Julia Exklusiv Band 357

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SCHÖN WIE MARILYN von ANNE MCALLISTER
Wie bitte? Sie soll kaum bekleidet aufs Bild mit den anderen Schönheiten? Chloe ist entsetzt, aber keine Spielverderberin. Weiß der New Yorker Fotograf Gibson Walker denn nicht, dass sie seine neue Assistentin und kein Model ist? Doch merkwürdigerweise fotografiert er sie am meisten ...

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  • Erscheinungstag 09.12.2022
  • Bandnummer 357
  • ISBN / Artikelnummer 0851220357
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Anne McAllister, Maggie Kingsley, India Grey

JULIA EXKLUSIV BAND 357

1. KAPITEL

Gibson Walker sah sechs nackte Frauen vor sich. Sie waren alle rank und schlank, hatten lange Beine, sanft geschwungene Hüften und hübsche Brüste.

Und woran dachte er bei diesem Anblick? Warum es nicht sieben waren.

Ungeduldig wippte er mit dem Fuß. „Wo steckt sie nur?“, fragte er schroff. Nun warteten sie schon seit einer halben Stunde!

Wie sollte er die Fotoserie für den brandneuen Duft „Seven“ schießen, wenn er nur sechs Models hatte? Das Parfüm hieß ja nicht „Six“, sondern „Seven“.

„Können wir endlich anfangen?“, jammerte eine der nackten Frauen.

„Mir ist kalt“, sagte die nächste und fröstelte.

„Mir ist heiß.“ Die Dritte klimperte Gibson verführerisch mit den Wimpern zu und versuchte, ihn auch heiß zu machen.

Auf die habe ich gerade gewartet, dachte er und wies sie mit einem unmissverständlichen Blick in ihre Schranken. Sie versteckte sich sofort hinter einem Scheinwerfer.

„Meine Nase glänzt, Gibson“, sagte eine andere Frau, betrachtete sich im Spiegel und schnitt komische Grimassen.

Auf deine Nase achtet sowieso keiner, Süße, hätte er beinah gesagt, riss sich jedoch zusammen. Immerhin ging es hier um Kunst, das jedenfalls bildeten sich die Mitarbeiter der Marketingabteilung ein. Also wandte er sich an die Maskenbildnerin: „Puder ihre Nase, Judi.“

Judi machte sich beflissen ans Werk und puderte auch die Wangen eines anderen Models ab, während Sierra, die Friseurin, zum tausendsten Mal die Frisuren richtete.

Gibson wurde immer ungeduldiger und rief Edith, seiner rechten Hand, zu, sie solle herausfinden, wo, um alles in der Welt, Nummer sieben geblieben war.

Am liebsten suchte er sich seine Models selbst aus. Wenigstens konnte er sich dann darauf verlassen, dass sie zuverlässig und professionell arbeiteten und pünktlich waren.

Dieses Mal hatte sein Kunde allerdings darauf bestanden, die Mädchen selbst auszusuchen.

„Wir möchten einen repräsentativen Querschnitt“, hatte der Chef der Werbeabteilung erklärt. „Natürlich müssen die Frauen alle bildhübsch sein, aber nicht im üblichen Sinne.“

Obwohl das sehr schwammig ausgedrückt war, hatte Gibson sofort gewusst, was der Mann wollte. Der Duft „Seven“ sollte jeder Frau gefallen. Daher musste „Jedefrau“ auch in der Anzeige abgebildet sein – selbstverständlich nur schöne Frauen, aber nicht der Typ, den man gemeinhin mit leerem Gesichtsausdruck über die Laufstege stöckeln sah.

„Wir sehen unsere Kartei durch“, hatte der Werbechef versprochen. „Wir suchen große und kleine Frauen mit lockigem oder glattem Haar und natürlich von unterschiedlicher ethnischer Herkunft heraus. Wir schicken sie dann vorbei.“

Er, Gibson, hatte nichts dagegen. Solange die Damen pünktlich waren.

Und eine war es nicht!

Gibson trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Er ging ungeduldig im Atelier hin und her und wurde immer wütender. Die Mädchen wurden des Wartens auch langsam überdrüssig. Wie sollte er sie bei Laune halten?

Plötzlich hörte er Edith sagen: „Ja, er wartet schon auf Sie. Sie können gleich durchgehen.“

Langsam öffnete sich die Tür zum Atelier.

„Das wird aber auch langsam Zeit“, rief er der jungen Frau, die hereinkam, missmutig zu. „Wir warten seit eins auf Sie.“

Sie blinzelte verwirrt. Ihre Augen waren von einem tiefen Veilchenblau. Gibson schüttelte den Kopf, als er es bemerkte. Welch eine Verschwendung, denn er sollte ja Schwarz-Weiß-Fotos machen.

„Mein … mein Flugzeug hatte Verspätung.“

„Ihr Flugzeug?“ Hatte man sie etwa extra eingeflogen? Womöglich war sie ein aufgehender Stern an der Westküste – der neueste Superstar von Los Angeles.

Gibson betrachtete sie genauer, um herauszufinden, was an ihr so besonders war. Immerhin stand er im Ruf eines Frauenkenners. Das brachte sein Beruf mit sich. Er fotografierte Frauen – schöne Frauen. Er war berühmt dafür, Frauen von ihrer besten Seite darzustellen und dem Betrachter der Fotos ihre Schönheit zu vermitteln.

Diese junge Frau mit den veilchenblauen Augen wirkte wie ein typisch amerikanisches Mädchen aus den Fünfzigerjahren. Sie mochte Mitte zwanzig sein, also älter als die anderen Models, war mittelgroß und besaß Kurven, von denen die anderen sechs Frauen nur träumen konnten. Genaueres konnte man erst sagen, wenn sie ihr Hemdblusenkleid ausgezogen hatte. Wer trug heutzutage in New York eigentlich noch Hemdblusenkleider? Mit dem welligen blonden Haar und dem sinnlichen Mund wirkte sie wie eine zugeknöpfte Marilyn Monroe.

Das war natürlich ein Widerspruch in sich!

Vielleicht hatte der Werbechef sie gerade deshalb ausgewählt, weil er hoffte, die Frauen würden dazu verleitet werden, den neuen Duft zu kaufen, weil sie sich einbildeten, damit eine neue Marilyn Monroe zu sein. Keine schlechte Idee, wie Gibson neidlos zugeben musste.

„Wie heißen Sie?“, fragte er.

„Chloe“, sagte sie und schien sich zu wundern, dass er ihren Namen nicht kannte.

Gibson zog die Augenbrauen hoch. Ob sie zu den arroganten Models gehörte, die erwarteten, nach zwei oder drei Aufträgen von jedermann erkannt zu werden? Hoffentlich nicht! Mit Primadonnen konnte er nichts anfangen.

„Okay, Chloe, nun sind Sie ja endlich hier. Ziehen Sie sich aus, und dann können wir anfangen.“

Chloe sah ihn völlig verblüfft an und wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Und sie war errötet.

„Was ist los?“, fragte Gibson ungerührt. „Hat Ihnen keiner gesagt, was Sie heute hier zu tun haben?“

„Das … das haben sie mir jedenfalls nicht gesagt.“ Sie schluckte und sah sich um. Dabei entdeckte sie die sechs nackten Frauen, die sie eine nach der anderen musterte.

Normalerweise waren die Models es gewohnt, ohne einen Faden am Leib herumzulaufen, wenn es von ihnen verlangt wurde. Es machte ihnen überhaupt nichts aus. Doch unter Chloes betroffenem Blick wurden sie unruhig. Wenn ich jetzt nicht einschreite, ziehen sie sich womöglich wieder an, dachte Gibson und schüttelte den Kopf, bevor er sich Chloe zuwandte und zuckersüß sagte: „Okay, dann verschwinden Sie eben wieder dorthin, wo Sie hergekommen sind. Oder Sie tun jetzt, was von Ihnen verlangt wird.“

Schweigen. Sie schien sogar vergessen zu atmen. Schließlich schien sie wieder zu sich zu kommen und befeuchtete sich die Lippen.

Gibson spürte, wie unentschlossen die junge Frau war. Fast meinte er, Panik in ihrem Blick zu lesen.

Was, um alles in der Welt, hatten diese Narren sich dabei gedacht, ausgerechnet dieses Mädchen zu engagieren?

Doch dann atmete sie tief durch und nickte. „Okay, wo kann ich mich ausziehen?“

„Ich zeige es Ihnen.“ Sierra, die Friseurin mit dem violetten Haarschopf, lächelte ihr aufmunternd zu und ging voraus. „Hier entlang.“

Unsicher folgte Chloe ihr zu den Umkleidekabinen an einer Wand des Ateliers.

Gibson hätte schwören können, dass Chloe zitterte, als sie an ihm vorbeiging.

Während der vergangenen zwölf Jahre hatte Gibson viele Frauen fotografiert. Er schmeichelte ihnen mit seiner Kamera und erhob sie dadurch zu Kunstobjekten. Dadurch war zu einem der meistgefragten Fotografen der Branche geworden. Vom professionellen Standpunkt aus freute er sich darüber, privat hätte ihm der Ruhm nicht gleichgültiger sein können.

Auch aus den Frauen, die er abbildete, machte er sich nichts. Er hatte es sich zur Regel gemacht, sich nie mit einer Frau einzulassen, die er fotografierte. Den Fehler hatte er einmal gemacht – und nie wieder.

Er konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit, auf die richtige Beleuchtung, die am besten geeignete Belichtung und Pose. Frauen waren für ihn austauschbare Objekte.

Bis zu dem Moment, als Chloe an diesem Nachmittag aus der Umkleidekabine kam. Chloe war kein Objekt. Sie war ein Mensch, ein lebendiger Mensch, der atmete – und zitterte.

Es machte ihn verrückt.

„Okay, an die Arbeit, Mädels“, sagte Gibson und wagte kaum hinzusehen, als Chloe sich zu den anderen Models stellte. „Bildet einen Kreis. Ich brauche Silhouetten. Streckt die Arme hoch über den Kopf. Höher. Sehr gut.“

Und sieben Frauen streckten die Arme in die Höhe – sechs mit geschmeidigen Bewegungen, die siebte zitterte.

Gibson ließ die Kamera sinken. „Das gilt auch für Sie, Chloe. Strecken Sie die Arme hoch über den Kopf!“

Als Chloe gehorchte, wippte ihr Haar. Und ihre Brüste wippten auch.

Gibson bekam einen trockenen Mund und feuchte Hände. Und er war erregt. Wie ein Teenager, dachte er ärgerlich. Während seiner mittlerweile zwölfjährigen Laufbahn hatte er schon Hunderte, ja Tausende Brüste gesehen, jedenfalls wahrscheinlich mehr als ein Durchschnittsmann in seinem ganzen Leben. Doch die meisten Brüste hatten nicht gewippt. Er befeuchtete sich die Lippen.

Die anderen waren alle fest, klein und fast künstlich gewesen, während Chloes eher … üppig waren.

Ohne das Hemdblusenkleid hätte man sie wirklich mit Marilyn verwechseln können.

Gibson machte die Augen zu und versuchte, sich zu konzentrieren. Doch sobald er wieder hinsah, hatte er sie sofort im Blickfeld.

