Romana Exklusiv Band 355

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LIEBESPARADIES IM ALPENSCHNEEvon REBECCA WINTERS
Beim Weihnachtsurlaub in den französischen Alpen knistert es plötzlich zwischen Crystal und Raoul. Doch trotz romantischer Schlittenfahrten und Küssen unter dem Mistelzweig will Crystal die Distanz wahren. Denn Raoul ist der Bruder ihres verstorbenen Mannes…

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  • Erscheinungstag 18.11.2022
  • Bandnummer 355
  • ISBN / Artikelnummer 0853220355
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Rebecca Winters, Cara Colter, Liz Fielding

ROMANA EXKLUSIV BAND 355

1. KAPITEL

„Philippe, hier bin ich!“ Crystal Broussard winkte ihrem Sohn zu. Er war verträumt am Eingang der Schule stehen geblieben, während die anderen Kinder lärmend zu ihren wartenden Eltern liefen. Nun schlurfte er mit der Mütze in der Hand zu ihr, als spürte er nicht einmal, wie der eisige Nordwestwind sein Haar zerzauste.

Bald würde er zu einem Sturm anwachsen, der mehr Schnee bringen und die umliegenden Gipfel und Täler mit einer noch dickeren weißen Decke überziehen würde. Hier in Breckenridge, dem Mekka für Wintersportler in Colorado, war sie geboren und nach dem ewig weißen Crystal Peak benannt worden. Sobald sie ihre ersten Schritte machte, hatte man sie auf Skier gestellt. Sie kannte die Zeichen des Wetters im Hochgebirge.

Für das Geschäft ihres Vaters hatte die Hochsaison bereits begonnen. Von überall her strömten Wintersportler in die kleine Stadt und kauften bei ihm Ausrüstung und Sportkleidung. Solange Philippe noch in den Kindergarten gegangen war, hatte sie halbtags mitgeholfen. Doch seit er, inzwischen sechs Jahre alt, die Schule besuchte, arbeitete sie in Vollzeit.

Sie breitete die Arme aus und umarmte ihren Sohn. „Hallo, mein Schatz. Steig ein, und schnall dich an! Vielleicht schaffen wir es noch bis zu Grandpas Laden, bevor der Schneesturm beginnt.“ Sie öffnete die Wagentür, damit er auf seinen Kindersitz klettern konnte.

„Ich will lieber nach Hause.“

Das sagte er in letzter Zeit viel zu oft. Am liebsten spielte er allein in seinem Zimmer.

„Du brauchst etwas Warmes zum Anziehen. Bei Grandpa sind heute neue Anoraks eingetroffen, aber in deiner Größe sind es nur ein paar. Lass uns einen für dich aussuchen, bevor sie alle verkauft sind. Du weißt doch, in neun Tagen ist Weihnachten, und viele Kinder wünschen sich einen schönen warmen Anorak.“

„Ich will aber keinen neuen.“

„Das weiß ich, doch schau mal, wie kurz die Ärmel geworden sind. Du bist gewachsen.“

Überzeugte ihn das Argument, oder gab er nur seinen Widerstand auf? Sie ahnte, wie sehr er an der alten Jacke hing. Er hatte sie in Frankreich bekommen. Sie erinnerte ihn an Chamonix. Die Trennung von seiner vertrauten Umgebung hatte er noch immer nicht überwunden.

Irgendetwas musste sie unternehmen, um ihrem Sohn über das Heimweh hinwegzuhelfen. Seit seiner Einschulung im Herbst war er stiller und stiller geworden. Meistens gab er nichts von sich als tiefe Seufzer. Seit dem Tod seines Vaters vor vierzehn Monaten hatte sich das Kind besorgniserregend verändert.

Eric Broussard, einer der besten Skifahrer Frankreichs, war zur allgemeinen Bestürzung bei einem internationalen Abfahrtsrennen in Cortina tödlich verunglückt. Für seine Familie war der Tod des erst Achtundzwanzigjährigen nicht der erste furchtbare Schicksalsschlag. Erst zwei Jahre zuvor war Suzanne gestorben, die Frau von Erics Bruder Raoul. Die Broussards waren als Bergführer seit über hundert Jahren eine Institution in den französischen Alpen. Die Brüder Eric und Raoul hatten ein sehr enges Verhältnis, vielleicht gerade deswegen, weil sie nicht in Konkurrenz zueinander standen. Raoul war Bergsteiger und Kletterer, für Eric zählte nur eins: das Skifahren.

Während Frankreichs Skiwelt trauerte, brach für Crystal ihre Welt mit dem plötzlichen Tod ihres Mannes zusammen. Sie stand vor der herzzerreißenden Aufgabe, ihrem fünfjährigen Jungen zu erklären, dass sein Daddy nie wieder nach Hause kommen würde.

Sie und Eric hatten sich bei einem internationalen Wettbewerb kennengelernt und waren bald darauf ein Paar geworden. Nach der Hochzeit hatten sie sich in Chamonix niedergelassen, wo Eric geboren und ebenso wie sie auf Skiern groß geworden war. Zwei Monate nach Erics Begräbnis war sie mit Philippe zu ihren Eltern nach Breckenridge zurückgezogen. Sie hoffte, dass sie und ihr Sohn hier in den Staaten den Verlust besser verkraften und irgendwann wieder optimistisch in die Zukunft blicken würden. Doch seitdem war ihr früher so lebhafter Sohn einsilbig geworden und kapselte sich immer mehr ab. Selbst ihren beiden jüngeren Schwestern, Jenny und Laura, gelang es nicht, ihn mit ihrer lebenslustigen Art aus seinem Schneckenhaus zu locken.

Begonnen hatte sein Rückzug mit einem Anfall von Trotz und Wut, als ihr Vater versuchte, ihn zum Skilaufen mitzunehmen. Wahrscheinlich war es dafür noch zu früh. Der Tod des Vaters hatte dem Jungen möglicherweise ein für alle Mal diese Sportart verleidet. Sie selbst hatte seither nicht probiert, ihn auf die Piste zu kriegen.

Neuerdings kam sie aus dem Grübeln über ihren Sohn gar nicht mehr heraus. Nichts schien ihn mehr zu begeistern oder ihm Spaß zu machen. Und obwohl alle in ihrer Familie ihn liebten und sich um ihn bemühten, reagierte er gleichgültig, ja fast abweisend.

Selbst wenn sie ihn dazu ermutigte, wollte er nicht über seinen Vater sprechen. Stattdessen redete er von seinem Onkel Raoul, den er anhimmelte. Einmal im Monat rief Raoul seinen Neffen an, Philippe erzählte aber nie, worüber sie am Telefon gesprochen hatten.

Eine Bemerkung von Molly, einer Angestellten ihres Vaters, die selbst drei Kinder hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Molly hatte am Morgen die Vermutung geäußert, Philippe sei vielleicht eifersüchtig, weil er seine Mutter mit ihrer Familie teilen müsse. Dieser Gedanke verfolgte sie schon den ganzen Tag und vertiefte die Schuldgefühle, die sie ihrem Sohn gegenüber empfand.

Crystal hatte darauf gesetzt, dass Philippe sich bei ihren Eltern und Schwestern wohl und geliebt fühlen würde. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, für sich und Philippe eine Wohnung in der Nähe zu suchen. Aber nun war schon ein Jahr vergangen, und sie wohnten immer noch in ihrem Elternhaus, in der Hoffnung, die Nähe zu ihrer Familie würde Philippe guttun. Doch offenbar stimmte das nicht.

Ob Molly recht hatte?

Der Gedanke, dass der Junge sich gegenüber ihren Eltern und Schwestern zurückgesetzt fühlte, quälte sie. Brauchte er sie jetzt ganz für sich allein? Würde er seine Lebensfreude zurückgewinnen, wenn sie sich ausschließlich auf ihn konzentrierte? Sie war bereit, alles zu versuchen. Aber wenn es nicht half, durfte sie nicht zögern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wahrscheinlich hatten sie die beide nötig.

Sobald Philippe heute Abend im Bett lag, wollte sie mit ihren Eltern darüber sprechen und sich zügig auf Wohnungssuche machen. Dann konnte sie endlich die wenigen Möbel aufstellen, die sie aus Chamonix mitgebracht und im Keller ihres Elternhauses deponiert hatte.

Vielleicht hielt Philippe sich deshalb am liebsten in seinem Kinderzimmer auf, weil sie sich bemüht hatte, es genauso einzurichten wie sein Zimmer in Chamonix. Vielleicht würde sich seine Zunge lösen, wenn ihn auch in den anderen Räumen ein paar vertraute Gegenstände umgaben. Es muss einfach klappen, dachte sie verzweifelt.

Im Zentrum von Breckenridge parkte sie den Wagen hinter dem Geschäft ihres Vaters. Durch den Hintereingang betraten sie den Lagerraum, wo gerade neue Ware ausgepackt wurde. Die wattierten Anoraks hingen bereits auf Bügeln an einem Ständer.

Sie nahm zwei herunter und zeigte sie ihrem Sohn. „Welcher gefällt dir besser, der grüne oder der blaue?“

Er betrachte die Anoraks eingehend. „Dieser hier, glaube ich“, sagte er.

Crystal gefiel seine Wahl. Das Blau passte gut zu seinen Augen, die noch dunkler waren als die von Eric. Dann half sie dem Jungen aus der alten Jacke und ließ ihn die neue anprobieren. „Steht dir sehr gut, Philippe. Lass uns zu Grandpa gehen und hören, was er dazu sagt.“

In dem großen Verkaufsraum hielten mindestens zwölf Kunden das Personal auf Trab. Molly war gerade im Gespräch, doch sie bemerkte sie trotzdem. „Oh, der Anorak steht dir aber gut, Philippe“, rief sie.

Der Junge murmelte etwas und wandte den Kopf ab. Crystal entschuldigte sich für sein schlechtes Benehmen. Dann sah sie sich nach ihrem Vater um.

„Der Chef hat etwas zu erledigen, muss aber gleich zurück sein“, sagte Molly.

Crystal bezweifelte das. Ihr Vater neigte dazu, sich festzureden, wenn er unterwegs Bekannte traf. „Lass uns nach Hause fahren und zuerst Grandma deinen neuen Anorak vorführen.“ Sie zog Philippe an der Hand Richtung Lager.

