

„Nein, ich hasse dich für das, was du meinem Vater angetan hast. Was du der Firma angetan hast. Und meiner Familie.“

„Ich bin bereit, die Schuld für den Kauf der Insel auf mich zu nehmen. Doch alles Übrige …“ Er zuckte mit den Schultern, beugte sich vor und holte eine Flasche Mineralwasser aus dem winzigen Kühlschrank der Limousine. „Das war das Werk deines Vaters.“

Emily schloss die Augen. Mit aller Kraft rang sie um Selbstbeherrschung, die der Schmerz in ihr immer weiter zu zerstören drohte.

Doch mit geschlossenen Augen war es noch schlimmer. Mit geschlossenen Augen waren ihre Sinne schärfer, feiner, und sie war sich Tristanos Nähe noch stärker bewusst. Sie spürte seine Wärme, seine unerschütterliche Gelassenheit und auch seine selbstgefällige Arroganz.

Er war ein furchtbarer Mensch. Verachtenswert. Sie würde kämpfen, um ihn und seinen Vater zu vernichten, wie die Ferres die Pelosis vernichtet hatten.

Sie hörte, wie Tristano den Verschluss der Flasche öffnete, das Wasser in ein Glas schüttete und einen Schluck nahm.

„Möchtest du auch etwas trinken?“, bot er ihr an.

Sie schlug die Augen auf und sah, dass er ihr die Flasche hinhielt. „Nein.“

„Bist du sicher? Du siehst ziemlich blass aus, cara.“

„Deine Stimme macht mich ganz krank.“ Emily schloss erneut die Augen. Sie legte den Kopf zurück und flehte um Erlösung. Doch selbst mit geschlossenen Augen spürte sie Tristanos Blick, spürte sie ihn – seine Größe, seine Stärke, die Hitze seines unglaublich kräftigen, muskulösen Körpers. Jetzt hatte Tristano Ferre ihrer Familie auch noch St. Matt’s genommen.

Der Wagen hielt an. Emily mied Tristanos Hand, als er die hintere Tür für sie öffnete. Sie griff in den Kofferraum, nahm ihr Gepäck selbst heraus und eilte zu der wartenden Jacht.

Sie bestiegen das Schiff in gespanntem Schweigen. Die Reise von Anguilla nach St. Matt’s würde knapp neunzig Minuten dauern. Fünfzehn Minuten, wenn sie geflogen wären.

Während die Jacht den Hafen verließ, streckte sich Tristano auf einer der gepolsterten Liegen aus und ließ sich von der goldenen Karibiksonne bescheinen. Emily stand unterdessen steif an der Reling und blickte über das endlose blaue Wasser.

„Weshalb hast du die Insel gekauft?“, fragte sie, als sie die offene See erreichten.

Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Sonnenbrille, die er aufgesetzt hatte, verbarg seine Augen. „Weil ich sie haben wollte.“

„Weshalb?“, ließ sie nicht locker und drehte sich zu ihm. Der warme Wind spielte in ihrem Haar und schien es zu liebkosen.

„Erinnerungen.“

Emily konnte sich nicht vorstellen, dass Tristano gute Erinnerungen an einen Ort hatte, der der Schauplatz eines solch schrecklichen Ereignisses gewesen war. Sie wandte sich ab, biss auf die Innenseite ihrer Wange und fühlte sich einsamer als je zuvor. Sie hatte diese Reise nur angetreten, weil Anne sich bereit erklärt hatte, sie zu begleiten. Sonst wäre sie niemals zu einer Rückkehr nach St. Matt’s in der Lage gewesen, schon gar nicht zu Weihnachten. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie die Insel nicht mehr besucht. Doch sie wusste, dass die Zeit dafür gekommen war.

Ihr Vater würde nicht zurückkehren.

Er war für immer gegangen. Zuerst war sein Name verschwunden. Die berühmte italienische Designerfirma hieß nicht mehr Ferre & Pelosi, sondern nur noch Ferre-Design. Und jetzt verdrängte der Schmerz all ihre Erinnerungen an Alessandro Pelosi.

Emily ertrug es nicht, an ihren Vater zu denken. Sie ertrug den Gedanken nicht, was man ihm angetan hatte. Was er sich selber angetan hatte.