„Streck die Arme aus“, rief er ihr wütend zu. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sie plötzlich duzte. „Doch nicht ruckartig nach vorn, Süße! Bilde dir ein, du würdest die Arme nach deinem Geliebten ausstrecken!“

Chloe errötete am ganzen Körper.

Gibson ließ die Kamera erneut sinken und blinzelte. Dann sah er wieder hindurch. Das war ja unglaublich! Geradezu faszinierend. Noch nie hatte er gesehen, wie jemand am ganzen Körper errötete. Wie bezaubernd!

Nein, „bezaubernd“ war wohl doch übertrieben. Ihn hatte keine Frau mehr bezaubert seit … Gibson riss sich zusammen. „Hör auf zu zittern“, befahl er. „Oder ich habe sechs hübsche Ladys und einen verwackelten Schatten.“

„Entschuldigung.“ Chloe konnte einfach nicht aufhören zu zittern.

Gibson schüttelte den Kopf und sah wieder durch die Kamera. Dann begann er, die ersten Aufnahmen zu machen. „So, und nun schwimmt. Fließende, elegante Bewegungen, als würdet ihr waten.“

Sie schwammen, stellten sich auf Zehenspitzen und machten fließende Armbewegungen. Nur Chloe fiel aus dem Rahmen.

Gibson biss sich auf die Lippe und konzentrierte sich auf die anderen Mädchen. Sie wateten voran, und wieder kam Chloe in sein Blickfeld. Er räusperte sich und versuchte, einen Arbeitsrhythmus zu finden. „Zeigt mir eure Lippen. Tut so, als würdet ihr küssen. Prima!“

Und natürlich musste Chloe direkt in die Kamera sehen. Wieder war sie am ganzen Körper errötet, und sie bot ihm die Lippen zum Kuss!

Gibson fluchte unterdrückt. „Du sollst nicht mich ansehen, Süße. Ich brauche Profile“, sagte er heiser. „Küss deinen Freund. Du hast doch einen Freund?“

Jetzt errötete sie noch tiefer! Schade, dass die Fotoserie nur schwarz-weiß war. Die rosige Farbe hätte sich gut gemacht. Er atmete tief durch, trocknete die feuchten Hände an seinen Jeans und befeuchtete sich die Lippen. Nun konzentrier dich endlich, ermahnte er sich ärgerlich.

Aber genau das tat er ja. Allerdings nur auf eine Person, sosehr er sich auch bemühte. Und er wurde immer erregter. Verzweifelt überlegte er, wie die Models sich bewegen sollten, doch ihm fiel absolut nichts ein. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Er konnte immer nur diesen unglaublich verführerischen Körper ansehen. Im Gegensatz zu den anderen sechs Mädchen schien Chloe die Sache mit viel Herz anzugehen. Wenn er „dein Freund“ sagte, errötete sie. Wenn er sie bat zu küssen, spiegelte sich Sehnsucht in ihrem Gesichtsausdruck.

„Ja“, sagte er. „Genau. Mehr. Weiter so. Gib mir mehr, Süße.“

Sie sahen ihn alle an.

„Ich meine, ihr Süßen.“ Gibson lächelte ihnen entschuldigend zu und sah wieder Chloe an.

Sie zitterte. Sie errötete. Ihre Brüste wippten.

Plötzlich gab es vor der Tür Unruhe. „Du kannst da jetzt nicht hinein“, rief jemand. „Kann ich doch. Ich bin sowieso schon spät dran“, sagte eine andere Frauenstimme.

Im nächsten Moment wurde die Ateliertür aufgerissen, und Tasha, ein Topmodel, mit dem er schon oft zusammengearbeitet hatte, stürzte herein.

„O Gibson! Entschuldige bitte. Das Taxi ist liegen geblieben. Und derr Fahrrer! Er sagt, Sie können nicht gehen, ohne zu bezahlen. Ich sage, ich bezahle nicht. Sie haben mich nicht am rrichtigen Orrt abgesetzt. Dann hat err mich festgehalten, und ich habe geschrrien: Kidnapping! Err sagt, ich bin Betrrügerin. Unglaublich!“ Als sie aufgebracht den Kopf schüttelte, wehte das lange flammend rote Haar nur so. „Und dann die Polizei! Man sollte meinen, sie glauben hübschem Mädchen, oderr? Aberr was tun sie? Sie glauben diesem schrrecklichen Taxifahrrer.“

Während Tasha ihre Verspätung erklärte, zog sie sich temperamentvoll aus – erst das bauchfreie Top, dann den winzigen BH, die Sandaletten und den Minirock. „Ich sage dirr, diese Polizisten haben ja keine Ahnung!“ Sie schleuderte ihren Slip durch die Luft. Dann breitete sie die Arme aus und strahlte Gibson an. „Ich bin ferrtig. Jetzt können wirr anfangen, ja?“

Gibson machte den Mund wieder zu. Mitten im Atelier stand die wunderschöne nackte Tasha, und an ihr wippte gar nichts. Die anderen Models umringten sie. Langsam ließ er den Blick über die Mädchen gleiten. Sie sahen ihn an, dann betrachteten sie einander. Alle schienen das Gleiche zu denken. Sie zählten: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs.

Gibson wandte sich Chloe zu. Der zitternden, errötenden Chloe mit den wippenden Brüsten. Sieben.

Und mit Tasha waren es …

Acht.

Acht?

„Einen Moment mal“, sagte Gibson. „Irgendwas stimmt hier nicht. Wenn Tasha für die Aufnahmen vorgesehen ist, dann …“

„Natürrlich bin ich vorrgesehen!“

„Dann ist eine von euch nicht vorgesehen.“

Alle richteten den Blick auf Chloe, die schützend die Arme vor der Brust verschränkte und sich hinter einem Tisch verschanzte. Sie war von Kopf bis Fuß so rot wie Tashas Haar.

„Du bist gar kein Model.“ Gibson musterte sie vorwurfsvoll.

„Natürlich bin ich kein Model!“

Mit der Antwort hatte er nun überhaupt nicht gerechnet. Wenigstens hätte sie sich doch herausreden, die Gelegenheit beim Schopf packen können! So etwas wäre ja nicht zum ersten Mal passiert.

Gibson sah sie wütend an. Wenn sie kein Model war, was, um alles in der Welt, tat sie dann nackt in seinem Atelier?

„Wer sind Sie?“

„Das habe ich Ihnen doch gesagt!“ Ihr Tonfall klang fast verzweifelt. „Ich bin Chloe. Chloe Madsen. Ihre Schwester hat mich geschickt.“

„Meine Schwester? Gina hat Sie hergeschickt?“

Sie nickte. Und ihre Brüste wippten. Gibson machte die Augen zu.

Als er sie wieder öffnete, sah er, dass Chloe in einen Bademantel schlüpfte, der auf einem Tisch gelegen hatte. Dann verschränkte sie wieder die Arme. „Ja, Gina hat mich geschickt, damit ich bei Ihnen arbeite. Den Sommer über. Als Ihre Assistentin.“

„Als meine Assistentin?“ Er musterte sie ungläubig.

„Ja. Sie hat gesagt, Sie seien einverstanden. Stimmt das vielleicht nicht?“

Ach du liebe Zeit! Gibson biss sich auf die Lippe. „Doch, wahrscheinlich“, antwortete er schließlich.

„Wahrscheinlich?“, fragte Chloe nach.

„Also gut. Ich muss wohl Ja gesagt haben.“

Aber nur, weil er immer Ja sagte, wenn Gina ihn um etwas bat. Das war er ihr schuldig. Sie hatten ihre Eltern verloren, als er dreizehn und Gina zwanzig Jahre alt gewesen war. Gina hatte für ihn gesorgt. Seinetwegen hatte sie sogar ihr Studium abgebrochen. Später hatte sie dann darauf bestanden, dass er die Universität besuchte. Sie hatte ihn immer unterstützt und an ihn geglaubt.

Wenn sie ihn hin und wieder um einen Gefallen bat, konnte er also schlecht Nein sagen, so gern er es manchmal auch getan hätte. Immerhin ließ er es sie wissen, wenn es ihm nicht passte. Meistens hatte sie dann auch nicht mehr darauf bestanden. Bis jetzt.

Wütend schrie er Chloe an: „Wenn Sie meine Assistentin sind, warum, um alles in der Welt, haben Sie sich dann ausgezogen?“

„Weil Sie es mir gesagt haben.“

So einfach war das? Gibson sah sie verblüfft an. „Wenn ich Sie mitten auf der Straße darum bitten würde, sich auszuziehen, dann würden Sie das tun?“

„Natürlich nicht!“ Chloe errötete wieder. „Aber Gina hat mir eingeschärft, ich müsste alles tun, was Sie von mir verlangen. Beruflich, meine ich.“

Sie hielt seinem Blick stand. Chloe Madsen hatte Mut, das musste man ihr lassen.

Chloe atmete tief ein und aus, wobei ihre Brüste sich unter dem dünnen Frotteemantel hoben und senkten. Er hatte sie schon nackt gesehen. Und die dunkelrosa Knospen.

Wahrscheinlich werde ich sie nie wieder sehen, dachte er. Wenn man bedachte, wie die nackte Chloe ihn fast um den Verstand gebracht hätte, war das wohl auch besser so.

„Warrum arrbeitest du mit dem Mädchen?“, fragte Tasha vorwurfsvoll. „Das darrfst du nicht! Ich bin das ‚Seven‘-Mädchen!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn wütend an.

„Tasha …“ Gibson lächelte ihr beruhigend zu.

Sie umfasste sein Gesicht und küsste ihn auf den Mund. „Wirr fangen noch einmal von vorrn an, ja? Verrzeihst du Tasha die Verrspätung?“

„Ja.“ Gibson brachte sich schnell in Sicherheit und ließ den Blick zu Chloe gleiten, die ihn noch immer ansah. Er machte keine Anstalten, die Arbeit wieder aufzunehmen.

„Gibson?“, fragte Tasha ungeduldig.

Er wandte den Blick ab. „Ja?“

„Fangen wirr jetzt endlich an?“

„Ach so, ja, natürrlich, ich meine, natürlich.“ Das würde ihn wenigstens von Chloe Madsen ablenken. Er hob die Kamera. „Okay, Mädels, auf ein Neues. Ihr wisst, was ihr zu tun habt.“

Sie bildeten wieder einen Kreis, Tasha fand ihren Platz. Sie zitterte nicht, und bei ihr wippte auch nichts, wie Gibson erleichtert feststellte.

„Und was ist mit mir?“, fragte Chloe. „Was soll ich jetzt tun?“

Er wandte sich ihr wieder zu. Vor seinem inneren Auge sah er sie nackt. Allein der Gedanke erregte ihn, doch Gibson riss sich zusammen und antwortete: „Gehen Sie wieder nach Hause.“

Sie sollte nach Hause gehen? Das hatte ihr gerade noch gefehlt! In Collierville in Iowa konnte sie sich nicht mehr blicken lassen, nachdem sie sich in New York entblößt hatte!

Chloe war in eine der kleinen Umkleidekabinen geflüchtet und hörte zu, wie Gibson Walker den Models mit seiner rauen, verführerischen Baritonstimme Anweisungen gab. Arme ausstrecken und schwimmen. Genau wie er es vorhin auch von ihr verlangt hatte.