„Eh bien, mon garçon. Tu me souviens?“

Die mit tiefer Stimme gesprochenen französischen Worte trieben Crystal das Blut ins Gesicht.

Raoul! Das war Raoul. Konnte das möglich sein?

Philippe hatte ihn nicht vergessen, und auch sie konnte ihn nicht vergessen. Beide drehten sich gleichzeitig um.

„Oncle Raoul!“, rief ihr Sohn, und das klang so glücklich, wie sie sich fühlte.

Dann riss er sich von ihrer Hand los, stürzte seinem Onkel entgegen und warf sich in dessen ausgebreitete Arme. Als wollte er ihn nie wieder loslassen, klammerte er sich an Raoul und presste das Gesicht gegen dessen Brust. Der wiegte ihn hin und her. Crystal hätte nicht sagen können, wer von beiden sich mehr über das Wiedersehen freute.

Über Philippes Schulter hinweg sah Raoul sie mit seinen dunkelblauen Augen an. Weder freundlich noch unfreundlich, doch so durchdringend, dass dieser Blick sie bis ins Mark traf.

„Wie schön, euch hier zu treffen.“ Sein Englisch war fast akzentfrei, besser als das von Eric. „Philippe hat mir am Telefon erzählt, dass du für deinen Vater arbeitest.“

Sie nickte sprachlos.

„Das hat mich überrascht.“

Sie holte tief Luft. Wie meinte er das?

„Nun, ich habe natürlich angenommen, dass du Nachwuchsläuferinnen trainierst.“ Er lächelte. „Dein Stil beim Skifahren war einmalig und vielversprechend, Crystal. Wenn du weitergemacht hättest, wärst du …“

„Hab ich aber nicht.“

„Stimmt. Dem Skisport ist deshalb etwas entgangen. Ich bin nicht der Einzige, der bedauert, dass du deinen Beruf ganz an den Nagel gehängt hast.“

Seine Worte wunderten und irritierten sie. Ihre Entscheidung, den Sport aufzugeben, obwohl sie immerhin eine Bronzemedaille gewonnen hatte, lag doch schon so lange zurück. Damals war sie mit Eric noch glücklich gewesen. Erst danach hatten die Eheprobleme begonnen. Und nun musste sie seinen Tod verarbeiten … Sie war von Raouls Bemerkung mehr als überrascht – sie fühlte die Röte in ihren Wangen aufsteigen. Ihr Schwager verstand etwas vom Skifahren und war als Bergsteiger ein Experte. Er meinte, was er sagte, das spürte sie. Aber woher ahnte er, dass sie von einer Karriere als Trainerin träumte? Sie hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen.

Wieder spürte sie diese merkwürdige Seelenverwandtschaft mit ihrem Schwager und fühlte sich deshalb schuldig. Mit Eric, ihrem Mann, hatte sie nichts dergleichen verbunden.

„Danke für das Kompliment, Raoul, aber solange mein Sohn mich braucht, ist daran nicht zu denken.“

„Das verstehe ich, doch ich glaube, du könntest es immer noch. Dein Stil ist einfach unnachahmlich. Ich habe nie verstanden, warum du nach Philippes Geburt nicht wieder eingestiegen bist.“

„Du meinst in Chamonix?“

„Naturellement.“

„Das hätte ich gern gemacht, aber das Muttersein hat sich als Fulltime-Job herausgestellt.“

„Für manche Frauen ist es das auch. Du hättest beides geschafft.“ Seine dunkelblauen Augen blitzten sie an. „Du bist überaus begabt.“

Offenbar glaubte er wirklich an sie.

Eric war anderer Meinung gewesen und hatte nicht gewollt, dass sie Philippe einem Kindermädchen überließ. Vielleicht hätte sie nach einer anderen Lösung suchen müssen.

Ihr Mann hatte nach der Geburt des Babys wie selbstverständlich sein altes Leben weitergeführt. Er schien nichts anderes im Kopf zu haben als seinen Sport und war entsprechend häufig unterwegs. Deshalb hatte sie versucht, Philippe nicht nur eine gute Mutter zu sein, sondern ihm auch den Vater zu ersetzen.

Während ihr all diese Gedanken durch den Kopf schossen, gelang es ihr nicht, den Blick von Raoul zu wenden. Sein schwarzes Haar war länger, als sie es in Erinnerung hatte. Es wellte sich und sah jetzt wie vom Wind zerzaust aus. Auch fiel ihr auf, wie groß und athletisch er war. Eric war fast einen halben Kopf kleiner gewesen, schmaler und sehniger. Er und seine Schwester Vivige, ebenfalls eine hervorragende Skiläuferin, hatten das dunkelblonde Haar und die helle Haut des Vaters geerbt, während Raouls Teint dem dunkleren seiner Mutter glich. Allen Broussards gemeinsam war ihr auffallend gutes Aussehen, und auch Philippe war unübersehbar ein Broussard, vom dunkleren Typ seines Onkels.

Raoul zu betrachten, verursachte ihr Freude und Qual zugleich und löste noch ganz andere Gefühle in ihr aus, über die sich weigerte nachzudenken. Sie hatte ihn zuletzt vor einem Jahr gesehen, als die ganze Familie, auch Vivige mit ihren drei Kindern, sie und Philippe nach Genf zum Flughafen begleitet hatten. Von dort war sie mit ihrem Sohn in die Staaten abgereist.

Seitdem hatten sich die Linien um Raouls Mund vertieft, sein Gesicht war schmaler geworden, und auch sonst schien er ein paar Pfunde verloren zu haben. Sie fand ihn noch anziehender als früher, falls das überhaupt möglich war. Und schon meldeten sich wieder die altbekannten Schuldgefühle, weil sie so auf ihn reagierte.

Während Eric einfach nur gut ausgesehen hatte, war Raoul umwerfend attraktiv.

„Ich freue mich, dich wiederzusehen, Raoul“, sagte sie schließlich und versuchte, das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken.

„Wirklich?“ Das klang herausfordernd, fast schneidend. Sie hörte einen versteckten Vorwurf heraus und nahm fast automatisch eine Verteidigungshaltung ein. Reagierte sie überempfindlich?

„Wie kannst du das bezweifeln?“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Natürlich freue ich mich. Dir ist eine echte Überraschung gelungen, nicht wahr, Philippe?“ Ihr Sohn dachte nicht daran, seinen Onkel freizugeben, und sah so glücklich aus, dass es ihr ins Herz schnitt.

Merkwürdig war vor allem der Zeitpunkt des Besuchs. So kurz vor Weihnachten herrschte in Chamonix Hochsaison, und die Broussards hatten viel zu tun. Weshalb hatte Raoul sich ausgerechnet jetzt freigenommen?

Sie ging auf ihn zu und begrüßte ihn mit einer kurzen freundschaftlichen Umarmung.

Raoul legte den freien Arm um sie. „Ich freue mich auch, ma belle“, flüsterte er an ihrer Schläfe. So hatte er ihr schon immer seine brüderliche Zuneigung gezeigt. „Ohne dich in der Nähe ist das Leben nicht mehr, wie es war.“

Ihr war es auch so gegangen. Wie eine Exilantin kam sie sich vor, nachdem sie Frankreich und ihn verlassen hatte. Aber sie hatte es selbst so entschieden, und Raoul war der Grund dafür.

Bevor er den Jungen absetzte, gab er ihm und ihr einen Kuss auf die Wange. Er duftete wunderbar. Sofort überfielen sie Erinnerungen an eine Zeit, die ein für alle Mal vorüber war.

Philippe fasste nach der Hand seines Onkels und legte den Kopf in den Nacken. Seine Augen leuchteten wie lange nicht mehr. „Kommst du mit? Ich will dir Grandmas Haus zeigen.“

Erst jetzt begriff Crystal in vollem Ausmaß, wie sehr der Junge seinen Onkel vermisst hatte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.

„Das würde ich gern“, sagte Raoul. „Wenn deine maman nichts dagegen hat.“

„Natürlich nicht. Meine Familie wird sich über deinen Besuch freuen. Bist du mit einem Leihwagen aus Denver gekommen?“

„Oui.“ Er warf ihr einen spöttischen Blick zu.

Natürlich. Die Frage hätte sie sich sparen können.

„Darf ich mit in seinem Auto fahren, maman?“

Seitdem sie in Colorado wohnten, nannte Philippe sie Mommy. Nun wechselte ihr zweisprachiger Sohn ins Französische. Fühlte er sich darin heimischer? Oder tat er es seinem heiß geliebten Onkel zuliebe? Über die Jahre hatte er mehr Zeit mit ihm verbracht als mit seinem Vater. Eric war ständig unterwegs gewesen, um irgendwo ein Rennen zu fahren oder zu trainieren.

„S’il te plâit!“, bat er sie eindringlich.

„Ja, natürlich darfst du. Aber vergiss nicht, dich anzuschnallen.“

Philippe hüpfte vor Freude. Seitdem sein Onkel da war, wirkte er wie ausgewechselt.

„Ich passe auf ihn auf“, sagte Raoul.

Sie wusste das. Seit der Nacht, als bei ihr zwei Wochen zu früh die Wehen eingesetzt und Raoul sie mit starken Blutungen ins Krankenhaus gebracht hatte, war er Philippes Beschützer geworden. Und auch ihrer. Er hatte sie während der ganzen Fahrt beruhigt und ihr Mut zugesprochen. Damals war ein starkes Band zwischen ihnen entstanden. Auf ihn und Suzanne hatte sie sich unbedingt verlassen können.

Niemand, auch nicht ihr Arzt, hatte mit einer verfrühten Geburt gerechnet, und Eric war in Cortina, wo er ein World-Cup-Rennen fuhr. In ihrer Not hatte sie bei ihren Schwiegereltern angerufen. Zufällig war Raoul ans Telefon gegangen, hatte die Panik in ihrer Stimme gehört und alles stehen und liegen lassen. Ohne seine schnelle Hilfe wäre sie wahrscheinlich verblutet.

„Wir fahren dir hinterher, Mommy“, sagte Philippe.

„Ja, bis gleich, mein Schatz.“

Sie eilte sie durch den Hintereingang des Ladens hinaus und stieg ins Auto. Als sie den Motor startete, kroch die Angst in ihr hoch.

Es konnte nur einen Grund geben, warum Raoul hergekommen war: Er brachte schlechte Nachrichten, über die er am Telefon nicht sprechen wollte. Waren zwei tragische Todesfälle in so kurzer Zeit nicht genug an Schmerzen und Verlust?

