Sinnliche Berührungen eines Lords

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Verwirrt, verängstigt und ohne Erinnerung an ihr bisheriges Leben betritt Sabrina das Büro der Detektei Moreland. Sie weiß nur noch, dass sie verfolgt wird und dringend Hilfe braucht! Lord Alexander Moreland verspricht, das Geheimnis um ihre Vergangenheit zu lüften – doch bei den Ermittlungen gerät sie in Todesgefahr. Auf der Flucht vor den zu allem entschlossenen Verfolgern kommen Sabrina und ihr heldenhafter Beschützer sich immer näher. Aber sosehr Sabrina die sinnlichen Berührungen des Lords genießt, sie darf ihrem Verlangen nicht nachgeben – denn plötzlich taucht jemand auf, der behauptet, ihr Ehemann zu sein!


  • Erscheinungstag 18.11.2022
  • Bandnummer 144
  • ISBN / Artikelnummer 0840220144
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

PROLOG

Sie schlug die Augen auf. Es war dunkel und schattig, das einzige Licht kam von einer kleinen Petroleumlampe, die auf einer Kommode am anderen Ende des Zimmers stand. Doch selbst in diesem Dämmerlicht wusste sie, dass sie nicht zu Hause war. Die Lider wurden ihr schwer, und sie schloss die Augen. Sie wollte schlafen, aber sie wusste, dass sie das nicht durfte; so benebelt und verwirrt sie auch war, verspürte sie doch eine eindringliche, hartnäckige Angst, die sie drängte aufzuwachen.

Sie musste fort.

Es fiel ihr schwer, sich dem lockenden Sog des Schlafes zu entziehen, doch es war unumgänglich. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Vage, flackernde Erinnerungsbilder flirrten ihr durch den Kopf – eine dunkle Kutsche, ein fremder Salon, ein ihr unbekannter Mann, der redete und redete und gar nicht mehr aufhören wollte. Neben ihr ein anderer Mann, vertrauter, aber trotzdem irgendwie falsch.

Das einzig Klare war das eisige Grauen, das über alledem lag. Etwas Schreckliches war passiert. Passierte immer noch.

Deshalb musste sie aufwachen. Sie musste weg. Sie schwang ein Bein über die Bettkante. Im nächsten Moment ging sie zu Boden und knallte mit dem Kopf gegen die Dielen.

Der überraschende Sturz weckte sie ein Stück weit, und sie stemmte sich auf Hände und Knie, griff haltsuchend nach der Matratze und richtete sich dann langsam auf. Der Magen drehte sich ihr um, ihr war schwindelig, und sie befürchtete, ihr könnte das Essen wieder hochkommen. Sie hielt sich ganz still und schluckte schwer, und nach einem Moment ließ das Schwindelgefühl nach.

Eile tat jetzt not. Er würde zurückkommen. Sie wandte sich zur Tür, getrieben von dem Bedürfnis, diesem kleinen ungewohnten Raum zu entkommen, doch am Ende setzte sich ihr Verstand durch, so benebelt er auch war. Erst denken, dann handeln! Sie sollte etwas mitnehmen. Suchend sah sie sich um, konnte ihr Retikül aber nirgends entdecken. Wo war es? Sie würde Geld brauchen.

Merkwürdig aussehen sollte sie besser auch nicht. Ihre Frisur hatte sich halb gelöst, das Haar fiel ihr auf die Schultern. Unbeholfen zog sie die Haarnadeln heraus, rollte das Haar zu einem festen Knoten auf und steckte die Nadeln wieder hinein. Sie vermutete, dass die Frisur ziemlich schief saß, aber es würde genügen müssen.

Sie richtete ihr Mieder und ihre Röcke und zupfte an ihren Ärmeln. Zwar trug sie kein Reisekleid, war sich aber sicher, dass sie tatsächlich in einer Kutsche gesessen hatte. Sie hatte das Rattern der Räder und das Klirren des Geschirrs noch im Ohr. Und dieser fremde, schäbige Raum sah aus wie ein Zimmer in einem Gasthof. Aber sie trug ein rüschenbesetztes Abendkleid, das sich eher für ein Dinner eignete.

