Romana Exklusiv Band 350

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DER ZAUBER JENES SOMMERS von KANDY SHEPHERD
„Sandy!“ Im malerischen Küstenort Dolphin Bay begegnet Ben seiner ersten großen Liebe wieder. Doch obwohl er den Sommer mit ihr nie vergessen konnte, gibt es keine zweite Chance. Schließlich hat Ben nach einem schrecklichen Verlust geschworen, sich nie mehr zu verlieben!

DER PRINZESSINNEN-TEST von SHIRLEY JUMP
Reporter Daniel soll herausfinden, ob Carlita Santaro lügt oder ob sie wirklich zur Königsfamilie gehört. Aber bei jedem Interview fühlt er sich mehr zu ihr hingezogen. Bald schon muss er sich entscheiden: Wählt er die sensationelle Story – oder die Prinzessin?

VERLOCKUNG AUF MAURITIUS von PENNY ROBERTS
Golden schimmert der Strand, blau lockt der Indische Ozean. Mauritius ist ein Traum! Wäre da nur nicht Katies Ex. Sie soll zu ihm ziehen und seinem Geschäftspartner die glückliche Ehefrau vorspielen. Katie stimmt zu. Nur auf ihr Herz will sie diesmal besser aufpassen...


  • Erscheinungstag 01.07.2022
  • Bandnummer 350
  • ISBN / Artikelnummer 0853220350
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Kandy Shepherd, Shirley Jump, Penny Roberts

ROMANA EXKLUSIV BAND 350

1. KAPITEL

An ihrem dreißigsten Geburtstag startete Sandy Adams in ein neues Leben. Während am gleichen Tag der Mann, mit dem sie zwei Jahre lang zusammengelebt hatte, eine andere heiratete, ließ sie Sydney hinter sich und fuhr mit dem Auto Richtung Süden. Ihr Ziel war das eintausend Kilometer entfernte Melbourne. Sie hatte reichlich Zeit, daher schlug sie die längere Route über den alten Princes Highway ein, die durch den ihrer Meinung nach schönsten Teil von New South Wales führte.

Zwei Stunden später steuerte sie einen Rastplatz an. Sie stieg aus ihrem grünen VW-Käfer, streckte die verspannten Glieder und genoss den Blick über liebliche grüne Hügel auf der einen und den sich ins Unendliche erstreckenden tiefblauen Pazifik auf der anderen Seite, ehe sie sich wieder hinters Lenkrad klemmte. Es war Februar, Hochsommer, und viel zu heiß, um sich lange im Freien aufzuhalten.

Stattdessen kramte sie in ihrer Handtasche nach ihrem neuen Notizbuch, einem Geburtstagsgeschenk von ihrer fünfjährigen Nichte. Vom Umschlag lächelte ihr eine rosafarbene Fee mit glitzernden Flügeln entgegen, silberner Glitter hatte sich bereits überall in ihrer Tasche verteilt. Ein pinkfarbener Stift ergänzte das Geschenk. Einen Moment lang knabberte Sandy nachdenklich daran, ehe sie schwungvoll notierte:

Vorsätze zum 30. Geburtstag:

1. Lass Sydney möglichst weit hinter dir, bleib aber inReichweite von Zivilisation und gutem Kaffee.

2. Finde einen Job, bei dem du dein eigener Chef bist.

Die letzten Worte unterstrich sie mehrfach.

3. Finde einen netten interessanten Mann ohne Ballast, der dich so liebt, wie du bist, und der heiraten und viele Kinder haben will.

Sie hielt inne, strich „viele Kinder“ durch und schrieb stattdessen:

drei Kinder (zwei Mädchen, einen Jungen).

Dann ergänzte sie der guten Ordnung halber:

Pass auf, dass er in nichts Jason, dem Idioten, ähnelt.

„Dem Idioten“ unterstrich sie zweimal, bevor sie das Datum unter die Aufzählung setzte.

Zufrieden betrachtete sie die Liste. Sie gab ihr das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen. Dann verstaute sie das Notizbuch wieder in der Tasche. Sobald sie an ihrem Ziel angekommen war, würde sie weitere gute Vorsätze hinzufügen. Sie startete den Wagen und kehrte auf den Highway zurück.

Eine Stunde später waren ihre Schultern vom Fahren verkrampft und schmerzten, und sie hatte bohrenden Hunger. Sie beschloss eine Rast einzulegen. Als Hinweisschilder den nächsten Ort ankündigten, bog sie kurz entschlossen von der Autobahn ab – nach Dolphin Bay.

Dass es sie ausgerechnet hierher verschlagen würde, hatte sie nicht geplant. Dabei war es von Anfang an ihre Absicht gewesen, in einem der malerischen Küstenstädtchen zu Mittag zu essen und vielleicht sogar kurz im Meer zu baden. Als Kind hatte sie mit ihrer Familie mehrere herrliche Sommerurlaube in verschiedenen Orten an der Südküste verbracht, und der eine Sommer in Dolphin Bay hatte ihr Leben verändert.

Damals war sie gerade achtzehn Jahre alt und verliebte sich unsterblich in Ben, den Prototypen eines Surferboys: groß, blond, unheimlich cool und sexy. Er erwies sich als lustig, wahnsinnig interessant und aufregend, und er war ihr ein echter Freund geworden. Dass ein Junge ihr so viel Verständnis entgegenbringen könnte, sie so liebevoll unterstützte, hätte sie nie erwartet. Und dann seine Küsse … davon hatte sie noch jahrelang geträumt.

War es klug, an alten Erinnerungen zu rühren? Einen Moment lang erwog sie, auf den Highway zurückzukehren.

Ich will doch nur etwas essen, sagte sie sich dann. Es war ihr Geburtstag, sie hatte Hunger, außerdem konnte sie es auf einmal gar nicht mehr erwarten, die Stadt wiederzusehen.

Als sie dann aber die Hauptstraße entlangfuhr, war sie zutiefst enttäuscht. In den vergangenen zwölf Jahren hatte sich das Städtchen fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Fest entschlossen, sich dadurch nicht entmutigen zu lassen, parkte Sandy ihr Auto neben dem neuen Tourismusbüro und startete einen Rundgang.

Dolphin Bay lag an einer malerischen Bucht, die im Süden in einem durch Felsen vom Meer abgeteilten natürlichen Hafen endete. Dort hatte sich wenig verändert. Fischkutter und Ausflugsboote lagen nebeneinander vor Anker, auch die alte Kneipe mit den schmiedeeisernen Balkonen existierte noch.

Ein neuer Anlegesteg grenzte den Fischerei- von einem modernen Jachthafen ab. An der komplett renovierten Hafenpromenade reihten sich elegante Läden und Galerien aneinander. Der Fischimbiss, in dem sie sich mit ihrer Schwester um die letzten Pommes gestritten hatte, war einem modernen Café gewichen, der verstaubte Kramladen einer exquisiten Boutique. Obwohl die Schulferien längst vorüber waren, drängten sich mehr Menschen in den Straßen als je zuvor.

Traurig schüttelte Sandy den Kopf. Dann entdeckte sie die Mülleimer in Form von Delfinen mit weit aufgerissenen Schnauzen, die die Bürgersteige säumten. So kitschig sie auch waren, sie gefielen ihr noch so gut wie vor zwölf Jahren.

Wie sie bald herausfand, setzte sich das Delfin-Motiv überall fort: als diskreter Sticker in einem Schaufenster, in einen Türpfosten geschnitzt …

Hoffentlich hat sich Morgans Pension nicht verändert, dachte sie. Das altehrwürdige Holzhaus am Nordende der Bucht, in dem sie damals die Ferien verbracht hatte, stand wahrscheinlich unter Denkmalschutz. Sie erinnerte sich noch genau, wie es dort in jenem zauberhaften Sommer ausgesehen hatte: blaue Fensterläden, üppig blühende Hortensien, der Tennisplatz, auf dem sie mit Ben mehr geflirtet als trainiert hatte …

Auf dem Rückweg zum Auto überlegte sie, wieso sie sich wünschte, dass es dort aussah wie damals. Wegen Ben Morgan, dem Schwarm aller Mädchen, ihrer ersten großen Liebe?

Das nördliche Ende der Bucht war ideal zum Surfen. Sobald Ben sich auf seinem Brett in die Wellen stürzte, hatte sich unweigerlich eine Menge weiblicher Fans am Strand eingefunden. Sandy dagegen hielt sich lieber abseits. Dass Ben mehr in ihr sah als einen zahlenden Gast seiner Eltern, hätte sie anfangs nicht zu träumen gewagt. Aber dann hatte er ausgerechnet sie zu seiner Freundin erwählt und ihr einen traumhaften, unvergesslichen Urlaub beschert.

Als sie sich im Tourismusbüro nach Morgans Pension erkundigte, sah die Frau am Schalter sie erstaunt an. „Die kenne ich nicht, tut mir leid.“

„Das alte Holzhaus am Nordende der Bucht“, erklärte Sandy.

„Dort befindet sich nur das Hotel Harbourside.“

Sandy bedankte sich verwirrt, ging zu ihrem Auto und fuhr nach Norden. Als sie das hypermoderne Luxushotel erreichte, das sich an der Stelle befand, wo früher das charmante alte Holzhaus gestanden hatte, war sie wie vor den Kopf gestoßen. Nichts an dem mehrstöckigen Komplex aus Beton und Stahl erinnerte mehr an die gemütliche Pension.

Was für ein scheußlicher Kasten! dachte sie. Denk positiv, schalt sie sich gleich darauf. Dem neuen Hotel fehlte zwar der Charme seines Vorgängers, dafür verfügte es bestimmt über eine Klimaanlage und ein gutes Restaurant, in dem sie ihren dreißigsten Geburtstag mit einem leckeren Mittagessen feiern konnte.

Entschlossen ging sie die Stufen zum Eingang hinauf. Oben blieb sie stehen, schloss die Augen, sog die würzige Seeluft ein und lauschte dem Brausen der Brandung. Das wenigstens hatte sich nicht verändert.

In dem modernen Restaurant, das von Glas und Edelstahl dominiert wurde, erinnerte sie sich wehmütig an die bunt zusammengewürfelten Stühle und die zerkratzten Holztische in der Pension. Zumindest die herrliche Aussicht war dieselbe geblieben.

Sie suchte sich einen Tisch weitab von der Bar, nahm den Sonnenhut ab, ließ aber die Sonnenbrille auf. Hinter den dunklen Gläsern fühlte sie sich weniger verletzlich. Seufzend dachte sie daran, dass ihr Ex gerade seine Hochzeit beging, während sie ihren Geburtstag mutterseelenallein feierte, doch dann verscheuchte sie den Anflug von Selbstmitleid.