Was immer es war, sie musste sich auf etwas Schlimmes gefasst machen und stark bleiben für ihren Sohn.

Es begann zu schneien, die Sicht wurde schlecht. Crystal konnte nur noch ahnen, dass der weiße Leihwagen ihr folgte. Schwer zu glauben, dass Raoul ihn fuhr, dass er hier in Breckenridge war und nicht in Chamonix.

Wenn Raoul die Gegend um Chamonix verließ, dann nur, um irgendwo mit seinem besten Freund Des zu wandern und zu klettern. Des war Spanier und lebte in den Pyrenäen. Nach Suzannes Tod machte Des sich Sorgen um Raoul und überredete ihn schließlich, mit ihm in den Himalaja zu reisen. Zwei Monate lang hatten sie gemeinsam das „Dach der Welt“ bestiegen.

Aber auch das hatte Raoul nicht über den Verlust hinweggeholfen. Wie versteinert wirkte er im Rückblick in dieser Zeit. Nur wenn er Philippe oder Viviges Kinder um sich hatte, schien das Eis in ihm zu schmelzen, und er ähnelte wieder dem warmherzigen und wunderbaren Mann, der er zu Suzannes Lebzeiten gewesen war.

Nun sah sie Raoul nach einem Jahr wieder. Wie es wirklich um ihn stand, konnte sie nur ahnen. Aus dem, was ihre Schwiegereltern und Vivige über ihn erzählt hatten, wollte für sie kein klares Bildes entstehen. Die letzte Neuigkeit war, dass er eine Frau namens Silvie Beliveau kennengelernt hatte und alle die Daumen drückten, dass sich daraus etwas Ernsthaftes entwickelte. Crystal hatte versucht, das gelassen hinzunehmen. Sie lebte jetzt hier und wollte an nichts und niemanden denken außer an ihren Sohn.

Für Raoul wünschte sie von Herzen, dass er sich wieder gefangen hatte. Aber Einzelheiten über seine neue Freundin wollte sie lieber nicht wissen, obwohl sie manchmal an nichts anderes denken konnte. Nun war er hier, und sie verlor die Nerven. Dabei hatte sie vor einem Jahr Chamonix auch verlassen, um ihr inneres Gleichgewicht zurückzugewinnen und Frieden zu finden.

Raoul hatte Philippe auf dem Rücksitz angeschnallt, aber er beobachtete ihn weiterhin über den Rückspiegel. Wenn sich darin ihre Blicke trafen, lächelten sie beide. „Du bist ganz schön gewachsen“, sagte er auf Französisch zu dem Jungen.

Philippe kicherte. „Ich hatte doch Geburtstag. Du hast mir ein Päckchen geschickt. Mit dem Modellauto von dir spiele ich jeden Tag.“

„Dann gefällt es dir also. Das freut mich.“

„Nächstes Jahr werde ich sieben.“

„Hört sich an, als hättest du es eilig, älter zu werden“, sagte Raoul. „Wie kommt das?“

„Weil maman mir versprochen hat, dass wir dich dann besuchen.“

Diese Bemerkung verschlug Raoul fast die Sprache. „Ich habe dich schrecklich vermisst, Philippe“, gestand er dem Jungen. Ein eigenes Kind hätte er nicht mehr lieben können als seinen Neffen.

Der Kleine nickte. „Ich dich auch. Warum kommst du erst jetzt?“

Raoul umklammerte das Lenkrad. Dafür gab es viele Gründe. Crystal ging ihm aus dem Weg, wahrscheinlich, weil sie spürte, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Das musste er akzeptieren, obwohl er lange damit gehadert hatte. Philippe konnte er das natürlich nicht erklären. Deshalb gab es für ihn nur eine Antwort.

„Ich hatte sehr viel zu tun. Grand-père kann nicht mehr so viel arbeiten wie früher. Also habe ich auch noch einen Teil seiner Arbeit übernommen.“

Philippe nickte. „Du darfst bestimmt in Grandmas Haus übernachten. In meinem Zimmer stehen zwei Betten. Mommy schläft manchmal bei mir, wenn ich weinen muss.“

Raoul zuckte zusammen. „Weinst du oft?“

„Ja. Du auch?“

„Manchmal. Ich vermisse deinen Vater. Er war mein Bruder.“

„Ich will nicht, dass er tot ist. Nur weil er tot ist, müssen wir hier leben.“ Philippes Stimme zitterte vor Wut und Verzweiflung.

Raoul wurde die Kehle eng. „Mir tut es auch leid, das musst du mir glauben. Sehr leid.“

Anfangs hatte er mit Entsetzen auf Crystals Entscheidung reagiert, nach Colorado zurückzugehen – vermeintlich allein aus dem Grund, weil er den Jungen vermisste. Erst mit der Zeit war ihm klar geworden, dass dahinter noch etwas anderes steckte: Auch die Trennung von ihr tat weh.

Sie hatten in den vergangenen Jahren so viel miteinander und voneinander erlebt, dass ein starkes Band zwischen ihnen gewachsen war. Als sie Chamonix verließ, tat sich eine neue Leere in ihm auf, die nichts zu tun hatte mit dem Tod seines Bruders. So verrückt es war, er vermisste sie mehr als Eric. Das kam ihm ungehörig vor, und er fühlte sich schuldig deswegen.

„Ich bin sauer auf Mommy“, sagte Philippe, und es klang, als spräche er aus tiefstem Herzen.

Raoul erging es ebenso, aber das durfte er dem Jungen natürlich nicht zeigen.

Schon eine Zeit lang vor Erics Tod hatte Crystal sich von der Familie, aber vor allem von ihm zurückgezogen. Das war ihm natürlich nicht entgangen, und so hatte er sich zu Zurückhaltung gezwungen. Und daran hielt er sich bis heute. Noch auf dem Flug hierher hatte er sich die Freude auf das Wiedersehen verboten.

Doch seit sie sich begrüßt hatten, war alles noch komplizierter geworden. Crystal ähnelte nicht mehr dem lebhaften hübschen Mädchen, das seinen Bruder verzaubert hatte. Erics Tod hatte aus ihr einen anderen Menschen gemacht.

„Warum bist du so böse auf deine Mutter?“

„Weil sie mich hierher gebracht hat. Ich will nach Hause.“

Raoul seufzte. „Fühlst du dich in Breckenridge denn fremd?“

„Ja“, sagte Philippe und sah verloren aus. „Ich will zurück nach Chamonix.“

Dass er dorthin gehörte, stand auch für Raoul fest.

„Nimmst du mich mit zurück? Bitte!“

Raoul hätte es ihm gern versprochen. Doch solange er nicht mit Crystal gesprochen hatte, durfte er sich nicht dazu äußern. „Ich habe ein Zimmer im Hotel ‚Des Alpes‘ gebucht. Es liegt ganz bei Euch in der Nähe. Wenn deine Mutter es erlaubt, darfst du heute bei mir übernachten.“

„Super! Da steht ein Schlitten in der Halle mit Glöckchen. Manchmal darf ich dort hingehen und sie klingeln lassen.“

„Du magst Schlittenglöckchen? Das wusste ich ja gar nicht.“

„Du hast Albert und mich doch mal mitgenommen zu einer Schlittenfahrt. Weißt du noch? Da haben die Glöckchen auch geklingelt.“

An was der Junge sich alles erinnerte! Und welche Gefühle sich damit verbanden! Sprach er mit Crystal darüber? Oder war sie zu sehr mit ihrer eigenen Trauer um Eric beschäftigt?

Er selbst wusste, was es hieß, den Partner zu verlieren. Um Suzanne hatte er tief getrauert. Wenn sie ein Kind miteinander gehabt hätten, wäre es wahrscheinlich noch schwerer gewesen, über ihren Tod hinwegzukommen. Trotzdem bedauerte er es, keine Kinder zu haben.

„Erzähl mir von der Schule. Wie heißt dein Lehrer?“

„Ich habe eine Lehrerin. Sie heißt Ms Miller.“

„Magst du sie leiden?“

„Sie ist ganz nett. Aber sie kann kein Französisch. Niemand hier kann Französisch sprechen.“ Dabei machte er ein gelangweiltes Gesicht und verzog ein wenig verächtlich den Mund.

Mit dieser Art erinnerte Philippe ihn verblüffend an seinen Bruder. Raoul wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Das Zusammensein mit Philippe wühlte die Vergangenheit auf und zeigte ihm, wie lebendig sie noch war.

„Aber deine Mutter spricht perfekt Französisch.“

Darauf erhielt er keine Antwort. „Und hast du schon einen Freund hier gefunden?“

„Nein.“

„Wie kommt das?“

„Albert ist mein bester Freund. Ich will keinen anderen.“

Raoul unterdrückte einen tiefen Seufzer. Er wusste, wie sehr der Junge an seinem um ein Jahr älteren Cousin hing, aber dass er sich weigerte, neue Freunde zu finden, besorgte ihn zutiefst.

„Ist es nicht langweilig ohne Freunde?“

„Doch. Aber ihr seid alle in Chamonix, und Mommy will mich nicht weglassen.“ Philippes Oberlippe zitterte.

„Hast du sie gefragt?“

„Ja. Aber wenn ich sie frage und bitte, fängt sie jedes Mal an zu weinen. Grandma hat mir gesagt, dass sie mich nach Chamonix zurückbringt, wenn ich größer bin. Solange will ich nicht warten. Ich möchte bei dir wohnen. Nimmst du mich mit?“

„Das würde deine Mommy sehr sehr traurig machen.“

„Ist mir egal.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Raoul leise.

„Sie ist gemein.“

„Nein, das stimmt nicht.“

„Doch. Ich finde es gemein von ihr, dass ich dich nicht anrufen darf, wenn ich will. Sie sagt, ich soll warten, bis du mich anrufst. Sie glaubt, dass ich dich störe, weil du viel zu tun hast.“

Raoul brannten die Augen. „Ich werde mit ihr darüber sprechen.“

Er fühlte sich mitschuldig am Unglück des Kindes. Wegen der ganz und gar unbrüderlichen Gefühle, die er für Crystal empfand, versuchte er sich übertrieben von ihr zu distanzieren. Der Leidtragende war Philippe.