Sie bohrte die Nägel in ihre Handflächen. Ihr Kummer glich einer starken, wachsenden Strömung, die drohte, sie davonzureißen.

„Es war deine Entscheidung, die Insel zu verkaufen“, sagte Tristano, und Emily stählte sich gegen seine Stimme, gegen seinen sachlichen Ton. „Wir haben keinerlei Einfluss auf dich genommen“, fuhr er fort. „Du wurdest weder darum gebeten noch bedrängt oder gezwungen. Der Verkauf war allein deine Entscheidung.“

„Ich habe an die Flemmings verkauft.“ Emily drehte sich um. Ihre Augen sprühten vor Zorn, und sie schüttelte den Kopf. „Du wusstest, dass ich die Insel niemals an dich verkaufen würde. Du wärst der letzte Mensch gewesen, dem ich St. Matt’s überlassen hätte. Das war dir klar.“

„Stimmt.“ Er lächelte, und seine weißen Zähne blitzten. Mit seinem kräftigen Kinn, der Andeutung eines Dreitagebarts und dem warmen Wind, der durch sein Haar blies, hätte er ebenso gut ein Pirat sein können. „Ich habe mich ständig gefragt, wann du endlich feststellen würdest, dass wir die Insel gekauft haben. Dass Flemming nur ein Strohmann war. Aber offensichtlich warst du zu beschäftigt damit …“ Er wählte seine nächsten Worte genau. „… das Recht in deine eigene Hand zu nehmen. Oder zumindest das, was du für Recht hältst.“

„Das Recht?“ Emily stieß das Wort angewidert aus.

„Nur weil du an der Universität Jura studiert hast, bedeutet das noch lange nicht, dass du etwas von Recht und Gerechtigkeit verstehst.“

„Eines Tages wirst du die Wahrheit erfahren und dich bei mir entschuldigen.“

„Dieser Tag wird niemals kommen.“

Tristano nahm die Sonnenbrille ab und sah Emily ruhig an. Winzige Fältchen bildeten sich in den Winkeln seiner dunkelblauen Augen, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Du hättest jederzeit hierher zurückkehren können. Mrs. Flemming hat dir immer wieder versichert, dass das Haus zu deiner Verfügung steht, wenn du die Insel besuchen möchtest.“ Emily schüttelte den Kopf. Sie war immer noch verblüfft. „All die Gespräche, die ich mit ihm geführt habe … All die Dinge, die ich ihm anvertraut habe …“

„So viel war das gar nicht. Aber du hast recht. Er hat mir alles berichtet, was du ihm erzählt hast.“

Emily konnte es nicht glauben. Sie hatte John Flemming gemocht. Er war so offen und freundlich gewesen. Dabei hatte er sie die ganze Zeit nur zum Narren gehalten.

Erschöpft rieb sie ihre schmerzenden Schläfen. Die schlaflose Nacht im Flugzeug forderte ebenso ihren Tribut wie die Erkenntnis, dass ihr Haus, ihre geliebte Plantage seit Jahren Tristano gehörte. Es war lachhaft. Schrecklich. Tristano hatte sie wieder einmal hintergangen.

Die schaukelnde Bewegung der Jacht hätte Emily beruhigen und sie entspannen sollen. Stattdessen zerrte die wogende See an ihren Nerven. Jede Welle, die am Schiffsrumpf zerschlug, schien Tristano Ferre, Tristano Ferre zu singen.

Eine halbe Stunde nach ihrer Abfahrt von Anguilla erschien ein Steward an Deck und servierte auf einem Silbertablett appetitlich angerichtete Klubsandwiches und frisches Obst. Emily war zu hungrig, um die Speisen zu verweigern. Sie musste dringend essen. Das hieß aber nicht, dass sie es gemeinsam mit Tristano tun würde.

Während Tristano sich an den Tisch setzte, ließ sie sich auf einem gepolsterten Liegestuhl nieder und balancierte ihren Teller auf dem Schoß. Als er schweigend aufstand und sich neben sie setzte, versuchte sie aufzustehen und zum Tisch hinüberzugehen. Doch Tristano streckte den Arm aus, fasste ihr Handgelenk und zog sie auf den Liegestuhl zurück.

