Romana Exklusiv Band 352

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SCHICKSALSTAGE IN MONACO von PENNY ROBERTS
Adrienne fühlt sich stark zu ihrem attraktiven Boss Lucien Dupont hingezogen. Aber sie darf sich keine zärtlichen Gefühle für ihn erlauben. Denn der skrupellose Geschäftsmann aus Monaco hat offenbar nichts Geringeres im Sinn, als ihre Familie zu ruinieren!

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  • Erscheinungstag 26.08.2022
  • Bandnummer 352
  • ISBN / Artikelnummer 0853220352
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Penny Roberts, Nicola Marsh, Fiona Harper

ROMANA EXKLUSIV BAND 352

1. KAPITEL

„Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, Monsieur Dupont hat keine Zeit für eine Unterhaltung.“ Die blonde, perfekt gestylte Frau hinter dem Empfangstresen der Reederei schüttelte seufzend den Kopf und deutete nach links. Dort saß auf einer langen Reihe von Stühlen gut ein halbes Dutzend elegant gekleideter Männer und Frauen wie die Hühner auf der Stange. „Heute finden Vorstellungsgespräche statt. Sehen Sie, all diese Bewerber warten darauf, dass Monsieur Dupont sie in sein Büro bittet. Wenn Sie also nicht zufällig Rechtsanwältin mit erstklassigen Referenzen und auf der Suche nach einer Anstellung sind, kann ich leider …“

„Das bin ich!“, stieß Adrienne Diderot aufgeregt hervor. „Ich … ich habe Jura studiert. In London. Und ich habe derzeit keine feste Anstellung.“

Die Blonde kniff die Augen zusammen. „Aber Sie sagten doch eben, Sie wollten Monsieur Dupont in einer dringenden persönlichen Angelegenheit sprechen.“

„Ich wollte halt ein bisschen aus der Masse hervorstechen.“ Adrienne zwinkerte. „Sie verstehen?“

„Und deshalb rufen Sie schon seit Tagen an und bitten immer wieder um einen Termin bei Monsieur Dupont?“

„Genau.“

„Und Ihre Bewerbungsunterlagen? Haben Sie die auch dabei?“

Adrienne reagierte gedankenschnell und hob ihre Laptoptasche hoch. „Natürlich. Ist alles da drauf.“

„Dennoch …“ Die Empfangsdame schüttelte den Kopf. „Ich muss mich an den Ablauf halten und …“

In dem Moment wurde die breite Tür neben dem Tresen aufgerissen, und eine ältere, perfekt gekleidete Frau stürzte aus dem dahinterliegenden Raum – hastig und in Tränen aufgelöst. Orientierungslos blickte sie sich um, fand den Ausgang und stürmte darauf zu. Die anderen Bewerber starrten ihr nach. Einige wirkten erschrocken, andere mitleidsvoll, und wieder andere konnten eine gehörige Portion Schadenfreude nicht verbergen.

Aufgeregtes Getuschel entbrannte.

Adrienne runzelte die Stirn. Einen Moment lang kam sie sich vor wie in einem schlechten Film. Dass eine Bewerberin weinend aus dem Büro des Stellenanbieters gerannt kam, war ihr bisher auch noch nicht untergekommen. Gleichzeitig wunderte es sie gar nicht mal so sehr. Im Grunde hatte sie nichts anderes von Lucien Dupont erwartet.

Dem Mann, wegen dem sie hier war.

Dem Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihre Familie in den Ruin zu stürzen.

Sie kniff die Augen zusammen, als Wut in ihr aufstieg. Sie dachte an den Anruf, den sie vor einer Woche bekommen hatte. Ihr Vater hatte ihr mitgeteilt, dass ihre Mutter schwer erkrankt war. Adrienne hatte alles stehen und liegen lassen und war mit der letzten Maschine des Tages von Heathrow aus nach Monaco geflogen.

In das Fürstentum an der Mittelmeerküste, in dem sie aufgewachsen war.

Und welches sie mit achtzehn fluchtartig und in der festen Absicht, nie mehr für länger als zwei oder drei Tage zurückzukehren, verlassen hatte. Seitdem war in ihrem Leben viel passiert. Sie hatte in London Jura studiert und nebenbei in dem Callcenter gejobbt, in dem sie auch heute noch arbeitete. Als Anwältin verdiente sie bisher nämlich noch kein Geld, was nicht an mangelnden Fähigkeiten lag. Ganz im Gegenteil sogar. Sie hatte schon zahlreiche Verhandlungen zu einem positiven Abschluss bringen können. Nur, dass sie eben nicht für zahlende Klienten tätig war.

Im Augenblick arbeitete sie für Good Deeds, eine Organisation, die sich für den Schutz und die Rechte von Mensch und Tier einsetzte. Adriennes letzter Erfolg war gewesen, dass sie die Verantwortlichen von Superstore, einer großen Drogeriekette, davon überzeugt hatte, die Zusammenarbeit mit dem Kosmetikhersteller B & B einzustellen, der nach wie vor auf Tierversuche setzte.

Sie war stolz auf das, was sie machte. Vor allem, weil es sie von ihrem früheren Leben abgrenzte. Und von ihrer Familie.

Trotzdem hatte sie keine Sekunde gezögert, sich auf den Weg zu machen, als sie von der Krankheit ihrer Mutter erfuhr.

Der Flug hierher war die Hölle für Adrienne gewesen. Die Sorge um ihre Mutter hatte sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Dabei war ihre Beziehung zueinander alles andere als gut, doch Adrienne konnte einfach nicht aus ihrer Haut.

Als sie ihr Zuhause dann schließlich nach zwei Stunden Flugzeit erreicht hatte, war sie noch nicht davon ausgegangen, dass die plötzliche Erkrankung ihrer Mutter nicht die einzige Katastrophe war, die sich in der letzten Zeit in ihrem Elternhaus ereignet hatte. Doch da hatte sie den Namen Lucien Dupont ja auch noch nicht gekannt …

Plötzlich verstummten die Bewerber schlagartig, und die aufgekommene Stille riss Adrienne aus ihren Gedanken. Sie spürte, dass sich etwas verändert hatte. Langsam drehte sie sich wieder zum Empfangstresen um – und erstarrte. Ein Mann war aus dem Büro getreten, aus dem die Frau eben gerannt war. Er war groß und imposant, mit dunklem, kurzem Haar und durchdringenden blauen Augen. Sein Gesicht wies markante Züge auf, und er hatte eine sportlich durchtrainierte Statur.

Adrienne wusste sofort, wen sie vor sich hatte. Sie hatte sein Foto in den letzten Tagen oft genug in den Zeitungen gesehen.

Lucien Dupont.

Der Teufel in Menschengestalt.

Und er war Gerald so auffallend aus dem Gesicht geschnitten, dass sich Adriennes Magen schmerzhaft zusammenzog.

Gerald … Die Sache zwischen ihnen lag nun schon so lange zurück, und eigentlich war sie bisher auch davon überzeugt gewesen, über ihn hinweg zu sein. Umso mehr überraschte es sie, dass Lucien Duponts Anblick sie wie ein Stich ins Herz traf.

Sie beobachtete, wie er der Empfangsdame etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin die Blondine hastig nickte.

„Ich werde der Dame ein Entschuldigungsschreiben zukommen lassen, Monsieur Dupont“, erwiderte sie pflichtbesessen.

„Wenn Sie Ihre Bewerberinnen mit Respekt behandeln und nicht zum Weinen bringen würden, kämen Sie nicht in die Verlegenheit, sich hinterher entschuldigen zu müssen.“

Erst als die Worte vollständig verklungen waren, wurde Adrienne klar, dass sie selbst es gewesen war, die sie ausgesprochen hatte.

Erschrocken biss sie sich auf die Unterlippe. Was war bloß in sie gefahren? So unbeherrscht war sie doch sonst nicht.

Sofort spürte sie, wie sich alle Blicke auf sie richteten. Gleichzeitig hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so still war es mit einem Mal.

„Wie war das?“

Obwohl er eigentlich leise sprach, war Lucien Duponts Stimme doch so kraftvoll, dass sie durch den Raum hallte. Adrienne hatte das Gefühl, förmlich in sich zusammenzuschrumpfen, als er sie innerhalb weniger Sekunden von oben bis unten musterte. Aus seinem Blick sprach Verärgerung und Unglauben, aber auch so etwas wie Respekt. Oder war das bloß Wunschdenken ihrerseits?

Sie räusperte sich. „Ich … also … ich wollte lediglich sagen, dass ich es nicht tolerieren kann, wenn Frauen …“

„Sie sagt, sie wolle sich für die ausgeschriebene Stelle bewerben“, erklärte die Empfangsdame hastig, wohl um zu verhindern, dass Adrienne weitersprach.

„Sie sind Juristin?“, hakte Lucien Dupont nach und fixierte Adrienne jetzt noch schärfer. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging zügigen Schrittes zurück in sein Büro. „Kommen Sie!“, rief er im Gehen. „Herein mit Ihnen!“

Adrienne riss die Augen auf und starrte erst ihm hinterher, dann die Empfangsdame fragend an. „Ich soll …?“

Die blonde Frau hob die Schultern und nickte anschließend. Adrienne wusste nicht, wie ihr geschah. Sollte sie wirklich dort hineingehen und …

Natürlich sollst du das, dafür bist du schließlich hergekommen, oder nicht? Seit Tagen versuchst du, mit Lucien Dupont einen Termin auszumachen, um mit ihm über die Reederei seines Vaters zu sprechen. Und jetzt, wo du so knapp davorstehst, ihm alles sagen zu können, was du dir zurechtgelegt hast, willst du kneifen?