„Lieber nicht. Sie ist immer sauer.“

„Sauer?“

Philippe überlegte eine Weile. „Nein. Sie lacht nicht. Früher waren wir lustig zusammen.“

Das strahlende Lachen war wirklich einmal Crystals Markenzeichen gewesen. „Ja, es ist schön, wenn man seine Mutter lachen sieht. Mir geht es genauso. Ich möchte auch, dass meine Mutter fröhlich ist.“ Wann hatte er seine Mutter zuletzt lachen gesehen? Seit Erics Tod kaum noch.

Im Rückspiegel sah er, wie Philippe zustimmend nickte.

Als er mit Crystal damals abflog, hatte sich eine schwere schwarze Decke über ihn gelegt, und auch er hatte sein Lachen verloren.

„Mit wem spielst du auf dem Schulhof?“, fragte er.

„Mit keinem.“

„Und warum nicht?“

„Weil die anderen über mich lästern. Ein Junge hat gesagt, ich bin blöd und habe einen blöden Namen.“

Wieder erinnerte ihn Philippe an seinen Vater. Wenn Eric nicht gleich die Herzen zuflogen, zog er sich zurück und schmollte. „Aber deine Lehrerin beeindruckt es bestimmt, dass du zwei Sprachen sprichst. Vielleicht sind die anderen nur eifersüchtig.“

„Was ist das?“

„Sie sind neidisch auf dich, weil sie nur eine Sprache sprechen können. Sie möchten von eurer Lehrerin auch gern bewundert werden und machen dich deshalb schlecht.“

„Oh.“

Als er hinter Crystals Wagen vor einem wetterfesten Holzhaus mit Glasfront anhielt, war es Raoul endgültig klar, wie unglücklich sein kleiner Neffe war, und er fürchtete, dass die Nachricht, die er mitbrachte, ihn noch mehr belasten würde.

Inzwischen tobte ein echter Schneesturm. Raoul stieg aus, hob Philippe aus dem Wagen und trug ihn eilig zu der weihnachtlich geschmückten Eingangstür, wo Crystal schon auf sie wartete.

Von innen drang Kiefernduft heraus. Liz, Crystals Mutter, kam ihm entgegen und umarmte ihn herzlich, sobald Raoul den Jungen abgesetzt hatte. Er kannte sie gut von den vielen Besuchen in Chamonix, und er mochte die warmherzige blonde Frau.

Bald darauf stand er im Wohnzimmer. Ihm fielen sofort die zahlreichen Familienfotos auf. Viele Bilder zeigten Crystal, meist auf Skiern, mit rosigem strahlendem Gesicht. Auf einigen umarmte sie Eric, und sie lachte.

Noch nie zuvor war er in ihrem Elternhaus gewesen, und nun stellte er verwundert fest, wie sehr es dem seinen ähnelte, obwohl Breckenridge und Chamonix auf zwei verschiedenen Kontinenten lagen.

Auch hier waren die Zimmer schon liebevoll für Weihnachten dekoriert worden. Neben dem großen Fenster im Wohnzimmer stand ein Tannenbaum, der allerdings weitaus üppiger geschmückt war als der bei seinen Eltern.

Kurz vor seiner Abreise hatten sein Schwager Bernard und er den Baum im Salon aufgestellt. Die Kinder hatten ihn geschmückt, Vivige hatte weiße Kerzen auf die Zweige gesteckt, die sie an Heiligabend anzünden würden.

Wenn nicht etwas Schlimmes dazwischenkam.

Er knöpfte den Mantel auf. „Es ist wunderschön hier bei euch, Liz“, sagte er und ging auf den Kamin zu, in dem ein Feuer brannte.

„Danke. Gib mir deinen Mantel, und mach es dir bequem.“

Dann beugte sie sich zu Philippe hinunter. „Wie schick du aussiehst! Du hast dir den schönsten Anorak ausgesucht.“ Sie half ihm beim Ausziehen. „Als deine Mutter vorhin anrief und mir sagte, dass wir Besuch bekommen, habe ich Grandpa angerufen. Er wird gleich hier sein und bringt uns etwas zu essen mit. Rate mal, was?“

„Pizza?“

Sie nickte, und Philippe strahlte.

„Onkel Raoul, die mag ich am liebsten. Wollen wir solange in mein Zimmer hochgehen? Ich will dir mein neues Computerspiel zeigen.“

Crystal trug gerade ein Tablett mit Gläsern herein. Sie wirkte angespannt.

„Hast du etwas dagegen?“, fragte Raoul.

„Nein, geht nur. Wir decken solange den Tisch.“

Sie hatte den dicken Anorak ausgezogen, und nun sah er, dass sie ihr blondes Haar abgeschnitten hatte. Es fiel ihr nicht mehr bis auf den Rücken, sondern wellte sich bis auf die Schultern. Er hätte sie gerne noch länger angeschaut, aber Philippe zog an seiner Hand.

Eines war ihm gleich aufgefallen: ihre Blässe. Offenbar hielt sie sich nicht gerade viel an der frischen Luft auf. Hatte sie das Skifahren etwa ganz aufgegeben? Er hoffte, dass es nicht so war.

2. KAPITEL

Nach dem Essen bat Philippe seinen Onkel wieder, mit in sein Kinderzimmer zu kommen. Offenbar wollte er mit ihm allein sein. Crystal respektierte diesen Wunsch und blieb bei ihren Eltern im Wohnzimmer. Sie rätselten über den Grund von Raouls Kommen und hatten ein ungutes Gefühl.

„Geht’s dir gut, Crystal?“, fragte ihr Vater.

„So einigermaßen.“ Was sie wirklich bedrückte, konnte sie ohnehin niemandem anvertrauen. Allmählich wurde sie unruhig, weil von Raoul und Philippe seit einer Ewigkeit nichts zu hören und zu sehen war. Sie schaute auf die Uhr.

„Der Junge sollte längst im Bett sein.“ Sie entschuldigte sich und ging mit klopfendem Herzen nach oben. Schon auf der Treppe hörte sie ihren Sohn jauchzen. Sein Onkel fiel mit tiefer Stimme in das Lachen ein. Nach all den Monaten des Rückzugs erschrak sie regelrecht vor diesem Ausbruch guter Laune.

Keiner der beiden beachtete ihr Klopfen, also trat sie ungebeten ein. Onkel und Neffe spielten „Mensch ärgere dich nicht“. Philippe hatte rote Wagen vor Eifer, weil er dabei war, zu gewinnen.

„Tut mir leid, dass ich euch störe, aber du musst jetzt schlafen gehen, Schatz.“

Ohne Widerworte räumte Philippe die Figuren vom Brett und packte das Spiel ein.

„Onkel Raoul hat mir erlaubt, heute Nacht bei ihm zu schlafen.“

Davon wusste sie nichts. Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte nicht, dass du bei diesem Schneesturm hinausgehst.“

Raoul saß noch immer im Schneidersitz auf dem Teppich und schwieg. Sie fühlte sich unwohl unter seinem fragenden Blick.

„Dann soll er bei mir schlafen.“ Philippe zeigte auf das zweite Bett in seinem Zimmer.

Er hatte sich also etwas in den Kopf gesetzt. Wenn sie ihm jetzt einen Strich durch die Rechnung machte, würde es zu einer Auseinandersetzung kommen, bei der sie nicht gewinnen konnte. Sie seufzte. „Dann nimm deinen Schlafanzug und geh ins Bad. In der Zwischenzeit werde ich mit deinem Onkel darüber sprechen. Einverstanden?“

„Okay. Aber nicht weggehen, Onkel Raoul!“

„Ich bleibe, wo ich bin.“

„Bis gleich!“

Philippe zog seinen Pyjama unter der Bettdecke hervor und stürmte aus dem Zimmer.

Raoul stand auf und setzte sich auf die Kante des Gästebettes, Crystal nahm ihm gegenüber auf Philippes Bett Platz.

„Das ist die erste Gelegenheit, allein miteinander zu sprechen. Meine Eltern und ich nehmen an, dass irgendetwas passiert sein muss, sonst wärst du nicht gekommen. Bitte sag mir, was los ist, bevor Philippe zurückkommt.“

Raoul strich sich das widerspenstige Haar zurück. „Mein Vater liegt im Krankenhaus. Aus einer Erkältung hat sich eine Grippe entwickelt. Dazu kam eine Lungenentzündung, und nun ist sein altes Asthmaleiden wieder ausgebrochen. Er wird immer schwächer. Wenn es weiter so bergab geht, müssen wir uns darauf einstellen, dass er noch vor Weihnachten stirbt, hat der Arzt gesagt. Die nächsten Tage sind entscheidend.“

Crystal schrie auf. „Nein, Raoul, nein.“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht. „Er darf nicht sterben, er darf einfach nicht.“ Nicht noch einen Menschen verlieren! Für Philippe wäre das auch eine Katastrophe. Er liebte seinen Großvater, er liebte die Familie Broussard, und sie liebte sie auch.

„Wir müssen ihm Lebensmut geben, sagt meine Mutter. Sie hat Angst, dass er sich aufgibt. Sie glaubt, dass es seinen Lebenswillen stärkt, wenn wir alle um ihn herum sind. Sie meint, er sollte Philippe sehen. Ich gebe ihr recht. Deshalb bin ich hier, um mit dir unter vier Augen zu sprechen und nicht am Telefon.“

Sie nahm die Hände von den Augen und stöhnte auf.

„Ich bin mir sehr wohl im Klaren darüber, dass du dir hier ein neues Leben aufbaust, Crystal. Dass die alten Wunden wieder aufbrechen, wenn du jetzt mit Philippe zurück nach Frankreich fliegst. Und trotzdem bitte ich dich, tue es, für uns alle. Nach Erics Tod hat Vater sich in die Arbeit gestürzt, um sich nicht von seiner Trauer überwältigen zu lassen. Maman hat das schon lange Sorgen gemacht. Seit er krank ist, zergrübelt er sich den Kopf und spricht über die Vergangenheit wie einer, der mit dem Leben abgeschlossen hat.“

Crystal konnte das gut nachvollziehen. Auch sie grübelte und litt unter den traurigen Erinnerungen.