Ihr knurrte der Magen, und sie merkte, dass sie Hunger hatte. Zu essen gab es hier nichts, aber sie sah ein paar Gläser und einen Krug mit Wasser, und Durst hatte sie auch. Sie goss sich ein halbes Glas ein und stürzte es hinunter. Wieder drohte ihr Magen zu rebellieren, und wieder wartete sie ab, bis es verging.

Danach fühlte sie sich eine Spur wachsamer und gewitzter. Sie steckte die Hand in die Tasche ihres Kleids und stieß auf ein gefaltetes Stück Papier. Sie wusste nun, wohin sie zu gehen hatte.

Dann entdeckte sie ihre kleine Reisetasche, die neben einem maskulin wirkenden Gepäckstück an der Wand stand. Sie schnappte sich die Tasche und eilte zur Tür. Doch die ließ sich nicht öffnen. Wie betäubt rüttelte und zog sie an der Klinke – vergebens. Sie war eingesperrt.

Er hatte sie eingesperrt! Ein Gefühl bitteren Verrats überkam sie. Wie konnte er ihr das nur antun? Sie hatte ihm vertraut. Panik stieg in ihr hoch, drohte sie zu überwältigen. Sie war allein. Alle, auf die sie gebaut hatte, hatten sich gegen sie gewandt. Flucht war unmöglich. Sie saß in der Falle.

Sie versuchte, die Panik zurückzudrängen und suchte auf der Kommode und dem Tischchen neben dem Bett. Nirgends ein Schlüssel zu sehen. Mit schwankenden Schritten ging sie zum Fenster und stieß es auf. Das Zimmer lag im ersten Stock.

Sie wappnete sich gegen die Verzweiflung. Ein Regenrohr befand sich in Reichweite des Fensters … wenn sie sich sehr weit hinauslehnte. Aber sie war schon immer gut im Klettern gewesen, und vor allem sah sie unten einen kleinen Dachvorsprung. Wenn sie fiele, dann nicht ganz so tief. Das Dächlein war leicht geneigt, so dass es am anderen Ende nicht mehr weit nach unten gehen würde, und es ruhte bestimmt auf einer Stütze, die sie benutzen konnte. Unmöglich war es nicht. Sie musste nur allen Mut zusammennehmen.

Sie lehnte sich an den Fensterrahmen und dachte angestrengt nach. Er würde ihr folgen. Nun galt es, klug zu sein. Eine Verkleidung! Sie öffnete das große Gepäckstück und zog eine Garnitur Kleider heraus. Zum Umziehen blieb ihr keine Zeit – schließlich konnte er jeden Moment zurückkommen –, und so stopfte sie die Kleider in ihre Reisetasche. Schuhe. Stirnrunzelnd blickte sie auf ihre bestickten Abendschuhe, griff nach dem Schuhpaar in dem Gepäckstück und legte es zu den anderen Sachen. Jetzt war die Reisetasche zu voll, um sie zu schließen, also riss sie ein Kleid heraus, rollte es zusammen und verstaute es in der untersten Schublade der kleinen Kommode.

Gerade als sie das Gepäckstück schließen wollte, entdeckte sie in einem Winkel einen Beutel und zog ihn heraus. Er war prallvoll gefüllt mit Geldscheinen und Münzen. Natürlich wäre es falsch, sie zu stehlen. Aber wie sollte sie sonst entkommen? Sie hatte keinen Penny bei sich. Und außerdem war es doch ohnehin ihr Geld, oder nicht? Sie schob den Beutel in die Tasche ihres Kleids und schloss das Gepäckstück. Dann schnallte sie ihre Reisetasche zu, nahm sie und lief zum Fenster.