Nein, das wollte sie natürlich nicht. Allerdings hatte sie mit ihrer unbedachten Äußerung eben und der Tatsache, dass sie vorgab, auf Stellensuche zu sein, einen mehr als unglücklichen Start für eine sachliche Unterhaltung hingelegt. Trotzdem – jetzt, wo sie einmal so weit gekommen war, durfte sie sich diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen. Sie würde auf der Stelle in dieses Büro gehen und ganz sie selbst sein. Ohne dabei allerdings auch nur eine Sekunde lang zu vergessen, mit wem sie es zu tun hatte: mit Lucien Dupont, einem Mann, für den nur der Gewinn zählte. Der bereit war, alles und jeden zu verkaufen, wenn er sich nur genug davon versprach.

Den Kopf hocherhoben und in aufrechter Haltung setzte sie sich unter den teils neugierigen, teils neidischen Blicken der echten Bewerber in Bewegung. Auf der Schwelle zu Lucien Duponts Büro fühlten sich ihre Knie plötzlich weich wie Butter an und drohten, nachzugeben. Adrienne musste sich ein paar Sekunden lang am Türrahmen festhalten. Dann schloss sie kurz die Augen, holte tief Luft und ging wieder.

„Schließen Sie die Tür hinter sich“, vernahm sie die Stimme des Unternehmers.

Adrienne tat, wie ihr geheißen, ging anschließend weiter in den Raum – und atmete scharf ein. Es war nicht einmal die Größe des Raums, die ihr den Atem raubte. Keine Frage, das Büro war riesig. So riesig, dass das Apartment von Bella und ihr in London gut und gerne viermal hineingepasst hätte. Aber mit Größe und einem gewissen Maß an Luxus war sie aufgewachsen, das war nichts Neues für sie. Und sie beeindruckte auch keineswegs die exklusive Ausstattung. Weder die modernen Designermöbel noch die offensichtlich sehr kostbaren Dekorationsgegenstände konnten ihr ein Staunen entlocken.

Was sie wirklich in den Bann zog, war die Wand hinter dem wuchtigen Schreibtisch direkt vor ihr. Sie bestand komplett aus Glas und eröffnete jedem Besucher, der eintrat, einen fantastischen Blick über den Jachthafen von Monaco und das türkisblaue Meer, das im hellen Sonnenlicht funkelte wie Diamanten.

„Sie sind also Juristin und wollen sich als mein Rechtsbeistand bewerben?“, fragte Lucien Dupont und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Mit einer knappen Geste bedeutete er ihr, auf einem der Besucherstühle Platz zu nehmen.

Adrienne kam der Aufforderung nach und nickte. Als sie dem Unternehmer gegenübersaß, war sie nicht mehr von der Aussicht gefesselt, sondern vielmehr von seinem Anblick. Seine Ausstrahlung nahm sie einfach gefangen, und sie konnte nichts dagegen tun. Und das, obwohl sie sich nach der Sache mit Gerald eigentlich geschworen hatte, zukünftig in Hinblick auf Männer Vorsicht walten zu lassen. Sicher, die ganze Sache war jetzt acht Jahre her, und in dieser Zeit hätte sie neben Studium, Nebenjobs und ehrenamtlicher Tätigkeit auch gar keine Zeit für einen Mann gehabt. Doch sie wusste, irgendwann würde sich das einmal ändern. Dennoch – eines nahm sie sich weiterhin vor: Wenn sie sich jemals wieder auf einen Mann einließ, dann würde sie ihn konsequent von ihrer Familie fernhalten.

Sie räusperte sich. „Ja“, antwortete sie. „Ich meine, nein …“

„Sie sind also keine Juristin?“

„Doch“, beeilte sie sich zu versichern. „Ich habe in London studiert.“

„Berufserfahrung?“

„Ich habe mein Studium erst in diesem Jahr beendet.“

Er kniff die Augen zusammen. „Und was, in drei Teufels Namen, veranlasst Sie dann dazu, sich bei mir um eine Stelle als meine persönliche Juristin zu bewerben?“

„Das tue ich gar nicht.“ Sie atmete tief durch, als sie spürte, wie seine arrogante Art Wut in ihr aufsteigen ließ. „Ich habe Ihrer Mitarbeiterin das lediglich gesagt, weil ich seit Tagen vergeblich versuche, einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren. Es geht um eine Sache, die mir sehr am Herzen liegt. Aber an Sie war ja kein Herankommen. Und als ich dann vorhin hörte, dass gerade Vorstellungsgespräche stattfinden, habe ich zu diesem kleinen Trick gegriffen. Sie brauchen also keine Angst haben: Nie im Leben würde ich für einen Mann wie Sie arbeiten wollen.“

2. KAPITEL

Um ein Haar hätte Lucien laut aufgelacht. Die Frau, die auf der anderen Seite seines Schreibtischs in angespannter Haltung auf dem Besucherstuhl saß, amüsierte ihn, verärgerte ihn zugleich aber auch.

Und vor allem gab sie ihm Rätsel auf.

In einem Moment wirkte sie wie ein unsicheres junges Ding, das nicht recht wusste, wie es sich ihm gegenüber verhalten sollte. Aber kaum, dass sie dann einmal den Mund aufmachte, ging sie auch schon zum offenen Angriff über. Wer, zum Henker, war diese Frau?

Sie war hübsch, keine Frage. Nein, mehr noch: Sie war schön. Wunderschön. Doch sobald Lucien diese Feststellung getroffen hatte, fragte er sich, ob er den Verstand verloren hatte. Oder zu einem anderen Menschen geworden war. Denn eines stand fest: Die Kleine vor ihm fiel absolut nicht in sein übliches Beuteschema.

Ihr Haar war so hellblond, wie man es gewöhnlich nur bei Frauen aus dem hohen Norden sah, doch er war bereit, darauf zu wetten, dass sie es nicht künstlich bleichte. Überhaupt schien sie nicht viel davon zu halten, ihrer Schönheit mit irgendwelchen Tricks und Mittelchen auf die Sprünge zu helfen. Allerhöchstens trug sie ein sehr leichtes Make-up und – da war er sich beinahe sicher – einen Hauch von Lippenstift. Nicht, dass sie es sich nicht leisten konnte …

An ihren Lippen blieb sein Blick einen winzigen Moment lang hängen, und er fragte sich, wie es wohl sein würde, sie zu küssen. Ein absurder Gedanke, wie ihm schon in der nächsten Sekunde klar wurde. Einmal mehr begann er, an seinem Verstand zu zweifeln.

Unmerklich atmete er durch und setzte seine Betrachtung ihrer Person fort. Der Hosenanzug, den sie trug, stand ihr nicht schlecht, stammte aber ganz eindeutig von der Stange. Ebenso wie ihre Ballerinas zwar aus Leder waren, aufgrund der Verarbeitung aber sogleich als Discounterware entlarvt werden konnten.

Das alles schien sie aber nicht zu irritieren, denn sie blitzte ihn aus ihren funkelnden, graublauen Augen herausfordernd an, die Laptoptasche auf ihrem Schoß fest mit beiden Händen umschlossen.

„Für einen Mann wie mich?“ Er kniff die Augen zusammen. „Genauer, bitte!“

Sie schluckte hörbar. Dann nickte sie, so als würde sie sich gerade im Stillen selbst Mut zusprechen. „Für einen Mann, der Menschen behandelt, als seien sie nichts wert“, sagte sie schließlich trotzig.

Lucien unterdrückte ein Seufzen. Dieser Tag hatte es wirklich in sich. Erst diese Bewerberin eben, die weinend aus seinem Büro gestürmt war – dabei hatte er ihr doch überhaupt nichts getan, sondern sie lediglich darauf hingewiesen, dass ihr Spezialgebiet Familienrecht absolut nicht in den Bereich fiel, für den er eine Juristin benötigte. Darauf hatte sie ihm ihr Leid geklagt. Dass sie von ihrem Mann nicht nur einfach sitzen gelassen worden war, sondern dass dieser sich auch noch ihre gesamten Ersparnisse unter den Nagel gerissen hatte und sie jetzt dringend einen gut bezahlten Job brauchte. Da hatte Lucien abgeblockt, denn wenn er eines nicht ausstehen konnte, dann war es Bettelei. Und das hatte er ihr auch, ruhig, aber deutlich, zu verstehen gegeben, woraufhin sie in Tränen ausgebrochen und nach draußen gerannt war.

Im Grunde hätte Lucien das gleichgültig sein können. Dies hier war ein hartes Business, darüber musste sich jeder im Klaren sein. Dennoch hatte er kurzerhand beschlossen, der Frau von seiner Assistentin eine Entschuldigung und die Adresse einer Kanzlei zukommen zu lassen, die auf Familienrecht spezialisiert war und deren Partner er kannte. Denn zum einen konnte er Frauen schlecht weinen sehen, und zum anderen musste er unbedingt jegliches negative Gerede, das sein Stiefbruder Olivier gegen ihn verwenden konnte, vermeiden.

Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten. Immer wenn er an Olivier dachte, spürte er, wie Wut in ihm aufstieg. Wut, Hass – und Hilflosigkeit.

Schnell schüttelte er die Gedanken an ihn ab. Sollte diese Bewerberin also ihr Glück woanders versuchen. Erheblich mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm im Augenblick die Frau, die ihm nun gegenübersaß. Offenbar hielt sie ihn auch für einen Unmenschen. Oder warum sonst führte sie sich derart auf?