„Armer Jules. Es tut mir so leid, Raoul“, flüsterte sie. „Wie furchtbar für deine Mutter.“ Nach dem Tod des Sohnes musste sie nun fürchten, auch noch ihren Ehemann zu verlieren. „Und auf dir lastet nun die ganze Verantwortung für das Geschäft. Neben der Sorge um den Vater.“

„Ach, die Arbeit empfinde ich eher als Ablenkung.“ Er schaute sie durchdringend an. „Geht dir das nicht genauso?“

„Ja“, murmelte sie und fühlte sich dabei schuldig. Wenn Philippe in der Schule war, versuchte sie sich, so gut es ging, sinnvoll zu beschäftigen, damit sie nicht nachdenken musste. Und immer wieder haderte sie damit, dass sie Eric damals nachgegeben und sich vom Skisport ganz zurückgezogen hatte. Wenn nicht, dann stünde sie jetzt ganz woanders.

Raouls unerwartetes Kommen hatte ihr bewusst gemacht, dass auch sie neue Lebensaussichten brauchte. Aber darauf konnte sie sich jetzt nicht konzentrieren. Jetzt ging es um Jules und die Frage, wie ihm zu helfen war.

„Sind eure Pässe und Visa noch gültig? Sonst müssten wir …“

„Die gelten noch zwei Jahre. Wir können jederzeit wieder einreisen.“ Er setzte ihr Einverständnis also voraus.

Bon. Dann fliegen wir morgen.“

Crystal verstand plötzlich, was das alles bedeutete. Sie wäre wieder ständig mit ihm zusammen. Schon auf dem Flug würden sie miteinander sprechen. Die unbändige Freude, die das in ihr auslöste, erschreckte sie. „Aus den Augen, aus dem Sinn“– in ihrem Fall hatte sich dieser Spruch nicht bewahrheitet.

„Entschuldige, dass ich mit deiner Zustimmung gerechnet habe. Jedenfalls sind die Flüge für euch bereits reserviert. Du musst dir wegen der Schule keine Sorgen machen. Nach dem, was Philippe mir im Auto erzählt hat, halte ich den Trip nach Hause für die einzige Medizin, die er jetzt braucht.“

Nach Hause? Diese Formulierung versetzte ihr einen Stich. „Was hat er dir denn erzählt?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich frage mich, was er mir nicht erzählt hat. Das Thema ist zu heikel, um es zwischen Tür und Angel zu besprechen. Ich kann ihn schon hören.“

Kaum hatte er das gesagt, kam Philippe zurück, schaute von einem zum anderen und fragte: „Darf Raoul heute Nacht hierbleiben?“

Das Flehen in seinen Augen und Raouls offensichtliche Anspannung waren zu viel für Crystal. Es verletzte sie, dass ihr Sohn während einer kurzen Autofahrt seinem Onkel mehr von sich preisgegeben hatte als ihr in vielen Monaten. Offenbar war sie Teil seines Problems. Das tat weh.

Doch jetzt ging es nicht um sie, sondern um Philippe.

Sie biss sich nervös auf die Lippe und war sich bewusst, dass Raoul sie beobachtete. „Ich habe eine bessere Idee, mein Schatz. Dein Onkel ist müde von dem Flug und hat all seine Sachen im Hotel. Für ihn ist es erholsamer, wenn er dort schläft.“

Ihr Sohn öffnete den Mund, um zu protestieren. Deshalb fügte sie rasch hinzu: „Und wir müssen unsere Sachen packen.“

Philippes Augen füllten sich mit Tränen. „Warum?“

Sie griff nach seiner Hand und zog ihn neben sich aufs Bett. „Das wird dir dein Onkel erzählen.“

Raoul ging in die Hocke, sodass er auf Augenhöhe mit dem Jungen war. „Grand-père fühlt sich in den letzten Tagen nicht sehr gut. Er vermisst seinen petit-fils. Deshalb habe ich ihm versprochen, nach Colorado zu fliegen, um dich und deine Mommy zu holen. Wenn er dich sieht, wird es ihm bestimmt bald wieder besser gehen. Na, was sagst du dazu?“

Ihr Sohn sagte gar nichts, sondern warf sich in Raouls Arme und schluchzte, als hätte man eine schwere Last von ihm genommen. Crystal wurde es schlagartig klar, was sie ihrem Sohn mit dem Wegzug aus Chamonix zugemutet hatte.

Um irgendetwas zu tun, sprang sie auf und holte aus dem Wandschrank den Koffer aus dem obersten Bord. Dabei fiel ihr Blick auf den kleinen gestreiften Kittel, den seine französischen Großeltern Philippe geschenkt hatten und den er so gerne getragen hatte, bis er nicht mehr hineinpasste. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, seine Kindersachen aus Chamonix wegzugeben, obwohl der Schrank fast überquoll. Plötzlich verlor sie die Fassung, drückte das Kittelchen an ihr Gesicht und weinte.

„Crystal?“

Sie wischte die Tränen ab, bevor sie sich umdrehte. Raoul stand hinter ihr. Er war ihr so nah, dass ihr der Atem stockte. Unverwandt schaute er sie an. „Ich habe Philippe nach unten zu deinen Eltern geschickt, damit er es ihnen erklärt.“

Das war gut so, sehr gut sogar. Es würde ihm helfen, und seine kindlichen Worte würden ihren Eltern den Abschied leichter machen. Raoul fand immer die richtige Lösung für ihr Kind.

Noch ehe sie sich gesammelt hatte, nahm er den Koffer und legte ihn auf das Gästebett. Gedankenverloren strich er über den Chamonix-Aufkleber auf dem Deckel.

Kurz vor ihrem Abflug hatte er ihn auf dem Flughafen aus der Tasche gezogen. „Damit du mich nicht vergisst“, hatte er zu Philippe gesagt und dann den weinenden Jungen in den Arm genommen und geküsst.

Die Art, wie seine Finger den Aufkleber berührten, zeigte ihr ohne Worte, wie schmerzhaft der Abschied auch für ihn gewesen war. Diese Erkenntnis ließ sie am ganzen Körper erzittern. Ihre Gefühle für Raoul waren unverändert geblieben.

„Um wie viel Uhr müssen wir am Flughafen sein?“

Ihre Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Langsam hob er den Kopf. „Um acht.“

„Bei diesem Schneesturm sollten wir sicherheitshalber um fünf aufbrechen.“

„Ich hole euch pünktlich ab. Frühstücken können wir, bevor wir an Bord gehen.“

Crystal nickte und öffnete den Koffer. „Wir werden fertig sein, wenn du kommst.“

Philippe stürzte ins Zimmer. „Grandma und Grandpa werden mich vermissen, haben sie gesagt. Aber sie verstehen, dass ich fort muss. Grand-père will mich sehen, und er ist krank.“ Dann schaut er seinen Onkel an. „Musst du schon gehen?“

Raoul nahm ihn auf den Arm. „Wir sehen uns morgen früh, wenn es draußen noch stockfinster ist. Jetzt musst du schlafen, denn wir haben einen langen Flug nach Genf vor uns.“

„Nicht nach Chamonix?“

Raoul lachte auf. „Nein. Mein Auto steht in Genf am Flughafen. Aber wir müssen nicht mehr weit damit fahren.“

„Wohnen wir wieder in unserem Haus?“ Philippe schaute Crystal erwartungsvoll an. Sie hatten nie in einem Haus, sondern in einer Wohnung gelebt. Anfangs hatten sie und Eric vorgehabt zu bauen, doch als ihre Ehe problematisch wurde, sprachen sie nicht mehr darüber.

„Da wohnt jetzt eine andere Familie“, erklärte sie ruhig. So leid es ihr tat, aber sie musste ihm die Wahrheit sagen, damit seine Rückkehr nicht gleich mit einer Enttäuschung begann.

„Macht nichts. Wir können bestimmt bei Onkel Raoul wohnen.“

„Oh nein, nein“, platzte sie heraus. „Onkel Raoul hat eine … eine Freundin“, sagte sie leise.

„Wirklich?“

Raoul zuckte zusammen. „Aber sie wohnt nicht bei mir, Philippe. Und deshalb darfst du jederzeit bei mir übernachten.“ Das sagte er ganz ruhig und meinte es offenbar ehrlich. Doch Crystal sah er dabei nicht an.

„Wir können ganz bestimmt bei deinen Großeltern wohnen, mein Schatz.“

„Das stimmt“, sagte Raoul. „Im alten Kinderzimmer von deinem Papa. Grand-mère hat es schon für euch hergerichtet. Sie kann es kaum erwarten, dich nach Strich und Faden zu verwöhnen. Aber nun bring mich zur Tür. Es wird Zeit, dass ich ins Bett komme.“

Der Junge nahm seine Hand, und die beiden verließen den Raum.

Die Tatsache, dass Raoul die Existenz einer Freundin nicht bestritten hatte, nahm Crystal als Bestätigung für das, was Vivige ihr erzählt hatte. Sie hätte erleichtert sein sollen. Doch als sie den beiden nach unten folgte, bemerkte sie ein neues, quälendes Gefühl. Sie war eifersüchtig.

Nachdem sie in Genf gelandet waren, suchten sie Raouls Wagen im Parkhaus. Er verstaute das Gepäck im Kofferraum und setzte sich ans Steuer. Philippe hatte sich schon auf dem Rücksitz angeschnallt. Den geräumigen schwarzen Wagen muss Raoul erst kürzlich gekauft haben, überlegte Crystal. Es war eine elegante, bequeme Familienkutsche. Eric hatte bis zuletzt nicht auf einen Sportwagen verzichtet.

Bald darauf erreichten sie eine Schnellstraße. Crystal schaute auf die Uhr. Gegen Mittag sollten sie in Chamonix eintreffen, wenn nichts dazwischenkam.

Während des Fluges war Philippe viel zu aufgeregt gewesen, um zu schlafen. Sie und Raoul hatten abwechselnd geschlafen und sich mit ihm beschäftigt.

Sie drehte sich nach ihm um. „Hast du Hunger, Liebling?“

„Ja. Ich möchte Chicken Nuggets.“

„Ich weiß nicht, ob es die hier überhaupt gibt.“

Raoul warf ihr über den Rückspiegel einen amüsierten Blick zu. „Keine Sorge. Sogar die Schweizer essen inzwischen manchmal Fast Food“, sagte Raoul.

Sie hielten an einem Schnellrestaurant. Nachdem sie gegessen hatten, rief Raoul seine Mutter an, um ihr Kommen anzukündigen. Soweit Crystal verstand, ging es seinem Vater nicht besser, aber sein Zustand hatte sich wenigstens nicht verschlechtert.