„Bleib hier, cara. Oder ich ziehe dich auf meinen Schoß und füttere dich eigenhändig.“

Leichte Röte überzog ihre Wangen. „Ich würde dich in den Finger beißen.“

„Und was ist mit deiner Zunge?“

Ihre Wangen wurden dunkelrot. „Was soll denn damit sein?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich frage nur.“

Emily senkte den Kopf und blickte auf den Teller mit dem Sandwich in ihrem Schoß. Plötzlich war ihr Appetit verflogen. Wie konnte Tristano ihr das antun? Wie konnte er sie derart aus dem Gleichgewicht bringen?

Sie hörte das leise Ploppen eines Korkens. Kurz darauf reichte Tristano ihr ein Glas kühlen Weißweins. „Trink“, sagte er trocken. „Du brauchst es dringend. Du bist in meiner Gegenwart so nervös, dass ich mir langsam wirklich Sorgen mache.“

Jetzt reichte es. Emily hatte genug. Mehr als genug. Sie warf den Kopf zurück, öffnete den Mund, um Tristano gründlich die Meinung zu sagen – und bemerkte sein spöttisches Lächeln. Auf diesen Augenblick hatte er gewartet. Er hatte sie in Rage bringen wollen.

Was war mit ihr los? Ihre berühmte Kaltblütigkeit ließ sie genau im entscheidenden Moment im Stich. Emily atmete tief ein, nahm das Sandwich in die Hand und zwang sich zum Essen. Einen Bissen nach dem anderen. Tristano wollte Krieg? Nun gut, er sollte ihn haben.

Sie würde bis zum bitteren Ende gegen ihn kämpfen.

Bis sie keine Luft mehr zum Atmen hatte.

Emily schluckte ihren Bissen mühsam hinunter, griff nach dem Wein und trank das Glas in einem Zug halb aus. Nur Mut, ermahnte sie sich.

Jetzt war sie froh, dass sie beschlossen hatte, Tristano nach St. Matt’s zu begleiten. Im Gefängnis von San Juan hätte sie nichts erreichen können. Wenn sie mit ihm allein war, konnte sie ihm zeigen, was es hieß, zu allem entschlossen zu sein: bebend vor Schmerz und Zorn und mit dem brennendem Bedürfnis nach Rache.

Rache … Emily ließ das Wort auf der Zunge zergehen, während Tristano ihr Glas erneut mit kühlem Weißwein füllte. Sie würde mit diesem Mann abrechnen. Sie würde ihn für alles bezahlen lassen, und wenn es das Letzte war, was sie tun würde.

Sie hatten ihren Lunch erst zur Hälfte gegessen, da tauchte St. Matt’s wie ein grüner Fleck am Horizont auf.

Fasziniert heftete Emily den Blick auf die ferne Insel und setzte ihr Weinglas ab. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, während sie die rechte Hand immer wieder in die Leinenserviette auf ihrem Schoß krallte. St. Matt’s. Die berühmte Pirateninsel St. Matthew’s – ihre Heimat in der Ferne.

Nach einer Weile merkte sie, dass Tristano sie nicht aus den Augen ließ. Seine Miene war verschlossen, aber aufmerksam. Er sprach kein Wort. Doch sie war sicher, dass er wusste, was in ihr vorging. Und wenn sie den Mann noch so sehr verabscheute: Es änderte nichts an der Tatsache, dass sie eine gemeinsame Vergangenheit hatten.

Emily drehte den Kopf und sah Tristano an, der plötzlich viel zu dicht neben ihr zu sitzen schien. „Was heißt das eigentlich, dass ich unter Hausarrest stehe?“, fragte sie.

„Dasselbe wie dies hier. Ich werde immer in deiner Nähe sein und dich ständig unter Beobachtung halten.“

„Keine Wachleute?“

„Nein. Nur ich.“

Die Yacht schoss über das Wasser, und sie kamen der Insel immer näher. Nach und nach nahm die mit Kokospalmen, Oleanderbüschen und niedrigen Bäumen bewachsene Hügellandschaft Form und Farbe an. Die Insel war vor Jahren in einen einzigen großen Garten verwandelt worden. Gemeinsam mit einem berühmten englischen Landschaftsarchitekten hatte Emilys Vater dieses Paradies zum Leben erweckt. Alessandro Pelosi hatte die Insel beinahe ebenso sehr geliebt wie seine Heimat, die Toskana.