Bei der Erinnerung daran barg sie das Gesicht in den Händen. Sie schämte sich furchtbar.

Schließlich begann sie nervös, sich wieder anzuziehen. Ihre Hände zitterten so sehr, dass es doppelt so lange wie sonst dauerte, bis das Hemdblusenkleid zugeknöpft war. Endlich war es geschafft. Eigentlich hätte sie die Umkleidekabine jetzt verlassen können, doch sie traute sich nicht, Gibson Walker wieder unter die Augen zu treten.

Er war so wütend auf sie gewesen. Aber wieso eigentlich? Immerhin hatte sie sich gehorsam ausgezogen, als er sie darum gebeten hatte. Den Grund dafür würde sie wohl nie begreifen. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Für sie gab es nur eine Ausrede: Gina hatte ihr erklärt, Gibson könnte sie durchaus als Model einsetzen, wenn er das Atelier ausleuchtete und die richtigen Kameraeinstellungen vornahm. Sie, Chloe, hatte offensichtlich nicht richtig zugehört und gedacht, Gibson wollte sie als Ersatzmodel.

Sie lachte auf. Was Dave wohl dazu sagen würde?

Gar nichts, denn er würde es nie erfahren. Es hatte Dave Shelton, ihrem Verlobten, sowieso nicht gepasst, dass sie den Sommer über in der Großstadt mit dem schlechten Ruf jobben wollte.

„Was willst du denn ausgerechnet in New York?“, hatte er gefragt. „Dort kommst du nur auf dumme Gedanken.“

„New York ist eine wundervolle, faszinierende Stadt, die unglaublich viel zu bieten hat. Ich möchte mich einfach mal umsehen. Du brauchst keine Angst zu haben, ich lasse mich schon nicht manipulieren“, hatte sie geantwortet.

Wenn Dave allerdings erfahren würde, dass sie splitterfasernackt vor ihrem Arbeitgeber hin und her stolziert war, kaum dass sie in New York eingetroffen war, würden seine schlimmsten Befürchtungen sich natürlich bestätigen. Doch niemand würde es ihm erzählen. Es sei denn, Gibson Walker würde es ihm verraten. Aber das würde er nicht tun, oder?

„Küssen, Ladys. Ich will sehen, wie ihr küsst. Prima, sehr gut, ausgezeichnet“, hörte sie Gibson sagen.

Wieder barg Chloe das Gesicht in den Händen. Sie hatte ihm direkt in die Augen gesehen und die Lippen zum Kuss geformt. Allein bei der Vorstellung daran hätte sie vor Scham im Erdboden versinken können.

Und dann sagte er schließlich: „Das war’s. Vielen Dank. Ich glaube, wir haben eine prima Serie gemacht.“

Die Models begannen, alle durcheinander zu reden. Am lautesten war die sexy Rothaarige, die zu spät gekommen war und sie, Chloe, verdrängt hatte. Es hieß „Gibson dies, Gibson das“, und er antwortete ganz gelassen, als würde er jeden Tag mit nackten Schönheiten arbeiten. Wahrscheinlich tat er es sogar.

Jetzt kamen die Mädchen zu den Umkleidekabinen. Jemand klopfte an ihre Tür.

„Ich bin noch nicht so weit“, behauptete Chloe leise.

Das würde sie wohl nie sein. Am liebsten wäre sie für den Rest ihres Lebens in der Kabine geblieben. Sie atmete mehrere Male tief durch und versuchte, ruhig und gelassen zu werden.

Die Mädchen hatten sich inzwischen wieder angezogen und verließen das Atelier. „Bye, Gibson“, riefen sie zum Abschied.

„Wiedersehen, Mädels.“

„Du bist der Größte, Gibson. Bis zum nächsten Mal.“

Dann herrschte Stille.

Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Chloe wusste, dass sie sich nicht länger verstecken konnte. Sie hatte zwei Möglichkeiten. Entweder versuchte sie, ungesehen zu verschwinden und den nächsten Flug nach Iowa zu nehmen, oder sie trat dem Mann im Atelier mutig entgegen und versprach, ihm eine gute Assistentin zu sein.

Eigentlich hatte sie keine Wahl, denn sofort nach Hause zu fliegen kam überhaupt nicht in Frage. Sie hatte sich so sehr auf den Sommer in New York gefreut. Um sich diesen Traum zu erfüllen, hatte sie einiges aufs Spiel gesetzt. Dave hatte sie erklärt, sie wollte die Zeit nutzen, um sich über einiges klar zu werden. Natürlich hatte er sie nicht verstanden. Aber das wäre wohl auch zu viel erwartet gewesen. Jedenfalls konnte sie nicht unverrichteter Dinge wieder zurückkehren, das stand immerhin fest.

Chloe atmete tief durch und machte die Tür auf.

„Ich habe einen Flug für Sie gebucht“, sagte Gibson kurz angebunden, sowie die Tür sich öffnete. „Er geht um sechs Uhr, dann sind Sie um neun in Chicago. Dort haben Sie eine Stunde Aufenthalt. Dann geht es mit dem letzten Flug nach Dubuque, wo Sie Viertel nach elf landen werden. Sie können jemanden anrufen, der Sie vom Flughafen abholen soll.“

Er ließ flüchtig den Blick über sie gleiten – nicht nur, um sich davon zu überzeugen, dass sie sich angezogen hatte und ihre Brüste noch wippten. Dann widmete er sich entschlossen einem Stapel unerledigter Sachen, die sich während der vergangenen zwölf Jahre auf seinem Schreibtisch gestapelt hatten. Es war wirklich äußerst wichtig, sich jetzt sofort darum zu kümmern!

Als Chloe nicht reagierte, sah er auf, wobei er sorgfältig darauf achtete, ihr nur ins Gesicht zu blicken. Dieses Gesicht hatte sehr verführerische Lippen. Verflixt!

Chloe betrachtete ihn besorgt.

„Die Flugkosten übernehme ich natürlich“, erklärte er ungeduldig. Wahrscheinlich machte sie sich wegen des Geldes Sorgen.

„Darum … darum geht es gar nicht. Ich … ich kann nicht nach Hause zurück.“

„Wie bitte?“ Gibson musterte sie verblüfft. „Wieso können Sie nicht nach Hause? So ein Unsinn!“

Doch Chloe schüttelte energisch den Kopf. „Nein, das geht nicht. Jedenfalls nicht vor dem 15. August.“

„Hat man Sie bis dahin aus Iowa verbannt?“ Das wäre sehr merkwürdig gewesen. Er war zwar seit zwölf Jahren nicht mehr dort gewesen, konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass es plötzlich ein Gesetz geben sollte, das den Einwohnern verbot, vor Ablauf einer bestimmten Frist nach Hause zurückzukehren.

„Ich habe erzählt, ich würde am 15. August zurück sein“, erklärte sie.

„Na und? Gibt es in Iowa kein Telefon? Sie können doch anrufen, um Bescheid zu sagen, dass Sie nun doch früher kommen, nämlich heute Abend.“

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Das kann ich nicht.“

Gibson wurde ungeduldig. „Und wieso nicht?“

Chloe Madsen sah ihn flüchtig an. Dabei klimperten ihre Wimpern.

„Lassen Sie das!“, herrschte er sie an.

Sie blickte ihn erstaunt an. „Was denn?“

„Unterstehen Sie sich zu weinen!“

Chloe hob das Kinn. „Ich weine nie.“

Er hatte keine Lust, sich darüber zu streiten.

„Sie können mir ruhig glauben. Jedenfalls weine ich nicht, wenn es um einen Job geht.“ Sie überlegte einen Moment, dann atmete sie tief durch. Und dabei hoben und senkten sich ihre Brüste.

Gibson machte für einige Sekunden die Augen zu. Dann wandte er sich ab, ging zur Tür und riss sie auf, damit Chloe sein Atelier verließ.

Edith, seine rechte Hand, saß am Schreibtisch. Jetzt sah sie interessiert auf. Er schöpfte wieder Hoffnung. In Edith’ Anwesenheit würde Chloe wohl auf eine weitere Auseinandersetzung verzichten.

„Ich weiß, dass ich mich vorhin dumm benommen habe“, sagte Chloe leise. „Aber als Gina und ich uns über den Job unterhalten haben, habe ich versprochen, alles zu tun, was von einer Assistentin verlangt wird. Gina meinte, dazu gehört auch, als Modell zu posieren. Ich habe das vorhin missverstanden. Es hätte mir bewusst sein müssen, dass Sie nicht nur die Scheinwerfer ausrichten wollen. Ich dachte, Sie würden es von mir erwarten. Und als Sie dann wütend geworden sind und gesagt haben, wenn ich mich nicht ausziehen würde, könnte ich gleich wieder gehen, habe ich eben gehorcht, weil ich nicht nach Hause kann.“

„Warum nicht?“

Chloe sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Es geht eben nicht. Ich habe so ein Theater gemacht, um herzukommen und …“ Sie verstummte.

„Wieso haben Sie Theater gemacht?“, fragte Gibson interessiert.

Doch sie ging nicht darauf ein. Schließlich sagte sie: „Ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir Leid. Ich habe mich wie eine Närrin aufgeführt. Wahrscheinlich habe ich auch so ausgesehen.“

Nein, eher unvergesslich. Bis ans Ende seiner Tage würde ihm in Erinnerung bleiben, wie Chloe Madsen nackt durch sein Atelier geschwommen war. Aber das wollte sie sicher nicht hören.

Chloe biss sich auf die Lippe. „Ich würde wirklich sehr gern als Ihre Assistentin arbeiten. Bitte seien Sie mir nicht böse.“

„Ich bin nicht böse“, antwortete er rau. „Aber Sie können nicht hier bleiben.“

„Sie haben Gina doch versprochen …“

„Nein. Gina hat mich überredet. Das versucht sie ständig. Ich höre gar nicht mehr richtig zu, wenn sie mich mal wieder von etwas überzeugen will. Ab und zu sage ich ‚ja, ja‘, und dann ist die Sache erledigt.“

„Offensichtlich haben Sie auch in meiner Angelegenheit ‚ja, ja‘ gesagt.“ Chloe sah ihn triumphierend an.

„Ich hätte nie gedacht, dass Gina Sie tatsächlich zu mir schicken würde.“

„Hat sie aber! Sie hat mir versichert, dass Sie damit einverstanden sind, mich zwei Monate lang als Assistentin zu beschäftigen. Das ist doch auch keine große Sache.“

„Ist es doch!“

Sie sah ihn erstaunt an. „Warum?“

Ihre unschuldige Frage nahm ihm den Wind aus den Segeln. „Weil … weil …“ Weil er kein unschuldiges Mädchen aus Iowa als Assistentin haben wollte! In New York herrschten raue Sitten. Man musste mit allen Wassern gewaschen sein, wenn man hier überleben wollte. Chloe würde hier innerhalb kürzester Zeit unter die Räder kommen.

„Es hat keinen Zweck.“

„Sie halten mich also für unfähig.“ Sie musterte ihn vorwurfsvoll.

Gibson erwiderte unwirsch ihren Blick. „Ganz im Gegenteil, ich halte Sie für ausgesprochen fähig …“

„Das bin ich auch!“

„Und Sie wären bestimmt auch eine gute Assistentin …“

„Ganz bestimmt!“

„Aber ich will keine Assistentin.“

„Du brauchst aber eine“, sagte Edith.