Nun fuhren sie weiter.

„Bevor wir ins Krankenhaus fahren, setze ich euch bei meiner Mutter ab und warte, bis ihr euch frisch gemacht habt“, sagte er leise.

Crystal liebte sein Elternhaus. Es war ein herrliches, zweistöckiges altes Chalet, in der Ortschaft Les Pècles gelegen, überragt vom gewaltigen Massiv des Montblanc. Von dort aus waren es mit dem Auto nur ein paar Minuten ins Tal von Chamonix.

Wegen der Nähe zur Schweiz und Italien herrschte in Chamonix ein internationales Flair. Berühmt geworden war der Ort, weil hier die ersten Olympischen Winterspiele ausgetragen worden waren. Crystal hatte ihn zu jeder Jahreszeit geliebt. Beim Wiedersehen mit den vertrauten Straßen und den weihnachtlich geschmückten Geschäften bestürmten sie Erinnerungen, glückliche wie traurige.

Sie waren von Südwesten in das verschneite Tal von Chamonix hineingefahren und hätten schon längst nach Les Pècles abbiegen können, doch Raoul drehte zur Begrüßung eine Ehrenrunde. Den Weg zurück fuhr er auf der nördlichen Seite des Tals.

Ihr Sohn stieß Freudenschreie aus. „Ich kann den Berg sehen“, rief er und zeigte auf den Aiguille du Midi, einen felsigen Vorposten des Montblanc. Einmal waren sie zusammen mit Raoul mit der Seilbahn bis zum Gipfel gefahren, hatten zweitausendachthundert Meter hinunter auf Chamonix geschaut und tausend Meter hoch zum Montblanc. Seit diesem Erlebnis war der Aiguille du Midi für ihren Sohn der wichtigste Gipfel und Orientierungspunkt in der Bergwelt rund um das Tal.

„Weißt du noch, wie er heißt?“, fragte sie ihn.

„Nein, aber Onkel Raoul sagt, dass die Sonne darüber steht. Siehst du?“

„Du hast ein gutes Gedächtnis“, sagte Raoul und lächelte.

Crystal zwang sich, ihn nicht aus den Augenwinkeln zu beobachten, und schaute geradeaus. Er hatte sich um den Jungen gekümmert, seit der auf der Welt war. Deshalb verbanden sich für sie viele Erinnerungen an Philippes frühe Kinderjahre mit Raoul.

Eric war ein liebevoller Vater gewesen, aber er trainierte das ganze Jahr, und zwar immer dort, wo der Schnee gerade am besten war. Crystal hatte sich häufig von ihm alleingelassen gefühlt und ihn daran erinnern müssen, dass sein Sohn ihn vermisste.

Ein Jahr vor seinem tödlichen Unfall hatte sie vorgeschlagen, einen Teil des Jahres gemeinsam in Breckenridge zu verbringen, damit sie beide trainieren konnten und mehr Zeit zu dritt hätten. Dass der Junge sich längst mit sämtlichen Anliegen an Raoul wandte, hatte sie für sich behalten. Sie betonte nur, dass es so nicht weitergehe.

Doch Eric hatte ihren Vorschlag abgelehnt und stattdessen wieder von einem Haus gesprochen. Er dachte offenbar, dass sie dann eine Beschäftigung hätte. Dass sie mit dem Gedanken spielte, wieder in den Skisport einzusteigen, bemerkte er nicht einmal. Zum Streit kam es, als sie ihm sagte, dass ein Haus kein Ersatz für einen Vater sei.

In den darauf folgenden Monaten lebten sie sich auseinander. Sie sah ihn noch seltener als früher. Eric entzog sich, und sie begriff, dass er nicht bereit war, ihr zuliebe etwas aufzugeben. Ein Eheleben fand nicht mehr statt.

Je deutlicher sie ihm gegenüber wurde, desto störrischer reagierte er. Er ging davon aus, dass sie als ehemalige Spitzenathletin wusste, was es bedeutete, im Sport immer ganz oben zu bleiben. Zu einem gewissen Grad war das auch so. Doch für sie hatten sich seit Philippes Geburt die Prioritäten vollkommen verändert, und sie fand, dass ein Kind nicht nur das Recht auf eine Mutter, sondern auch auf einen fürsorglichen Vater hatte.

An dem Morgen vor dem schicksalhaften Rennen in Cortina hatte sie ihn wieder einmal daran erinnert und angekündigt, dass sie mit Philippe zurück nach Breckenridge gehen und so lange bleiben würde, bis er sie beide vermisste und nachkäme.

Eric hatte Philippe zum Abschied umarmt und geküsst, aber ihr gegenüber verlor er kein Wort, bevor er ging und zum ersten – und letzten – Mal die Wohnungstür hinter sich zuknallte. Sie hatte ihn nicht mehr lebend wiedergesehen.

„Da ist grand-mère!“

Der Wagen hielt, Philippe sprang hinaus und rannte die wenigen Eingangsstufen hinauf, um sich in die Arme seiner Großmutter zu werfen. Lange standen sie so, drückten und küssten sich.

Arlette Broussard war Anfang sechzig, aber noch immer voller Energie. Ihr Tatendrang war so unerschöpflich wie ihre Herzlichkeit und ihre Gastfreundschaft.

Von Weitem wirkt sie unverändert. Doch als auch Crystal zu ihr lief, entdeckte sie neue Falten in ihrem schönen Gesicht. Ihr kurz geschnittenes Haar war nicht mehr schwarz mit grauen Strähnen, sondern grau mit schwarzen Fäden darin.

Mon Dieu. Du bist wieder da! Und du hast Philippe mitgebracht! Wir haben euch schrecklich vermisst. Jules wird sich freuen.“

Als Crystal ihre Schwiegermutter in die Arme nahm, kam sie ihr dünner vor als früher, auch kleiner war sie geworden. „Wir haben euch auch sehr vermisst. Ich hoffe so sehr, dass Jules wieder gesund wird“, flüsterte sie.

„Ich auch.“ Arlette wischte sich über die Augen. „Jetzt seid ihr da, und ich darf hoffen.“

Während Crystal mit ihrer Schwiegermutter sprach, verschwanden Raoul und Philippe im Haus. Schließlich folgten sie den beiden in das große Wohnzimmer, das sich in ein Weihnachtsparadies verwandelt hatte.

„Es ist alles noch schöner, als ich es in Erinnerung hatte“, sagte Crystal.

„Und es hat mich dieses Jahr nicht einmal Arbeit gekostet. Die Tanne haben die Männer aufgestellt. Geschmückt haben ihn Vivige und die Kinder.“

„Weil du bei Jules im Krankenhaus warst“, sagte Crystal und drückte ihre Hand.

„Da ist Père Noël“, rief Philippe und rannte zum Baum.

Dass er sich daran noch erinnerte! „Nicht anfassen, Liebling. Diese handgeschnitzten Figuren sind kostbar.“

„Aber nicht sehr empfindlich“, sagte Arlette. „Du darfst den Weihnachtsmann vorsichtig herunterholen, Philippe. Ich schenke ihn dir als Andenken.“

„Oh, danke!“

„Du darfst dir auch ein Stück Marzipan aus der Schale nehmen, wenn du magst.“

„Mmh.“ Er steckte sich eines in den Mund.

„Ich habe deine Koffer in Erics altes Zimmer hochgebracht“, sagte Raoul. Er hatte nicht einmal seinen Mantel abgelegt und sah aus, als sei er auf dem Sprung. Ihr Herz schlug schneller.

„Danke.“

„He, da ist Daddy“, rief Philippe, den Mund noch voller Süßigkeiten. In der einen Hand den geschnitzten Weihnachtsmann, griff er mir der anderen nach einem kleinen gerahmten Foto, das Eric in Skiausrüstung zeigte. Es stand auf einer Anrichte, zusammen mit vielen anderen Aufnahmen. Alle Familienmitglieder waren abgebildet, und Philippe ließ seinen Blick darüberschweifen. Er zeigte auf eines der Bilder. „Das ist doch Tante Suzanne, oder?“

Crystal zuckte zusammen.

„Sie ist auch tot“, sagte Philippe.

„Ja.“

„Ist sie auch beim Skifahren gestorben wie Daddy?“

„Nein, sie ist im Frühling gestorben, bei einem Seilbahnunglück.“

„Musst du noch weinen, wenn du an sie denkst?“, fragte Philippe seinen Onkel.

„Nein. Aber ich werde sie nie vergessen.“

Philippe seufzte erleichtert, dann ging er zu ihm und umarmte ihn. „Ich weine auch nur noch ganz selten. Mommy sagt, Daddy ist im Himmel. Glaubst du, Suzanne ist auch im Himmel?“

„Ja.“

Das war zu viel für Arlette. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich ab und verließ den Raum.

„Komm, mein Schatz.“ Crystal nahm ihren Sohn bei der Hand. „Wir gehen nach oben und machen uns ein bisschen frisch. Dann besuchen wir deinen Großvater im Krankenhaus.“

„Warum ist er dort?“

„Aber du weißt doch, dass er krank ist. Dein Onkel hat dir alles erklärt.“

„Ich dachte, er liegt oben in seinem großen Bett …“

„Nein, im Krankenhaus hat er es besser. Da sind viele Ärzte und Krankenschwestern, die sich um ihn kümmern.“

„Weiß er, dass wir kommen?“

„Ich glaube nicht. Das wird eine große Überraschung für ihn.“

„Oh ja.“

In Erics früherem Kinderzimmer hatten sie und ihr Sohn oft gemeinsam übernachtet, wenn Eric wieder einmal irgendwo trainierte. Seit Philippes Geburt war das Zimmer mit einem Doppelbett ausgestattet. Neben den ersten Trophäen seines Vaters standen auch noch ein paar Spielsachen in einem Regal.

Unter all den Fotos, die an der Wand hingen, entdeckte Crystal sofort das von Philippes Taufe. Es zeigte ein lächelndes Paar mit einem Baby. Sie hatte erwartet, diese Reise in die Vergangenheit würde sie traurig stimmen, aber das Gegenteil war der Fall. Sie erinnerte sich an die ersten Wochen mit Philippe, als Eric so oft wie möglich zu Hause bei ihr und dem Baby blieb. Es war die letzte glückliche Periode ihrer Ehe gewesen. Sie hatte sich mit Begeisterung in ihre neue Rolle als Mutter gestürzt und nicht bemerkt, dass ihre Entscheidung, das Kind an die erste Stelle zu setzen, der Beginn ihrer Entfremdung von Eric war.