„Nur du als mein Gefängniswärter – wird das reichen?“

„Hast du mehr erwartet?“

„Nein. Ich wundere mich nur, dass du keine strengeren Maßnahmen für erforderlich hältst.“

„Wie zum Beispiel Handschellen?“, fragte er, und das Blau seiner Augen wurde so dunkel wie die tiefsten Stellen des Ozeans. „Ich könnte sicher welche besorgen, wenn es dir lieber ist.“

„Danke, ich kann darauf verzichten.“

„Nun, falls du es dir noch anders überlegst …“ Tristano redete nicht weiter, sondern ließ seinen forschenden Blick langsam von ihrem Haar bis zu ihren Fußspitzen gleiten.

Emily zwang sich, seinem Blick nicht auszuweichen. „Du hast es wahrscheinlich gern, wenn deine Frauen gefesselt sind.“

„Wie viele Frauen habe ich denn?“

„Viele.“

Er lächelte träge und setzte seine Sonnenbrille wieder auf, sodass Emily den Ausdruck seiner Augen nicht länger erkennen konnte. „Stimmt. Das hätte ich beinahe vergessen.“

„Du bist ein Playboy.“

„Glaub, was du willst, cara.“

Tristano stand auf, schob seinen Stuhl zurück und ließ Emily ihren Lunch allein beenden.

Die Jacht legte direkt an der langen Mole an, die Emilys Vater in einer der vielen kleinen Buchten von St. Matt’s errichtet hatte. Ohne sich nach Tristano umzusehen, sprang Emily an Land und lief den vertrauten Weg entlang.

Vom Wasser aus betrachtet, hatte das Herrenhaus sich nicht verändert. Doch als Emily die alte Steintreppe hinaufstieg, hörte sie das Ächzen und Jaulen schwerer Maschinen. Sie lief schneller, und schließlich kam die Fassade in Sicht. Der Eingang war hinter frischem Bauholz und großen Gerüsten verborgen.

Ihr Haus war auf dem besten Weg, zerstört zu werden.

Emily blieb wie angewurzelt stehen und blickte entsetzt auf das einst elegante Gebäude aus verwittertem Stein. „Was … Was geht hier vor?“

Ein gewaltiger Betonmischer kam in diesem Moment heran und ratterte über die Reste des grünen Rasens und die gepflegten Hibiskusbeete.

Heiße Tränen stiegen Emily in die Augen, und sie schloss kurz die Lider.

Das konnte nicht wahr sein!

Es war grausam, sie hierher zu bringen und mit all dem zu konfrontieren. Ihr Vater und sie hatten das Haus, den Garten und die Geschichte der Insel geliebt. Wie konnte Tristano das alles so gedankenlos zerstören?

Während das Personal sich um das Gepäck kümmerte, stieg Tristano die Vordertreppe zum Eingang hinauf, dessen Steinbogen jetzt hinter einem Gerüst verborgen war.

„Der Hurrikan letztes Jahr hat viel zerstört“, sagte er und gab Emily ein Zeichen, ihm zu folgen. Doch sie konnte sich nicht rühren. „Nachdem wir mit der Renovierung begonnen hatten, kam eines zum anderen.“

Das kann man wohl sagen, dachte Emily. Das ehemalige Haupthaus der Zuckerrohrplantage war durch zwei Seitenflügel erweitert worden. Von der Veranda aus konnte sie eine neue Terrasse entlang des Ozeans erkennen.

Ihre Brust zog sich schmerzlich zusammen. „Es ist nicht mehr dasselbe Haus.“

„Es wird sehr hübsch sein, wenn es fertig ist.“

„Aber es ist nicht mehr dasselbe Haus“, wiederholte sie.