Gibson und Chloe wandten sich ihr verblüfft zu.

Edith nickte Chloe aufmunternd zu und schenkte Gibson ein wohlwollendes Lächeln. „Du brauchst eine Assistentin“, wiederholte sie.

„Ich habe doch … Wie heißt sie doch gleich?“ Er konnte ihre Namen einfach nicht behalten. Assistentinnen kamen und gingen ständig. „Prudence?“

„Perdita“, korrigierte Edith ihn geduldig. „Und der Name passt zu ihr.“

„Ach ja, Perdita.“ Sie war eine von vielen, die für ihn die schwere Kameraausrüstung trugen, Scheinwerfer ausrichteten, Besorgungen machten, Filmrollen wechselten und eben Mädchen für alles waren. Bisher hatte es keine der jungen Frauen lange bei ihm ausgehalten. Er hatte sie meist schnell wieder an die Luft gesetzt, weil sie einfach zu dumm waren. Man musste ihnen alles immer wieder erklären, bevor sie es einmal richtig machten. Es war wirklich die reinste Zeitverschwendung, und er hatte sie alle sofort vergessen, sowie er sie gefeuert hatte.

An Chloe würde er sich immer erinnern.

„Wir brauchen jemanden, auf den wir uns verlassen können“, gab Edith zu bedenken. „Du weißt ja, dass ich nächste Woche zu Georgia fahre.“

Gibson verzog unwillig das Gesicht. Daran wollte er lieber nicht erinnert werden. Ohne Edith war er verloren. Sie sorgte für den reibungslosen Ablauf seiner Arbeit. Sie leitete das Atelier, verhandelte mit den Werbeagenturen, kümmerte sich ums Essen, um die Fahrradkuriere, die ständig etwas brachten oder abholten, und sie war einfach unentbehrlich. Und nun hatte sie angekündigt, einen Monat Urlaub zu nehmen, um sich um ihre Tochter zu kümmern, die nach fünfzehn Jahren kinderloser Ehe ausgerechnet in diesem Sommer Drillinge erwartete.

Natürlich hatte er Edith den Urlaubswunsch nicht abschlagen können. Sie freute sich sehr darauf, endlich Großmutter zu werden. Der Flug nach North Carolina war schon lange gebucht. Wie er allerdings ohne sie auskommen sollte, war ihm, Gibson, ein absolutes Rätsel.

„Chloe wird mich sicher würdig vertreten“, fügte Edith hinzu.

„Wie bitte?“ Er glaubte, sich verhört zu haben.

Doch sie lächelte nur gelassen. „Sie macht einen vernünftigen, verantwortungsbewussten Eindruck. Und wenn deine Schwester ihr zutraut …“

„Meine Schwester …“

„… ist eine gute Menschenkennerin“, sagte Edith in energischem Tonfall. „Wenn er Sie nicht als Assistentin haben will, können Sie meinen Job übernehmen. Einverstanden, Chloe?“ Dann sah sie Gibson aufmunternd an. „Willst du sie nun oder nicht?“

Sehr missverständliche Formulierung, dachte er. Nein, ich will sie nicht. Dann wäre ich ja jeden Tag mit ihr zusammen. Wie soll ich das aushalten, wenn ich allein bei ihrem Anblick erregt werde?

Doch er hatte natürlich keine Wahl. Eins wollte er allerdings von vornherein klarstellen: „Ich übernehme aber keine Verantwortung für Sie, Chloe.“

Chloe sah ihn verblüfft an. „Natürlich nicht.“

„Sie müssen sich selbst durchbeißen. Ich kann Sie nicht beschützen. Schließlich bin ich kein Kindermädchen!“

„Das habe ich auch nie …“

„Wenn Sie hier bleiben, dann auf Ihre eigene Verantwortung. Nur damit das von vornherein klar ist.“

Sie sah ihn herausfordernd an. „Alles klar“, sagte sie, und als er sich abwandte, fügte sie fast angriffslustig hinzu: „Sonst noch etwas?“

Gibson drehte sich um. „Ja, allerdings. Behalten Sie gefälligst Ihre Sachen an!“

2. KAPITEL

Selbstverständlich musste er ihr eine Unterkunft besorgen! „Das hast du mir schließlich versprochen“, sagte Gina vorwurfsvoll am Telefon.

„Was habe ich?“, fragte Gibson ungläubig.

Gina hatte am späten Abend angerufen, um zu hören, ob die „liebe Chloe“ gut angekommen war und wo er sie untergebracht hatte.

„Du hast gesagt, du würdest ihr ein Zimmer zur Untermiete besorgen“, beharrte sie.

Er war völlig verblüfft. „Das soll ich wirklich gesagt haben?“

„Na ja, vielleicht nicht genau mit diesen Worten, aber als ich dich gefragt habe, ob du ihr ein Zimmer zur Untermiete besorgen könntest, hast du Ja gesagt.“

„Aber ich hätte doch nie gedacht …“ Er brachte es nicht übers Herz, seiner Schwester zu gestehen, dass er niemals damit gerechnet hätte, dass sie ihm wirklich jemanden als Assistentin schickte. Noch dazu … Chloe. „Ich habe noch nichts gefunden“, sagte er schließlich.

„Nein?“, fragte Gina entsetzt.

„Nein, aber es wird sich schon etwas ergeben.“

„Eines Tages wirst du es mir danken.“ Dessen war Gina sich offenbar ganz sicher. „Chloe ist sehr fleißig, Gibson. Sie würde alles tun, worum du sie bittest.“

„Was du nicht sagst“, antwortete er trocken und biss sich auf die Lippe. Was Chloe bereits getan hatte, wollte er seiner Schwester lieber verschweigen. Es würde sie nur unnötig schockieren. Er selbst war ja auch schockiert, dass er ausgerechnet das Mädchen nackt gesehen hatte, das seine Schwester ihm geschickt hatte.

„Sie ist selbst eine gute Fotografin“, erzählte Gina. „Dir kann sie natürlich nicht das Wasser reichen, mein Lieber. Aber immerhin hat sie schon wundervolle Aufnahmen für unser Lokalblatt gemacht.“

Gina arbeitete für das Blatt, wahrscheinlich hatte sie Chloe durch die Zeitung kennen gelernt.

Gibson erinnerte sich dunkel an die Fotos in der Collierville Gazette: Jubelpaare, die goldene Hochzeit feierten, Footballspieler, Gewinnerinnen lokaler Wettbewerbe wie Schweinekönigin oder Landschaftsfotos, die Mais- und Sojabohnenfelder zeigten, so weit das Auge reichte.

„Ach, und das Fotografieren hat sie auf die Idee gebracht, nach New York zu kommen?“

„Nein, nicht direkt.“ Gina schwieg vorübergehend. „Es hatte, glaube ich, etwas mit einer Nonne zu tun.“

„Wie bitte?“

„Ja, Chloe hat eine Reportage geschrieben. Weißt du, Gibson, sie ist etwas rastlos und versucht, herauszufinden, was sie wirklich will.“

Vielleicht will sie Nackttänzerin werden, dachte Gibson amüsiert.

„Sie hat drei Jahre lang als Kindergärtnerin gearbeitet, bevor sie bei unserem Blatt angefangen hat.“

„Als Kindergärtnerin?“ Er hatte eine Kindergärtnerin nackt gesehen! Allein die Erinnerung an die nackte Chloe erregte ihn erneut. Immerhin wusste er jetzt, warum sie so ein züchtiges Hemdblusenkleid trug.

„Ja, sie kann sehr gut mit Kindern umgehen. Aber der Job hat sie nicht ausgefüllt. Deshalb ist sie zu uns gekommen.“

„Und das reicht ihr auch nicht?“, fragte Gibson.

„Das kann ich nicht beurteilen. Sie ist bisher nie aus Iowa herausgekommen und sehnt sich danach, auch einmal etwas anderes zu sehen.“

Schön dumm, dachte Gibson. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie hier zurechtkommen wird, Gina“, sagte er dann unverblümt. „Sie ist zu naiv und unschuldig.“

„Sie hat ja immerhin dich und …“

„Mich hat sie auf gar keinen Fall! Bin ich vielleicht Mary Poppins?“

„Natürlich nicht. Sie braucht schließlich auch kein Kindermädchen. Ich dachte nur, es wäre schön, wenn du sie wahrnehmen würdest.“

Das hatte er bereits getan! Und wie!

„Sie möchte gern alles von dir lernen, was du ihr beibringen kannst.“

Ob Gina sich bewusst war, wie zweideutig dieser Satz klang? Wohl kaum.

„Und du bist doch ständig auf der Suche nach einer neuen Assistentin.“

Woher weiß Gina das? überlegte Gibson. Hatte sie sich etwa mit Edith unterhalten?

„Sie ist genauso, wie ich mir ein Mädchen für dich …“ Gina biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippe.

Er wusste auch so, was seine Schwester hatte sagen wollen: Genau das richtige Mädchen für dich zum Heiraten.

Es war ein offenes Geheimnis, dass Gina hoffte, er würde bald heiraten und nach Iowa zurückkehren. An diese Hoffnung klammerte sie sich, seit er vor zwölf Jahren im Sommer ein Praktikum bei dem berühmten Starfotografen Camilo Volante gemacht hatte.

Es war ihr damals ein Rätsel gewesen, warum ihr Bruder so versessen auf dieses Praktikum gewesen war. „Stars interessieren dich doch gar nicht“, hatte sie verwundert gesagt.

Und er hatte erklärt: „Aber Menschen.“ Er wollte Menschen fotografieren. Und das wollte er von dem Mann lernen, der nur berühmte Leute ablichtete. Mit dem Wissen könnte er vor die Kamera bekommen, wen er wollte. So jedenfalls hatte er es sich damals ausgemalt. Natürlich hatte er damit gerechnet, nach Iowa zurückzukehren. Doch es kam ja immer anders, als man dachte. Er hatte das Praktikum bei Camilo verlängert, und dann hatte sich sowieso alles geändert. Unwiderruflich. Daher war er nie nach Iowa zurückgekehrt.

Inzwischen hatte Gina sich damit abgefunden, dass er sehr erfolgreich schöne Frauen fotografierte. Trotzdem wurde sie nicht müde, ihn zu fragen, was eigentlich aus seinen Plänen geworden war, Menschen aus allen Lebensbereichen abzulichten. Oft wollte sie auch wissen, wann er denn endlich heiraten und nach Iowa zurückkommen würde, um Farmer und Schweineköniginnen zu fotografieren.

Dieses eine Mal schenkte sie sich die Frage allerdings.

„Ich bin nicht interessiert“, behauptete Gibson schließlich.

„Woran? Ach so, du meinst, an Chloe?“ Gina lachte. „Warum solltest du dich auch für sie interessieren? Sie ist auch nicht an dir interessiert. Außerdem ist sie ja nur vorübergehend in New York, Gibson. Und sie ist verlobt und heiratet im September.“

Chloe wollte heiraten? Er zuckte zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen. Diese unerwartete Reaktion verstörte ihn. Was ging es ihn an, ob Chloe heiraten wollte?

Gar nichts!

Vor seinem geistigen Auge sah er wieder die nackte, rosige Chloe mit den wippenden Brüsten. Als Verlobte konnte er sie sich wirklich nicht vorstellen. „Und wer ist der Narr, der sie hat ziehen lassen?“, fragte er.