Sie griff gerade nach der Speisekarte, als lautes Gelächter von der Bar erklang, herzlich, männlich – und unvergesslich. Ihr stockte das Herz. Ben! Niemand lachte wie er.

Als sie hereingekommen war, hatte er nicht an der Bar gesessen, darauf hätte sie schwören mögen. Es sei denn, er sähe mittlerweile völlig verändert aus.

Aus Angst vor einer großen Enttäuschung wagte sie kaum aufzublicken. Und wenn er es wirklich war? Sollte sie hingehen und ihm guten Tag sagen, dem ersten Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte? Oder sich ungesehen davonstehlen?

Ihr Herz pochte wild, während sie mit bebenden Händen die Sonnenbrille abnahm. Langsam hob sie den Kopf. Nein, es gab keinen Zweifel. Der große breitschultrige Mann, der ihr das Profil zugewandt hatte, war eindeutig Ben Morgan. Er sah noch genauso umwerfend aus wie früher, trug das Haar jetzt aber kürzer. Statt in Surfershorts steckten seine athletischen Beine in Chinos. Er wirkte muskulöser und reifer als mit neunzehn Jahren, aber es war unverkennbar Ben.

Er machte eine Bemerkung zu dem Mann neben ihm und lachte über die Erwiderung. Wie früher stand er im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Als hätte er ihren Blick gespürt, drehte er den Kopf. Das Lachen blieb ihm im Hals stecken, als er Sandy bemerkte. Nach einigen Worten zu seinem Gesprächspartner sah er ein zweites Mal zu ihr hinüber. Diesmal lächelte er.

Sandy betrachtete ihn neugierig, als er aufstand und mit großen Schritten auf ihren Tisch zukam. Der schlaksige Jugendliche von früher war verschwunden, Ben war eindeutig zum Mann geworden – und sah sogar noch heißer aus.

„Sandy?“, fragte er, als er vor sie trat.

Seine Stimme klang genau wie früher. Obwohl er nur ein Jahr älter war als sie, hatte er damals bereits die Stimme eines Mannes besessen und war ihr ungemein reif erschienen.

„Oder sollte ich Alexandra sagen?“

Ihr Vater hatte darauf bestanden, sie bei ihrem vollen Namen zu rufen, aber Ben hatte sie kurzerhand Sandy genannt, und dabei hatte sie es belassen.

„Wer ist Alexandra?“, fragte sie und tat, als würde sie sich umsehen.

Als Ben lachte, verflog ein Teil ihrer Nervosität. Sie stand auf. Nur ein kleiner Tisch trennte sie von dem Mann, der ihr vor zwölf Jahren die Welt bedeutet hatte und den sie nie wiederzusehen geglaubt hatte.

„Was für ein schöner Zufall“, brachte sie mühsam heraus.

Im Gesicht hatte er sich kaum verändert, lediglich die Fältchen in den Augenwinkeln waren neu, und über seiner Oberlippe zeichnete sich eine winzige weiße Narbe ab.

„Das finde ich auch. Ich habe dich auf den ersten Blick erkannt. Du trägst dein Haar jetzt kurz“, stellte er fest.

Unwillkürlich fasste sie sich an den Hinterkopf. Damals hatte ihr das Haar bis zu den Hüften gereicht, und er hatte sie schwören lassen, es nie abzuschneiden. Inzwischen trug sie einen schicken Bob. „Du auch.“

„Ansonsten siehst du aus wie früher. Du bist lediglich erwachsen geworden. Darf ich mich zu dir setzen?“

„Ja, gern. Ich wollte gerade etwas trinken …“

Sie setzte sich, und Ben wählte den Stuhl ihr gegenüber. Seine Beine streiften ihre, und die flüchtige Berührung sandte Schauer über ihren Rücken. Sandy musste schlucken. Sie hatte ihn immer für den schönsten Mann der Welt gehalten, daran hatte sich nichts geändert.

Die Speisekarte lag aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch, und Ben griff danach. „Wie ich sehe, wählst du immer noch das Dessert vor dem Hauptgang.“

„Ich habe mir gerade die Salate angesehen“, log Sandy.

„Wirklich?“ In seinen Augen funkelte es fröhlich. Mit seinen netten, niemals verletzenden Neckereien hatte er ihr schon damals über die anfängliche Schüchternheit hinweggeholfen, ebenso wie er ihr auch in anderer Hinsicht den Weg zum Erwachsenwerden erleichtert hatte.

„Zugegeben, Himbeertorte mit Schokofondant klingt verlockend“, sagte sie.

„Sie schmeckt köstlich, du solltest direkt eine doppelte Portion bestellen.“

Wie du es immer getan hast. Die Worte hingen unausgesprochen in der Luft. Einen Moment lang kreuzten sich ihre Blicke, bis Sandy wegsah.

Als Ben den Kellner herbeiwinkte, bemerkte sie hässliche Narben an seinen Handflächen. Bestürzt wandte sie den Blick ab. „Es ist eine …“, begann sie hastig, und er beendete den Satz.

„Ewigkeit her?“

„Genau. Ich habe mich gefragt, was aus dir …“ Sie spürte, dass sie errötete, denn in Wahrheit hatte sie nur an seine heißen Küsse gedacht, daran, wie sie im Sand hinter dem Bootsschuppen der Morgans lagen und sich ewige Liebe schworen.

Angefangen hatte alles auf dem Feuerwehrfest, wo Ben sie zum Tanz aufforderte. Nach dem zweiten Stück erkundigte er sich, ob sie zu Hause einen Freund hätte. Als sie den Kopf schüttelte, sagte er zufrieden: „Prima, dann muss ich nicht nach Sydney fahren und um dich kämpfen.“ Vor Aufregung war ihr ganz schwindlig geworden.

Der Kellner kam und fragte nach ihren Wünschen.

„Eine … eine Diät-Cola, bitte“, brachte sie mühsam heraus. Was machte sie eigentlich so nervös? Früher war sie in Bens Gegenwart immer ganz entspannt gewesen, und er hatte sich doch nicht verändert – bis auf die schrecklichen Narben an den Händen.

„Ich bin zum ersten Mal seit jenem Sommer wieder in Dolphin Bay“, sagte sie und sah ihm in die strahlend blauen Augen, die für einen Mann fast zu schön waren.

Ob er sich wohl noch an die intensiven Gespräche jenes Sommers erinnerte? Sie hatten über ihre Träume gesprochen und optimistisch in die Zukunft geblickt, fest entschlossen, ihre Liebe durch die Entfernung zwischen Dolphin Bay und Sydney nicht zerstören zu lassen.

Davon ließ er sich zumindest nichts anmerken. „Was führt dich hierher?“, erkundigte er sich wie ein entfernter Bekannter.

„Sonne, Wellen und Delfine.“ Das war damals der Werbeslogan der Stadt gewesen.

„Die Wellen sind toll wie immer, und Delfine gibt es auch noch. Aber das zieht eine echte Städterin wie dich doch nicht in dieses rückständige Nest.“

„Rückständig – das würde ich niemals sagen.“ Dann erst merkte sie, dass er sie nur aufzog. „Ich bin auf dem Weg nach Melbourne. Als ich das Hinweisschild sah, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, einen Abstecher in die Vergangenheit zu machen.“

„Ich freue mich jedenfalls darüber. Wie gefällt es dir heute hier?“

Sandy hatte Ben niemals belogen. „Ich habe mich riesig gefreut, die Delfin-Mülleimer wiederzusehen“, versuchte sie taktvoll ihre Enttäuschung beim Anblick seiner Heimatstadt zu überspielen.

Als Ben lachte, wurde ihr sofort warm ums Herz. Kein Wunder, dass sie ihn an seinem Lachen erkannt hatte.

„Diese grässlichen Dinger! Wer immer im Stadtrat vorschlägt, sie auszumustern, wird mundtot gemacht. Es geht sogar das Gerücht um, dass es das Ende der Stadt bedeutet, wenn sie ersetzt werden.“

„Wirklich?“ Lächelnd schüttelte Sandy den Kopf.

„Im Ernst. Vermutlich sucht uns dann ein Tsunami heim oder eine andere Katastrophe.“ Er lächelte breit, und der vertraute Anblick versetzte ihr einen Stich.

Ihr fiel ein, wie sie stundenlang miteinander gesurft und auf dem Platz hinter der Pension Tennis gespielt hatten. Der Spaß, das Lachen, die leidenschaftlichen Küsse, oh, diese Küsse! Sein Mund fest und warm auf ihrem, ihr Körper an seinen gepresst …

Die Erinnerung verlieh ihr den Mut, ihm die Frage zu stellen, die ihr seit Jahren auf der Seele brannte. „Ben, es ist zwar schon ewig her, aber wieso hast du mir niemals geschrieben?“

Einen Moment lang erstarrte er, dann zuckte er mit den Achseln. „Ich war noch nie gut im Schreiben. Nachdem du auf meine ersten beiden Briefe nicht geantwortet hast, habe ich die Lust verloren.“

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Du hast mir zwei Briefe geschrieben?“

„Direkt am Tag nach deiner Abreise und eine Woche später. Ich hatte es dir schließlich versprochen.“

Schlagartig fühlte sich ihr Mund an wie ausgetrocknet. „Ich habe sie nie bekommen, auch keinen Anruf. Ich habe mich immer gefragt, wieso …“ Dass sie den Briefkasten tagelang geradezu belagert hatte, verheimlichte sie ihm lieber. Als sie keine Post von ihm erhielt, wollte sie ihm schreiben, aber davon riet ihre Mutter ihr ab – sie sollte ihm nicht nachlaufen. Dennoch hatte Sandy versucht, Ben anzurufen. Dreimal hatte sie den Mut aufgebracht, doch jedes Mal war sein Vater an den Apparat gegangen. Sie hatte wortlos aufgelegt. Beim dritten Versuch hatte er sie aufgefordert, nicht mehr anzurufen. Ob er geahnt hatte, dass sie es war, und vermeiden wollte, dass sie seinen Sohn weiter belästigte?

„Dein Vater konnte mich von Anfang an nicht leiden. Bestimmt hat er die Briefe abgefangen“, folgerte Ben.

„Das glaube ich nicht“, protestierte Sandy halbherzig. Dabei war es ihrem Vater, einem echten Kontrollfreak, durchaus zuzutrauen. Er hatte Ben für einen verantwortungslosen Frauenhelden gehalten. Aber das war er nicht. Er hatte Sandy immer respektvoll behandelt – ganz im Gegensatz zu den sogenannten wohlerzogenen Söhnen der reichen Freunde ihres Vaters.