Die Tasche wanderte als Erstes hinaus. Sie landete auf dem Dächlein und kollerte auf den Boden. Sie erstarrte, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Plötzlich klirrte ein Schlüssel im Schloss, und sie wurde aktiv. Sie beugte sich aus dem Fenster, streckte sich nach dem Regenrohr. Die Entfernung war zu groß, sie musste aufs Fensterbrett klettern, um es zu fassen zu bekommen. Sie setzte sich aufs Fensterbrett und drehte sich, während sie gleichzeitig die Füße unter sich hochzuziehen versuchte. In diesem Augenblick schwang die Tür auf, und ein Mann kam herein.

„Nein!“ Er knallte die Tür hinter sich zu und rannte zum Fenster, um sie zu packen und zurück ins Haus zu zerren.

Sie wehrte sich verzweifelt, trat und schlug wie wild um sich. „Du Unmensch! Du Verräter!“

„Aua!“ Er ließ sie fallen, trat zurück und fasste sich ins Gesicht, wo ein blutroter Kratzer zu sehen war.

Sie warf sich auf ihn, stieß ihn zurück. Er stolperte, wurde puterrot vor Zorn und schlug ihr ins Gesicht. Sie taumelte rückwärts, stieß dabei gegen den Waschtisch, dass Waschschüssel und Krug schepperten. Der Schock war für sie fast ebenso groß wie der Schmerz in ihrer Wange. Niemand hatte sie je geschlagen. Bitterer Zorn durchflutete sie und überwog alles andere. Sie griff hinter sich, schloss die Hand um den Griff des Wasserkrugs, stürzte sich auf den Mann und schwang dabei den steinernen Krug mit aller Kraft.

Er konnte noch ein wenig ausweichen, so dass ihn der Krug nicht wie von ihr beabsichtigt mit voller Wucht am Kopf erwischte, doch er streifte seinen Kiefer, prallte ihm auf die Schulter, und ein Schwall Wasser ergoss sich über ihn. Der Mann stolperte rückwärts, verfing sich mit dem Fuß im Flickenteppich und fiel hin.

Sie rannte zum Fenster, fühlte sich dabei so klar im Kopf wie nie seit ihrem Erwachen und kletterte auf das Fensterbrett. Dort kauerte sie sich hin und hielt sich mit einer Hand am Fensterrahmen fest, während sie mit der anderen das Regenrohr zu fassen bekam. Sie erstarrte, das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch dann hörte sie, wie er Anstalten machte, sich aufzurappeln, und das gab ihr den nötigen Anstoß.

Sie schwang sich hinaus, hakte ihren Fuß in die Eisenhalterung, mit der das Regenrohr an der Wand befestigt war, ließ den Fensterrahmen los und griff hastig nach dem Rohr. Zitternd klammerte sie sich daran fest und tastete mit dem Fuß nach einem Halt unter sich. Zum Teufel mit diesen hinderlichen Röcken! Sie wünschte, sie hätte Zeit gehabt, sich umzuziehen.

Der Mann streckte den Kopf aus dem Fenster, holte weit aus und bekam die Schärpe ihres Kleids zu fassen. Sie hangelte sich weiter nach unten, wobei ihr vor Anstrengung die Schultern schmerzten. Fluchend reckte er sich weiter hinaus, und sie versuchte sich mit aller Kraft von ihm loszureißen.

Und da stürzte er aus dem Fenster. Mit seinem Gewicht riss er sie mit sich in die Tiefe, obwohl er die Schärpe von ihrem Kleid zerfetzte. Sie verlor ihren verzweifelten Halt am Regenrohr und fiel ebenfalls, spürte einen Anflug atemloser Panik, dann den Aufprall auf dem Dächlein. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, ein scharfer Schmerz durchfuhr ihren Kopf. Hilflos rollte sie hinab, ihr Schwung trug sie über das leicht geneigte Dach hinab ins Leere.

Danach wurde es dunkel um sie.

1. KAPITEL

Alex lief die Treppe hinunter. Die Sache war erledigt, doch er hatte ein ungutes Gefühl. Nicht nur, weil er den Verdacht hegte, dass der Mann, bei dem er gerade gewesen war, ihn weniger um seines Talents willen für den Entwurf seines Landhauses ausgewählt hatte, sondern weil er sich damit brüsten wollte, an diesem Morgen den Sohn des Duke of Broughton bei sich empfangen zu haben. Nein, Alex war schon seit dem Aufwachen merkwürdig und unruhig zumute.