„Falls du wissen möchtest, mit wem sie verlobt ist, kann ich es dir sagen: mit Dave Shelton, einem sehr netten jungen Mann. Erinnerst du dich noch an Ernie und Lavonne Shelton? Ihnen gehört die Farm am nördlichen Stadtrand. Sie sind Daves Eltern.“

Gibson erinnerte sich vage an den Namen. „In meiner Klasse war eine Kathy Shelton.“

„Das ist seine ältere Schwester. Sie hat geheiratet und ist nach Dubuque gezogen. Vor drei Jahren hat sie sich wieder scheiden lassen und ist mit den Kindern nach Hause gekommen. Bis vor zwei Monaten haben sie alle in einem Wohnwagen auf der Farm gewohnt. Eigentlich war der für Chloe und Dave vorgesehen. Kathys wegen haben sie vor drei Jahren nicht geheiratet.“

„Dann sind sie schon seit drei Jahren verlobt?“

„Nein, seit acht Jahren, soviel ich weiß.“

„Acht Jahre?“

„Von mir weißt du das aber nicht. Ich bin ja keine Klatschbase, und so genau bin ich auch nicht informiert.“

In einer Kleinstadt wie Collierville gab es keine Geheimnisse. Natürlich wusste Gina genau Bescheid! Darauf hätte er jede Wette abgeschlossen.

Doch seine Schwester hatte offenbar das Gefühl, bereits genug gesagt zu haben. „Ich muss jetzt Schluss machen, Bruderherz. Halt mich bitte auf dem Laufenden. Und wenn du mehr über Chloe und Dave erfahren möchtest, solltest du Chloe fragen.“

Ich werde mich hüten, dachte Gibson, als er den Hörer auflegte.

Eigentlich hätte sie ein schlechtes Gewissen haben müssen, denn sie wusste, dass Gibson Walker sie nicht beschäftigen wollte. Hätte er eine Möglichkeit gesehen, sie vor die Tür zu setzen, er hätte es getan, davon war Chloe überzeugt. Also hätte sie von sich aus gehen müssen. Doch das kam nicht in Frage.

Sie hatte alles, aber auch alles darangesetzt, von zu Hause fortzukommen, nur für zwei Monate, um sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Da konnte sie nicht nach einem Tag wieder zurückkehren und Dave erzählen, sie hätte es sich anders überlegt.

Er würde fragen, was sie dazu bewogen hatte. Und sie, ehrlich, wie sie nun einmal war, würde ihm alles beichten: die Verwechslung, die Nacktfotos, wie dumm sie sich angestellt hatte. Nein, das ging wirklich nicht.

Also blieb sie, wo sie war. Mit den Schuldgefühlen wurde sie schon fertig. Viel schlimmer war die Verlegenheit über den peinlichen Zwischenfall.

Chloe stand am Fenster ihres Hotelzimmers, in dem Gibson sie abgeliefert hatte, und sah in den New Yorker Nachthimmel hinaus, als das Telefon klingelte.

„Hallo.“ Es konnte nur Dave sein. Sie hatte die Zeitverschiebung außer Acht gelassen, als sie ihn Stunden zuvor angerufen hatte. Natürlich melkte er um diese Zeit die Kühe. Also hatte sie ihre Telefonnummer hinterlassen.

„Hallo. Und? Hast du dich schon selbst verwirklicht?“

Chloe rang sich ein Lächeln ab. „Noch nicht ganz. Wie geht’s?“

Es ging ihm natürlich gut. Sie war ja auch erst seit sechzehn Stunden fort. Dave erzählte, wie sein Tag gewesen war, wie das Wetter war, wie es den Kühen ging und was er bei seinen Eltern zu Abend gegessen hatte.

„Mom hat mich zum Abendessen eingeladen. Ich glaube, sie wollte nur wissen, ob du tatsächlich fort bist. Sie und Dad können es kaum fassen.“

Sie waren nicht die Einzigen. Die eintausendeinhundertzweiundvierzig Einwohner von Collierville konnten nicht begreifen, wie jemand freiwillig den Sommer in New York verbringen konnte. Sie, Chloe, hatte es schließlich aufgegeben, ihnen zu erklären, was sie vorhatte. Es hatte ja doch keinen Zweck. Nur Dave sollte verstehen, warum sie in die Großstadt wollte.

Dave und sie waren zusammen aufgewachsen und seit der Schulzeit ein Paar. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass sie zusammengehörten. Sie wusste alles über Dave, und Dave wusste alles über sie – nur von dem Nackttanz am Nachmittag wusste er nichts.

„Ist alles so, wie du es dir vorgestellt hast?“, fragte er.

„Es ist noch viel besser.“ Zum Glück wollte er nichts Genaueres wissen!

„Und wo wohnst du?“

Chloe beschrieb ihm das einfache, aber ordentliche Hotel. „Wenigstens sind Sie hier sicher“, hatte Gibson gesagt, als er sie zu ihrem Zimmer gebracht hatte. „Allerdings wäre es besser, wenn man die Zimmertür auch von außen verriegeln könnte“, hatte er schroff hinzugefügt.

Sie hatte nicht gefragt, wie er das meinte.

Dave schien überrascht. „Ich dachte, du würdest irgendwo zur Untermiete wohnen.“

„Ja, im Hotel bin ich nur vorübergehend. Er hat noch nichts für mich gefunden.“ Sie verschwieg Dave, dass Gibson gehofft hatte, sie würde nicht auftauchen.

„Du wirst doch wohl nicht bei ihm wohnen!“

„Natürlich nicht!“

Das hätte Gibson Walker niemals zugelassen. Als er sich bewusst geworden war, dass er sie nicht so schnell wieder loswurde, hatte er sie ins Hotel verfrachtet.

„Aber ich kann mir kein Hotelzimmer leisten“, hatte sie protestiert.

„Ich aber.“ Sein Tonfall hatte keinen Widerspruch geduldet. Gibson hatte an der Rezeption für eine Übernachtung bezahlt. Als sie ihre Kreditkarte herausgezogen hatte, hatte er einfach abgewinkt. Für ihn war die Angelegenheit damit erledigt gewesen. Er hatte sie zum Zimmer gebracht, gesagt, er hoffte, sie würde über Nacht zur Vernunft kommen und doch nach Hause fliegen.

„Moment!“, hatte sie gerufen, als er gehen wollte. „Wann fangen wir morgens an?“

Einen Augenblick lang hatte er sie schweigend angesehen, dann hatte er sich ein Lächeln abgerungen und geantwortet: „Die ersten Aufnahmen sind für neun Uhr angesetzt.“ Dann war er wirklich gegangen.

„Ich kümmere mich morgen nach der Arbeit um ein anderes Zimmer“, versprach Chloe Dave.

„Ja, aber eins, wo du gut aufgehoben bist.“

„Natürlich.“

„Du fehlst mir.“

„Du fehlst mir auch, Dave. Aber du wirst schon sehen, wie schnell die Zeit verfliegt. Ehe du dich’s versiehst, bin ich schon wieder da.“

Dave seufzte. „In einundsechzig Tagen.“

Du liebe Zeit, er zählte die Tage schon jetzt! Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen. „Verglichen mit der Ewigkeit, sind einundsechzig Tage gar nichts. Und wenn ich wieder da bin, werden wir für immer und ewig zusammen sein.“

Das stimmte ja auch. Sie kannte Dave, seit sie denken konnte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich irgendwo ohne ihn zu sein. Manchmal hatte sie sich schon gefragt, ob sie überhaupt ohne ihn sein konnte. Vielleicht wollte sie es nun herausfinden.

„Jedenfalls bin ich ganz schön wütend auf Schwester Carmela“, sagte Dave schroff.

„Schwester Carmela trifft keine Schuld.“

Dave wirkte nicht überzeugt.

Und es war ja tatsächlich die neue Äbtissin des gleich hinter der Stadtgrenze von Collierville gelegenen Klosters gewesen, die sie, Chloe, auf die Idee gebracht hatte.

Sie, Chloe, hatte vor etwa einem Monat ein Interview mit Schwester Carmela für die Zeitung geführt und sich auf Anhieb blendend mit ihr verstanden. Während des Gesprächs hatte die Äbtissin nicht nur von ihrer Arbeit erzählt, sondern auch verraten, wie sie sich ihrer Berufung bewusst geworden war.

Sie war direkt nach dem Studium zur Abtei gekommen und noch voll jugendlicher Begeisterung gewesen.

„Ich habe mich hier sofort wohl gefühlt“, hatte sie strahlend berichtet. „So lebendig und zufrieden, als hätte ich meinen Platz im Leben gefunden. Bis kurz vor dem Ablegen meines Gelübdes lief alles wie am Schnürchen. Plötzlich machte ich mir Gedanken. War ich wirklich zum Leben als Nonne berufen? Oder wollte ich nur Nonne werden, weil es für mich die einfachste Lösung war? Ich zweifelte an allem, wurde jeden Tag rastloser und unzufriedener.“

Chloe, der es in den vergangenen Monaten ähnlich ergangen war, horchte auf. „Und wie sind Sie darüber hinweggekommen?“, fragte sie gespannt.

„Gar nicht.“ Die Äbtissin lächelte. „Ich bin gegangen.“

„Sie sind gegangen?“ Chloe fiel der Stift aus der Hand. Sie hob ihn wieder auf und betrachtete Schwester Carmela forschend. Machte sie Witze?

Doch es schien ihr ernst zu sein. „Ich konnte nicht bleiben. Zuerst musste ich mir hundertprozentig klar sein, ob ich auch wirklich das Richtige tat. Also beschloss ich, meine Berufung auf die Probe zu stellen, indem ich eine Zeit lang in der ‚wirklichen Welt‘ lebte. Ich wollte sehen, ob ich vielleicht dorthin gehörte.“

Chloe lächelte. „Und Ihnen ist bewusst geworden, dass es Ihnen nicht gefällt?“

„Oh, es hat mir sogar sehr gut gefallen. Ich war erfolgreich, aber ich spürte, dass ich hierher gehöre. Also bin ich zurückgekommen.“

Wie gut sie, Chloe, sie verstehen konnte! Sie konnte genau nachvollziehen, was in Schwester Carmela vorgegangen sein musste, denn ihr ging es ganz genauso. Je näher der Hochzeitstermin rückte, desto rastloser wurde sie. Dabei waren es bis dahin noch vier Monate. Doch sie konnte nächtelang nicht schlafen. Sie lag wach und dachte über ihre Zukunft nach. Ob sich irgendetwas ändern würde, verglichen mit ihrem bisherigen Leben?

Eigentlich war sie gar nicht unzufrieden mit dem, was sie hatte. Aber sie kannte es ja auch nicht anders!

Dave und sie waren schon so lange zusammen, sie schienen füreinander geschaffen zu sein wie Schwester Carmela fürs Kloster. Und genau das beunruhigte Chloe.

„Du machst dir nur unnötig das Leben schwer“, sagte Dave.

Doch sie wusste, dass es nicht der Fall war. Sie erbat sich eine Art Probezeit, in der sie ihren Horizont erweitern wollte. Collierville mit seiner sanften, von Flüssen durchzogenen Hügellandschaft im nordöstlichen Iowa war wundervoll. Dave war wundervoll. Sie liebte beide. Aber vielleicht ging alles etwas zu glatt, wie damals bei Schwester Carmela.