„Es musste Platz für weitere Bewohner geschaffen werden.“

Wer? Seine Mutter? Sein Vater? Seine unglaublich arroganten Schwestern? Garantiert nicht. Beide würden nie und nimmer mit St. Matt’s als Feriendomizil vorliebnehmen. Sie zogen ihre schicken Apartments in Monte Carlo oder ihre eleganten Villen an der italienischen Riviera vor.

„Wie viele neue Räume hast du anbauen lassen?“, fragte Emily und versuchte, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Sie hatte das Haus geliebt, wie es war – den alten Holzboden mit seinen Kratzern und die verwitterten, bis zur Decke reichenden Fensterläden, die die fünf Flügeltüren zur Meerseite einrahmten. Das Haus war ihr so beständig vorgekommen innerhalb all der Unbeständigkeiten dieser Welt.

Und jetzt war überall frische Farbe, frischer Putz und frischer Glanz.

„Sieben“, beantwortete Tristano ihre Frage. „Drei Suiten im neuen rechten Flügel und vier im linken.“

Emily durchquerte den Gang zu dem großen Salon. Auch hier hatte es Veränderungen gegeben. Die verwitterten alten Holzbalken waren durch neue ersetzt worden, genau wie die Flügeltüren, die auf die kleine geschützte Bucht hinausgingen.

Wenigstens der Strand war geblieben. Das Wasser war immer noch von diesem unglaublichen Blau, und der schmale Sandstreifen leuchtete weiß in der Sonne.

„Ich dachte, es wäre gut für die Familie“, sagte Tristano.

Emily lachte spöttisch. Er musste doch wissen, dass seine Schwestern niemals hierher kommen würden.

Das Haus war hübsch – neue Möbel, neue Armaturen, alles war neu. Aber hier war nicht Cannes oder St. Tropez. Hier gab es keine Partys, keinen Glamour, kein Nachtleben. Nur die warme Sonne, das glitzernde Meer und das Korallenriff gleich hinter dem Eingang der Bucht.

Erneut wallte der Ärger in Emily auf, und sie wandte sich an Tristano. „Hast du deiner Familie das Haus schon schmackhaft gemacht?“

„Nein, noch nicht.“

„Sie kommen an Weihnachten nicht hierher?“

„Nein, sie bleiben in Italien.“

„Natürlich.“

Tristano warf ihr einen scharfen Blick zu, verließ den großen Salon mit der getäfelten Decke und ging zu einem der beiden neuen Gästeflügel. Emily folgte ihm. Sie war wütend, dass das Haus so anders war – dass es nicht mehr ihr Haus war, sondern seines.

Vor einer Tür am Ende der langen Diele blieb Tristano stehen. „Du schläfst hier“, verkündete er und deutete in das elegante Zimmer. „Ich bin da drüben, auf der anderen Seite des Flurs.“

„Und wie willst du mich von dort aus im Auge behalten?“, fragte sie und kreuzte die Arme vor der Brust. „Hast du Kameras angebracht, die mich heimlich filmen?“

„Tut mir leid, Em. Hier gibt es keine Kameras. Nur dich und mich.“

„Und dein Personal. Wie viele Leute sind es?“

„Sechs.“ Tristano betrat das Zimmer und stieß einen der schweren Fensterläden auf. Warmes Licht fiel auf den Kalksteinboden. Die Wände waren hellblau gestrichen, und der seidene Bettüberwurf einige Nuancen dunkler gehalten. Die dicken Kissen waren mit feinem weißen Leinen bezogen und mit weißer Spitze eingefasst. „Bevor ich es vergesse – ich erwarte heute noch Gäste. Keine Ahnung, wie viele es sein werden. Beachte sie einfach nicht.“

„Veranstaltest du eine Party?“

„Nein, es geht um Geschäftliches. Eine Immobilienmaklerin kommt mit ihren Kunden. Sie hat bereits eine Vorauswahl getroffen. Offensichtlich sind die Leute ernsthaft interessiert. Sonst hätte ich sie so kurz vor Weihnachten nicht eingeladen.“

Tristanos Worte schienen in Emilys Kopf dröhnend widerzuhallen. Sie zuckte unwillkürlich zurück, als sie deren Bedeutung erkannte. „Du willst die Insel verkaufen?“

„Ein britischer Hotelier ist an mich herangetreten. Er möchte ein zweites St. Bart’s aus der Insel machen.“ Tristano hielt inne und rieb seinen Nacken. „Bevor ich mich endgültig entscheide, muss ich herausfinden, was St. Matt’s derzeit auf dem Immobilienmarkt wert ist. Und wer sonst noch an einem Kauf interessiert sein könnte.“

Emily hörte ihn reden, doch die Worte drangen nicht in ihr Bewusstsein. Sie konnte nicht glauben, was Tristano gesagt hatte. Dass er daran dachte, St. Matt’s zu verkaufen. Noch dazu an einen Hotelier. Einen Hotelier!

Ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen. Meinte er das ernst? Würde er so etwas wirklich tun? Die Insel in eine Touristenattraktion verwandeln? In einen Ort für verwöhnte, hemmungslose Playboys und deren Gespielinnen?

„Und das Haus?“, flüsterte sie mit trockenem Mund.

„Mrs. Viders hat versprochen, den Hotelbetrieb in Grenzen zu halten. Er will versuchen, den Charakter der Insel zu bewahren.“

Viders. Tony Viders. Emily kannte den Namen gut. Tony Viders besaß zahlreiche elegante Hotels in aller Welt, die ausnahmslos die Reichen und Schönen beherbergten. Selbst wenn er versprochen hatte, den Charakter der Insel zu bewahren, würde das Herrenhaus bald nicht viel mehr sein als ein Zwischenstopp für Leute, die mehr Geld als Verstand besaßen.

„Verkauf mir die Insel“, stieß sie verzweifelt hervor. Sie mochte nicht einmal daran denken, wie überall auf den Holzdielen halb leere Cocktailgläser, Zigarettenstummel und sandige Bikini-Oberteile herumliegen würden.

„Du kannst sie dir nicht leisten.“

„Ich könnte eine Hypothek aufnehmen.“

„Nicht für solch eine Summe.“

„Wie viel willst du dafür haben?“

Tristano verließ den Raum und ging zu seinem eigenen Zimmer. Auf halbem Weg blieb er stehen. „Ich habe allein rund zwei Millionen Dollar in die Renovierung des Hauses gesteckt. Man hat mir gesagt, dass die Insel zwanzig Millionen, vielleicht sogar dreißig Millionen bringen würde.“

„Tristano …“ Emilys Stimme klang gequält. „Bitte.“

„Nein.“

„Aber …“

„Du kannst dir St. Matt’s nicht leisten, Emily. Also vergiss es. Außerdem: Weshalb sollte ich ausgerechnet an dich verkaufen?“, fügte er kühl hinzu. „Schließlich hast du mich zu deinem Feind erklärt.“

Er wartete schweigend und war sich bewusst, dass sie dem nichts entgegensetzen konnte.

Tristano hat recht, dachte Emily. Sie hatte ihm den Krieg erklärt – hatte ihn herausgefordert, ihn verspottet und versucht, sein Unternehmen zu schädigen. Weshalb sollte er ihr ihren Wunsch erfüllen? Weshalb sollten ihm ihre Gefühle etwas bedeuten?

Nachdem sie wortlos in ihr Zimmer geflüchtet war, öffnete Emily ihr Gepäck – zwei elegante Koffer im Pelosi-Design – und nahm ihr Shampoo und ihre Seife heraus. Nach einer ausgiebigen Dusche zog sie einen langen Chiffonrock und ein Seidentop über ihren Bikini.

Müde rieb sie sich ihre pochenden Schläfen. Der Jetlag. Aber sie hatte schon auf ihren ersten Reisen gelernt, sich sofort auf den Zeitunterschied einzustellen, ihre Erschöpfung zu bekämpfen und durchzuhalten. Genau das tat sie auch jetzt. Nachdem sie sich angezogen hatte, nahm sie ihre Geschäftsberichte, verließ das Zimmer und wanderte durch das Haus. Ein freundliches Hausmädchen erzählte ihr, dass Signor Ferre zum Schwimmen ans Meer gegangen wäre. Wusste die Signorina, wie sie zum Strand kommen würde?

Emily lächelte höflich. Oh ja, sie kannte den Weg. Es war einmal ihr Strand gewesen. Aber nein, sie wollte sich Tristano nicht anschließen.