„Sie denken also, ich behandle andere Menschen schlecht?“, hakte er nach. „Weil diese Frau vorhin aus meinem Büro gelaufen ist?“

„Sie lief nicht einfach nur aus Ihrem Büro, sie stürmte weinend nach draußen“, gab sie zurück. „Aber das meinte ich gar nicht.“

„Sondern?“

„Ich spreche davon, dass Sie offenbar Gefallen daran finden, meine Familie zu ruinieren.“

„Ihre Familie?“ Er legte die Stirn in Falten. Dann war sie also tatsächlich nicht wegen der Stellenausschreibung hier. Er beugte sich zu ihr vor und blickte ihr direkt in die Augen. „Wer, zum Teufel, sind Sie überhaupt?“

Ein Räuspern. Dann: „Mein Name ist Adrienne Diderot. Ich bin die Tochter von Jean-Michel Diderot.“

„Diderot …“ Er nickte. Natürlich konnte er mit dem Namen etwas anfangen. Jean-Michel Diderot war der Besitzer einer großen Reederei, die sich auf Kreuzfahrt- und Partyschiffe spezialisiert hatte. Seit sein Stiefbruder Olivier sich vor Kurzem entschlossen hatte, dass er mit Dupont International ebenfalls in diesen Geschäftszweig einsteigen wollte, waren einige Aktionen angelaufen, um die ungeliebte Konkurrenz zu schwächen. Fragend hob Lucien eine Braue. „Und was wollen Sie nun von mir?“

Ihre Augen blitzten. „Ich will, dass Sie den Versuch endlich aufgeben, die Firma meiner Familie in die Knie zu zwingen. Glauben Sie etwa, ich weiß nicht, wer dafür verantwortlich ist, dass sich die Jungfernfahrt der Silver Dawn immer weiter verzögert? Sie wissen genau, was meinen Vater jeder Tag kostet, den das Schiff im Hafen liegt, nicht wahr? Sie wissen es – und nutzen dieses Wissen für Ihre Zwecke. Und wenn wir am Ende vor dem Bankrott stehen, kommen Sie vermutlich mit einem lächerlichen Übernahmeangebot daher. Genauso gehen doch Haifische wie Sie vor, oder?“

Er lächelte. Alles, was sie gesagt hatte, traf zu. Und es zeigte ihm, dass sie nicht nur blitzgescheit war, sondern auch komplizierte Zusammenhänge erkennen konnte. Und das machte sie genau zu der Person, die er brauchte.

Aber … nein, das war natürlich unmöglich.

„Haben Sie gar nichts dazu zu sagen?“, hakte sie nach.

Er zuckte lediglich mit den Schultern. Irritierenderweise wusste er im Augenblick tatsächlich nicht, was er sagen sollte.

„Hören Sie“, fuhr sie fort. „Es mag sein, dass Sie denken, mir würde es nur ums Geld gehen. Aber so ist das nicht. Auch mein Vater hat Angestellte. Sicher nicht so viele wie Sie, aber es sind Menschen, die Familien zu ernähren haben. Menschen, die hart arbeiten, um über die Runden zu kommen und viel für das Unternehmen meines Vaters getan haben. Es kann doch unmöglich in Ihrem Interesse sein, die Existenz dieser Menschen zu zerstören.“

„Und woher wollen Sie das so genau wissen? Ich kenne diese Menschen schließlich nicht. Was also sollte mich deren Schicksal kümmern?“

„Was? Ich …“ Sie starrte ihn ungläubig an. „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Sie sind Unternehmer, und Ihre Aufgabe ist es …“

„Geld zu verdienen. Um die Existenzen meiner Angestellten zu sichern.“ Er stockte kurz. Was tat er hier eigentlich? Er sollte diese Frau auf der Stelle fortschicken und sich nicht auf dieses Spiel einlassen. Doch aus irgendeinem Grund konnte er nicht anders. „Sehen Sie, wenn ein Unternehmen wie meines so denken würde, wie Sie es gern hätten, gäbe es dieses Unternehmen nicht mehr lange. Es würde sich schlicht und ergreifend selbst zerstören.“

Sie schüttelte den Kopf. „Mir ist natürlich vollkommen klar, dass jedes Unternehmen wirtschaftlich denken muss. Das muss jeder Selbstständige, ob Ein-Mann-Betrieb oder Milliardenkonzern. Aber deshalb braucht niemand über Leichen zu gehen. Zumal genau das ebenso ein Grund für das Aus eines Betriebs sein könnte.“

„Über Leichen zu gehen?“

„Aber natürlich! Haben Sie sich denn noch nie vor Augen geführt, wie negativ sich schlechte Publicity auf eine Firma auswirken kann?“

Sie war auf Zack, das musste man ihr lassen. Und der Plan, der die ganze Zeit über schon in Luciens Kopf reifte, wurde von Minute zu Minute konkreter. Doch da war immer noch diese innere Stimme, die ihm riet, diese Frau auf der Stelle zum Teufel zu jagen. Nicht nur, weil Adrienne Diderot bestimmt nicht die richtige Partnerin für sein Vorhaben sein konnte, sondern vor allem, weil sein Körper viel zu intensiv auf diese Frau reagierte. Und er hatte sich nun mal vorgenommen, von Frauen vorerst die Finger zu lassen. Nach der Sache mit Christine wollte er nicht noch einmal ein Risiko eingehen. Olivier würde nicht davor zurückschrecken, dasselbe schäbige Spiel noch einmal zu spielen …

„Sie sagen ja gar nichts“, stellte sie fest und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Ich werde Sie doch nicht zum Nachdenken gebracht haben?“

Er räusperte sich. „Ich habe nur überlegt, ob Sie mir soeben gedroht haben, für schlechte Publicity zu sorgen, wenn ich weiter meine Arbeit tue.“

„Aber ich bitte Sie, davon kann doch gar keine Rede sein. Wie sollte eine Frau wie ich einem so mächtigen Mann drohen?“ Sie winkte ab. „Nein, nein. Ich wollte lediglich verdeutlichen, dass es heutzutage einfach nicht gut ankommt, wenn eine Firma sich nicht menschlich verhält. Und in diesem speziellen Fall geht es ja nicht nur um die Angestellten meines Vaters.“

„Sondern?“

„Um das zu verstehen, müssen Sie wissen, dass meine Mutter vor Jahren aus Prestigegründen ein gemeinnütziges Projekt für arme Kinder ins Leben gerufen hat, deren Eltern sich keine Urlaubsreise leisten können und für die Ferien an der Mittelmeerküste ausgerichtet werden.“

„Davon habe ich gehört.“ Lucien nickte. „Aber wenn ich recht informiert bin, sammelt Ihre Mutter dafür Spenden anderer reicher Leute.“

„Das stimmt. Aber das ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Denn den Großteil des Geldes, das dafür benötigt wird, bringen meine Eltern selbst auf. Aus eigener Tasche, weil es einfach zum guten Ton gehört, soziale Projekte zu unterstützen. Dieses Geld fiele also weg, sobald meine Eltern ruiniert sind.“ Sie sah ihn forschend an. „Und außerdem: Sie glauben doch nicht wirklich, dass Menschen wie Sie meinen Eltern noch Geld für ihr Projekt spenden würden, wenn bekannt wäre, dass diese selbst verarmt sind, oder?“

Da war es wieder: Menschen wie Sie. Lucien unterdrückte ein Schnauben. Was bildete diese Frau sich eigentlich ein, ihn mit irgendwelchen anderen Menschen zu vergleichen? „Das kann ich nicht beurteilen“, antwortete er. „Sie wollen mir also sagen, dass es sich für dieses Unternehmen nachteilig auswirken könnte, wenn es den Plänen Ihrer Eltern im Wege steht?“

„So in etwa.“

Er schwieg einen Moment. Um den Eindruck zu erwecken, als würde er über etwas nachdenken. Dabei hatte er seinen Entschluss längst gefällt. Aber es gefiel ihm, dabei zuzusehen, wie Adriennes Mundwinkel immer wieder nervös zuckten. Und dann die feinen Schweißperlen, die sich auf ihrer Stirn bildeten …

„Also gut“, sagte er schließlich. „In Ordnung.“

Sie riss erstaunt die Augen auf. „In Ordnung? Heißt das, Sie lassen die Firma meines Vaters künftig in Ruhe?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. Und noch ehe er sich wirklich über die Folgen dessen, was er nun sagte, im Klaren war, fügte er hinzu: „Das bedeutet, dass Sie den Job haben. Ich will Sie als meine persönliche Juristin – ab morgen!“

„Sie bieten mir einen Job an?“ Adrienne konnte es nicht fassen. Ungläubig starrte sie Lucien Dupont an. Was stimmte mit diesem Mann nicht? Hatte er den Verstand verloren, oder machte er sich einfach nur lustig über sie? „Ich sagte Ihnen doch schon – unter keinen Umständen würde ich jemals für Sie arbeiten. Wie kommen Sie also dazu, mir eine Stelle anzubieten?“

Er zuckte gelassen mit den Schultern. „Weil ich sicher bin, dass sich Ihre Meinung recht schnell ändern wird.“

„Ach, tatsächlich?“, gab sie, nun angriffslustig geworden, bissig zurück. „Und wie kommen Sie zu dieser Annahme?“

„Weil ich weiß, was Sie wollen.“

„Und das wäre?“

„Geld. Alles, was Sie wollen, ist Geld, um die Firma ihres Vaters zu retten. Aber keine Sorge, das macht Sie nicht zu einem schlechten Menschen. Den meisten Leuten ergeht es da ganz ähnlich.“

„Vor allem Ihnen, nicht wahr?“ Adrienne spürte, wie die Wut, die sie schon die ganze Zeit über verspürte, weiter an Stärke gewann. Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein? Ausgerechnet! Sie holte tief Luft. „Wahrscheinlich wollen Sie mir jetzt auch noch weismachen, dass Sie nicht habgierig sind? Sie, der, ohne mit der Wimper zu zucken, andere Existenzen zerstört, bloß um an sein Ziel zu gelangen.“

„Über meine Ziele und mein diesbezügliches Vorgehen können Sie sich ja ab morgen ein Bild machen.“

„Wie ich schon sagte: Ich werde Ihr Angebot nicht annehmen.“

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte. „Ich glaube, wir haben uns nicht recht verstanden. Ich habe Ihnen keineswegs ein Angebot unterbreitet.“

„Sondern?“

Er breitete die Arme aus. „Ich sagte, dass Sie den Job haben und ab morgen für mich arbeiten. Das war eine Feststellung, kein Angebot.“

„Sie machen wohl Witze!“ Adrienne konnte ein lautes Auflachen nicht unterdrücken. „Wie kommen Sie auf die absurde Idee, dass Sie einfach über mich verfügen können? Mag sein, dass Sie bei anderen Menschen mit so etwas durchkommen – bei mir sind Sie damit jedenfalls an der falschen Adresse.“

Er schien ihre Antwort gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen riss er einen Notizzettel von einem Block ab und schrieb mit einem goldenen Kugelschreiber etwas darauf. Dann schob er ihr den Zettel zu.