„Er hat sich etwas Besseres für dich gewünscht als den Sohn eines Fischers. Du hast deine Meinung dann ja wohl auch geändert.“ Ben betrachtete sie mit durchdringendem Blick.

Nervös rutschte Sandy auf ihrem Stuhl herum. Ihr Vater hatte tatsächlich auf die gesellschaftlichen Unterschiede hingewiesen. Was wollte ein kluges Mädchen wie sie mit einem Jungen, der nicht einmal genug Ehrgeiz hatte, um zu studieren?

Sandy war anderer Ansicht gewesen, hatte aber die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft aufgegeben, als sie nichts mehr von Ben hörte. Nächtelang hatte sie in ihre Kissen geweint und ellenlange Briefe an ihn geschrieben, die sie niemals abschickte. Irgendwann hatte sie begriffen, dass sie ihm nichts bedeutete, und sich dazu gezwungen, ihn zu vergessen. Als sie dann ihr Studium an der Universität in Sydney aufnahm, verblassten die Erinnerungen an ihn allmählich. Sie lernte neue Leute kennen, küsste andere Männer. Doch tief in ihrem Herzen blieb eine wunde Stelle zurück, die schmerzte, wann immer sie an den Sommer mit ihm zurückdachte.

Und jetzt erfuhr sie, dass Ben sein Versprechen gehalten und ihr geschrieben hatte. Es nahm der Erinnerung den Stachel. „Das ist alles eine kleine Ewigkeit her. Inzwischen hat sich viel verändert“, stellte sie fest. „Dieses Hotel zum Beispiel.“

„Was ist damit?“

„Es ist sehr elegant, aber nicht gerade gemütlich.“

„Mir gefällt es“, sagte er und trank einen Schluck Bier.

„Bedauerst du nicht, dass es die schöne Pension deiner Familie nicht mehr gibt?“

„Die Dinge ändern sich eben“, meinte er kurz angebunden. „Dieses Hotel und die Neuerungen in der Stadt haben jede Menge Jobs mit sich gebracht. Die Leute meinen, es wäre ein Glücksfall.“

„Und wie stehst du dazu?“

„Das Hotel gehört mir.“

„Dir?“

„Ja. So ungemütlich es auch ist.“

Verlegen schlug sie sich eine Hand vor den Mund. „Entschuldigung. Ich wollte dich nicht beleidigen.“

„Kein Problem. Mein Bruder Jesse war der Architekt. Er hat damit etliche Preise abgeräumt.“

Sandy sah sich erneut im Raum um. Ihr fiel die gelöste Atmosphäre an der Bar auf, die Tische füllten sich allmählich. „Es ist natürlich sehr schick und vermutlich auch erfolgreich. Aber die alte Pension hatte ihren eigenen Charme. Deine Mutter war so stolz darauf.“

„Meine Eltern haben sie mir schon vor Jahren überlassen, mitsamt veralteten Installationen und quietschenden Dielen. Sie haben sich an der Landzunge ein schönes neues Haus gebaut.“

Überrascht registrierte Sandy, wie viel sich in den vergangenen zwölf Jahren tatsächlich getan hatte. Ben als Pensionswirt konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Er hatte sich immer gern im Freien aufgehalten. „Du hast die Pension geführt?“

„Das hat meine Frau getan.“

Vor Schreck blieb Sandy fast das Herz stehen. Seine Frau! Wieso hatte sie nicht einen Moment daran gedacht, dass er verheiratet sein könnte? Rasch sah sie auf seine Linke. Dort entdeckte sie keinen Ehering – was nichts zu bedeuten hatte, wie sie aus Erfahrung wusste.

„Natürlich bist du verheiratet.“ Mühsam rang sie sich ein Lächeln ab und umfasste ihr Glas so fest, dass sie fürchtete, es könnte zerspringen. „Kenne ich deine Frau? Stammt sie aus der Gegend?“

„Jodi Hart.“

Sofort sah sie ein ruhiges, freundliches Mädchen mit herzförmigem Gesicht vor sich. „Wie schön. Ich mochte sie schon immer“, sagte sie, und das entsprach den Tatsachen, wenngleich sie sich in diesem Moment vor Eifersucht fast verzehrte.

Ben lächelte irgendwie angespannt, und erst in diesem Moment fielen Sandy die tiefen Furchen in seinem Gesicht auf, die sie in der Wiedersehensfreude übersehen hatte. War die Ehe womöglich nicht glücklich?

„Was ist mit dir? Bist du verheiratet?“

Sandy schüttelte den Kopf. „Ich? Nein. Mein Partner hat nicht an die Ehe geglaubt.“ Wie sie den Begriff Partner hasste! „Er meinte, ein Trauschein bedeute nicht mehr als ein Fetzen Papier. Das hat uns die Trennung erleichtert.“ Wie verletzt, wütend und gedemütigt sie sich gefühlt hatte, würde sie niemals zugeben.

„Das tut mir leid. Hat …?“

Mit einer Geste brachte sie ihn zum Schweigen. „Danke. Weiter gibt es nichts dazu zu sagen. Es ist Schnee von gestern.“

Vor sechs Monaten hatte sie Jason zum letzten Mal gesehen – um ihm seinen Anteil an dem Sofa zu erstatten, das sie gemeinsam angeschafft hatten.

Ben betrachtete Sandy eindringlich, und ihr wurde ganz seltsam zumute unter seinem intensiven Blick. Nach einer gefühlten Ewigkeit nickte er. „Du hast recht. Schnee von gestern.“

Wieder entstand eine lange Pause, und er sah auf die Uhr. „Es war schön, mit dir zu sprechen. Leider habe ich jetzt einen Termin.“ Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

Am liebsten hätte Sandy ihn zurückgehalten. Es gab noch so viele Fragen, Erinnerungen, die sie mit ihm teilen wollte. Aber wieso sollte er noch länger bei ihr bleiben? Er wusste nicht, dass sie Geburtstag hatte und sich seine Gesellschaft zum Essen wünschte. Außerdem war er verheiratet. Ehemänner aßen nicht mit ihren ehemaligen Freundinnen, auch wenn der letzte Kuss zwölf Jahre zurücklag.

Sie stand ebenfalls auf. „Es war wunderbar, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Grüß Jodi von mir.“

Er nickte, ohne sie anzusehen, und deutete auf die Speisekarte. „Der Lunch geht aufs Haus.“

„Das ist doch nicht nötig!“

„Ich bestehe darauf. Um der alten Zeiten willen.“

Sandy zögerte, dann lächelte sie. „Vielen Dank. Es waren gute Zeiten, oder? Ich verbinde nur glückliche Erinnerungen mit Dolphin Bay.“ Statt ihn zum Abschied zu küssen, was sie zu gern getan hätte, reichte sie ihm nur die Hand.

Ben zögerte, ehe er sie ergriff und schüttelte.

„Was ich über dein Hotel gesagt habe, tut mir leid. Dennoch wüsste ich zu gern, weshalb du die Pension abgerissen hast und die herrlichen riesigen Gummibäume dazu. Erinnerst du dich noch an die Schaukel, die …?“

Abrupt ließ Ben ihre Hand los. „Es war doch nur ein altes Haus.“

Sandy begriff, dass das Thema sie nichts anging. „Ich …“

Er unterbrach sie. „Schon gut. Lass die Vergangenheit ruhen. Es war schön, dich zu treffen. Guten Appetit und auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen“, brachte sie gerade noch heraus, ehe er sich umdrehte und zum Ausgang eilte. Seinen Freunden an der Bar nickte er nur knapp zu, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Sandy sah ihm fassungslos und enttäuscht hinterher.

Was habe ich nur Falsches gesagt? fragte sie sich. Und weshalb empfand sie gerade eine noch größere innere Leere als bei ihrer Ankunft in Dolphin Bay? Hatte sie insgeheim an Ben gedacht, als sie ihre Geburtstagsvorsätze aufgeschrieben hatte? In jenem Sommer hatte er ihr geholfen, erwachsen zu werden, sich ihrem übermächtigen Vater zu widersetzen und ihren eigenen Weg einzuschlagen.

Jetzt erst gestand sie sich ein, dass weder der Pier noch die alte Pension sie nach Dolphin Bay gelockt hatten, sondern der blonde Junge, der für sie das Gegenstück zu dem eiskalten Großstädter Jason darstellte, der sie so tief verletzt hatte. Dabei war ihr gar nicht erst in den Sinn gekommen, dass Ben verheiratet sein könnte.

Eine Kellnerin trat an den Tisch, um die Gläser abzuräumen. Sie war etwa so alt wie Sandy, hatte ein hübsches Gesicht voller Sommersprossen und rotes glänzendes Haar. „Wir kennen uns doch“, sagte sie plötzlich. „Sandy, oder? Du hast einmal Urlaub in Morgans Pension gemacht. Kommst du nicht aus Sydney? Vermutlich erinnerst du dich nicht mehr an mich. Ich bin Kate Parker.“

Sandy durchforstete ihr Gedächtnis. „Jetzt weiß ich es! Du warst die beste Tänzerin im Ort. Meine Schwester und ich haben dir nachgeeifert, waren aber nie so gut wie du.“

„Danke.“ Erfreut über das Kompliment strahlte Kate auf. „Du warst damals mit Ben zusammen. Der Ärmste hat es nicht gerade leicht gehabt, nicht wahr?“

„Wie meinst du das?“

„Weißt du das etwa nicht? Er hat Frau und Kind verloren, als die alte Pension abgebrannt ist. Jodi hat versucht, ihren Jungen zu retten, dabei sind die beiden umgekommen. Ben war am Boden zerstört. Er ist für einige Jahre verschwunden und hat in der Zeit ein Vermögen gemacht. Dann ist er zurückgekommen und hat dieses Hotel gebaut – in einem ganz modernen Stil, damit nichts an die Tragödie erinnert …“

Noch während Kate sprach, schob Sandy ihren Stuhl so schnell zurück, dass er umkippte. Sie lief aus dem Restaurant, aus dem Hotel, die Treppen zum Strand hinab.

Ich muss Ben finden! war ihr einziger Gedanke.

2. KAPITEL

Ben war Sandy bereits ein gutes Stück voraus. Mit großen Schritten hielt er auf die Felsen am Nordende der Bucht zu.

Sandy eilte ihm so schnell sie konnte hinterher. Der frische Wind, der aufgekommen war, während sie im Hotel zusammengesessen hatten, schnitt ihr ins Gesicht und krönte die Wellen mit weißem Schaum. Sie wollte sich bei Ben entschuldigen, ihm beteuern, wie leid es ihr um Jodi und seinen Sohn tat und … Ach, es gab so viel zu sagen! Aber im weichen Sand kam sie nur langsam voran.