Wahrscheinlich sollte ich auch fortgehen, dachte Chloe.

„Willst du etwa auch fünfzehn Jahre lang fortbleiben?“, fragte Dave entrüstet, als sie ihm von Schwester Carmela erzählte, die sich mit ihrer Entscheidung tatsächlich so lange Zeit gelassen hatte.

„Natürlich nicht. Nur zwei Monate. Was hältst du davon?“

„Gar nichts. Was willst du denn in New York finden, was du nicht auch hier hast? Abgesehen von Kriminalität, Armut, Dreck und Luftverschmutzung.“

Dave wusste natürlich, dass es das auch alles in Iowa gab, allerdings weniger ausgeprägt als in der Metropole. Aber er war stolz darauf, aus dem mittleren Westen zu kommen, und fühlte sich Städtern überlegen.

Immerhin unterstützte er sie schließlich bei ihrem Vorhaben und erklärte seinen Eltern, es würde ihm nichts ausmachen, auf sie zu warten. Sie hatten die Hochzeit ja auch zuvor schon einmal verschoben.

„Im August bin ich wieder da“, erklärte Chloe tröstend beim Abschied.

„Und ich muss mich allein um die Hochzeitsvorbereitungen kümmern“, bemerkte ihre Mutter mit finsterer Miene.

Doch in Wirklichkeit war sie froh, freie Hand zu haben. Es sollte eine Hochzeit werden, die so leicht keiner vergessen würde.

„Ich nehme mein Adressbuch mit. Dann kann ich die Floristin und den Partyservice von New York aus bestellen und die Einladungen verschicken“, hatte Chloe versprochen.

Doch heute Abend würde sie sich darum noch nicht kümmern. Heute Abend genoss sie die Aussicht auf das nächtliche New York. Ab und zu kniff sie sich, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht träumte.

Es würde wundervoll werden, in New York zu arbeiten. Sie nahm sich vor, gute Arbeit zu leisten. Ihr Einstand war ja nicht so gelungen, doch das würde schon werden. Und in zwei Monaten würde sie beruhigt nach Hause zurückkehren und Dave heiraten.

Wie Schwester Carmela würde sie sich den Wind der großen, weiten Welt um die Nase wehen lassen und dann wieder nach Hause fahren.

„Das Gras ist hier auch nicht grüner“, erklärte Chloe und kicherte, denn weit und breit war überhaupt kein Gras zu sehen.

Sie schloss die Augen und dachte an Iowa – grüne Wiesen, blauer Himmel, keine Skyline wie in New York. Dort wartete Dave auf sie, der starke, ausgeglichene, verlässliche Dave. So einen Mann konnte man sich nur wünschen.

Bevor sie ins Bett ging, wünschte sie sich, dass Dave sie auch so intensiv ansehen würde, wie Gibson Walker es getan hatte, wenn sie in ihrer Hochzeitsnacht nackt vor ihm stand.

Manchmal könnte man glauben, Gina hat einen Draht zum Allmächtigen, dachte Gibson. Vielleicht war da sogar etwas dran, denn sie setzte sich stets für ihre Mitmenschen ein und half ihnen, wo sie nur konnte. Wahrscheinlich hatte sie dafür gesorgt, dass für Chloe alles so lief, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Er stand gerade vor Edith, die an ihrem Schreibtisch saß, und machte ihr klar, sie müsse eine Unterkunft für Chloe finden, wenn sie unbedingt wolle, dass sie blieb, als die Tür aufging und Sierra, die Hairstylistin, hereinkam.

„Sie bleibt?“ Sierra war begeistert.

„Sieht so aus. Sie will einfach nicht gehen“, antwortete Gibson schroff.

„Aha. Ein Blick auf dich genügte, und sie hat beschlossen, nicht mehr ohne dich leben zu können, oder?“ Sierra arbeitete schon lange für ihn und wusste daher, dass die Frauen ihm nachliefen und es ihm überhaupt nicht passte.

„Sie ist verlobt“, versuchte er ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Doch Sierra ließ sich nicht beeindrucken. „Du könntest ihn ausstechen.“

„Ich bin nicht interessiert!“, rief er so laut, dass sie zurückwich.

Dann zuckte sie lässig die Schultern. „Das bist du ja nie, oder?“ Es war ein offenes Geheimnis, dass er zwar ab und zu mit einer Frau ausging, jedoch nie etwas Ernstes daraus wurde.

„Allerdings nicht“, bekräftigte Gibson.

„Auch gut. Wann kommt sie denn heute Morgen?“

„Keine Ahnung. Ich habe gesagt, dass wir um neun Uhr anfangen. Mal sehen, ob sie tatsächlich auftaucht. Vielleicht ist sie ja inzwischen auch zur Vernunft gekommen und hat den ersten Flug nach Hause genommen.“

Die Tür ging erneut auf. „Wer? Ich?“, fragte Chloe.

Gibson stöhnte. Erstens, weil sie tatsächlich noch in New York war, zweitens, weil sie noch süßer, unschuldiger und begehrenswerter aussah als am Vortag. Alles nur Einbildung, versuchte er sich einzureden.

Schön wär’s! Sie sah frisch, fröhlich und ausgeruht aus, hatte rosige Wangen und schien es kaum abwarten können, endlich mit der Arbeit anzufangen.

„Ich habe noch keine Unterkunft für sie gefunden“, meinte er ausdruckslos.

„Meine Schwester sucht gerade jemanden, der in ihrem Haus einhütet“, sagte Sierra.

Gibson und Chloe wandten sich ihr verblüfft zu.

„Sie können bestimmt bei meiner Schwester wohnen, Chloe. Ihre Wohnung wird gerade renoviert, und sie zieht so lange aus, braucht aber jemanden, der da ist, wenn die Handwerker kommen, und alles im Auge behält.“

Chloe strahlte. „Das ist ja wunderbar!“

„Moment mal!“, mischte Gibson sich sofort ein.

Erwartungsvoll sahen sie ihn an, und plötzlich wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Dass die Wohnung der Schwester einer Friseurin mit lilafarbenen Haaren seiner Meinung nach völlig ungeeignet war für eine ehemalige Kindergärtnerin aus Iowa, die ungefähr so viel Erfahrung hatte wie ihre Schützlinge?

Sierra wusste offenbar genau, was er dachte. Lächelnd sagte sie: „Mariah ist … normal. Sie sind ganz anders aus als ich.“

„Das meine ich nicht …“ Gibson verstummte. Was sollte er auch dazu sagen? Ihm konnte es ja egal sein. Er war schließlich kein Kindermädchen. „Von mir aus. Frag deine Schwester!“ Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und wandte sich ab. „Dann brauche ich mich darum nicht auch noch zu kümmern. Ich habe sowieso genug zu tun.“ Er verschwand in Richtung Atelier.

Hinter ihm erklangen Schritte. „Warten Sie doch auf mich“, bat Chloe atemlos.

Doch er wollte sie jetzt lieber nicht in der Nähe haben. „Helfen Sie Edith. Wenn Perdita kommt, schicken Sie sie zu mir ins Atelier.“

Als er ihre Enttäuschung bemerkte, fiel es ihm schwer, bei seinem Entschluss zu bleiben.

In diesem Moment betraten die ersten Models das Studio. „Hallo, Gibson!“

„Hallo, ihr Süßen.“ Er lächelte ihnen freundlich zu, bevor er Chloe anherrschte: „Nun gehen Sie endlich! Sie wollten doch tun, was ich Ihnen sage!“

Chloe errötete. Dann drehte sie sich um und verschwand im Büro.

Gibson legte einen neuen Film ein, während Sierra sich um die Frisuren der Mädchen kümmerte. Aus dem Büro hörte er, wie Edith Chloe die Terminplanung erklärte.

„Ich mache mir schnell Notizen“, sagte Chloe gerade, und er nickte zufrieden. Wenn sie im Büro half, stand sie ihm wenigstens nicht im Weg herum. Wo diese Perdita nur wieder blieb! Sie musste sich um die richtige Beleuchtung kümmern, damit er gleich anfangen konnte, sowie Sierra die Models frisiert hatte.

Er las die Anweisungen der Werbeagentur durch und machte sich Notizen, bevor er sich schließlich selbst um die Beleuchtung kümmerte.

Edith kam herein. „Perdita hat gerade angerufen. Sie kann heute nicht kommen, weil ihre Planeten in Opposition zueinander stehen.“

Gibson sah sie fassungslos an.

Sie lächelte verstohlen. „Sie glaubt nun einmal an so etwas. Zu dumm, du könntest sicher Hilfe gebrauchen.“

Er sah Chloe an Edith’ Schreibtisch sitzen und telefonieren. Dabei machte sie sich eifrig Notizen. Dann sah er Edith an.

Edith ließ den Blick von ihm zu Chloe und schließlich wieder zu ihm schweifen.

Sollte er sie vielleicht auf Knien anflehen?

„Ich könnte dir ja Chloe ins Atelier schicken, wenn sie den Anruf erledigt hat“, schlug Edith vor, nachdem sie ihn noch einen Augenblick hatte zappeln lassen.

„Tu das“, antwortete er schroff.

Fünf Minuten später tauchte Chloe im Atelier auf. „Was kann ich tun?“, fragte sie beflissen.

„Die Scheinwerfer müssen aufgestellt werden.“ Er zeigte ihr, wo er sie haben wollte, und Chloe machte sich an die Arbeit.

Von Perdita und ihren Vorgängerinnen war er es gewohnt, ständig Anweisungen erteilen zu müssen. Bei Chloe war das anders. Wenn man ihr einmal etwas erklärte, behielt sie es, und beim nächsten Mal hatte sie bereits alles erledigt, bevor er überhaupt dazu kam, ihr zu sagen, was getan werden musste. Es schien, als ahnte sie bereits, was er wollte. Und sie sagte kein Wort, sondern konzentrierte sich völlig auf die Arbeit.

Es war kaum zu glauben!

Chloe meisterte alles ohne Schwierigkeiten.

Erst als die Aufnahmen schließlich im Kasten und die Models verschwunden waren, strahlte Chloe ihn an. „Das hat Spaß gemacht.“

Perdita hatte die Arbeit nie Spaß gemacht.

„Ja“, antwortete Gibson schroff und drückte ihr einen Fotoapparat in die Hand. „Hier, können Sie einen Film einlegen?“

Fast ehrfurchtsvoll nahm sie ihm die Kamera ab und legte geschickt einen neuen Film ein.

Gibson sah ihr zu. „Auch das gehört zu Ihren Aufgaben.“

Chloe reichte ihm den Apparat gerade zurück, als Sierra ins Atelier kam. „Ich habe eben mit meiner Schwester telefoniert. Chloe kann heute Abend um sieben Uhr vorbeikommen.“

„Wir sind pünktlich da“, sagte er. Als Chloe und Sierra ihn erstaunt anblickten, fügte er schroff hinzu: „Gina möchte bestimmt, dass ich mich persönlich davon überzeuge, ob die Wohnung für Chloe geeignet ist. Nun sieh mich nicht so an, Sierra. Gina ist meine Schwester, das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann.“

„Klar.“ Sierra nickte vielsagend.