Inzwischen gestand sie sich ein, dass sie auch ohne den tödlichen Unfall irgendwann allein mit Philippe nach Breckenridge zurückgekehrt wäre und sich hätte scheiden lassen. Der Schnitt wäre gekommen, so oder so. Der Gedanke tat weh, gleichzeitig spürte sie, dass auch Erleichterung darin lag.

Raoul betrat vor den anderen das Krankenzimmer. Ihm fiel auf, dass seit seinem letzten Besuch zu all den Blumensträußen noch ein Weihnachtsstern hinzugekommen war. Daran lehnte eine Karte mit Genesungswünschen von Crystals Eltern. Jules würde sich bestimmt freuen.

Philippe würde sich erschrecken, wenn er seinen Großvater so sah. Ergraut, mit einer Kanüle im Arm und einem Nasenschlauch für den Sauerstoff. Hager, alt und hinfällig sah er aus.

Für den Kräfteverfall konnte der Arzt keinen rechten Grund finden. Doch auch er schloss nicht aus, dass die beiden Todesfälle dazu beigetragen hatten. Jules Broussard war ein Familienmensch, er arbeitete und lebte für seine Kinder und Enkel. Erics Tod hatte ihm die Lebensfreude geraubt. Vielleicht konnte Philippe, der seinem Vater so ähnlich war, sie seinem Großvater zurückgeben.

„Papa?“

„Ah, Raoul, du bist es. Du warst lange nicht mehr hier.“

Der Kranke tastete nach seiner Hand und weinte. Es zerriss Raoul das Herz, seinen einst vitalen Vater so schwach und mutlos zu sehen.

„Ich habe eine Überraschung für dich. Fühlst du dich kräftig genug für Besuch?“

Die Augenlider seines Vaters flatterten. „Bien sûr“, murmelte er mit brüchiger Stimme.

„Warte, ich bin gleich zurück.“

Raoul öffnete die Tür und schaute in drei besorgt blickende Augenpaare.

„Wie geht es ihm?“, flüsterte seine Mutter.

„Er ist wach.“

„Darf ich ihn sehen?“, fragte Philippe.

„Aber sicher.“ Er nahm seinen Neffen bei der Hand und führte ihn links neben das Bett. Seine Mutter und Crystal stellten sich auf die rechte Seite. Zu seiner Überraschung schien sich Philippe an den Schläuchen gar nicht zu stören.

„Hallo, grand-père, ich bin’s“, sagte er.

„Wer ist ich?“, fragte sein Großvater und öffnete langsam die Augen.

Philippe lachte. „Du weißt ganz genau, wer ich bin.“

Raoul hob ihn hoch, damit sein Vater den Jungen besser sehen konnte.

„Ah … mein Junge, mein Junge. Komm und gib deinem grand-père einen Kuss. Oder macht dir der Schlauch in meiner Nase Angst?“

„Nein.“ Philippe küsste ihn auf beide Wangen und streichelte ihn, bevor Raoul ihn wieder absetzte. „Pikst die Nadel in deinem Arm?“

„Nein, ich fühle sie nicht einmal.“

„Warum hast du sie?“

„Da steckt mir die Krankenschwester einen Schlauch rein. Durch den fließt Nahrung.“

„Warum isst du nicht einfach?“

Raoul hatte seinen Vater lange nicht mehr lachen gehört.

„Weil ich keinen Hunger habe.“

Anders als Raoul, der sich anstrengte, keine Miene zu verziehen, brach auch Crystal in Lachen aus. Sein Vater wandte ihr den Kopf zu.

„Ah, Crystal, wie schön, dich zu sehen. Hätte ich mir denken können, dass dein Sohn nicht alleine gekommen ist.“

„Ich wollte dich auch sehen, Jules. Und dir gute Besserung wünschen.“

„Es ist nicht so schlimm. Bleibt ihr über Weihnachten?“

Die Stimme seines Vaters klang so hoffnungsvoll, dass Raoul den Atem anhielt.

„Ja, sicher. Dieses Fest wollen wir nicht ohne dich und Arlette feiern.“

„Hast du gehört, mon amour?“

Auch seiner Mutter war dieser Hauch von Lebhaftigkeit in seiner Stimme nicht entgangen. Sie beugte sich über ihren Mann und küsste ihn.

„Ja, ich habe es gehört. Du hast also allen Grund, bald wieder gesund zu werden.“

„Ja, grand-père. Streng dich an. Dann schaffst du es.“

Wieder lachte sein Vater.

Plötzlich holte Philippe aus seiner Hosentasche den geschnitzten Weihnachtsmann heraus und drückte ihn seinem Großvater in die Hand.

„Was ist das?“

„Das ist Père Noël. Grand-mère hat erlaubt, dass ich ihn nehme. Er bleibt bei dir, bis du wieder gesund bist. Danach verstecke ich ihn in meiner Schatztruhe.“

„Du hast eine Schatztruhe?“

„Ja, da sind echt viele tolle Sachen drin.“

„Die musst du mir unbedingt zeigen.“

Raoul spürte, dass ein Wunder geschah.

Das erste Wunder war geschehen, als Crystal einwilligte, mit ihm nach Frankreich zu kommen. Jetzt kämpfte sie mit den Tränen, und er hoffte, dass die Mauer, die sie schon vor Erics Tod um sich herum hochgezogen hatte, vielleicht langsam zu bröckeln begann.

3. KAPITEL

Auf der Heimfahrt waren alle erleichtert und hoffnungsvoll. Nur Crystal äußerte Bedenken, dass der Überraschungsbesuch Jules überanstrengt haben könnte.

„Hör auf, dich zu quälen. Du und Philippe seid genau die richtige Medizin für ihn“, sagte Raoul und schaute sie im Rückspiegel an.

„Wann kommt er wieder nach Hause?“, wollte Philippe wissen.

Arlette drehte sich nach ihm um. „Das muss der Doktor entscheiden. Aber dein Großvater würde am liebsten schon morgen wieder bei uns sein.“

„Das wünsche ich mir auch.“

„Und ich erst! Doch wir müssen uns wohl noch eine Weile gedulden. Damit dir die Zeit nicht so lang wird, habe ich eine Überraschung für dich.“

„Was denn?“, fragte Philippe neugierig.

„Warte ab, bis wir zu Hause sind.“

In der Auffahrt des Chalets parkte bereits ein Wagen. Noch ehe sie ausgestiegen waren, öffnete sich die Haustür. Vivige und ihre Kinder traten heraus.

„Da ist Albert! Juhuu!“, rief Philippe.

Der blonde Junge stürmte auf ihn zu. Seine dunkelhaarigen Schwestern, Fleur und Lise, neun und zehn Jahre alt, stürzten sich in Crystals ausgebreitete Arme. Erst als die Mädchen den Jungs hinterherrannten, fanden die beiden Schwägerinnen Gelegenheit, sich zu begrüßen. Alle machten Anstalten ins Haus zu gehen, nur Raoul rührte sich nicht vom Fleck.

„Komm mit rein, Onkel Raoul“, rief Philippe und lief wieder zurück zu ihm.

„Zum Abendessen bin ich wieder da.“

„Ach, bitte bleib doch.“

„Philippe …“, Crystal legte ihm die Hände auf die Schultern. „Dein Onkel war lange nicht mehr zu Hause. Vielleicht möchte er auch mal seine Freundin sehen.“ Wenn sie lange genug darüber sprach, half es vielleicht, damit umzugehen. Irgendwann würde sie sich wahrscheinlich damit abfinden müssen, dass Raoul wieder heiratete. „Du siehst ihn ja nachher wieder, Schatz. Komm, Albert und die Mädchen möchten mit dir spielen.“

„Okay.“ Er hackte mit seinem Stiefel in den Schnee. „Versprichst du mir, dass du nachher wiederkommst?“ Nach Tagen, in denen er exklusiv die Aufmerksamkeit seines Onkels genossen hatte, fiel ihm sogar eine kurze Trennung schwer.

Bien sûr. Bis nachher.“

Philippe lächelte traurig. „Bis nachher.“

Alle stürmten in die Küche, in Vorfreude auf Kakao und Viviges selbst gebackene Weihnachtskekse. In dem fröhlichen Wirbel verging die Zeit wie im Flug.

Schließlich war es Zeit für das Abendessen. Sie waren schon beim Dessert angelangt, als Raoul im Esszimmer erschien.

Er hatte offensichtlich geduscht und sich rasiert. In seiner perfekt sitzenden grauen Hose und dem marineblauen Pullover sah er hinreißend attraktiv und männlich aus. Zu ihrer Erleichterung war er offenbar ohne seine Freundin gekommen. „Tut mir leid, dass ich so spät komme“, wandte er sich an Crystal. „Aber ich musste geschäftlich noch etwas Dringendes erledigen“, sagte er.

Sie hielt das für eine Ausrede. Wahrscheinlich hatte er sich mit seiner Freundin getroffen und dabei die Zeit vergessen.

„Setz dich doch neben Mommy“, schlug Philippe vor, obwohl auch noch neben seiner Großmutter ein Platz frei war. „Onkel Bernard erzählt Witze.“

„Kannst du sie denn verstehen?“, fragte Raoul.

„Nein, aber sie sind komisch.“ Philippe brach in Lachen aus, und alle stimmten mit ein.

Schließlich ging Vivige mit den Kindern ins Wohnzimmer, um mit ihnen Mühle zu spielen. „Aber nur eine Runde“, kündigte sie an. „Wir müssen nach Hause, morgen ist Schule.“ Alle vier stöhnten gleichzeitig auf.

Sie waren allein im Esszimmer zurückgeblieben, Raoul hatte ebenfalls sein Abendessen beendet, und Crystal nutzte die Gelegenheit, um ein Thema anzuschneiden, auf das Vivige sie vorhin angesprochen hatte.