„Ben!“, rief sie gegen den heulenden Wind an. Ungeduldig zerrte sie sich die Sandalen von den Füßen, um barfüßig schneller voranzukommen. Dann schrie sie noch einmal seinen Namen.

Diesmal hörte er sie. Langsam wandte er sich zu ihr um und blieb stehen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn endlich erreichte. Er wartete auf sie, stocksteif, mit unbewegter Miene und starrem Blick.

„Ben, es tut mir so leid“, keuchte sie.

„Du weißt Bescheid?“

„Kate hat mir gerade alles erzählt. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …“

Ben betrachtete Sandy, die mit geröteten Wangen vor ihm stand. Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, auf ihrer Unterlippe prangte ein knallrosa Fleck und sie sah kaum älter aus als das Mädchen, in das er sich vor Jahren verliebt hatte.

Er hatte sie auf den ersten Blick wiedererkannt. Einen verrückten Moment lang hatte er sich gewünscht, sie wäre seinetwegen gekommen. Schließlich war sie seine erste, unvergessliche Liebe gewesen. Während ihres Gesprächs hatte er sich sogar ein wenig gefühlt wie der sorglose Junge von damals.

„Es tut mir unendlich leid“, wiederholte sie.

„Du konntest es schließlich nicht wissen.“

Sie schwiegen eine Weile, und er konnte den Blick nicht von ihr wenden.

Schließlich fragte sie: „Wann …?“

„Vor fünf Jahren.“ Er hatte keine Lust, über seine Tragödie zu sprechen, besonders nicht mit ihr. Sandy gehörte seiner Vergangenheit an. Schnee von gestern, wie sie so treffend gesagt hatte.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du dich gefühlt …“

„Natürlich nicht“, unterbrach er sie abrupt, und sie sah ihn verletzt an. Beschämt erklärte er: „Das kann niemand. Inzwischen habe ich es verarbeitet.“

Dass sie ihm nicht glaubte, erkannte er an ihrem mitfühlenden Blick. Wie sollte er dieses schreckliche Ereignis auch jemals hinter sich lassen, die ständig nagenden Schuldgefühle?

„Stammen die Narben an deinen Händen von dem Brand?“

Er nickte. „Ich wollte die Tür öffnen. Die Griffe waren glühend heiß.“ Sofort überfielen ihn wieder die schrecklichen Erinnerungen: die sengende Hitze, der Rauch, die Tür, die einfach nicht nachgab, sein hilfloses Rufen nach Jodi und Liam. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. „Ich möchte nicht darüber sprechen.“

Wortlos nickte sie, und er schämte sich erneut für seine abweisende Haltung ihr gegenüber. Das Unglück hatte ihn verändert. Der sorglose Junge aus dem Sommer vor zwölf Jahren war hart, zäh und kalt geworden. Gefühle gestattete er sich nicht mehr, nicht einmal die Erinnerung an ihre damalige Romanze ließ er zu. Denn er hatte erlebt, dass mit der Liebe automatisch Schmerz und Verlust einhergingen. Diesem Risiko wollte er sich nie wieder aussetzen.

„Falls es etwas gibt, was ich für dich tun kann, lass es mich wissen“, bat Sandy.

Ben nickte, obwohl er nicht im Traum daran dachte. Sie würde ihn nur an die guten alten Zeiten erinnern, und das tat ihm zu weh.

In seinem Leben hatte es lediglich zwei Frauen gegeben: Jodi und Sandy, und er hatte sich geschworen, sich nie wieder zu verlieben. Daher empfand er das unvermutete Auftauchen seiner Jugendliebe als Bedrohung.

„Hast du dir ein Zimmer im Hotel genommen?“, erkundigte er sich.

„Das werde ich gleich tun“, beschloss Sandy spontan.

„Wie lange wirst du bleiben?“

Erleichtert griff sie das neue Thema auf. Sie hatte ihre Gefühle noch nie gut vor ihm verbergen können.

„Nur diese Nacht. Morgen fahre ich weiter nach Melbourne.“

„Wieso ausgerechnet dorthin?“ Der Weg war weit, wie er von seiner Studentenzeit her wusste.

„Wegen eines Jobs.“

Er wandte sich um und ging weiter auf die Felsen zu, die die Bucht abschlossen. Wie gewöhnlich schaffte sie es nicht, mit ihm mitzuhalten. Geduldig verlangsamte er seinen Schritt. Dennoch musste sie, genau wie früher, einen kleinen Sprung einlegen, sobald er drei Schritte gemacht hatte, um auf einer Höhe mit ihm zu bleiben. Doch sie schien es nicht einmal zu bemerken.

„Wird es dir nicht schwerfallen, Sydney zu verlassen?“

„Dort hält mich nichts mehr.“

Der bittere Unterton entging ihm nicht. Er blieb stehen. „Nichts und niemand?“

Sandy wich seinem Blick aus und zuckte die Achseln. „Meine Schwester Lizzie und meine Nichte Amy. Sonst niemand.“

„Was ist mit deinen Eltern?“

„Sie sind geschieden. Kurz nach unserer Rückkehr aus Dolphin Bay hat sich herausgestellt, dass Dad meine Mum betrogen hat. Sie haben sich wieder zusammengerauft, immer wieder. Schließlich hat er sie wegen einer Frau verlassen, die gerade einmal zwei Jahre älter ist als ich.“

„Das tut mir leid.“ Überrascht war Ben aber nicht. Er hatte den selbstgerechten arroganten Dr. Randall Adams, der Sandys Leben bis ins Detail kontrolliert hatte, von Anfang an nicht ausstehen können und traute ihm durchaus zu, dass er die Briefe an Sandy unterschlagen hatte. Ein Fischer war ihm bei Weitem nicht gut genug für seine Tochter – und vermutlich hatte ihm auch eine Frau nicht genügt.

„Das war bestimmt eine schwere Zeit für dich“, sagte er.

Sandy strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Mum hat einen netten Mann geheiratet. Sie lebt mit ihm in Queensland.“

In jenem Sommer hatte Ben zu ihr gesagt: „Mit deinem sonnigen Gemüt müsstest du eigentlich Sunny heißen. Dich kann einfach nichts unterkriegen.“ In dieser Hinsicht hatte sie sich offenbar nicht geändert. Allerdings lag um ihren Mund ein strenger Zug, und sie sah vorsichtiger drein als früher. Vielleicht hatte auch für sie nicht immer nur die Sonne geschienen?

In diesem Moment sah sie auf die Uhr, rang überrascht nach Luft und erblasste.

„Was ist los?“, fragte Ben erschrocken.

„Nichts.“ Sie presste die Lippen fest aufeinander.

„Wieso starrst du dann auf die Uhr, als würde jede Sekunde eine Bombe explodieren?“

Das entlockte ihr immerhin ein Schmunzeln. „Wenn es nur das wäre! In exakt diesem Moment tritt mein Exfreund Jason, mit dem ich zwei Jahre lang zusammengelebt habe, mit einer anderen vor den Traualtar.“

Einen Partner hatte Sandy zwar erwähnt, aber nicht, dass sie zusammengelebt hatten. Aus einem unerfindlichen Grund versetzte das Ben einen Stich.

Blödsinn, schalt er sich selbst. Nach dem Ende ihrer Sommerromanze hatte sie ihr Leben weitergeführt – und dazu gehörten natürlich auch Männer. Dennoch musste er sich erst räuspern, ehe er ihr antworten konnte.

„Ist das gut oder schlecht?“

Sie lachte, aber das Lachen erreichte nicht ihre Augen. „Gut für ihn, vielleicht auch für sie. Ich habe mich allerdings immer noch nicht ganz davon erholt, dass ich eines Tages nach Hause kam und seine Sachen fort waren. Er hat mir lediglich einen Brief hinterlassen, in dem stand, er wäre bei ihr eingezogen.“

„Du machst Witze!“, stöhnte Ben. Wie konnte der Kerl es wagen, Sandy so mies zu behandeln? Seine Sandy! Halt, nein. Das war sie schon lange nicht mehr.

„Leider nicht. Es war sehr demütigend – gibt aber wenigstens eine tolle Story ab.“

Da war sie wieder, die unverbesserliche Optimistin, die ihren Schmerz weglachte.

„Gehst du seinetwegen nach Melbourne?“ Der Gedanke behagte Ben gar nicht.

„Ich laufe nicht fort“, stellte Sandy klar, mit mehr Nachdruck als nötig. „Ich brauche einfach einen Tapetenwechsel, einen neuen Job …“

„Was machst du eigentlich beruflich? Hast du Jura studiert, wie dein Vater es wollte?“

„Nein – und daran bist du schuld.“

„Ich?“ Kein Wunder, dass ihr Vater ihn gehasst hatte.

„Du hast mich gelehrt, meine Träume zu verwirklichen, so, wie du deine gelebt hast. Nach diesem Sommer habe ich viel nachgedacht und erkannt, dass ich keine Anwältin werden wollte.“

„Du hast doch jahrelang auf diesen Studienplatz hingearbeitet!“

„Dad wollte, dass ich an der Sydney Law School Jura studiere, da ich wegen schlechter Noten in Chemie keine Ärztin werden konnte.“

„Hast du den Numerus clausus nicht geschafft?“

„Doch. Die Ergebnisse kamen kurz nach unserem Urlaub, und mein Vater hat mit meiner Leistung angegeben wie verrückt.“

„Das glaube ich aufs Wort!“

„In letzter Minute habe ich mich dann für Kommunikationswissenschaften eingeschrieben – an einer weniger renommierten Universität.“

„Wie hat dein Dad reagiert?“

Sandy presste die Lippen fest aufeinander. „Er war gerade als Ehebrecher entlarvt worden. Deswegen konnte er mir keine Predigten halten.“

Ben schmunzelte. Offenbar hatte Sandy inzwischen gelernt, sich gegen ihren Vater zu behaupten. „Und was tust du?“

„Ich bin in der Werbebranche – vielmehr war ich das.“

„Toll! Wieso war?“

„Das ist eine lange Geschichte.“ Sie wandte sich um und ging weiter.

„Ich habe Zeit.“ Ben holte sie rasch ein und spazierte neben ihr her. Der Wind hatte nachgelassen, von den heiseren Schreien der Möwen abgesehen herrschte eine gespenstische Stille. Skeptisch sah er zum Himmel empor, an dem sich dunkle Wolken zusammenballten.

Sandy blickte ebenfalls auf und runzelte die Stirn. „Da braut sich ein Sturm zusammen. Ich frage mich …?“

„Das ist kein Grund, das Thema zu wechseln“ – wie du es früher immer gemacht hast, hätte er beinahe hinzugefügt. Aber es brachte nichts, Erinnerungen aufzuwühlen. Ihre Leben verlief auf unterschiedlichen Bahnen, seinen Weg ging er allein. Weil er es so wollte – musste. Einen weiteren Verlust würde er nicht überleben, daher ging er erst gar keine emotionalen Bindungen mehr ein.