Stattdessen trug sie ihre Unterlagen auf die Terrasse, setzte sich unter einen Sonnenschirm und studierte die Entwürfe, Tabellen und Grafiken, bis die Zahlen vor ihren müden Augen zu flimmern begannen.

Ihre Geschäfte gingen gut. Die Gewinne waren hoch, und die Erwartungen für das nächste Jahr waren ausgezeichnet. Doch all das Geld, all der Erfolg, konnten den Schmerz, den sie fühlte, nicht beseitigen.

Ihre Mutter war noch immer krank, und ihr Vater war nicht mehr da. Und Tristano war immer noch Vorstandsvorsitzender von Ferre-Design.

Ferre-Design … Schon der Name reichte aus, um Emilys Zorn neu zu entfachen. Die Firma hätte niemals den Namen ihres Vaters tilgen und nur noch „Ferre“ heißen dürfen. Die Ferres hatten kein einziges Design entworfen und schon gar keine eigene Kollektion erschaffen. Ihr Vater war der kreative Kopf des Unternehmens gewesen. Es waren Alessandro Pelosis fantastische Entwürfe – seine Kleider, Handtaschen, Koffer und Schuhe –, die Ferre-Design so erfolgreich gemacht hatten.

Und genau aus diesem Grund hatte Emily eine eigene Firma gegründet, die Alessandro Pelosis Designs originalgetreu kopierte, die Waren in China herstellen ließ und sie zu einem Bruchteil des Preises verkaufte, den Ferre-Design verlangte.

Mochten die anderen Emily als Betrügerin bezeichnen und ihre Waren als Kopie. Für sie war es ein faires Verhalten.

Emily hörte das Schlagen von Wagentüren und fernes Stimmengemurmel – Tristanos Besucher waren eingetroffen.

Angewidert sank sie tiefer in ihren Korbsessel, hob ihre Blätter höher und versuchte, sich auf die Zahlen zu konzentrieren. Doch die Stimmen wurden lauter und trugen weit.

„Allein die Aussicht ist dreißig Millionen wert.“

„Das Haus gefällt mir allerdings weniger.“

„Das kannst du jederzeit ersetzen, Darling.“

„Es abreißen?“

„Natürlich. Alle machen das heutzutage.“

Es entstand eine kleine Pause, und Emily kniff die Augen zusammen. Es war eine Qual, hier zu sitzen und das alles mit anhören zu müssen. Sie wünschte jetzt, sie wäre zum Strand hinuntergegangen. Neben Tristano im Sand zu liegen wäre schmerzlich, aber immer noch besser als dies.

„Was würde es deiner Meinung nach kosten, alles abzureißen?“ Die Frauen redeten immer noch davon, das Herrenhaus zu beseitigen – ein Haus, das seit Hunderten von Jahren auf St. Matt’s stand, eine lange Geschichte hatte und seine ganz eigenen Rätsel und seine Geheimnisse barg.

„Fünfzigtausend? Vielleicht auch hunderttausend Dollar. Mehr jedenfalls nicht, trotz dieser Steinmauern. Die Bulldozer leisten erstaunliche Arbeit. Sie kommen und sind am nächsten Tag schon wieder fort. Schwupps. Überleg mal, was du gewinnen würdest – ein völlig neues Gebäude, das Beste vom Besten. Du könntest sogar deinen Multi-Media-Raum hier einrichten.“

Emily richtete sich abrupt auf und wollte nur noch fort. Doch in ihrer Eile fielen ihr ihre Papiere zu Boden. Rasch sank sie auf die Knie und sammelte die Entwürfe, Berichte und Grafiken wieder ein. Die Worte der Frau gingen ihr nicht aus dem Kopf. Die Aussicht allein ist dreißig Millionen wert … Du kannst das Haus jederzeit ersetzen … Reiß es ab … Nicht mehr als hunderttausend Dollar … Du könntest sogar deinen Multi-Media-Raum hier einrichten …

Zwei schlanke, teuer gekleidete Frauen mit glänzendem goldenen Haar und auffälligem Schmuck tauchten auf der Schwelle zur Terrasse auf. „Oh!“, rief eine der beiden. „Ich wusste nicht, dass jemand hier ist.“

Mit zitternden Händen sammelte Emily die restlichen zerknitterten Blätter ein. „Ja, ich bin hier.“

Die Frau ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu. „Di Perkins, Luxus-Immobilien. Ich zeige meiner Kundin gerade die Insel.“

Emily stand mühsam auf. „Ich bin nicht die Besitzerin.“

„Ach so.“ Die Frauen waren sichtbar enttäuscht.