Sie nahm ihn auf und las.

Chez Fabienne. Heute, 19:30 Uhr.

Sie blinzelte. „Was soll das sein?“

„Mein Stammrestaurant. Dort treffe ich mich stets mit meinen Geschäftspartnern, um Verträge abzuschließen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch zu tun.“

„Aber ich …“

„Non!“ Er hob eine Hand. „Keine Diskussion mehr. Ich sagte, ich habe noch zu tun. Also gehen Sie jetzt, bitte. Oder muss ich erst den Sicherheitsdienst rufen?“

Verblüfft starrte Adrienne ihn an. Drohte er ihr gerade allen Ernstes damit, sie hinauswerfen zu lassen? Störrisch verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Das würden Sie nicht …“

Noch ehe sie ihren Satz zu Ende sprechen konnte, griff er zum Telefon und drückte eine Taste.

„Warten Sie!“ Adrienne sprang auf. „Sparen Sie sich die Mühe“, sagte sie und ging zur Tür. Dort angelangt, drehte sie sich noch einmal um und funkelte ihn ärgerlich an. „Aber eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Ich werde ganz bestimmt nicht kommen. Sie können Ihr Essen also allein genießen.“

Mit diesen Worten wirbelte sie herum und verließ erhobenen Hauptes das Büro. Vorbei an der blonden Empfangsdame und den anderen, noch immer wartenden Bewerbern.

Sobald sie jedoch ins Freie trat, ließ sie die Schultern hängen. Gleichzeitig spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Wie hatte das Treffen mit Lucien Dupont nur so schrecklich schieflaufen können? Sie hatte doch nur eines gewollt: ihn irgendwie dazu bringen, die Reederei ihres Vaters in Ruhe zu lassen.

Sie atmete tief durch, umrundete das Gebäude und betrat den dahinterliegenden Parkplatz. Als sie kurz darauf in den Wagen ihres Vaters stieg, den sie sich für heute geliehen hatte, fühlte sie sich erschöpft und mutlos wie schon lange nicht mehr. Es kostete sie Kraft, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken und den Motor zu starten.

Sie fuhr los, und schon kurz nachdem sie die mit einer Schranke versehene Einfahrt passiert hatte, eröffnete sich ihr die ganze Pracht Monte Carlos: strahlend weiße Gebäude, Palmen, die die Straße säumten, und Casinos, vor denen elegante Limousinen vorfuhren. Die Schönen und Reichen schlenderten durch die gepflegten Parks und die Boutiquen entlang der Avenue Princesse Grace.

Doch genießen konnte sie den Anblick nicht. Dazu ging ihr zu viel im Kopf herum.

Es war nun acht Jahre her, seit sie Monte Carlo verlassen hatte, um in London Jura zu studieren. Ihr Vater war von ihrem Entschluss alles andere als angetan gewesen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie hierbleiben, einen reichen Mann heiraten und ihr Leben in dessen Hände legen sollen.

So wie ihre Mutter es getan hatte.

Beim Gedanken an ihre Mutter atmete Adrienne scharf ein. Madeleine Diderot war wahrscheinlich der Hauptgrund für ihren Weggang damals gewesen. Immerzu mit anzusehen, wie die eigene Mutter nur in den Tag hineinlebte und sich für nichts anderes als ihren Golfclub und Cocktailpartys begeistern konnte, war für Adrienne eine Qual gewesen. Die Stiftung war für sie nur ein Mittel zum Zweck, denn echtes soziales Engagement konnte Madeleine Diderot nicht wirklich verstehen. Deshalb hatte Adrienne beschlossen, sich so früh wie möglich abzunabeln. Sie wollte etwas aus ihrem Leben machen, etwas bewegen. So kam es, dass sie nach London ging, um Jura zu studieren. Um als Anwältin in Not geratenen Menschen zu helfen.

Das alles mochten Gründe für ihren Entschluss gewesen sein, fortzugehen. Der Auslöser jedoch war ein anderer gewesen. Und auch da hatte ihre Mutter eine große Rolle gespielt, ebenso wie ihr Vater.

Und noch eine weitere Person.

Gerald …

Der Mann, den sie zu lieben geglaubt hatte. Und von dem sie am Ende bitter enttäuscht worden war …

Energisch schüttelte sie den unbequemen Gedanken ab.

Während der Zeit ihres Studiums hatte sie bewusst kein Geld von ihrem Vater angenommen, sondern sich mit Hilfsjobs über Wasser gehalten. In Pubs oder Pizza-Restaurants und zuletzt als Callcenter-Agentin. Anfangs war das für sie, die von klein auf Luxus gewohnt war, schwer und auch irritierend gewesen. Ihr komplettes Apartment, das sie sich noch dazu mit einer Mitbewohnerin teilte, war kleiner als ihr Zimmer in der Villa ihrer Eltern! Und für einen mickrigen Stundenlohn hart zu arbeiten und nicht einfach alles, was sie brauchte, von ihrem Vater zu bekommen hatte ebenfalls eine Umgewöhnung bedeutet.

Aber sie hatte sich durchgeschlagen, und schon nach kurzer Zeit fühlte sie sich trotz allem glücklicher als je zuvor. Sie leistete etwas, war auf niemanden angewiesen und konnte ihr Leben so leben, wie sie es wollte.

Von Anfang an hatte sie ihre knappe Freizeit genutzt, um sich sozial zu engagieren. Sie hatte freiwillig bei Armenspeisungen geholfen, Spenden für Jugendeinrichtungen gesammelt und war mit Hunden aus dem Tierheim spazieren gegangen.

Schließlich, vor etwas über einem Jahr, hatte sie Bella kennengelernt. Die quirlige Fünfundzwanzigjährige hatte sich als ihre Mitbewohnerin beworben, nachdem die Frau, mit der Adrienne zuvor zusammengewohnt hatte, aus beruflichen Gründen weggezogen war. Die zwei hatten sich sofort miteinander angefreundet, waren einfach auf einer Wellenlänge. Und als Adrienne erfuhr, dass Bella für Good Deeds arbeitete, war für sie klar gewesen, dass sie genau das ebenfalls wollte.

Nach ihrem großen Erfolg in der Superstore-Sache hatte sie nun eigentlich vorgehabt, den nächsten großen Coup zu starten.

Doch dann war der Anruf ihres Vaters gekommen, und Adrienne musste all ihre Pläne erst einmal über Bord werfen.

Sie wusste, Bella hatte das zunächst nicht ganz verstanden. Adrienne hatte ihr immerhin erklärt, wie angespannt das Verhältnis zu ihrer Familie war. In den ganzen Jahren war Adrienne nicht ein einziges Mal in Monaco gewesen, hatte lediglich telefonisch Kontakt gehalten, und das auch eher sporadisch. Doch eines war ihr immer klar gewesen: Sollte ihre Familie sie einmal wirklich brauchen und um Hilfe bitten, würde sie keine Sekunde zögern. Wie sollte sie auch? Wenn ausgerechnet sie, die sich für in Not geratene Menschen einsetzen wollte, ihre eigene Familie im Stich ließ, wäre ihre Glaubwürdigkeit doch keinen Penny wert!

Das hatte schließlich auch Bella eingesehen und die Freundin und Mitbewohnerin schweren Herzens ziehen lassen.

Noch am Abend war Adrienne in den Flieger gestiegen. Die ganze Reise über hatte sie nur an ihre Mutter denken können und daran, in welcher Verfassung sie sich wohl gerade befand.

Ihr Vater hatte am Telefon nichts Genaues gesagt. Nur dass bei einer Routineuntersuchung ein Tumor festgestellt worden war. Am Abend, als sie ihrem Vater in der heimischen Küche gegenübersaß, hatte Adrienne schließlich erfahren, dass es sich um Krebs handelte. Der Tumor war sehr groß, sodass augenblicklich nicht operiert werden konnte. Daher hatten die Ärzte sich zu einer Chemotherapie entschlossen, mit dem Ziel, den Tumor zunächst einmal zu verkleinern.

Die Therapie hatte bereits begonnen und schien anzuschlagen. Eine gute Nachricht, wie Adrienne fand. Auf den Anblick, der sie am nächsten Tag erwartete, als sie ihre Mutter im Krankenhaus besuchte, war sie jedoch nicht gefasst gewesen. Vor ihr im Bett hatte eine schwache, blasse und hilflose Frau gelegen.

Fast überhaupt nichts erinnerte Adrienne noch an die herrische, kühle Person, die sie noch aus ihrer Kindheit und Jugend kannte. Madeleine Diderot war nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Sie war immer eine starke Frau gewesen. Unnachgiebig und von sich selbst überzeugt, aber auch arrogant und hochmütig. Partys, Empfänge, Shopping – all das war ihr Lebensinhalt gewesen. Immer fest davon überzeugt, dass eine Frau nichts weiter tun musste, als einen vermögenden Mann zu heiraten. Und in dieser Hinsicht hatte sie in Adriennes Vater tatsächlich den perfekten Partner gefunden, denn er vertrat ganz ähnlich antiquierte Ansichten.