Und Chloe lächelte ihm dankbar zu, was völlig unnötig war. „Danke.“

„Schon gut. Jetzt aber zurück an die Arbeit!“

Natürlich fand Chloe Mariahs Wohnung wundervoll. Das hätte er sich ja denken können. Gibson stöhnte. Sie fand ganz New York wundervoll, so viel hatte er nach einem Tag in ihrer Gesellschaft bereits herausgefunden.

„Die Stadt pulsiert förmlich“, sagte sie, als sie im Taxi unterwegs waren. „Sehen Sie mal!“ Sie zeigte auf einen Mann, der Frack und Zylinder trug und an einer Straßenecke auf einem Flügel spielte. „Wohin sie auch sehen, Sie wissen nie, was Sie erwartet.“

„Ob das unbedingt so positiv ist, weiß ich nicht“, antwortete Gibson schroff.

Doch Chloe ließ sich von seiner schlechten Laune nicht beeindrucken. Sie war begeistert von dem Viertel, in dem Mariah ihre Wohnung hatte. Die Upper West Side war gar nicht so weit entfernt von seiner Wohnung, die am Central Park West lag.

Keine schlechte Gegend, wie auch er fand, aber eben nicht gerade Iowa. Trotzdem wollte er sich das Haus etwas näher ansehen. „Ich entscheide, ob die Wohnung geeignet ist. Wenn nicht, suchen wir etwas anderes“, sagte er, als sie ausstiegen.

„Wie bitte?“ Chloe sah ihn erstaunt an.

Gibson nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum und zeigte auf das braune Gebäude, in dem Sierras Schwester wohnte. „Sie haben gehört, was ich gesagt habe.“

Mariah machte tatsächlich einen ganz normalen Eindruck. Sie sah hübsch aus, hatte eine gute Figur und langes Haar, das braun war, nicht lilafarben. Und ihre Fingernägel waren rot lackiert, nicht schwarz. Sie trug Ohrstecker, gepierct schien sie aber nicht zu sein.

Sierra hatte auch noch keine Piercings, doch es war sicher nur eine Frage der Zeit. Davon war er überzeugt.

Mariah bat sie hinein und führte sie hinauf. „Ich wohne im zweiten Stock. Das Gebäude ist fast völlig entkernt worden, seit ich die Wohnung im Frühjahr gekauft habe. Das Haus war in einem schrecklichen Zustand. Der Putz fiel von den Wänden, die Tapeten hatten sich gelöst, und die Decken hingen durch. Aber jetzt ist alles so weit vorbereitet, dass die Maurer nächste Woche anfangen können zu arbeiten.“

Die Wohnung lag auf der Südseite und hatte Ähnlichkeit mit einer Höhle. Bis auf einen Fernseher, einen Videorekorder und einen mit bunten Decken und Kissen bedeckten Futon war das Wohnzimmer unmöbliert. Die Küche war ebenso spartanisch eingerichtet. Küchengeräte, ein Barhocker und ein Tisch mit Töpfen und Schüsseln – das war’s.

„Der Gasherd funktioniert“, erklärte Mariah. „Und warmes und kaltes Wasser gibt es auch. Hier ist der Kühlschrank, und hier ist Licht.“ Sie zeigte auf eine Leuchtstoffröhre. „Wenn die Maurer hier fertig sind, kommen die Tischler und die Kücheneinrichter. Möglicherweise kann die Küche vorübergehend nicht benutzt werden, aber das dauert wirklich nicht lange. Eigentlich sollte es keine Probleme geben.“

Chloe sah sich schweigend um. Gibson hatte allerdings hundert Fragen. Ob die Handwerker seriös seien? Es seien doch nicht etwa Schwarzarbeiter? Ob sie zuverlässig seien? Oder womöglich vorbestraft?

„Gleich werden Sie sich auch noch nach ihren Schulzeugnissen erkundigen“, sagte Chloe ärgerlich.

„Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.“

„Ich bin sicher, dass sie sehr seriös und zuverlässig sind“, erklärte Mariah und führte sie zum Schlafzimmer, das sich im hinteren Teil der Wohnung befand. Auch hier mussten die Maurer arbeiten. In der Mitte stand ein französisches Bett mit bunten Kissen und Decken. Das ist viel zu groß für eine Person, dachte Gibson beunruhigt. Ob sich wohl Männer bei ihr einladen werden, um das Bett mit ihr zu teilen? Oder ob ihr Verlobter am Wochenende einfliegt? überlegte er. Dann schüttelte er den Kopf. Was geht es mich an?

„Die Maurer und Tischler haben in der Wohnung unter mir angefangen“, erzählte Mariah. „Sie ist inzwischen fertig und einfach wundervoll geworden. Ich werde Rhys bitten, sie Ihnen zu zeigen.“

„Wer ist Rhys?“, fragte Gibson sofort.

„Mein Nachbar. Wir haben unsere Wohnungen zur gleichen Zeit gekauft. Seine geht über zwei Etagen. Eigentlich die reinste Verschwendung für einen Single, der zudem kaum zu Hause ist.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er ist Feuerwehrmann und auf der ganzen Welt im Einsatz. Wenn irgendwo eine Ölquelle brennt, wird er zu Hilfe gerufen.“

Gibson beobachtete Chloes Reaktion. Das Mädchen aus Iowa schien aus dem Staunen gar nicht mehr herauszukommen. Wieso konnte diese Mariah sich nicht auf das Wesentliche beschränken?

„Wann wird der Müll abgeholt?“, fragte er. „Wird der Müll getrennt? Beaufsichtigt jemand die Handwerker? Chloe kann die Verantwortung dafür jedenfalls nicht übernehmen.“

„Ich habe eine Liste gemacht. Sie liegt in der Küche. Es ist alles halb so schlimm“, antwortete Mariah.

Die hat leicht reden, dachte Gibson. Schließlich ist sie in den Hamptons, während Chloe hier die Stellung hält. Hoffentlich sind die Handwerker nicht alle Kriminelle.

Chloe schien sich darüber überhaupt keine Gedanken zu machen. In der Küche las sie sich die Liste durch und lächelte Mariah fröhlich zu. „Das ist kein Problem. Ich werde sicher eine Menge Spaß haben, so mittendrin in New York.“

Mariah lachte. „Ganz bestimmt.“

„Sie muss arbeiten und kann nicht den ganzen Tag über hier sein“, gab Gibson zu bedenken.

„Das ist auch nicht nötig. Rhys lässt die Männer in die Wohnung.“

„Ach? Ich dachte, er schwirrt ständig in der Weltgeschichte herum und ist nie hier.“ Wieso hatte der Mann einen Schlüssel zu der Wohnung?

Mariah machte eine viel sagende Geste. „Sie wissen ja, wie das ist. Wenn er fort ist, kann er sonst wo sein, und wenn er hier ist, dann ist er unten in seiner Wohnung. In den nächsten sechs Wochen ist er jedenfalls hier. Sie werden ihn sicher in den nächsten Tagen kennen lernen“, sagte sie zu Chloe. „Er ist groß und kräftig und sehr attraktiv.“

Gibson biss sich auf die Lippe. „Sie ist verlobt!“

Mariah ließ sich nicht beeindrucken. „Ansehen darf sie ihn sich aber, oder?“ Sie zwinkerte Chloe vielsagend zu, und die beiden Frauen lachten verschwörerisch, während er ärgerlich zusah.

Als Chloe seinen Blick auffing, verzog sie das Gesicht.

Was hat sie denn? fragte er sich beleidigt. Ich habe doch nur gesagt, dass sie einen Verlobten hat.

„Ich weiß nicht, ob er den Wohnungsschlüssel haben sollte“, sagte Gibson schließlich.

Doch Chloe überhörte seine Bemerkung einfach und wandte sich Mariah zu. „Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mir vorübergehend Ihre Wohnung überlassen. Und ich lasse die Maurer und Tischler und wen auch immer gern hinein. Ich glaube, ich werde mich hier sehr wohl fühlen.“

„Ganz bestimmt.“ Auch Mariah ging nicht auf seinen Einwand ein. „Und ich bin beruhigt, dass jemand einhütet.“

Sie gaben einander die Hand und lächelten, während Gibson schweigend und mit mürrischem Gesichtsausdruck zusah.

Dann wandte Chloe sich ihm zu. „So, das wäre also erledigt“, sagte sie in geschäftsmäßigem Tonfall. „Vielen Dank fürs Bringen. Das war sehr nett von Ihnen. Jetzt möchte ich Sie aber nicht länger aufhalten. Ich weiß ja, wie beschäftigt Sie sind.“

Und sie sah ihn an, als wäre er jetzt entlassen! Gibson war so schockiert, dass es einen Moment dauerte, bis er sich wieder gefangen hatte. „Ja, ich bin in Eile. Ich habe noch eine Verabredung und möchte das Mädchen nicht warten lassen“, erklärte er und versuchte dabei, den Herzensbrecher zu mimen. Dann ging er zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. „Morgen früh um neun im Atelier“, sagte er zu Chloe.

Sie blinzelte. „Selbstverständlich.“

Er machte die Tür auf. „Sie können die Linie neun in Stadtrichtung nehmen. Sie steigen an der 79. Straße ein und an der 18. aus.“

„Okay.“

Gibson drehte sich um. „Sie kennen sich doch mit der U-Bahn aus, oder?“

„Natürlich.“ Doch er sah, wie sie nervös schluckte, bevor sie sich ein Lächeln abrang.

„Wir machen das anders“, entschied er daher. „Wir treffen uns um halb neun an der U-Bahn-Station.“

„Keine Sorge, ich werde ihr zeigen, was sie wissen muss“, sagte Mariah fröhlich. „Sie können sich auf mich verlassen. Fahren Sie nur gleich direkt zum Studio. Chloe wird dann wahrscheinlich schon da sein.“

„Genau“, bekräftigte Chloe. „Mariah erklärt mir alles.“ Die beiden Frauen lächelten ihm zu.

Er konnte sich immer noch nicht losreißen.

„Sie kommen zu spät zu Ihrer Verabredung“, sagte Chloe schließlich, als das Schweigen unerträglich wurde.

Gibson atmete tief durch. „Wie? Ach ja.“ Er schüttelte den Kopf, dann ging er die Treppe hinunter. Als hinter ihm die Tür ins Schloss fiel, blieb er stehen. Er kam sich vor wie eine Mutter, deren Kind den ersten Schultag hatte.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen begleitete Mariah Chloe zur U-Bahn-Station, wo Chloe Mariahs Anweisung gemäß Metallmarken kaufte und durchs Drehkreuz ging.

„Sehr gut“, sagte Mariah von der anderen Seite der Absperrung. „Nun sind Sie bald eine richtige New Yorkerin und wissen automatisch, was Sie tun müssen.“ Sie ließ einige Pendler vorbei, bevor sie zögernd fragte: „Oder soll ich vielleicht doch mitkommen?“

Chloe schüttelte den Kopf und lächelte zuversichtlich. „Ich schaffe das schon.“

Sie freute sich darauf, etwas Neues zu tun. Fast fühlte sie sich wie an ihrem ersten Schultag, begierig, etwas zu lernen. Angst hatte sie nie gekannt. Im Gegenteil, für sie war es der Beginn eines großen Abenteuers gewesen.