„Aber die Insel hat früher meiner Familie gehört. Wir haben hier viele Jahre lang Weihnachten gefeiert“, fügte Emily hinzu. Vielleicht konnte sie etwas über das Haus und seine Geschichte erzählen, das ihm einen gewissen Wert verlieh. „St. Matt’s ist eine wunderbare Insel“, begann sie. „Man erzählt sich fantastische Geschichten über …“

„Diese alten Geschichten sind mir ziemlich gleichgültig“, erklärte die zweite Frau und zog die Nase kraus. „Ich möchte einfach einen tollen Strand, eine Bucht, die tief genug für die Jacht meines Ehemanns ist, und genügend Privatsphäre. Davon gibt es in den Vereinigten Staaten leider nicht genug.“

„Privatsphäre ist hier kein Problem. Nach St. Matthew’s verirren sich kaum einmal Besucher. Es sei denn, sie werden extra eingeladen.“ Emily bemühte sich, ihre Verärgerung nicht zu zeigen. „Es heißt, der englische Pirat Blackbeard hätte sich einmal einen Monat lang hier verborgen.“

„Blackbeard?“ Die zweite Frau erschauderte heftig. „Hat er nicht eine Menge Leute entführt und in seinen Kerkern gefangen gehalten?“

Leider nicht genug, dachte Emily und lächelte so gequält, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“ Sie nickte, ließ ihre Unterlagen auf dem Tisch liegen und rannte die Steinstufen zum Strand hinab.

Tristano lag auf einem Liegestuhl nahe dem Wasser. Er hatte die Arme über den Kopf verschränkt und hielt die Augen geschlossen.

Entweder hatte er sie nicht kommen hören, oder er beachtete sie absichtlich nicht.

Einen Moment lang stand Emily regungslos und betrachtete ihn. „Du kannst St. Matt’s nicht verkaufen“, erklärte sie dann ohne Umschweife. „Nicht an Leute wie diese. Die Insel ist etwas Besonderes. Sie ist wunderschön. Du darfst nicht zulassen, dass sie von Leuten ohne jeden Geschmack zerstört wird.“

Tristano öffnete langsam die Lider. Er sah zu Emily auf und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Mit seinen dunkelblauen Augen blickte er sie undurchdringlich an. „Ciao, bella.“

„Hast du mich verstanden, Tristano?“

Er ließ sie nicht aus den Augen.

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

Dieser verdammte Kerl. Er glaubte immer noch, dass er das Universum regierte. Nichts hatte sich geändert. Andererseits: Weshalb sollte sich in der Welt der Ferres etwas ändern? Die Götter hatten ihre Gaben verteilt, den Ferres alles gegeben, und der übrigen Menschheit blieben nur die spärlichen Reste.

„Diese Leute wollen das Haus abreißen. Einfach mit dem Bulldozer platt machen.“ Emily hielt Tristanos Blick stand. Sie hatte keine Angst vor ihm. Es war ihr restlos egal, was er von ihr dachte. Aber sie liebte das Haus und die Insel.

„Das dürfen sie tun, wenn sie die Insel kaufen“, antwortete er. Er reckte sich ein wenig, schloss die Augen und hielt sein Gesicht in die Sonne. „Das ist das Vorrecht des Besitzers. Du hast dieses Recht verloren, als du die Insel verkauft hast.“

Autor

Jane Porter

Bereits in der Grundschule schrieb Jane ihr erstes Manuskript: Es war 98 Seiten lang und wurde von einem Jungen in ihrer Klasse zerrissen. Jane weinte, der Junge musste die zerrissenen Seiten zusammenkleben und kam mit einer Verwarnung davon, während Jane fürs Schreiben im Unterricht bestraft wurde und so lernte, dass...

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