Das war der Grund, warum Adrienne sich entschlossen hatte, sich für wohltätige Zwecke einzusetzen. Um sich von ihrer Mutter abzuheben. Auf keinen Fall wollte sie mit ihr in einen Topf geworfen werden.

Zwar unterstützte Madeleine Diderot ebenfalls eine wohltätige Stiftung, doch ging es ihr dabei vor allem um Prestige. Was aus den Menschen wurde, die sie förderte, interessierte sie nicht im Geringsten.

Als junges Mädchen hatte Adrienne noch alles getan, um von ihrem Vater und ihrer Mutter anerkannt zu werden. Erst im Laufe der Zeit war ihr klar geworden, dass sie ihren Ansprüchen niemals genügen würde – und dass sie es auch gar nicht wollte. Ihre Mutter jetzt jedoch so zu sehen hatte ihr einen Schock versetzt.

Gesprochen hatten sie kaum ein Wort miteinander, und in diesem Augenblick war Adrienne klar geworden, wie tief die Kluft zwischen ihnen wirklich war. Aus Mutter und Tochter waren Fremde geworden. Und Madeleine Diderot hatte nicht einmal gewirkt, als würde sie sich darüber freuen, dass ihre Tochter gekommen war …

Als Adrienne sich später am Tag mit ihrem Vater unterhielt, eröffnete der ihr, dass nicht nur die Krankheit ihrer Mutter der Familie Sorgen bereitete. Zu ihrer völligen Überraschung befand sich das Familienunternehmen, um das es immer glänzend bestellt gewesen war, nämlich plötzlich in ernsthaften Schwierigkeiten.

Und Schuld daran trug ausgerechnet die Firma eines Emporkömmlings namens Dupont, der, als ob das nicht bereits schlimm genug wäre, auch noch Franzose war.

So hatte ihr Vater sich ausgedrückt, und es war typisch für Adriennes Familie, solche Dinge wichtig zu nehmen. Als wäre es von Bedeutung, aus welchen Verhältnissen oder welchem Land die Person stammte, die einem Schwierigkeiten bereitete!

Doch in ihrer grenzenlosen Vornehmtuerei betrachteten die Diderots – ebenso wie viele ihrer Bekannten und Freunde – nur echte Monegassen als mögliche Konkurrenz. Vermutlich hatten sie auch deshalb erst zu spät realisiert, welche Gefahr ihnen drohte.

Und dass es der Reederei ihrer Familie wirklich schlecht ging, hätte ihrem Vater ebenso gut auch auf die Stirn geschrieben stehen können. Adrienne sah es an seiner gebeugten Haltung, seinem leeren Blick und der Art und Weise, wie er beim Sprechen die Schultern hängen ließ.

Es stand nicht gut um die Zukunft des Unternehmens. Fast das gesamte flüssige Kapital steckte in der Silver Dawn, einem modernen neuen Kreuzfahrtschiff, dessen Jungfernfahrt endlich wieder Geld in die leeren Kassen hätte schwämmen sollen.

Das Problem war nur, dass eben diese Jungfernfahrt sich immer wieder verzögerte. Aufgrund von Behördeneinwänden, fehlenden Genehmigungen, Lieferschwierigkeiten … Nur ein Narr vermochte noch daran zu glauben, dass all diese Stolpersteine durch einen Zufall so gehäuft auftraten. Doch Adriennes Vater war kein Narr, auch wenn er die drohende Gefahr zunächst nicht erkannt hatte.

Dass ein Mann wie Dupont die Firma in ernsthafte Schwierigkeiten bringen konnte, war für ihn sicher eine Überraschung, ja, eine Demütigung gewesen. Doch Jean-Michel Diderot gehörte eigentlich nicht zu den Menschen, die sich von einem Rückschlag gleich aus der Bahn werfen ließen. Umso mehr erstaunte es Adrienne, dass ihr Vater so mitgenommen wirkte. Das war an sich gar nicht seine Art. Und genau das sorgte sie.

Ganz gleich, wie ihr Verhältnis zu ihren Eltern auch sein mochte, sie wollte nicht, dass das familieneigene Unternehmen zerstört wurde. Zu gut wusste sie, dass das alles nicht nur irgendeine Möglichkeit für ihren Vater war, Geld zu verdienen. Nein, CCD – die Compagnie de Croisière Diderot – war sein Lebensinhalt. Er hatte sich alles von Grund auf aufgebaut, sich hochgearbeitet, die Reederei nach ganz oben gebracht. Was er da geschaffen hatte, war für ihn gewissermaßen so etwas wie ein einziges großes Schiff. Und würde dieses Schiff untergehen, würde er mit ihm im Meer versinken …

Sie wusste das, und deshalb wollte sie ihren Teil dazu beitragen, ihm zu helfen. Die Frage war bloß: Sollte sie dafür so weit gehen und Lucien Duponts Angebot annehmen? Sollte sie für den Feind der Familie arbeiten, um CCD zu retten? Immerhin hatte Lucien ihr versprochen, dass seine Firma sie in Zukunft in Ruhe lassen würde, wenn sie tat, was er verlangte. Konnte das überhaupt der richtige Weg sein? Und was würde ihr Vater dazu sagen?

Adrienne wusste es nicht. Aber sie wusste, dass sie schnellstens Antworten auf ihre Fragen finden musste.

Genauer gesagt: bis heute Abend.

3. KAPITEL

Als Adrienne etwas später das Anwesen ihrer Familie erreichte, stellte sie den Wagen gegenüber der breiten Freitreppe ab, die zur Eingangspforte der Villa führte. Kies knirschte unter den Sohlen ihrer Ballerinas, als sie das Rondell überquerte, in dessen Zentrum sich ein von Rosenstöcken umgebener Springbrunnen befand. Sie hatte gerade den Fuß auf die unterste Stufe gesetzt, als ihr Vater nach draußen trat und auf sie zukam.

„Oh, du willst gehen?“

Er nickte. „Ich habe einen Termin bei einem Verantwortlichen der Behörden. Es geht um die Freigabe zum Auslaufen der Perle de la Méditerranée. Du weißt, wie wichtig das für uns ist, nicht wahr?“

„Natürlich, aber … Kann ich vielleicht trotzdem noch kurz mit dir reden? Ein paar Minuten nur?“

Jean-Michel Diderot seufzte. „Bien sûr, was hast du auf dem Herzen, ma fille?“

Sie holte tief Luft. „Ich war heute bei Dupont“, sagte sie, nachdem sie all ihren Mut zusammengenommen hatte.

Die Miene ihres Vaters wurde steinern. „Warum, zum Teufel …?“ Er packte Adrienne bei den Armen und schaute sie eindringlich an. „Wieso hast du das getan, ma fille? Was hast du dir davon versprochen?“

„Ich wollte an sein Gewissen appellieren“, erwiderte sie, und Jean-Michel Diderot lachte bitter auf.

„Ich hätte dir gleich sagen können, dass das keinen Zweck hat.“ Er schüttelte den Kopf. „Bei einem Mann ohne Gewissen … Die Duponts sind eine skrupellose Sippschaft – einer ehrloser als der andere. Aber was erwartet man auch anderes von solchen Emporkömmlingen?“

Adrienne verzog das Gesicht. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihre Eltern sich wie ausgemachte Snobs benahmen – was leider fast immer der Fall war. Doch sie musste ihrem Vater in einem Punkt recht geben: Ihr Besuch im Firmenhauptsitz der Groupe d’entreprises Dupont – der Unternehmensgruppe der Duponts – hatte tatsächlich nichts gebracht.

Oder zumindest nicht viel. Ein Jobangebot von einem der Juniorchefs des Unternehmens konnte man schwerlich als Nichts bezeichnen.

„Lucien Dupont will mich als Anwältin engagieren“, ließ sie die Bombe platzen.

Ihr Vater riss die Augen auf. „Ich habe mich wohl verhört! Du willst für diesen französischen Nichtsnutz arbeiten, der wie sein Bruder alles daransetzt, deine Familie in den Ruin zu treiben?“

Ärgerlich runzelte Adrienne die Stirn. „Von wollen kann gar nicht die Rede sein. Aber vielleicht ist das eine Chance, ihn dazu zu bringen, die Attacken gegen die Compagnie de Croisière Diderot einzustellen.“

„Das glaubst du doch selbst nicht, ma fille! So weit kommt es noch, dass meine Tochter sich auf so etwas einlässt!“ Grimmig ballte er die Hände zu Fäusten. „Das haben wir nicht nötig! Ich bin in Monaco ein einflussreicher Mann. Ich bräuchte nur mit den Fingern zu schnippen, und …“

„Ach, tatsächlich?“, unterbrach sie ihren Vater. „Und warum hast du – habt ihr – dann all diese Probleme?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß, du willst es nicht wahrhaben, aber dein Einfluss scheint dir in diesem Fall nichts zu bringen. Und ich kann dir auch sagen, warum: weil Dupont noch einflussreicher ist als du.“

Er öffnete den Mund, um zu protestieren, überlegte es sich dann aber offenbar doch anders. Zornig wandte er den Blick ab. „Das kannst du wohl kaum beurteilen“, knurrte er. „Du bist lange nicht hier gewesen. Von unseren Problemen hast du nicht die leiseste Ahnung – also halte dich aus Dingen heraus, die dich nichts angehen.“

„Ich würde aber doch annehmen, dass mich das Schicksal der Firma etwas angeht. Immerhin bin ich ein Teil dieser Familie.“

„Das bedeutet aber nicht, dass du dich diesem Emporkömmling Dupont an den Hals werfen musst. Ich verbiete dir, dich auf ihn einzulassen, hörst du? Ich verbiete es!“

Adrienne spürte, wie Wut in ihr hochkochte. Was bildete sich ihr Vater eigentlich ein? Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein, dass sie sich zuletzt etwas von ihm hatte sagen lassen müssen. Aus dem Alter war sie nun wirklich schon lange heraus. Zudem – so, wie er und ihre Mutter sich damals vor ihrem Weggang verhalten hatten, stand keinem von ihnen das Recht zu, so mit ihr zu sprechen!