Sandy zuckte die Schultern. „Gut, dann erzähle ich dir meine Geschichte. Jason und ich haben bei derselben Agentur gearbeitet. Als wir ein Paar wurden, fand unser Boss das nicht gut, also …“

„Also bist du gegangen, nicht er?“

Sie schnitt eine Grimasse. „Ich habe mir eingeredet, ich wäre ohnehin schon viel zu lange dabei.“

„Hast du eine andere Agentur gefunden?“

„Anfangs ja. Aber dann kam die Wirtschaftskrise. Ich war als Letzte eingestellt worden und flog als Erste. Aber du weißt ja, wenn eine Tür sich schließt, geht eine andere auf. Ich habe angefangen, freiberuflich zu arbeiten, und dabei viele wertvolle Erfahrungen gesammelt.“

Sie atmete tief durch, und Ben sah, wie sich ihre Brust unter dem enganliegenden Top hob. Als Teenager hatte sie bereits schöne weibliche Formen aufgewiesen, jetzt schienen sie vollkommen. Auch ihr Gesicht war gereift, ihre Wangenknochen stärker ausgeprägt und ihre Lippen voller. Sie sah noch besser aus als mit achtzehn.

Hastig wandte er den Blick ab und räusperte sich. „Und jetzt?“

„Ein ehemaliger Kunde produziert ganz fantastische Duftkerzen, die er über Franchisebetriebe vertreibt. Ich möchte gern den neuen Laden in Melbourne übernehmen und mein eigener Chef sein.“

„Du wechselst von der Werbung in den Verkauf von Kerzen? Ist die Konkurrenz nicht zu stark?“

„Es handelt sich um ganz besondere Kerzen. Das Geschäft in Sydney hat super eingeschlagen, deswegen werden jetzt Filialen in anderen Städten eröffnet. Und ich suche gerade eine neue Herausforderung. Ich möchte etwas anderes tun als bisher.“

Sie sah so ernst und entschlossen drein, dass er unwillkürlich einen neckenden Ton anschlug. „Worin besteht die Herausforderung im Fall von Kerzen?“

„Sie duften wunderbar. Es gibt Kerzen für jede Stimmung: zum Entspannen, zum Anregen, Verführen …“ Sie errötete und blinzelte. „Ich habe eine Werbebroschüre für den Kunden geschrieben, daher weiß ich einfach alles über seine Wunderkerzen“, plapperte sie daher, um ihre Nervosität zu überspielen.

Über dem Meer donnerte es. „Wir sollten besser umkehren“, meinte Ben besorgt.

„Ja. Aber für meinen Geburtstagslunch ist es wohl zu spät.“ Sandy hielt erschrocken inne. „Vergiss das bitte ganz schnell wieder.“

„Hast du heute Geburtstag?“

Sie zuckte beiläufig die Achseln. „Ja.“

Ben überlegte einen Moment. „Du wirst heute dreißig!“

„Erinnere mich bloß nicht an mein Alter!“

„Dein Geburtstag ist im Februar, wie konnte ich das nur vergessen?“

„Das weißt du noch?“

„Nicht das exakte Datum, aber den Monat. Du hast immer behauptet, unsere Sternzeichen würden gut zueinander passen, hast unsere Horoskope verglichen und …“

Hör auf, ermahnte er sich. Obwohl er nicht in Erinnerungen schwelgen wollte, hatte er damit angefangen.

„Und du hast immer geschimpft, dass Astrologie nichts als Unsinn sei und die Zeitungsleute sich die Horoskope einfach ausdenken.“

„Das glaube ich immer noch.“ Ben verstummte, als ein lauter Donnerschlag ertönte. Große kalte Regentropfen prasselten auf seinen Kopf.

Sandy lachte. „Der Himmel ist sauer, weil wir uns über ihn lustig machen.“

„Wenn wir nicht völlig durchnässt werden wollen, sollten wir uns besser beeilen.“

„Wer zuerst da ist!“, forderte sie ihn heraus und rannte auch schon los.

Mit wenigen großen Sätzen hatte Ben sie eingeholt.

„Hey, das ist unfair!“, schimpfte sie. „Du hast viel längere Beine als ich.“

Ben verlangsamte sein Tempo und lief locker neben Sandy her. Regen tränkte ihr Haar, dicke Tropfen liefen ihr über die geröteten Wangen. Sie wirkte lebendig und fröhlich – und erweckte damit etwas in ihm zum Leben, das lange geschlummert hatte. Etwas, das besser im Verborgenen geblieben wäre.

Bald kam das Hotel in Sicht. Unter dem Vordach über dem Haupteingang lief Kate nervös auf und ab und rang die Hände.

„Ben, Gott sei Dank! Ich wusste nicht, wo du bist“, rief sie ihm entgegen. „Deine Tante Ida ist gestürzt und hat sich verletzt. Sie lässt sich aber nicht ins Krankenhaus bringen, ehe sie dich gesprochen hat.“

Erschrocken sah Sandy zu Ben hinüber. Er lachte nicht mehr, sondern war ganz blass geworden.

„Was ist passiert?“, fragte er.

„Sie ist gefallen …“

„Beim Stepptanzen oder beim Tennis?“

„Weder – noch. Sie wollte Bücher hoch oben in ein Regal stellen. Du weißt ja, wie sie ist. Sie denkt, sie wäre fünfunddreißig statt fünfundsiebzig.“

Sandy erinnerte sich vage, dass Ben eine Großtante erwähnt hatte, die er sehr bewunderte.

„Wo ist sie?“ Dass der Regen sein T-Shirt durchtränkte, schien Ben gar nicht zu bemerken.

„Im Krankenwagen vor ihrer Buchhandlung“, erklärte Kate. „Beeil dich besser. Ich gebe im Hotel Bescheid, wo du bist, dann komme ich nach.“

Ben hatte bereits kehrtgemacht und eilte mit großen Schritten am Hotel vorbei in Richtung Stadt.

„Ben“, rief Sandy ihm hinterher. Eigentlich wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt für sie gekommen, sich auf den Weg nach Melbourne zu machen, zu einer neuen Karriere, einem neuen Leben. Aber der Mann mit den vernarbten Händen und dem wunden Herzen brauchte sie – ob er wollte oder nicht.

„Ich komme mit dir“, rief sie. Hastig schlüpfte sie in ihre Sandalen und lief ihm hinterher. Den Regen nahm sie gar nicht mehr wahr. Sie wollte bei Ben sein. Er war ein selbstbewusster, starker Mann, aber seine Tragödie hatte ihm eine Verletzlichkeit verliehen, die sie nicht ignorieren konnte. Wie musste er sich in diesem Moment fühlen, in dem sich erneut ein Mensch, den er liebte, in Lebensgefahr befand?

„Warte!“

Diesmal blieb er stehen und sah sich nach ihr um. Als sie ihn erreichte, sagte er nichts, passte sein Tempo aber ihrem an. Schweigend eilten sie weiter. Beim Gehen streiften sich ihre Hände gelegentlich, und Sandy hätte am liebsten seine Hand ergriffen und gedrückt, aber das durfte sie nicht.

Nach wenigen Minuten erreichten sie die moderne Ladenzeile an der Hauptstraße. Ein Krankenwagen parkte unter der Markise vor einem Geschäft mit Namen Bay Books. Den mit springenden Delfinen verzierten hölzernen Rahmen der Eingangstür hatte Sandy bereits am Vormittag bewundert.

Die Türen des Krankenwagens standen weit offen, auf einer Trage davor lag eine ältere Dame mit kurzem silbergrauen Haar.

Sandy überlegte, was sie über Bens Tante wusste. In ihrer Verliebtheit hatte sie gierig alles aufgesogen, was er von seiner Familie erzählte. Hatte es um Ida nicht einen Skandal gegeben?

Ben eilte sofort zu der Verletzten. „Ida, was hast du diesmal wieder angestellt?“, schimpfte er zärtlich und nahm ihre faltige Hand in seine große vernarbte.

Sandy bemerkte seinen liebevollen Gesichtsausdruck, und der Atem stockte ihr. Typisch Ben, dachte sie. Er war überaus fürsorglich den Menschen gegenüber, die er liebte. Damals hatte er auch sie beschützt.

Sie wollte unbedingt surfen, fürchtete sich aber gleichzeitig vor den riesigen Wellen. Ben hatte sie jeden Tag ein wenig weiter aufs Meer hinaus gelockt, ihr Selbstvertrauen gestärkt und ihr mit seiner Anwesenheit Sicherheit vermittelt. Als sie dann eines Tages eine tolle Welle erwischte und bis zum Strand surfte, sorgte er dafür, dass er, sein Bruder und seine besten Freunde dieselbe Welle nahmen und sie bis zum Ende eskortierten. Nie wieder hatte sich jemand in ähnlicher Weise um sie gekümmert.

„Ich bin gestolpert und habe mir dabei das Becken gebrochen, fürchte ich.“ Ida verzog das Gesicht gleichermaßen vor Ärger wie vor Schmerz.

„Wieso ist sie nicht längst im Krankenhaus?“, herrschte Ben den Sanitäter an, der untätig neben dem Krankenwagen stand.

„Sie hat sich geweigert und wollte erst mit Ihnen sprechen. Ich habe ihr gesagt, sie kann Sie vom Krankenhaus aus anrufen, aber ich konnte sie nicht umstimmen.“

„Stimmt genau“, mischte sich Ida überraschend energisch ein. „Ich bleibe hier, bis mein Lieblingsgroßneffe mir verspricht, sich um meinen Laden zu kümmern.“

Ben zögerte keine Sekunde. „Versprochen. Ich schließe ihn sicher ab. Du kannst beruhigt ins …“

„Das genügt nicht“, protestierte Ida und versuchte sich aufzusetzen, bis ihr ein Schmerzenslaut entfuhr.

Sandy trat nervös von einer triefnassen Sandale auf die andere. Sie empfand sich als Eindringling, als ungebetenen Zeugen eines Familiendramas. Wieso war sie nicht im Hotel geblieben?

„Mach dir keine Sorgen. Ich finde eine Lösung, sobald du im Krankenhaus bist.“

„Es geht zwar nicht um Leben und Tod, aber wir sollten es nicht länger hinauszögern“, mischte sich der Sanitäter ein.

Ida schloss gequält die Augen. Sie tat Sandy unendlich leid. Lass sie wieder ganz gesund werden – für Ben, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel.