Er warf einen Blick auf die Uhr und beschloss, lieber mit der Droschke ins Büro zu fahren als zu laufen. Con beabsichtigte, heute Nachmittag zu einem seiner Abenteuer aufzubrechen, und er wollte ihn unbedingt noch erwischen. Auch wenn sie im Lauf der Jahre noch andere Freunde gewonnen hatten, war Con nach wie vor sein engster Vertrauter.

Sein Unbehagen rührte nicht daher, dass er sich wegen Con sorgte. Wenn Con in Schwierigkeiten steckte, würde er das umgehend spüren, so wie er auch gewusst hatte, dass sein Zwillingsbruder nicht im Haus gewesen war, als er aufwachte. Keiner von beiden konnte die besondere Verbindung erklären, die zwischen ihnen bestand – sie war einfach da –, aber sie zweifelten auch nie an deren Existenz.

Alex hielt die merkwürdige Unruhe, die sich in seiner Brust eingenistet hatte, schlicht für eine Nachwirkung seines Albtraums. Zwar konnte er sich nicht daran erinnern, ihn geträumt zu haben, aber er war in letzter Zeit so oft davon heimgesucht worden, dass er annahm, es sei auch in dieser Nacht wieder der Fall gewesen. Allerdings wachte er normalerweise von diesem Albtraum auf, um dann zitternd und schweißgebadet im Bett zu liegen. Bisher hatte er sich am nächsten Tag noch nie so gefühlt wie jetzt.

Vor seinem und Cons Geschäftsgebäude stieg er aus. Es handelte sich um einen schmalen Steinkomplex, vier Stockwerke hoch und solide gebaut. Alex hätte sich vielleicht ein schöneres Design gewünscht, aber es erfüllte seinen Zweck. Im Erdgeschoss war eine Buchhandlung untergebracht, im ersten Stock befanden sich ihre Büros, und in den beiden Stockwerken darüber hatten er und Con sich nach dem Studium ihr Junggesellenquartier eingerichtet.

Obwohl sie vor einem Jahr wieder in das Stadthaus der Familie gezogen waren, hatten sie die Wohnung nicht vermietet. Manchmal übernachtete einer von ihnen noch dort. Con nutzte die Wohnung öfter, wenn er an einem Fall arbeitete oder bis spätabends unterwegs war.

Beim Eintreten begegnete Alex Cons Assistenten Tom Quick, der gerade die Treppe herunterkam. Tom war ein paar Jahre älter als Alex. Ihr älterer Bruder Reed hatte ihn bei dem Versuch ertappt, ihm die Brieftasche zu klauen, und ihn aus der Gosse geholt. Anstatt den Jungen der Polizei zu übergeben, hatte Reed ihn neu eingekleidet, ihm etwas zu essen gegeben und ihn dann zur Schule geschickt. Für die Schule hatte Quick sich nicht sonderlich begeistern können, aber er war seither der Familie Moreland zu treuen Diensten. Zunächst hatte er Botengänge für Reed erledigt und war dann zur tragenden Säule der Agentur ihrer älteren Schwester Olivia geworden. Con hatte Toms Dienste zusammen mit dem Geschäft vor ein paar Jahren von Olivia übernommen.

Der blonde Mann grinste übermütig, wie immer, wenn etwas im Busch war. Alex beäugte ihn misstrauisch. „Ist Con oben?“

„Allerdings.“ Tom gluckste belustigt. „Kann man wohl sagen.“

„Was hat er jetzt wieder angestellt?“, fragte Alex. Ihm schwante nichts Gutes. Vielleicht waren seine düsteren Vorahnungen ja doch auf Con zurückzuführen.

„Das werden Sie schon sehen“, erwiderte Tom leichthin und trabte an ihm vorbei.

Eilig lief Alex die Stufen hinauf, nahm dabei zwei Stufen auf einmal, lief an seinem eigenen Büro vorbei zur letzten Tür auf dem Flur. Ein dezentes Messingschild neben der Tür zeigte an, dass es sich hier um Morelands Agentur zur Erforschung übersinnlicher Phänomene handelte.