Energisch stemmte sie die Hände in die Seiten. „Ich glaube nicht, dass du mir irgendetwas verbieten kannst“, gab sie ärgerlich zurück. „Ich bin volljährig, papa, und ich arbeite für wen ich will.“

„Aber nicht für Dupont!“ Jean-Michel Diderot funkelte seine Tochter zornig an. „Das ist mein letztes Wort! Du wirst nicht für diesen Dupont arbeiten, auf gar keinen Fall!“

„Wir werden ja sehen“, entgegnete sie kühl und straffte die Schultern. „Und nun sollte ich wohl besser wieder gehen – ich habe heute Abend eine Verabredung mit Lucien Dupont. Und darauf will ich mich vorbereiten.“

Mit diesen Worten ließ sie ihren Vater einfach stehen und ging ins Haus. Als sie vor einer Woche nach Monaco kam, hatte sie gehofft, dass die Dinge sich in der Zeit, die sie nicht zu Hause gewesen war, beruhigt hatten. Sie selbst war durchaus bereit dazu gewesen, die Sache von damals zumindest nicht mehr so streng zu betrachten.

Den Verrat …

Nichts anderes war es für sie gewesen. Ihre Eltern hatten etwas getan, was eigentlich unverzeihlich war. Und dennoch konnte Adrienne sich heute vorstellen, es ihnen nicht mehr nachzutragen. Wobei sie zugeben musste, dass das im Grunde nur an der schweren Erkrankung ihrer Mutter lag. Und daran, dass auch ihr Vater so viele Probleme hatte. Und irgendwie hatte sie wohl auch gehofft, dass ihre Eltern nicht mehr so waren wie früher. Dass die Zeit auch bei ihnen nicht stehen geblieben war.

Nun, ihre Mutter schien sich jedenfalls, trotz ihrer Krankheit, kein bisschen verändert zu haben und vor allem – was noch schlimmer war – keinerlei Interesse an der Anwesenheit ihrer Tochter zu haben. Seit Adrienne sie vor einer Woche das erste Mal besucht hatte, fuhr sie jeden Tag ins Krankenhaus. Doch kein einziges Mal hatte sich auch nur der Anflug eines Lächelns auf ihre Lippen gelegt. Kaum ein Wort sprach Madeleine Diderot mit ihrer Tochter. Sicher, Adrienne wusste, dass es ihr nicht gut ging. Aber sie versuchte, für ihre Mutter da zu sein, ihr in dieser schweren Zeit zu helfen.

Adriennes Gedankengang wurde unterbrochen, als es an der Tür klopfte.

„Oui?“

Die Tür öffnete sich, und eine ältere, leicht füllige Frau mit ergrautem lockigem Haar trat ein. Sofort legte sich ein Lächeln auf Adriennes Gesicht. „Gabrielle!“, sagte sie. „Komm nur herein! Was gibt es denn?“

Gabrielle war schon früher die gute Seele des Hauses gewesen. Mehr noch: Als Kind hatte Adrienne in der Hausangestellten immer so etwas wie eine Ersatzmutter gesehen. Während ihre wirkliche Mutter ihre Zeit mit Nichtstun verbracht oder sich auf Empfängen und Partys herumgetrieben hatte, war Gabrielle stets für sie da gewesen. Hatte für sie gekocht, mit ihr gespielt und Ausflüge unternommen. Später, als Teenager, hatte Adrienne mit all ihren Sorgen und Nöten zu ihr kommen können. Und als sie nach London gegangen war, hatte sie Gabrielle mehr vermisst als ihre eigenen Eltern …

Adrienne spürte, wie sie bei dem Gedanken ein kurzer Anflug von Traurigkeit überkam, der aber rasch verflog, als Gabrielle nun näher trat.

„Ich habe vom Fenster aus gesehen, wie dein Vater und du geredet habt“, sagte die ältere Monegassin, und ihr Blick wirkte leicht besorgt, als sie sich auf Adriennes Schreibtischstuhl setzte und ihr in die Augen blickte. „Es sah nach einem Streit aus.“

„Nein, kein Streit.“ Adrienne schüttelte den Kopf. „So würde ich es zumindest nicht bezeichnen. Aber du kennst ja meinen Vater. Er ist starrköpfig und lässt nicht mit sich reden, wenn er einmal von etwas überzeugt ist.“

„Genau wie seine Tochter.“ Gabrielle lächelte milde. „Du bist auch nicht anders, weißt du das?“

Adrienne blinzelte. „So siehst du mich?“, fragte sie ein wenig überrascht. Sie war doch nicht wie ihr Vater!

Aber Gabrielle sah das offenbar ein bisschen anders. „Du ähnelst deinem Vater in so mancher Hinsicht“, sagte sie. „Einerseits bist du zwar völlig anders, aber andererseits …“

„Ja?“

„Erinnerst du dich, wie du damals nach London gegangen bist? Da hast du auch nicht mit dir reden lassen, obwohl deine Eltern und auch ich alles andere als angetan davon waren.“

„Aber du warst doch nicht dagegen“, warf Adrienne ein.

„Das nicht. Ich fand schon, dass du deinen eigenen Weg gehen musst. Aber ich hatte damals den Eindruck, dass du dies ein wenig überstürzt getan hast. Nach der Sache mit diesem jungen Mann …“

„Gerald.“ Adrienne nickte düster, als sie seinen Namen aussprach. Seit sie wieder in Monaco war, musste sie ständig an die Sache denken, die sie doch eigentlich so gut verdrängt zu haben glaubte. Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hast du recht“, gestand sie ein. „Vielleicht bin ich ebenso dickköpfig und stur wie mein Vater. Aber es war kein Fehler, damals fortzugehen. Ich hatte meine Gründe. Gründe, die du nicht kennst. Und ich habe mein Leben so gelebt, wie ich es für richtig hielt. Und zurückgekommen bin ich nur, weil ich helfen möchte.“

„Das weiß ich, ma belle.“ Die ältere Frau nickte. „Und ich weiß auch, dass deine Eltern dir sehr dankbar dafür sind, dass du dich sofort auf den Weg gemacht hast.“

Adrienne lachte bitter auf. „Den Eindruck habe ich aber nicht gerade! Weißt du eigentlich, dass meine Mutter sich total abweisend verhält, jedes Mal, wenn ich sie besuche? Dabei bin ich doch nur ihretwegen hier!“

Gabrielle stand auf, kam auf sie zu und strich ihr sanft übers Haar – eine Geste, die Adrienne unwillkürlich an früher erinnerte und ein Gefühl der Sehnsucht in ihr aufsteigen ließ. „Gib deiner Mutter ein wenig Zeit, ma belle. Sie macht schwere Zeiten durch.“

Adrienne nickte stumm.

„Und was deinen Vater angeht“, fuhr Gabrielle fort. „Was immer ihr auch für Differenzen haben mögt: Du musst tun, was du für richtig hältst. Hör auf dein Herz, und alles wird gut …“

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verließ das Zimmer.

Hör auf dein Herz, und alles wird gut …

Das hatte Gabrielle schon früher immer gesagt, und es klang so richtig. Das Problem war nur, dass Adrienne viel zu oft einfach nicht verstand, was ihr Herz ihr sagen wollte. Und zwar dummerweise immer dann, wenn es in irgendeiner Form um ihre Eltern ging.

Jetzt aber wusste sie auch nicht, wie sie sich in Bezug auf das Treffen heute Abend verhalten sollte. Sie hatte ihrem Vater vorhin gesagt, dass sie dorthin gehen würde. Sie hatte es vor allem aus Trotz getan. Aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass dies nicht der einzige Grund war. Nein, es gab noch etwas anderes, das sie dazu trieb. Etwas, das sie selbst nicht recht verstand. Das eigentlich nicht sein konnte, nicht sein durfte. Und das betraf Lucien Dupont selbst.

Sie wollte ihn wiedersehen. Unbedingt.

Adrienne war in ihrem Leben schon in vielen schicken Restaurants gewesen. Früher, zusammen mit ihren Eltern. Doch das Chez Fabienne übertraf ihre kühnsten Erwartungen.

Es schien ein relativ neues Restaurant zu sein und war ganz in der Nähe des mondänen Jachthafens von Monte Carlo gelegen. Glas und polierter Stahl dominierten die Inneneinrichtung des Lokals. Trotz der Schmucklosigkeit wirkte alles sehr luxuriös. Die wahre Exklusivität spiegelte sich jedoch vor allem in der Tatsache wider, dass es gerade einmal etwas mehr als ein Dutzend Tische gab. Hier wurden die Umsätze nicht über Quantität gemacht, wie Adrienne vermutete.

Dieser Eindruck bestätigte sich, als sie das Klientel des Chez Fabienne einer genauen Musterung unterzog. Einige Gesichter waren ihr noch von früher bekannt, bei anderen handelte es sich um solche Neureiche, die ihre Eltern so verachteten.

Der Ober begrüßte sie mit einem zurückhaltenden Lächeln und führte sie in den hinteren Teil des Restaurants, vorbei an den anderen Gästen, die sie kritisch musterten. Adrienne schluckte. Sie trug ihren üblichen Business-Dress, einen schwarzen Bleistiftrock, der ihr bis knapp über die Knie reichte, einen schmal geschnittenen, ebenfalls schwarzen Blazer und eine weiße Bluse. Aber auch wenn das Kostüm aus der gehobenen Kollektion von Marks & Spencer stammte – es konnte bei Weitem nicht mit den maßgeschneiderten Ensembles mithalten, die hier zur Schau getragen wurden.