Gleich darauf schlug die alte Dame die Augen wieder auf, die in demselben Blau erstrahlten wie die von Ben. „Ich kann es mir nicht leisten, den Laden wochenlang zu schließen.“

Der Sanitäter unterbrach sie erneut. „Es wird eine ganze Weile dauern, ehe sie wieder auf die Beine kommt.“

„Finde jemanden, der für mich einspringt. Das Geschäft muss weiterlaufen.“

„Später, versprochen.“

„Jetzt!“, befahl Tante Ida energisch.

Nur mit Mühe gelang es Sandy, ein Schmunzeln zu unterdrücken, denn Ben trat verlegen von einem Bein aufs andere wie ein Teenager während einer Standpauke. Er wollte seine unbeugsame Tante unbedingt ins Krankenhaus verfrachten, hatte aber zu viel Respekt vor ihr, um die Entscheidung über ihren Kopf hinweg zu fällen.

In diesem Moment fiel Idas Blick auf Kate, die gerade neben Sandy trat. „Kate, könntest du …?“

„Ich brauche sie im Hotel. Wir sind knapp an Personal“, erklärte Ben ungeduldig.

„Und was ist mit Ihnen?“, wandte Ida sich an Sandy.

„Ich? Ich bin unterwegs nach Melbourne. Es geht leider nicht …“, stammelte sie bestürzt.

„Sind Sie eine Freundin von Kate?“, fragte Ida mit matter Stimme. Ihr Kampfgeist ließ allmählich nach.

„Nein. Ja. So ähnlich … Ich …“

„Sandy ist eine alte Freundin von mir“, kam Ben ihr zu Hilfe. „Sie ist auf der Durchreise.“

„Ich kann es mir nicht leisten, auch nur einen Tagesumsatz zu verlieren.“ Der Mut hatte Ida verlassen, und nun sah man ihr die fünfundsiebzig Jahre an.

Ein wenig erinnerte sie Sandy an ihre geliebte Großmutter. „Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht helfen kann“, entschuldigte sie sich.

„Schade! Sie sehen nett und intelligent aus. Ich würde Ihnen zu gern meinen Laden anvertrauen.“ Erschöpft schloss Ida die Augen. „Finde jemanden wie sie, Ben.“

Ihre Stimme wurde so leise, dass Sandy sie über den Regen, der immer noch auf die Markise prasselte, kaum hörte.

Ben sah nachdenklich von Sandy zu seiner Tante und wieder zurück. „Vielleicht kann ich sie ja überreden, ein paar Tage zu bleiben.“

„Aber, ich …“, widersprach Sandy verdutzt.

Ben neigte sich zu ihr und raunte ihr ins Ohr: „Spiel einfach mit und sag Ja, damit ich sie endlich ins Krankenhaus schaffen kann.“

Sandy überlegte eine Sekunde. „Also gut, ich kümmere mich um das Geschäft, aber nur für einige Tage. Bis Ben Ersatz findet.“

„Versprochen?“, fragte Ida.

Verwirrt nickte Sandy. „Versprochen.“ Wieso habe ich das nur gemacht? fragte sie sich im selben Moment. Um Ben einen Gefallen zu tun? Oder hatte der Gedanke an ihre Großmutter sie dazu veranlasst?

Idas Augen leuchteten auf. „Danke! Besuchen Sie mich bald im Krankenhaus.“

Ben wandte sich an den Sanitäter. „Ich fahre im Krankenwagen mit.“

„Nein. Du zeigst deiner Freundin Bay Books“, kam eine schwache Stimme von der Trage.

Belustigt verfolgte Sandy das Streitgespräch zwischen Ben und seiner Tante. Kurz darauf winkte sie dem Krankenwagen hinterher, in dem Kate als Idas Begleiterin mitfuhr.

„Deine Tante hat Charakter“, sagte sie und unterdrückte mühsam ein Lächeln.

„Was du nicht sagst!“, stöhnte Ben.

„War sie es, die damals mit einem Weltumsegler durchgebrannt ist?“

„Das weißt du noch?“

„So eine spannende Geschichte vergisst man doch nicht!“ Noch dazu, wenn die Heldin der Familie des geliebten Mannes angehört. Aber das erwähnte Sandy vorsichtshalber nicht.

„Das war damals ein echter Skandal. Sie war fünfunddreißig und die alte Jungfer der Stadt.“

„Was für ein grässliches Wort. Ich bin auch schon dreißig und unverheiratet – macht mich das zur alten Jungfer?“

Ben lachte. „Heute sagt man Karrierefrau.“

„Das läuft auf dasselbe hinaus.“ Sie schnitt ihm eine Grimasse.

Unvermittelt hielt Ben inne. Er sah sie an und in seinen Augen funkelte es. „Dein Exfreund ist ein Vollidiot“, stellte er fest und hob die Hand, als wollte er ihr über die Wange streicheln, wie er es früher häufig getan hatte.

Plötzlich lag Spannung in der Luft. Sandy wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Als Ben einen Schritt näher trat, konnte sie die kleine Narbe über seinem Mund deutlich erkennen. Unvermittelt fragte sie sich, wie es wäre, wenn er sie in die Arme nähme und küsste. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und ihr Mund fühlte sich schlagartig an wie ausgetrocknet.

Aber Ben ließ die Hand abrupt sinken und trat wieder einen Schritt zurück. „Er hat dich nicht verdient“, sagte er mit rauer Stimme.

Sandy stieß den Atem aus, den sie unbewusst angehalten hatte. Sollte sie erleichtert oder enttäuscht sein? Sie wusste, sie hätte Ben nicht zurückgewiesen, hätte er versucht, sie zu küssen. Diese Erkenntnis verwirrte sie.

„Ja. Also … Ich bin jedenfalls besser dran ohne ihn. Und es stört mich auch nicht länger, dass er sich für die Tochter seines reichen Chefs entschieden hat.“

Um nichts in der Welt würde sie Jason zurücknehmen. Dennoch hatte sein Betrug sie tief verletzt. Die Narben, die er ihr geschlagen hatte, verheilten nur langsam.

„Es tut immer noch weh, oder?“, fragte Ben, der sich durch ihre gespielte Munterkeit nicht täuschen ließ. Früher hatte er Sandy immer damit aufgezogen, dass er ihr die Gedanken an der Miene ablesen konnte.

Trotzig schüttelte sie den Kopf. Nach einigen unglücklichen Affären hatte sie geglaubt, mit Jason das große Los gezogen zu haben. Aber das würde sie Ben nicht verraten. „Du hast von Liebe geredet, warst aber nie für mich da“, hatte Jason ihr vorgeworfen. Dabei wäre sie niemals mit ihm zusammengezogen, wenn sie ihn nicht geliebt und daran geglaubt hätte, dass er seine Einstellung zur Ehe überdenken würde.

„Nur mein Stolz ist verletzt“, meinte sie leichthin. „Zwischen Jason und mir lief es schon lange nicht mehr gut …“ Sie hielt kurz inne. „Jetzt mache ich jedenfalls einen neuen Anfang. Aber genug von mir. Erzähl mir lieber mehr von Tante Ida.“

Dieser Bitte kam Ben gern nach. „Sie hat ihren Weltenbummler auf einer exotischen Insel geheiratet und ist bis zu seinem Tod mit ihm um die Welt gesegelt. Dann ist sie hierher zurückgekehrt und hat ihre Buchhandlung eröffnet – zunächst am anderen Ende der Stadt, dann in der Ladenzeile, die ich gebaut habe.“

„Du bist ihr Vermieter?“

„Mein Vorgänger hat Wucherpreise verlangt.“

Typisch Ben, dachte Sandy. Für ihn kam die Familie an erster Stelle, ganz besonders natürlich seine Frau und sein Kind. Es wunderte sie nicht, dass er nach ihrem Tod die Stadt verlassen hatte. Vielmehr fragte sie sich, was der Grund für seine Rückkehr nach Dolphin Bay war.

„Danke, dass du gerade mitgespielt hast. Ida hätte sich sonst niemals ins Krankenhaus bringen lassen.“

„Kein Problem. Ich hoffe, dass jemand dasselbe für meine Oma tut, falls nötig.“

Ben warf einen Blick auf die Uhr. „Die Küche schließt bald. Es wird höchste Zeit, dass du deinen Lunch bekommst. Ich würde dir ja gern dabei Gesellschaft leisten, aber …“

„Wolltest du mir nicht den Laden zeigen?“

Verblüfft sah Ben sie an. „Wozu?“

„Weil ich hier arbeiten werde, bis du Ersatz findest. Das habe ich Ida versprochen, schon vergessen?“

„Das war doch nur ein Trick, um sie ins Hospital zu schaffen …“

„Nein, mir war es ernst. Ich habe versprochen, für ein paar Tage einzuspringen, und dazu stehe ich.“

„Und dein Vorstellungsgespräch in Melbourne?“

„Das findet erst am Freitag statt. Heute ist Samstag. Ich wollte gemütlich die Küste entlang fahren …“ Dass nun nichts aus ihrem Besuch im Wellnesshotel wurde, bedauerte sie zwar, doch dann dachte sie an Idas besorgte Miene und vergaß ihn sofort wieder.

„Ich glaube, die Arbeit in einer Buchhandlung wird mir Spaß machen. Wirklich.“

„Es ist kein Problem, den Laden zu schließen, bis ich eine Aushilfe finde.“

„Deine Tante ist anderer Ansicht. Außerdem könnte es sich für mein Vorstellungsgespräch als günstig erweisen, wenn ich bereits Erfahrung im Einzelhandel vorweisen kann.“

„Das ist wirklich nett von dir, aber vergiss es. Ich finde schon jemanden. Es gibt Arbeitsagenturen speziell für Fälle wie diesen.“

Sandy wunderte sich, dass Ben ihr Angebot nicht einfach annahm. Immerhin stammte die Idee von ihm. Sie schüttelte den Kopf. „Ben, ich habe ihr mein Wort gegeben. Ich kann es nicht brechen.“ Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Eingangstür. „Komm schon, zeig mir den Laden. Ich kann es gar nicht erwarten.“

Ben trat einen Schritt nach vorn, hielt aber gleich wieder inne. Seine Miene war finster wie der Gewitterhimmel.

„Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn du deiner Tante beibringst, dass ich fort bin“, warnte sie ihn.

„Versuchst du gerade, mich zu erpressen?“

Das entlockte Sandy ein Lächeln. „Eigentlich nicht. Aber ich halte Versprechen, die ich einmal gegeben habe.“

„Ist das so?“

Das Lächeln gefror ihr auf den Lippen.