Er öffnete die Tür, blieb beim Anblick seines Bruders abrupt stehen und schnappte nach Luft. Normalerweise hatte er das Gefühl, in den Spiegel zu schauen, wenn er Con gegenüberstand, auch wenn Cons schwarzes Haar etwas länger und struppiger war und er seit einiger Zeit einen Schnurrbart trug. Ansonsten aber war es das gleiche kantige Gesicht mit dem gleichen eckigen Kinn und den gleichen geraden schwarzen Brauen, den gleichen scharfsichtigen grünen Augen, dem gleichen festen Mund, der immer zu einem Lächeln bereit war. In Größe und Körperbau, in der Art, wie sie gingen und standen, ähnelten sie einander so sehr, dass es selbst ihrer Mutter schon passiert war, dass sie die beiden von hinten miteinander verwechselt hatte.

Aber diesmal … Con hatte sich die Haare mit Pomade aus dem Gesicht gestrichen. Den Schnurrbart hatte er zu zwei langen, scharfen Spitzen gewachst und zu absurden Schnörkeln gezwirbelt. Um Brust und Mitte war er merkwürdigerweise breiter und insgesamt sogar etwas größer, und er steckte in einem spektakulären gelb-braun karierten Anzug. Auf dem Schreibtisch neben ihm lagen eine Melone in passendem Braun und ein glänzender schwarzer Stock mit einem Löwenkopf als Knauf.

Con lachte über den fassungslosen Gesichtsausdruck seines Bruders und stellte sich in Positur. „Na, wie findest du mich?“

„Ich finde, du hast dich in einen Tollhäusler verwandelt, das ist es, was ich finde.“ Alex lachte. „Was in aller Welt treibst du da? Ich dachte, du wolltest nach Cornwall, um dich bei den Leuten einzuschleusen, die behaupten, dass nächsten Monat die Welt untergeht.“

Olivia hatte ihre Agentur eröffnet, um all die Spiritualisten und Medien zu entlarven, die im letzten Jahrzehnt leichtgläubige und gramgebeugte Menschen mit dem Märchen betrogen hatten, sie könnten Kontakt zu ihren verstorbenen Lieben im Jenseits aufnehmen. Nachdem sie bei einer dieser Ermittlungen ihren späteren Mann kennengelernt hatte, verkümmerte die Agentur etwas; die meiste Arbeit hatte Tom Quick erledigt. Unter seiner Ägide wandte die Firma sich einer Reihe anderer Ermittlungen zu, suchte etwa nach vermissten Personen, deckte Finanzbetrügereien auf oder fühlte und Mitarbeitern oder Ehepartnern in spe auf den Zahn.

Nachdem Con seiner Schwester die Agentur abgekauft hatte, setzte er diese Art von Ermittlungen fort, für die Quick zu Recht bekannt geworden war, widmete sich aber auch voller Enthusiasmus wieder der Untersuchung jenseitiger Phänomene, wobei er über Olivias Gebiet der betrügerischen Medien und ihrer Séancen hinausging und sich mit Meldungen über Geister und sagenhafte Bestien befasste und sogar, wie in seinem neuesten Fall, mit einer quasireligiösen Gruppe, die den Weltuntergang verkündete.

„Dahin will ich ja auch“, gab Con zurück.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in der Aufmachung sonderlich gut in diese Gruppe passt.“

„Ach, glaub mir …“, Con wackelte mit den Augenbrauen, „… ich habe herausgefunden, dass ein ausgefallenes Kostüm eine ausgezeichnete Tarnung abgibt. Die Leute werden sich an nichts anderes erinnern als an diesen lächerlichen Schnurrbart und den fürchterlichen Anzug. Habe ich die erst einmal abgelegt, wird mich kein Mensch mehr erkennen.“

„Wie hast du es hingekriegt, dass du so dick aussiehst?“ Alex tippte mit dem Finger an die Brust seines Zwillingsbruders und stellte fest, dass sie kissenweich war.