Kleidung ist nicht wichtig, sagte sie zu sich selbst. Sie hatte nach ihrem Studium gleich darauf bestanden, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Obwohl ihre Eltern nicht dafür gewesen waren, dass sie nach London ging, hatten sie ihr doch sofort angeboten, sie zu unterstützen, doch das wollte sie nicht. Wenn sie nicht werden wollte wie sie, dann musste sie es allein schaffen, hatte sie sich gesagt. Und dieses Vorhaben auch all die Jahre über durchgehalten.

Sie erreichten ein kleines Separee. Lucien wartete bereits an einem Tisch für zwei, auf dem eine Flasche Champagner in einem Kübel und zwei Gläser standen. Er war mit seinem Smartphone beschäftigt und blickte nicht einmal auf, als Adrienne näher kam. Unsicher räusperte sie sich, aber da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, schwieg sie einfach. Der Ober rückte ihr den Stuhl zurecht, sie nahm Platz, und Lucien bedeutete dem Mann mit einer Handbewegung, sich zurückzuziehen.

„Ich wusste, dass Sie kommen würden“, sagte Lucien und blickte weiterhin nicht auf. „Sie haben es sich also doch anders überlegt.“ Er ließ das Smartphone in der Innentasche seines Jacketts verschwinden und sah Adrienne an. „Eine kluge Entscheidung.“

„Ich …“ Sie schluckte. Luciens Blick nahm sie gefangen. Diese Augen … Sie hatte das Gefühl, in ihnen versinken zu müssen. Rasch sah sie zur Seite und starrte stattdessen lieber die Champagnerflasche an. Dom Pérignon, was sonst? „Ich wollte nur noch einmal mit Ihnen sprechen“, sagte sie hastig.

„Ich wüsste nicht, was wir zu bereden haben sollten. Ich habe Ihnen doch klar und deutlich zu verstehen gegeben, was ich von Ihnen will.“

„Aber … Ich …“ Adrienne atmete tief durch. Sie ärgerte sich über sich selbst. Was war bloß mit ihr los? Normalerweise war sie gut darin, Verhandlungen zu führen und andere Leute von ihren Ansichten zu überzeugen. Das war ihre Stärke. Eine Stärke, mit der es ihr gelungen war, zuletzt sogar die Verantwortlichen von Superstore dazu zu bringen, künftig auf die Produkte von B & B zu verzichten. Doch ausgerechnet jetzt, wo es um die Belange ihrer eigenen Familie ging, versagte sie.

Und das lag ganz eindeutig an Lucien Dupont selbst.

Weiterhin auf die Champagnerflasche starrend versuchte sie, wieder sie selbst zu werden. „Ich bin aber keine Ihrer Marionetten“, sagte sie schließlich. „Ich habe nicht vor, irgendwelche Befehle von Ihnen anzunehmen. Ich …“

„Haben Sie Durst?“, unterbrach er sie schmunzelnd.

Sie blinzelte. „Was?“

„Der Champagner.“ Er deutete auf die Flasche. „Sie starren ihn die ganze Zeit an. Aber ich vergaß. So etwas kann sich Ihre Familie sicher nicht mehr lange leisten, und Sie möchten bestimmt gern noch einmal in den Genuss kommen.“ Er nahm die Flasche aus dem Kübel und schenkte beide Gläser voll. Nachdem er die Flasche wieder abgestellt hatte, schob er eines der Gläser Adrienne hin.

Die wehrte mit einer Handbewegung ab. „Ich bin ganz bestimmt nicht auf Ihren Champagner angewiesen“, erklärte sie. „Wenn ich welchen will, kaufe ich ihn mir selbst. So schlecht geht es meiner Familie nämlich noch lange nicht.“

Er zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck. „Nun erzählen Sie mal: Warum wollen Sie nicht für mich arbeiten? Ich bezahle gut.“

„Um das Geld geht es mir aber nicht.“

„Ach nein? Ich dachte, Sie wollen Ihrer Familie helfen?“

„Aber nicht so!“ Sie nahm all ihren Mut zusammen und sah ihn an. Sofort spürte sie, wie ihr Herz bei seinem Anblick schneller schlug. Was war bloß mit ihr los? Sie machte eine abwinkende Handbewegung. „Mal ganz davon abgesehen, dass ein einfaches Gehalt nicht ausreichen würde, um den Betrieb meines Vaters am Laufen zu halten, wenn ihm gleichzeitig von derselben Seite – von Ihnen – weiterhin Steine in den Weg gelegt werden, könnte ich auch nicht …“

„Ja?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich sagte Ihnen doch schon: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, für einen Mann wie Sie tätig zu sein.“

Seine Züge verhärteten sich, und er kniff die Augen zusammen, während er sie musterte. „Was soll das heißen, ein Mann wie ich?“, verlangte er zu wissen.

Rasch richtete sie ihren Blick nun auf das vor ihr stehende, noch volle Glas. Zu beobachten, wie die Perlen des Champagners sanft aufstiegen, beruhigte sie aus irgendeinem Grund, und ihr wurde klar, dass sie jetzt dringend einen Schluck brauchte. Weil ihre Kehle sich so trocken anfühlte. Aber nicht nur deshalb. Nein, sie verspürte auch das dringende Bedürfnis, sich Mut anzutrinken. Um sich Lucien Dupont gegenüber nicht mehr so verflixt klein und eingeschüchtert zu fühlen.

Sie nahm das Glas, setzte es an die Lippen und trank einen Schluck. Das herrliche Prickeln auf ihrer Zunge sorgte praktisch augenblicklich dafür, dass sie etwas lockerer wurde, und sie trank weiter.

Als sie das Glas absetzte, war es fast vollständig geleert.

Sie sah Lucien wieder an, und dieses Mal war ihr Blick fest. „Ein Mann, der so skrupellos mit dem Schicksal anderer Menschen spielt“, antwortete sie.

Er hob eine Braue. „Versuchen Sie allen Ernstes, Ihre Eltern als arme unschuldige Opfer darzustellen?“ Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Es tut mir leid, aber das können Sie mir nicht erzählen.“

Ärgerlich funkelte sie ihn an, doch sie kam nicht dazu, etwas zu entgegnen, denn in diesem Moment trat der Kellner an den Tisch – zu Adriennes Überraschung –, um die Vorspeise aufzutragen. Sie konnte es nicht fassen. Lucien hatte also bereits vor ihrem Eintreffen – bevor er überhaupt sicher sein konnte, dass sie kam – für sie mitbestellt. Was bildete er sich eigentlich ein, sie so zu behandeln?

Beim Anblick des Gerichts – Barbajuans, die für Monaco so typischen frittierten gefüllten Teigtaschen – lief ihr jedoch sogleich das Wasser im Mund zusammen. Es war lange her, dass sie eine solche Köstlichkeit gegessen hatte. Um ihr hart verdientes Geld zusammenzuhalten, war sie in London nur höchst selten essen gegangen. Und wenn, dann allenfalls zum Pizza Express um die Ecke.

„Es geht mir hier weniger um meine Familie als um all die Menschen, die durch das Hilfsprojekt meiner Mutter unterstützt werden“, sagte sie, als sie wieder unter sich waren.

Er zuckte mit den Schultern, nahm seine Gabel und begann zu essen. Zwischen zwei Bissen blickte er auf und meinte: „Ich unterstütze selbst zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen – aber dazu bin ich nur in der Lage, weil ich, was geschäftliche Belange betrifft, keine Kompromisse eingehe. Nur solange ich als Unternehmer erfolgreich bin, kann ich die Mittel aufbringen, um andere zu unterstützen.“ Mit der Gabel deutete er auf ihren Teller, den sie bisher nicht angerührt hatte. „Die Barbajuans sind übrigens ganz hervorragend – eine Spezialität des Hauses, die Sie sich nicht entgehen lassen sollten.“

Sie atmete tief durch und versuchte, den köstlichen Duft zu ignorieren, der ihr in die Nase stieg. Sie musste zugeben, dass sein Argument durchaus Hand und Fuß hatte – was nicht bedeutete, dass ihr seine Methoden gefielen.

„Ich kann jedenfalls nicht für einen Mann tätig werden, der sich so rücksichtslos verhält wie Sie. Es tut mir leid“, sagte sie und machte Anstalten, sich zu erheben. „Es wird wohl besser sein, wenn ich jetzt gehe. Ich habe schon zu viel von Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch genommen.“

Er ließ die Gabel sinken, beugte sich vor und umfasste Adriennes Handgelenk. „Bitte bleiben Sie“, sagte er, als sie ihn fragend anblickte. „Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit, uns zu einigen.“

Adrienne kniff die Augen zusammen. Langsam setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl. Die Berührung seiner Hand auf ihrer Haut sandte ein eigentümliches Kribbeln durch ihren gesamten Körper. Gott, wie konnte es nur sein, dass sie so heftig auf diesen Mann reagierte? Sie verscheuchte den Gedanken und versuchte krampfhaft, sich auf das zu konzentrieren, weshalb sie hergekommen war.

„Nun“, sagte sie und sah Lucien auffordernd an, „dann legen Sie mal los.“

4. KAPITEL

Lucien spürte ihren erwartungsvollen Blick auf sich ruhen und fragte sich, ob er womöglich den Verstand verloren hatte.

Er tat ja geradezu so, als sei sie die einzige Juristin auf Erden, über die er verfügen konnte. Aber das genaue Gegenteil war der Fall! Heute Morgen hatten eine ganze Reihe Bewerberinnen vor seinem Büro auf ein Vorstellungsgespräch gewartet, und das waren längst nicht alle gewesen, die sich beworben hatten. Doch er wollte keine von denen. Sie waren alle so schrecklich steif, redeten ihm nach dem Mund und wollten sich auf Teufel komm raus von ihrer besten Seite zeigen.

Nicht so Adrienne Diderot. Sie hatte ihm von Anfang an deutlich zu verstehen gegeben, was sie von ihm hielt.

Und das war nicht besonders viel.