Ben sah sie ernst an, die Hände zu Fäusten geballt. Sprach er gerade von den leidenschaftlichen Liebesschwüren, die sie getauscht hatten? Anders als versprochen, war ihre Liebe an der räumlichen Trennung gescheitert, insofern hatte Sandy ihr Wort gebrochen. Doch damals hatte sie nichts mehr von Ben gehört und war zu jung und unerfahren gewesen, um selbst die Initiative zu ergreifen.

Das war falsch gewesen. Sie hätte ihm vertrauen müssen, wie sie inzwischen wusste. Aber nun war es zu spät.

„Ja“, beteuerte sie und ging zur Tür. „Komm schon. Ich will mir die Auslage ansehen, und du musst mir zeigen, wie die Kasse funktioniert, wie ich Bestellungen aufgebe und so weiter.“ Sie redete drauflos, um die spannungsgeladene Atmosphäre zu überspielen. Die Hand auf der Türklinke, sah sie sich nach Ben um. Seufzend gab er nach, ging an ihr vorbei und hielt ihr die Tür auf.

3. KAPITEL

Als Ben hinter Sandy in den Laden trat, verfluchte er seine eigene Dummheit und Impulsivität. Sein Plan, Ida zu beruhigen, war nach hinten losgegangen.

Du hast doch gewusst, wie hilfsbereit Sandy ist! schimpfte er mit sich. Selbst als zahlender Gast hatte sie immer darauf bestanden, seiner Mutter beim Abwasch zu helfen. Kein Wunder, dass sie sich an ihr Versprechen gebunden fühlte.

Doch wenn sie in der Stadt blieb und Bay Books führte, würde ihn das ständig daran erinnern, was er einmal für sie empfunden hatte. Das wäre die Hölle für ihn! Er wollte sie nicht länger um sich haben, ihr ansteckendes Lachen, ihr wunderschönes Gesicht und ihren sexy Körper, sonst würde er womöglich noch einmal ihrem Charme erliegen.

Dennoch rührte ihn ganz gegen seinen Willen ihre Begeisterung beim Rundgang durch das Geschäft. Unwillkürlich betrachtete er alles hier selbst mit neuen Augen: die massiven, mit Schnitzereien in Delfinform verzierten Bücherregale, die wunderschön gearbeitete Holztheke, die mit gestärkten Tüchern bedeckten runden Tische, auf denen sowohl Bestseller als auch ausgefallene Titel präsentiert wurden, die geschickt platzierten Lampen, die exotischen bunten Teppiche und die gemütliche Kinderecke.

„Ich liebe diesen Laden schon jetzt“, schwärmte Sandy. „Er ist so gemütlich und intim, dass sofort Nähe zum Kunden entstehen kann.“

Fast ehrfürchtig streichelte sie über die glatt polierte hölzerne Oberfläche der Verkaufstheke und zeichnete mit den Fingerspitzen die Delfine an den Ecken nach.

„Wie schön und exotisch!“

„Auf ihren Reisen hat Ida balinesische Holzschnitzer kennengelernt, die später ihren Laden ausgestattet haben. Die Möbel wurden per Schiff geliefert.“

Mit leuchtenden Augen sah Sandy sich um. „Es ist wunderschön. Ich verstehe, dass deine Tante ihr Geschäft in guten Händen wissen will. Und wie herrlich es hier duftet! Nach Holz und diesem unverwechselbaren Geruch von Büchern. Ich könnte es den ganzen Tag lang riechen.“

Unwillkürlich ballte Ben die Hände zu Fäusten. Sandy durfte nicht dem Zauber von Bay Books erliegen! Wenn sie blieb, würden sie gewissermaßen Tür an Tür arbeiten. Sie würde seine Hilfe brauchen und suchen, und er konnte sie ihr nicht gut verwehren. Wahrscheinlich würde er sogar von sich aus bei ihr vorbeischauen und seine Unterstützung anbieten, ihr vielleicht sogar einen Kaffee bringen und sie zum Lunch einladen, um übers Geschäft zu sprechen.

Aber das durfte nicht geschehen. Sonst könnte er ihr erneut verfallen, dabei hatte er die Liebe doch für immer aus seinem Leben verbannt.

Sandy ließ sich auf das weiche Sofa fallen, das die Kunden zum Schmökern einlud. Gleich darauf sprang sie wieder auf und klatschte in die Hände. „Es ist einfach perfekt! Ich werde einen Riesenspaß haben.“

„Nur für ein paar Tage“, warnte Ben sie schroff. „Ich rufe nachher bei der Arbeitsagentur an.“ Als er ihren verletzten Blick auffing, verfluchte er sich innerlich.

„Verstanden. Ich bleibe nur, bis du einen Manager gefunden hast. Und nachdem ich gesehen habe, wie viel Herzblut deine Tante hier investiert hat, bin ich froh über meine Entscheidung.“ Sie trat hinter die Theke und sah sich um. Trotz des Dämpfers, den Ben ihr verpasst hatte, strahlte sie immer noch eine freudige Erregung aus, die er ungemein anziehend fand.

„Ich werde dich möglichst wenig belästigen“, versprach sie. „Aber du musst mir erklären, wie die Kasse und der Computer funktionieren. Ist der gesamte Buchbestand in Dateien erfasst?“

Ich sollte ihr dankbar sein, dachte Ben. Immerhin stammte der Vorschlag, dass sie blieb, von ihm. Andererseits stellte Sandy eine Bedrohung dar. Schließlich hatte er sein Leben in den letzten Jahren perfekt unter Kontrolle gehabt …

„Die Kasse kann ich dir erklären, aber nicht den Computer. Allerdings wirst du den in den wenigen Tagen kaum brauchen.“

„Auch wenn es nur für kurze Zeit ist, möchte ich meinen Job so gut wie möglich erledigen. Ida braucht den Umsatz.“

„Sollte sie in Schwierigkeiten geraten, kümmere ich mich darum.“ Tatsächlich war er auf die Mieteinnahmen nicht angewiesen, auch die Betriebskosten konnte er problemlos tragen.

„Unabhängigkeit ist ihr wichtig. Ich hoffe, ich gleiche ihr, wenn ich in ihr Alter komme.“

Unwillkürlich sah Ben eine weißhaarige Sandy vor sich, genauso angriffslustig wie seine Großtante. „Davon bin ich überzeugt.“

„Was ist, wenn Rechnungen eintreffen?“

„Die übernehme ich.“

„Das bedeutet: Vergiss nicht, du hilfst nur vorübergehend aus.“

„In etwa.“ Leicht machen wollte Ben es ihr nicht, obwohl eine innere Stimme ihn mahnte, nicht ganz so hart mit ihr umzugehen. Doch wenn er sich nicht in Acht nahm, könnte es ihm schlecht ergehen.

„Weißt du was? Ich habe fast den Eindruck, du hast etwas gegen meine Anwesenheit in Dolphin Bay. Ist das so?“

Ben wusste nicht, was er sagen sollte. Bilder aus der Vergangenheit liefen vor seinem inneren Auge ab wie ein Film: Er sah Sandy beim Tanzen, wie sie die lange braune Mähne wild schüttelte und lachend Kates heißen Tanzstil nachahmte. Dann lag sie in seinen Armen, noch ganz atemlos von ihrem ersten Kuss. Als Nächstes saß sie in einem knappen Bikini auf ihrem Surfbrett und paddelte mutig den Wellen entgegen, obwohl sie vor Angst bebte. Schließlich warf sie sich ihm mit tränenüberströmtem Gesicht immer wieder zum Abschied in die Arme, während ihr Vater im Auto ungeduldig auf die Hupe drückte.

Dann sah er nichts mehr – bis zu diesem Augenblick.

Erneut ballte er die Fäuste. Seine Narben schmerzten und erinnerten ihn an die entsetzlichen Qualen seines Verlusts.

Was, um Himmels willen, sollte er Sandy erwidern?

Sandy sah Ben an, der schweigend von einem Fuß auf den anderen trat, während er um Worte rang. „Also …“, sagte er schließlich gedehnt. Mehr war auch nicht nötig.

Es schmerzte viel stärker, als sie es für möglich gehalten hätte. Sandy schluckte. „Ich habe nur gescherzt, aber damit offenbar ins Schwarze getroffen. Dich stört es wirklich, wenn ich bleibe.“

„Ich halte es für keine gute Idee.“ Seine Miene war verschlossen.

Ein Schlag ins Gesicht hätte Sandy nicht schlimmer treffen können. Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt. „Wieso? Weil wir als Teenager etwas miteinander hatten?“

„Die Leute werden sich daran erinnern, dann geht das Gerede los.“

„Ist es wegen Jodi?“ Schlagartig fühlte sich ihre Kehle an wie ausgetrocknet. Sie brachte die Worte nur mühsam heraus.

„Auch. In erster Linie geht es um mich“, fügte er so leise hinzu, dass sie es über dem Regen, der laut auf das Metalldach trommelte, kaum hörte.

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. „Das verstehe ich nicht.“

Ben kehrte ihr den Rücken und sah aus dem Schaufenster hinaus. „Hat Kate dir Genaueres über das Feuer erzählt, bei dem Jodi und mein Sohn Liam umgekommen sind?“

„Nein.“ Sandy war sich gar nicht sicher, ob sie Details hören wollte. Ihre Knie zitterten plötzlich, und sie lehnte sich Halt suchend gegen die Theke.

In diesem Moment wandte Ben sich zu ihr um. Sein Gesicht war von Schmerz verzerrt. „Liam war ein Baby, noch nicht einmal ein Jahr alt. Ich konnte ihn nicht retten, obwohl ich sogar Mitglied der freiwilligen Feuerwehr war. Wir waren gerade zu einem anderen Brand gerufen worden. Nach einer langen Dürreperiode war alles zundertrocken. Wir glaubten die Pension sicher, doch irgendwie fingen die Gummibäume neben dem Gebäude Feuer, dann das Haus. Die Gäste konnten sich alle retten, aber … aber nicht …“ Er ließ den Kopf hängen, die Worte fehlte ihm.

„Hör auf! Du musst mir nichts erzählen“, wehrte Sandy ab. In seinen Wimpern hingen Regentropfen. Sie sahen aus wie Tränen, und sie hätte sie am liebsten fortgewischt oder ihn tröstend in den Arm genommen. Dabei wollte er noch nicht einmal, dass sie in Dolphin Bay blieb.

„An jenem Tag habe ich alles verloren. Ich habe dir nichts zu geben“, fuhr er gequält fort.

Sandy schluckte. Sie betrachtete seine vernarbten Hände. Er hatte auch Narben an Stellen davongetragen, an denen sie nicht sichtbar waren, und die reichten wesentlich tiefer.

„Ich will doch gar nichts von dir, Ben. Können wir nicht einfach Freunde sein?“ Ihre Stimme brach.