So wie jetzt, dachte sie, als sie in die U-Bahn stieg und sich festhielt, sowie diese losratterte. Ich wohne in Manhattan, gehe zügig den Broadway entlang, nehme die U-Bahn, werde hin und her geworfen wie viele tausend andere Pendler auf der Weg zur Arbeit, dachte sie. Und ich arbeite für Gibson Walker. Wenn das kein Abenteuer ist!

Sie ärgerte sich, dass sie Gina nicht über ihren Bruder ausgefragt hatte. Doch als Gina vorgeschlagen hatte, für ihn zu arbeiten, hatte sie, Chloe, nur an New York gedacht – die Metropole, die Herausforderungen, die Möglichkeiten. An Gibson hatte sie keinen Gedanken verschwendet.

Vage erinnerte sie sich an die Schulzeit. Gibson war viele Klassen über ihr gewesen, und ihre älteren Schwestern, Kate und Julie, hatten für ihn geschwärmt.

Als sie Kate erzählt hatte, sie würde in New York für ihn arbeiten, hatte diese sie beneidet. „Du Glückspilz! Alle Mädchen in meiner Klasse waren in ihn verknallt. Er sah einfach fantastisch aus. Und das Beste daran war, dass er sich dessen überhaupt nicht bewusst war.“

Zumindest das hatte sich inzwischen geändert. Gibson war zwar nicht arrogant, aber er wusste, dass Frauen ihn unwiderstehlich fanden. Sie lagen ihm ja förmlich zu Füßen.

Glücklicherweise wusste er, wie er damit umgehen musste – wie er mit Frauen umgehen musste. Chloe hatte am Vortag beobachtet, wie er die Models aufgezogen hatte, um eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Es war ihm problemlos gelungen. Er schien die Frauen nicht allzu ernst zu nehmen. Manchmal schienen sie ihm sogar völlig gleichgültig zu sein. Und doch waren sie alle hingerissen von ihm. Sie mochten sich gar nicht wieder von ihm trennen.

Ob er mit einem der Models verabredet gewesen war? überlegte Chloe. Und wenn ja, mit welchem?

Sie hätte Kate und Julie fragen sollen, mit welchem Typ Mädchen er in der High School gegangen war. Obwohl es ihr ja eigentlich gleichgültig sein konnte! Gibson Walkers Liebesleben interessierte sie nicht, und damit Schluss!

Diese Gedanken beschäftigten sie so sehr, dass sie fast vergessen hätte, an der 18. Straße auszusteigen. In letzter Sekunde rief sie: „Entschuldigung. Ich muss hier raus!“ Dann arbeitete sie sich zur Tür vor, die sich gerade wieder schloss, und schaffte es gerade noch, herauszukommen, bevor die U-Bahn wieder losratterte.

Ich muss mich wirklich besser konzentrieren, solange ich mich hier noch nicht eingelebt habe, dachte Chloe.

Gibson hatte das Gefühl, mindestens drei Chloe Madsens zu kennen. Zunächst war da die Kindergärtnerin, die staunend Wolkenkratzer betrachtete und irgendwo gegenlief, weil sie nicht auf den Weg achtete. Das war das Mädchen, das er am Vortag begleitet hatte. Er hatte Angst, ihr könnte etwas zustoßen in der großen, bösen Stadt.

Dann gab es die geschäftsmäßige Chloe, die sich ganz auf ihre Arbeit konzentrierte. Sie war die erste Assistentin, die diese Bezeichnung auch verdiente. Man brauchte ihr alles nur einmal zu erklären, beim nächsten Mal machte sie es automatisch. Und sie dachte mit. Außerdem war sie stets pünktlich und eine wahre Bereicherung fürs Studio.

Und dann war da noch die nackte Chloe.

Genau diese Chloe – die sinnliche, weibliche Chloe, die er seit dem ersten Nachmittag nicht mehr gesehen hatte – ging ihm einfach nicht aus dem Kopf.

Dabei hatte er in den vergangenen Tagen doch wirklich nur die Kindergärtnerin und die tüchtige Assistentin gesehen, die stets unauffällig gekleidet war. Meistens trug sie eine Leinenhose und eine Bluse, manchmal mit Gürtel, manchmal ohne.

Doch ständig erinnerte er sich an die nackte Chloe. Und wie! Er wusste, was sich unter der unauffälligen Kleidung verbarg, sosehr Chloe sich auch bemühen mochte, ihre Reize zu verstecken.

Es ging so weit, dass er sich eines Tages tatsächlich dabei ertappte, wie er hinter ihrem Schreibtischstuhl stand und versuchte, ihr in den Ausschnitt zu spähen!

Als Chloe ihn dabei erwischte, runzelte er ärgerlich die Stirn und sagte unwirsch, sie solle die Bluse bis zum Hals zuknöpfen. Sie würde ja alle Welt einladen, ihr in den Ausschnitt zu starren.

Tatsächlich erschien Chloe von dem Tag an nur noch bis oben zugeknöpft. Und das machte ihn erst recht wahnsinnig. Was sollte er denn tun? Er konnte sie doch kaum bitten, die Bluse wieder aufzuknöpfen.

Also sagte er gar nichts, und die Blusen blieben hochgeschlossen.

Und nachts träumte er wieder von der nackten Chloe!

Glücklicherweise war der nächste Tag auch ihr letzter Arbeitstag im Atelier, denn von nun an sollte sie Edith’ Posten übernehmen.

Chloe hatte all ihre Mittagspausen geopfert, um sich von Edith einarbeiten zu lassen.

„Sie hat eine schnelle Auffassungsgabe“, erzählte Edith ihm an ihrem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub. „Du kannst dich ganz auf sie verlassen, sie wird die Büroarbeit ordentlich erledigen. Aber bist du sicher, dass du sie nicht im Atelier benötigst?“

Er, Gibson, war sich hundertprozentig sicher. Nach dem Traum der vergangenen Nacht hätte er sie am liebsten in den nächsten Flieger nach Iowa gesetzt. Doch das würde sie kaum mitmachen. Natürlich könnte er Gina bitten, sie zur vorzeitigen Rückkehr zu bewegen. Aber mit welcher Begründung?

Vielleicht reichte es ja schon, wenn sie wenigstens nicht mehr ständig im Atelier war.

Am späten Nachmittag – Edith war bereits gegangen – unterhielten Chloe und Sierra sich im Büro über Rhys. Gibson kam zufällig dazu.

„Mariah hat ihn mir neulich vorgestellt“, sagte Sierra. „Ich musste ihn die ganze Zeit ansehen. Ist er nicht hinreißend?“

Er wartete darauf, dass Chloe sagen würde, er sei ganz okay, aber keineswegs so gut aussehend wie ihr Verlobter, den sie mindestens hundertmal am Tag erwähnte. Doch das war nicht der Fall.

Chloe lächelte verträumt und antwortete: „Stimmt, das ist er. Und er ist ein richtig netter Typ. Gestern Abend kam er rauf, um mir beim Möbelrücken zu helfen, damit die Maurer im Schlafzimmer arbeiten können.“

„Ja, er ist einfach wundervoll“, schwärmte Sierra.

Chloe lachte. „Du hast Recht.“

„Ich dachte, Sie sind verlobt“, sagte Gibson unvermittelt.

Die beiden sahen ihn verblüfft an.

„Macht es diesem Dingsda nichts aus, wenn Sie anderen Männern schöne Augen machen?“ Er wusste genau, dass „Dingsda“ Dave hieß, schließlich sprach Chloe den ganzen Tag von ihm.

Chloe lachte ihn aus. „Ich bin zwar verlobt, das heißt aber noch lange nicht, dass ich tot bin, Gibson. Was spricht dagegen, dass ich einen gut aussehenden Mann schätze? Sie schätze ich ja auch, Gibson.“

Kaum hatte sie das gesagt, errötete sie heftig. Offensichtlich war es ihr peinlich, und sie war über sich selbst schockiert.

Ihn hatte sie auch schockiert. So sehr, dass er selbst rot wurde. Wann war ihm das zuletzt passiert? Daran wollte er jetzt lieber nicht erinnert werden.

„Natürlich nur rein beruflich“, fügte sie verlegen hinzu.

Als er ihre Verlegenheit bemerkte, beruhigte Gibson sich wieder. Er zwinkerte ihr zu und sagte lächelnd: „Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit.“

Sierra lachte.

Und Chloe errötete noch tiefer. „Gehen Sie!“ Sie versuchte, ihn wegzuscheuchen. „Ich muss telefonieren und habe jetzt keine Zeit für Scherze.“

„Mit Sierra haben Sie sich auch unterhalten“, gab Gibson zu bedenken.

„Über die Arbeit.“

„Über einen Kerl.“

Chloe sah ihn vernichtend an, dann wandte sie den Blick ab und begann, auf die Schreibtischplatte zu trommeln.

Er hatte den Eindruck, dass ihr der Kragen zu eng war. Daher beugte er sich vor und strich darüber. „Machen Sie den Knopf auf, Chloe“, sagte er leise.

Sie zuckte zusammen und blickte ihn entsetzt an.

Gibson zuckte lässig die Schultern. „Er verbirgt nichts, was ich nicht bereits gesehen habe.“

Obwohl Gibson sie ständig an den ersten Nachmittag im Atelier erinnerte und sie aufzog, war Chloe mit ihrer ersten Arbeitswoche in New York ganz zufrieden.

Sie war inzwischen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln so vertraut, als hätte sie ihr Leben lang in New York gelebt, und die Arbeit im Studio machte ihr überhaupt keine Mühe. Im Gegenteil! Sie hatte mehr Freude an dieser Tätigkeit, als sie es je für möglich gehalten hätte. Anfangs hatte sie nämlich gedacht, sie wäre nur als Mädchen für alles engagiert, aber Gibson erlaubte ihr sogar, Testfotos zu machen, bevor er mit den eigentlichen Aufnahmen begann. Anhand dieser Sofortbilder konnte er überprüfen, ob die Beleuchtung stimmte. Bereitwillig beantwortete er ihre Fragen. Ihr Interesse an seiner Arbeit freute ihn.

Und sie, Chloe, war sehr wissbegierig. Als er ihr einmal eine Kleinigkeit in aller Ausführlichkeit erklärte, fügte er mit einem verlegenen Lächeln hinzu: „Wenn ich Sie langweile, müssen Sie es mir sagen.“

Doch sie hätte ihm stundenlang zuhören können. „Sie langweilen mich nicht“, erwiderte sie daher. Fast hätte sie ihn gebeten: „Ich möchte alles von Ihnen lernen.“

Gerade noch rechtzeitig wurde ihr bewusst, wie es sich anhören musste, und daher schwieg sie. Gibson hatte sie in den vergangenen Tagen oft genug damit aufgezogen, wie sie nackt durchs Atelier getanzt war. Sie wollte daher keine weiteren Bemerkungen herausfordern.

Aber die Kunst des Fotografierens wollte sie gern von ihm erlernen. Sie hatte schon immer gern Menschen fotografiert, und Gibson war ein wahrer Meister auf diesem Gebiet.

Das Arbeitsumfeld hätte nicht künstlicher sein können, und doch gelang es Gibson immer wieder mit erstaunlicher Leichtigkeit, den Models die Nervosität zu nehmen und das Beste aus ihnen herauszuholen.

Autor

Anne McAllister
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