Es ärgerte ihn, dass sie ihn offenbar für solch einen Unmenschen hielt. Sie wusste doch überhaupt nichts über ihn, wie konnte sie sich da anmaßen, derart über ihn zu urteilen? Gleichzeitig fragte er sich, warum er darauf so reagierte. Was andere Menschen über ihn dachten, interessierte ihn doch sonst gar nicht. Warum wollte er dann unbedingt, dass sie sah, wie er wirklich war?

Doch es stimmte: Genau das war einer der Gründe, weshalb er sich in den Gedanken verrannt hatte, sie für ihn arbeiten zu lassen. Sie sollte ihn kennenlernen – und er wollte sie kennenlernen. Das war die eine Sache. Die andere Sache war, dass sie die einzige Juristin war, der er zutraute, ihm bei seinen Plänen zu helfen. Weil sie gut war.

Nach ihrem Aufeinandertreffen heute Vormittag hatte er den Rest des Tages damit verbracht, sich über Adrienne Diderot zu informieren. Nach ihrem Schulabschluss hier in Monaco war sie nach London gegangen, um dort Jura zu studieren. Über Berufserfahrung verfügte sie zwar nicht, weil sie ihr Studium erst vor Kurzem beendet hatte, aber bei seinen Recherchen war Lucien auf etwas anderes gestoßen, das sein Interesse an ihr noch steigerte: nämlich Adriennes ehrenamtliche Tätigkeiten. Sie hatte klein angefangen, aber viel geleistet. Zuletzt für die Organisation Good Deeds, und soweit Lucien in Erfahrung bringen konnte, war sie die treibende Kraft bei einem großen Coup gewesen, der vor gerade einmal einer Woche über die Bühne gegangen war. Lucien zeigte das Ganze, dass Adrienne über ein enormes Maß an Verhandlungsgeschick und Überzeugungskraft verfügte.

Und genau deshalb wollte er sie als seinen persönlichen Rechtsbeistand einstellen. Denn wenn es ihm wirklich gelingen sollte, aus dem übermächtigen Schatten seines Stiefbruders Olivier hervorzutreten, dann brauchte er jemanden, auf dessen Fähigkeiten er sich zu einhundert Prozent verlassen konnte.

Doch zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass dies nicht der einzige Grund für sein Interesse an Adrienne war. Ein weiterer Grund war sie selbst. Er hatte keine Ahnung, wie es sein konnte, aber sie hatte ihn vom ersten Moment an gefangen genommen. Ihre scheinbar unschuldige Art, das schüchterne Lächeln, die Tatsache, dass sie immer irgendwo anders hinblickte, bloß um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen, ihr leichtes Stottern, wenn sie nervös war – und gleichzeitig ihre forsche Art, wenn Worte aus ihr hervorsprudelten, die sie einfach nicht zurückhalten konnte … Lucien wusste, es war verrückt, aber diese Frau interessierte ihn augenblicklich mehr als alles andere.

Allein die Art und Weise, wie sie nun zu essen begann, brachte ihn fast um den Verstand. So heißhungrig und gleichzeitig bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen. Es war ein höchst sinnliches Erlebnis, zu beobachten, wie ihre Lippen sich um die Gabel schlossen.

Er wollte sie. Und zwar nicht nur als seine Angestellte. Er wollte sie für sich. Mit Haut und Haar.

Im selben Moment, in dem er diesen Gedanken zuließ, hätte er am liebsten laut aufgeschrien. Was war mit ihm los? War er nicht mehr Herr seiner Sinne? Wie konnte er an so etwas auch nur denken? Nach allem, was beim letzten Mal geschehen war, als er sich ernsthaft auf eine Frau eingelassen hatte! Olivier würde keine Sekunde zögern und Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihm alles kaputt zu machen. Einfach nur, weil er es konnte. Und weil er Lucien hasste, weil er ihn und seine Mutter für die Trennung seiner Eltern verantwortlich machte.

Um seinen inneren Aufruhr zu überspielen, griff Lucien zur Champagnerflasche und füllte Adrienne, die ihr Glas fast leer getrunken hatte, nach.

Als er die Flasche wieder in den Kühler stellte, räusperte er sich. „Sie sollten es sich noch einmal überlegen“, sagte er schließlich. „Und ich wäre bereit, Ihnen neben Ihrem Gehalt noch etwas anderes anzubieten.“

Sie blinzelte. In ihrem Blick lag der Anflug von Interesse. Aber auch eine gehörige Portion Skepsis. „Und das wäre?“, fragte sie.

Ohne ihr zu antworteten, griff er in die Innentasche seines Jacketts und holte sein Scheckbuch und einen Stift hervor. Er schlug das Buch auf und trug auf den obersten Scheck eine Summe ein sowie den Empfängernamen „Bonnes vacances“.

Während er Adrienne den Scheck hinschob, beobachtete er ihr Gesicht genau. Erst ein Stirnrunzeln, als sie den Scheck mit dem Finger näher an sich heranzog, dann das Weiten ihrer Augen, als sie die Summe sah, und schließlich beim Lesen des Empfängernamens grenzenloses Staunen.

„Fünfzigtausend Euro?“ Sie blickte ihn an. „Für die Organisation meiner Mutter? Ich verstehe nicht … Was bezwecken Sie damit?“

Er breitete die Arme aus. „Nun, ich hoffe, dass dies ein Anreiz für Sie ist, doch für mich tätig zu werden.“

„Sie wollen mich bestechen?“

„Wenn Sie es so nennen wollen … Ich sehe es ein wenig anders. Wie ich Ihnen bereits sagte, engagiere ich mich ebenfalls für wohltätige Zwecke. Dies hier“, er deutete auf den Scheck, „ist also keineswegs nur ein Versuch, Sie umzustimmen. Ich bin froh, wenn ich etwas tun kann, ob Sie es mir nun glauben oder nicht. Wenn Sie sich dadurch entschließen könnten, mir eine Chance zu geben, hätten alle Seiten etwas davon: Die Organisation Ihrer Mutter würde einen Betrag erhalten, mit dem sich sicher einiges erreichen lässt, Sie könnten sich als meine Mitarbeiterin davon überzeugen, dass ich nicht so bin, wie Sie offensichtlich glauben, und ich hätte eine fähige Juristin an meiner Seite, die ich für bestimmte künftige Projekte dringend brauche.“

„Ich weiß nicht recht …“ Sie schien nachdenklich geworden zu sein, denn ihr war deutlich anzusehen, wie sehr es hinter ihrer Stirn arbeitete. „Das mag zwar alles ganz nett klingen. Vor allem die Spende würde ich nur ungern ausschlagen, besonders jetzt, wo meine Mutter …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist bloß …“

„Ja?“

Wieder wurden sie unterbrochen, denn das Hauptgericht wurde gebracht. Lucien hatte sich für Kalbsinvoltini mit Gnocchi entschieden – er wusste selbst nicht, warum –, aber er war sich beinahe sicher gewesen, dass Adrienne es mögen würde. Und dem kurzen Aufleuchten in ihren Augen nach zu schließen hatte er genau ins Schwarze getroffen.

„Haben Sie schon einmal überlegt, was das für meine Familie bedeuten würde?“, sprach sie weiter. „Wenn ich für den Mann arbeite, dessen Reederei drauf und dran ist, das Unternehmen meiner Eltern in die Knie zu zwingen?“

Lucien unterdrückte ein Seufzen. Den Einwand hatte er befürchtet. Und deshalb hatte er sich für diesen Fall auch schon etwas zurechtgelegt. Doch noch zögerte er. Und der Grund war – wieder einmal! – Adrienne selbst.

Wie sie vor ihm saß, ihn teils verschüchtert, teils irritiert ansah … Konnte er ein solches Geschöpf wirklich derart in die Irre führen? Die Sache mit dem Scheck stimmte. Er gab das Geld gerne. Er hatte sich immer schon für Menschen eingesetzt, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. Und dabei war es ihm vollkommen egal, dass die Organisation von der Frau eines Konkurrenten ins Leben gerufen worden war. Das hatte nichts miteinander zu tun.

Was er Adrienne nun sagen würde, war eine Lüge. Zumindest zum Teil. Aber es musste sein. Es ging nicht anders. Nicht, wenn er seine Ziele erreichen wollte. Und dabei ging es nicht nur darum, Olivier etwas zu beweisen, sondern vor allem sich selbst.

Lucien nickte, wie um sich selbst zuzustimmen. Diese Frau vor ihm war nur ein Mittel zum Zweck, nichts weiter. Und allein schon wegen der Sache mit Christine sollte er sie auch ausschließlich als das betrachten.

„Also gut“, sagte er. „Sie haben recht. Aber auch was das betrifft, kann ich Ihnen einen Vorschlag machen: Arbeiten Sie für mich. Zwei Monate zur Probe. Wenn Sie diesen Teil der Vereinbarung erfüllt haben, werde ich alles dafür tun, dass der Reederei Ihres Vaters keinerlei Schwierigkeiten mehr beschert werden. Ich verspreche, Ihre Familie in Ruhe zu lassen.“

Ungläubig sah sie ihn an. Ein Ausdruck der Hoffnung legte sich auf ihr Gesicht – und verstärkte Luciens schlechtes Gewissen dadurch nur noch mehr. „Ist das Ihr Ernst?“, fragte sie.

„Nehmen Sie den Scheck als Zeichen Ihrer Zustimmung. Dann lege ich Ihnen morgen früh einen hieb- und stichfesten Vertrag vor.“

Einen Augenblick lang zögerte sie noch. Wieder konnte Lucien sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Der Anblick faszinierte ihn. Nach einer Weile trank sie noch einen Schluck Champagner. Sie stellte das Glas wieder ab, wobei sie Lucien fest in die Augen blickte. Schließlich nickte sie und nahm den Scheck an sich.

Autor

Penny Roberts
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