„Ist Freundschaft möglich, obwohl wir einander einmal geliebt haben?“

Rastlos zog Sandy ein Buch aus einem Stapel auf der Theke und stellte es sofort wieder an dieselbe Stelle zurück, ohne auch nur den Titel gelesen zu haben. Sie atmete tief durch. „War das wirklich Liebe? Damals waren wir kaum mehr als Kinder.“

„Ich habe dich geliebt, und es hat mich zutiefst verletzt, als du meine Briefe nicht beantwortet und auch sonst keinen Kontakt gesucht hast.“

„Es war schrecklich, als keine Post von dir kam.“ Sie war unglaublich verzweifelt gewesen. Oh, ja, auch sie hatte ihn geliebt. Möglicherweise war sie aber schneller über ihn hinweggekommen als er über sie. Durch ihr Studium hatte sie sich weiterentwickelt. Die Erinnerung an ihre erste Liebe war immer mehr verblasst. Irgendwann war ihr die Zeit mit Ben nur noch wie ein ferner Traum erschien.

Damals hatte sie nicht zu schätzen gewusst, was sie an ihm hatte. Er war kein Don Juan, wie ihr Vater sie glauben machen wollte. Liebte er, dann war es für immer.

Im Lauf der Jahre hatte sie sich immer wieder zu Männern hingezogen gefühlt, die sie an Ben erinnerten. Jedes Mal hatte sie eine bittere Enttäuschung erlebt. Er war einzigartig.

„Dad hat damals deine Briefe abgefangen, aber Mum hat mir geraten, dir nicht nachzulaufen, genau wie meine Schwester Lizzie.“

„Mein Vater war der Ansicht, dass du in der Stadt dein eigenes Leben führst und mich darüber vergessen hast. Er hielt uns ohnehin für zu jung.“ Ben schnaubte verächtlich. „Dabei war er bei seiner Hochzeit gerade mal ein Jahr älter als ich damals.“

„Ich habe mehrfach bei euch angerufen, aber immer ging dein Vater ans Telefon und ich habe nicht gewagt, etwas zu sagen. Vermutlich wusste er, wer am Apparat ist. Er hat mich gebeten, nie wieder anzurufen.“

„Davon hat er mir gar nichts erzählt.“

„Wir waren jung – zu jung, um an unseren Eltern zu zweifeln oder ihnen zu trotzen.“

Eine Weile schwiegen sie, unausgesprochene Worte hingen in der Luft.

„Was wäre passiert, wenn …“, dachte Sandy laut.

„Frag dich das nicht! ‚Was wäre, wenn‘ und ‚wenn nur‘, das führt doch zu nichts. Es ist Schnee von gestern.“

So einfach ist das nicht, fand Sandy. Sie fragte sich, welche quälenden Gedanken Ben nach dem tödlichen Feuer gewälzt hatte. Er hatte mit einem unermesslichen Verlust fertigwerden müssen, während sie lediglich die Erinnerung an eine herrliche Zeit abzuschütteln brauchte.

Bevor sie Ben traf, war sie ganz die brave, sittsame Tochter ihres gestrengen Vaters gewesen. Niemals war sie länger als bis Mitternacht ausgeblieben, obwohl sie bereits volljährig war. Ben hatte ihr geholfen, lockerer zu werden und kleine Risiken einzugehen. Dabei war er aber immer an ihrer Seite geblieben, um im Notfall helfend einzugreifen.

Er war kein rücksichtsloser Draufgänger, aber unglaublich aufregend. Durch seine respektlose Kritik an den veralteten Ansichten ihres Vaters hatte er ihr die Augen geöffnet und mit seinen Küssen Gefühle in ihr geweckt, von denen sie nichts geahnt hatte. Dass sie damals nicht aufs Ganze gegangen waren, hatte sie später bitter bereut. Ihre Jungfräulichkeit an ihn zu verlieren wäre bestimmt eine unvergessliche Erfahrung gewesen.

Erschöpft rieb sie sich mit der Hand über die Stirn. Wieso konnte sie sich eigentlich noch so gut an seine Umarmungen erinnern? Weil er ihre erste Liebe gewesen war? Oder lag es an dem einzigartigen Ben Morgan?

Der Regen dämpfte alle Geräusche von der Straße. In der gemütlichen Buchhandlung fühlte Sandy sich wie im Kokon ihrer Erinnerungen geborgen, abgeschnitten von der Realität, von allem, was in den vergangenen zwölf Jahren geschehen war.

Ben räusperte sich und lehnte sich über die Theke zu ihr.

„Danke, dass du mir von den unterschlagenen Briefen und deinen Versuchen, mich anzurufen, erzählt hast. Ich habe nie begriffen, wie du vergessen konntest, was damals zwischen uns war.“

„Das habe ich mich auch gefragt. Ich verstand einfach nicht, wieso du mich nicht mehr sehen wolltest.“ Nächtelang hatte sie in ihr Kissen geweint. Sie war unglaublich einsam und verletzt gewesen. Jasons Verrat Jahre später hatte sie nicht annähernd so stark getroffen.

Sandy schüttelte den Kopf und zwang sich, ins Heute zurückzukehren. Dass Ben ihre Anwesenheit in Dolphin Bay nicht wünschte, nicht einmal seiner Großtante zuliebe, tat ihr weh – nicht weniger als damals. Sie straffte die Schultern. „Nachdem wir jetzt wissen, dass mein Vater schuld an unserem Elend war, können wir doch die verletzten Gefühle von damals vergessen und vielleicht sogar eine Art Schlussstrich ziehen.“

„Schlussstrich? Was für ein Psychogeschwätz ist das?“

Gekränkt zuckte sie zurück. Ihr gefiel der Gedanke. „Ich meine damit, wir sollten einander vergeben, vergessen, was zwischen uns war, und versuchen, Freunde zu sein.“

Du lügst! protestierte eine innere Stimme. Denn in Wahrheit fühlte sie sich genauso heftig zu Ben hingezogen wie vor zwölf Jahren, wenn nicht sogar noch stärker.

Er sah aber auch zu gut aus! Durchtrainiert, braungebrannt, mit kurzem blonden Haar und zarten Fältchen um die Augen, dazu die sexy Narbe über der Oberlippe – er könnte als Model in der Werbung ein Vermögen machen.

Erneut fiel ihr Blick auf seinen Mund, und sie fragte sich, wie es wohl wäre, ihn zu küssen. Inzwischen waren sie beide erwachsen und reich an Erfahrungen.

Beim Küssen würde es bestimmt nicht bleiben, dachte sie, und ein Prickeln durchlief ihren ganzen Körper.

„Mag ja sein, dass du vergessen kannst, dass wir mehr als Freunde waren. Ich kann es nicht“, sagte Ben mit rauer Stimme. „Ich finde dich immer noch ungemein anziehend.“

Dann spürst du es also auch? dachte Sandy. Die knisternde Spannung zwischen ihnen hatten selbst zwölf Jahre Trennung nicht auslöschen können.

„Das ist auch genau der Grund, aus dem ich nicht möchte, dass du in Dolphin Bay bleibst.“

Verblüfft über die unverblümte Erklärung, schnappte sie nach Luft.

„Ich möchte zwar nicht unhöflich sein, aber … ich komme nicht damit klar, wenn du hier bist“, fuhr er fort.

Was konnte sie darauf nur erwidern? Da halfen Sandy auch ihre Erfahrungen als Werbetexterin nichts. Sie nickte nur stumm.

„Ich möchte nicht unaufhörlich daran erinnert werden, wie es ist, jemanden zu lieben, denn ich werde solche Gefühle nie wieder zulassen.“

Die neuerliche Zurückweisung schmerzte Sandy. Sie räusperte sich und sah sich im Raum um, blickte hierhin und dorthin, nur nicht zu ihm. „Schon gut. Ich habe begriffen, was du meinst. Es war laut und deutlich genug.“

„Es tut mir leid, wenn ich …“

Mit einer Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen. „Kein Problem. Ich schätze deine Aufrichtigkeit.“ Sie verstand ihn durchaus und fühlte mit ihm. Gelitten hatte sie auch, allerdings nicht im selben Maß wie er. Die Scheidung ihrer Eltern, Jasons Verrat, die Freunde, die sich auf seine Seite geschlagen hatten …

Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, sich von Enttäuschungen nicht lange unterkriegen zu lassen. Sie glaubte fest daran, dass hinter der nächsten Ecke etwas Gutes wartete, dass auf Dunkelheit immer Licht folgte. Aber man musste etwas dafür tun, um Freude in sein Leben zu bringen. Aus diesem Grund hatte sie beschlossen, Jason hinter sich zu lassen und in Melbourne einen neuen Anfang zu wagen.

Die Tragödie, die Ben erlebt hatte, ließ sich mit ihren negativen Erfahrungen allerdings nicht vergleichen. Sie fragte sich, ob er jemals in der Lage sein würde, aus ihrem Schatten herauszutreten. Er tat ihr unendlich leid.

Ob Jodi Hart, die sie als freundliches, lebenslustiges Mädchen in Erinnerung hatte, gewollt hätte, dass ihr Ehemann sich in Kummer und Selbstvorwürfen vergrub und jeden Gedanken an künftiges Glück oder Liebe weit von sich schob? Sie konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Das zu entscheiden lag aber nicht an ihr. Sie gehörte Bens Vergangenheit an – und das würde auch so bleiben, wenn es nach ihm ging.

Dennoch fragte Sandy sich unwillkürlich, ob sie die Missverständnisse der Vergangenheit nicht doch überwinden und einen neuen Anfang miteinander wagen konnten? Ben zog sie immer noch an, das würde sich niemals ändern. Sie sehnte sich so stark nach ihm, dass es wehtat.

„Zumindest weiß ich jetzt, woran ich mit dir bin“, sagte sie mit fast normaler Stimme.

Ben hatte ja recht. Er war nichts für sie – nicht mehr. Die Barrieren, die er um sich herum errichtet hatte, waren so massiv, dass sie sie fast zu sehen glaubte.

Dennoch bereute sie nicht, dass sie aus einem Impuls heraus nach Dolphin Bay zurückgekehrt war. Das Wissen, dass Ben sie damals nicht einfach herzlos abserviert hatte, verlieh ihrem Selbstvertrauen neuen Auftrieb, und das tat ihr nach dem Fiasko mit Jason sehr gut.

Autor

Kandy Shepherd

Kandy Shepherd liebte das Schreiben schon immer. Um ihrer Leidenschaft auch beruflich nachzukommen, wandte sie sich dem Journalismus zu, arbeitete für angesehene Frauenmagazine und machte sich in dieser Branche als Redakteurin schnell einen Namen. Sie mochte ihren Job – doch noch lieber wollte sie Geschichten schreiben! Also ließ sie den...

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