„Du hast vorgeschlagen, dass Philippe mit Albert zur Schule geht? Das halte ich für eine gute Idee, Raoul. Dann wäre ihm nicht so langweilig, und ich hätte Zeit, deine Mutter zu unterstützen.“

Raoul trank seinen Kaffee aus. „Jedenfalls ist es einen Versuch wert. Wenn er einverstanden ist, hole ich euch morgen früh ab. Wir fahren zur Schule und sprechen mit Alberts Lehrerin. Wenn sie nichts dagegen hat, warten wir ab, wie es läuft. Wenn er sich unwohl fühlt, kann er mich anrufen, und wir holen ihn ab.“

Sie seufzte erleichtert auf. „Du denkst an alles, Raoul Broussard.“ Ja, das tat er. Sie war ihm dankbar dafür. Aber mehr durfte sie nicht für ihn empfinden als Dankbarkeit. Er war ihr Schwager und der Geliebte einer anderen Frau. Das durfte sie nie vergessen.

„Ich bemühe mich. Lass uns gleich mit ihm sprechen. Und dann solltet ihr ins Bett gehen. Du siehst erschöpft aus.“

Nebenan im Salon hatte Fleur gerade beim Mühlespielen gewonnen. Bernard, Vivige und die Kinder sagten Gute Nacht. Raoul setzte sich Philippe auf die Schultern, Crystal scheuchte sie die Treppe hinauf, und Philippe lachte, bis sein Onkel ihn auf das Doppelbett plumpsen ließ. Da wurde er plötzlich ernst. „Dürfen Mommy und ich dich morgen besuchen?“

Crystal wäre am liebsten im Erdboden versunken.

„Gern, aber erst, wenn ich von der Arbeit zurück bin. Doch jetzt habe ich eine Bitte an dich.“

„Was denn?“

„Albert ist sehr glücklich, dass du hier bist. Er möchte, dass du morgen mit ihm in die Schule gehst.“

„Schule?“ Philippe sah aus, als hörte er dieses Wort zum ersten Mal. Dann verzog er den Mund. „Muss ich?“

„Nein, mein Schatz“, mischte sich nun Crystal ein. „Du musst nicht. Aber wenn du hierbleibst, musst du auch warten, bis Onkel Raoul fertig ist mit Arbeiten und du zu ihm gehen kannst.“

Philippe dachte nach. „Ob Alberts Lehrerin streng ist?“

Raoul lächelte. „Ich glaube nicht. Ob du sie nett findest, kannst nur du selbst herausfinden.“

„Ich begleite dich, Schatz“, sagte Crystal. „Wenn es dir nicht gefällt, ruft mich die Schule an und ich hole dich ab. Aber du darfst natürlich Albert nicht stören, während er lernt. Denk darüber nach und sag mir morgen früh Bescheid, wie du dich entschieden hast. Und jetzt ab in die Badewanne.“

„Okay.“ Er stand auf. „Gehst du jetzt nach Hause, Onkel Raoul?“

„Ich fahre vorher noch einmal ins Krankenhaus und schaue nach, wie es deinem Großvater geht.“ Er umarmte ihn zum Abschied und wandte sich an Crystal: „Wenn ich nichts von dir höre, bin ich um Viertel vor acht hier.“

Sie brachte ihn noch zur Haustür. „Ich bin dir sehr dankbar, weil du dich so wunderbar um Philippe und mich kümmerst. Es tut ihm gut, hier zu sein, und deinem Vater tut es gut, ihn zu sehen. Daran liegt mir sehr viel, musst du wissen. Aber ich möchte nicht, dass Philippe eine Last für dich wird, während wir hier sind.“

Raoul zog die Augenbrauen hoch. „Eine Last? Philippe?“

Ihr Herz begann zu klopfen. „Versteh mich bitte nicht falsch. Er ist so vernarrt in dich, dass er am liebsten jede Minute mit dir zusammen sein möchte. Aber …“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, Crystal.“

„Aber deine Freundin – Silvie, so heißt sie doch? – möchte dich vielleicht nicht mit ihm teilen.“

Er schaute sie lange unverwandt an. „Hört sich an, als hätte Vivige dir diesen Floh ins Ohr gesetzt. Ich kann verstehen, dass sie mich wieder in festen Händen sehen möchte. Aber sie muss etwas falsch verstanden haben. Silvie muss mich nicht teilen, denn wir sind nie zusammengekommen.“

Crystal polterte ein Stein vom Herzen. „Tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Vivige hatte das erwähnt, weil …“

„… die Familie sich noch immer Sorgen um mich macht“, unterbrach er sie. „Jetzt geht es aber nicht um mich, sondern um Philippe. Nur er ist wichtig. Du solltest wissen, warum ich Philippe liebe. Am Tag seiner Geburt wärt ihr beide fast gestorben.“

„Ja“, flüsterte sie. „Ich weiß.“

„Es ist zu spät, um mich auf Distanz zu halten“, sagte er, und seine Miene verhärtete sich.

„So habe ich das nicht gemeint.“

„Oh doch. Das hast du“, sagte er finster. „Aber ich weiß aus bitterer Erfahrung, dass Gefühle ein Eigenleben führen und an die Oberfläche kommen, ob es uns passt oder nicht. Dein Sohn ist noch zu jung und unschuldig, um das zu begreifen. Er äußert seine Gefühle in aller Treuherzigkeit ohne jeden Hintergedanken. Hoffentlich kann er sich diese Unbekümmertheit noch lange bewahren.“

Er drehte sich auf dem Absatz um und wandte sich zum Gehen. Es versetzte ihr einen Stich, dass er so verletzt war, und sie rannte ihm nach.

„Bitte geh noch nicht. Bitte …“

Er blieb stehen. „Wir sind beide erschöpft, Crystal.“

Ja, das stimmte. Auch ihm sah sie es nun an. Offenbar wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann besann er sich. „Ich wünsche dir eine erholsame Nacht. Wir können morgen weitersprechen, falls du wissen möchtest, worunter dein Sohn leidet.“

Sie hielt sich am Türrahmen fest. „Warum hat er mir nichts davon gesagt?“

Raoul stand schon am Treppenabsatz. „Ganz einfach: Er liebt dich zu sehr, er möchte dich nicht verletzen. Wenn er das täte, würde seine Welt vollends zusammenbrechen. Weißt du, was ich denke? Du solltest aufhören, ihn für etwas zu bestrafen, für das er überhaupt nichts kann.“

Noch lange, nachdem er fort war, stand Crystal noch immer an der geöffneten Tür. Raouls Bemerkung hatte sie bis ins Mark getroffen und sie mit der Wahrheit konfrontiert. Sie hatte sich schuldig gefühlt, weil sie Eric nicht mehr liebte, und sich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Was das für ihren Sohn bedeutete, erkannte sie erst jetzt.

Philippe war stolz, dass er in die zweite Klasse gehen durfte, denn eigentlich gehörte er ja noch in die erste. Schon aus dem Grund würde er sich Mühe geben, den Schultag durchzuhalten.

Crystal stand neben Raoul an der offenen Tür, als ob sie seine Eltern wären. Eigentlich hätte Eric jetzt hier mit ihr stehen müssen. Doch das Schicksal hatte es anders bestimmt.

Ihre Augen wurden feucht, als die Lehrerin Philippe in der Klasse willkommen hieß. Nachdem sie ihn den anderen Kindern vorgestellt hatte, schaute er sich nach ihr und Raoul um, lächelte und winkte ihnen zu.

Seitdem sein Onkel nach Breckenridge gekommen war, hatte er häufiger gelächelt als im ganzen Jahr zuvor.

„Lass uns gehen, bevor ich in Tränen ausbreche“, sagte sie. „Ich fühle mich wieder wie an seinem ersten Schultag.“

„Es ist ja auch sein erster an einer französischen Schule“, sagte Raoul, als sie draußen waren. „Komm, wir fahren zu mir und frühstücken. Dabei können wir reden.“

Draußen umfasste er ihren Arm, damit sie im Schnee nicht ausrutschte. Das war eine unwillkürliche Geste, aber seine Berührung übte eine so starke Wirkung auf sie aus, dass Crystal sich zwingen musste, an etwas anderes zu denken.

Raouls Chalet in Les Pècles war kleiner und moderner als das seiner Eltern, aber nicht weniger komfortabel. Als seine Schwägerin hatte sie ihn hier oft besucht. Doch diesmal hatte sie geradezu Angst davor, mit ihm allein zu sein.

Noch nie hatte er irgendetwas getan, das ihr unangenehm war. Und trotzdem war sie regelrecht gelähmt in seiner Anwesenheit. Zum ersten Mal hatte die Angst vor seiner Nähe sie einen Monat vor Erics Tod überfallen. Sie konnte sich noch genau an die Situation erinnern.

Philippe hatte auf seinen Vater gewartet. Doch Eric war nicht gekommen, wahrscheinlich weil er wieder einmal die Verabredung mit seinem Sohn vergessen hatte.

Schimpfend und weinend hatte der Junge versucht, ihr mit seinem kleinen roten Fahrrad aus der Wohnung zu entwischen, um nach seinem Vater zu suchen. Zufällig war Raoul vorbeigekommen und Zeuge des Unglücks geworden. Als er tröstend den Arm um sie legte, überfielen sie urplötzlich Gefühle, die absolut nicht geschwisterlich, aber so stark und eindeutig waren, dass ihr fast die Sinne schwanden.

Von dieser Erkenntnis getroffen, wurde sie regelrecht krank vor Schuld und Scham. Noch Tage später plagten sie entsetzliche Kopfschmerzen.

Als einzige Lösung, ihren beängstigenden Gefühlen für Raoul zu entkommen, war ihr der Umzug ihrer kleinen Familie nach Breckenridge eingefallen. Sie lag Eric damit tage- und wochenlang in den Ohren. Sie schlug andere Orte in Europa vor, wo er einen Teil des Jahres trainieren konnte. Doch sosehr sie ihn auch bat und zu überzeugen versuchte, Eric wollte von einem Umzug nichts wissen.

Nach seinem Tod wollte sie sofort nach Colorado entfliehen, aber die Familie hielt sie zurück. Die Broussards brauchten sie und Philippe, und sie brauchten die Broussards. Philippe hing wie eine Klette an seinem Onkel. Doch Raoul war nicht Philippes Vater.

Außerdem hatte er damals begonnen, wieder unter Menschen zu gehen. Er traf sich mit Frauen, und eines Tages hätte er sich wieder verliebt und geheiratet. Was wäre aus Philippe geworden, wenn er die Aufmerksamkeit seines Onkels mit einer neuen Frau hätte teilen müssen? Wäre das nicht ein weiterer Verlust für ihn gewesen?

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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