„Eine gepolsterte Weste“, erklärte Con stolz. „Ich habe auch Einlagen in den Schuhen. Ich hätte mich gern kleiner gemacht, aber das ist ein bisschen schwierig.“

„Das kann ich mir vorstellen. Dir ist hoffentlich klar, dass du aussiehst wie ein Trottel.“

„Ich weiß.“ Con grinste. „Und jetzt pass auf.“ Er nahm seinen Stock und drehte mit einer scharfen Bewegung den Griff heraus, so dass ein schlankes Messer zum Vorschein kam.

„Ein verborgenes Stilett.“ Alex’ Augen leuchteten auf. Auch wenn er etwas gesetzter war als Con, war er gegen die Reize versteckter Dolche nicht gefeit.

„Raffiniert, was?“ Con reichte seinem Bruder die Waffe. „Und obwohl man es nicht vermuten würde, liegt das Ding gut in der Hand. Ich habe es vor ein paar Monaten auf dem Dachboden gefunden.“

„In Broughton House?“ Alex drehte den Stockdolch prüfend um.

„Ja, ich war mit den Kleinen oben.“

Damit waren die Zwillinge ihrer Schwester Kyria gemeint, Allison und Jason, die, nachdem Constantine und Alexander den Spitznamen „die Großen“ bekommen hatten, oft als „die Kleinen“ bezeichnet wurden.

„Jason hat ihn entdeckt, aber Allie hat herausgefunden, wie man ihn öffnet – sie ist ein blutrünstiges kleines Ding, ist dir das schon aufgefallen? Ich konnte sie nur mit Mühe davon überzeugen, dass sie es nicht behalten darf.“

„Na ja, du kennst ja ihren Vater.“ Alex lachte. „Als Nächstes wird sie mit einer Pistole herumfuchteln.“

„Bei der Vorstellung wird mir angst und bange.“

„Rechnest du denn damit, dass du dort, wo du hinwillst, Schwierigkeiten bekommen könntest? Brauchst du einen Dolch?“

„Eigentlich nicht.“ Con seufzte. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er seine Anhänger ausnimmt – jemand, der glaubt, in ein paar Monaten in den Himmel aufzusteigen, ist leicht dazu zu bringen, all seine weltlichen Güter aufzugeben. Aber bisher habe ich noch keinerlei Anzeichen dafür gesehen, dass er zur Gewalt neigt. Doch ich bin lieber gewappnet.“

Grinsend gab Alex ihm den Dolch zurück „Vor allem mit etwas so Raffiniertem.“

„Natürlich.“ Con schob den Dolch zurück in den Stock. „Hast du Lust, mich zu begleiten?“

Alex verspürte leise Sehnsucht. Er und Con hatten miteinander so manches Abenteuer durchgestanden. Erst in den letzten Jahren, seit er sein Studium an der Architekturschule der Architectural Association absolviert hatte und nun auf diesem Gebiet arbeitete, war er immer öfter zu Hause geblieben und hatte Con nur hin und wieder bei dessen Ermittlungen unterstützt.

„Nein“, sagte er zögernd. „Lieber nicht. Ich muss an den Plänen für Blackburns Landhaus arbeiten. Und ich habe … ich weiß nicht, ich habe so das Gefühl, als müsste ich hier bleiben.“

„Wie meinst du das?“ Con legte den Stock beiseite und warf seinem Zwillingsbruder einen forschenden Blick zu. „Stimmt irgendetwas nicht?“

„Nein … vielleicht. Ich weiß nicht.“ Alex verzog das Gesicht.

„Du hattest eine Vorahnung?“

„Nicht direkt. Ich bin nicht wie Anna. Ich kann nicht vorhersehen, was passieren wird.“ Alex verschränkte die Arme. Er sprach nicht gern über seine „Gabe“, wie Con das nannte, oder seinen „Fluch“, wie Alex es sah. „Mir ist schon den ganzen Tag irgendwie unwohl, seit ich aufgewacht bin. Unruhig. Vermutlich ist es nichts weiter, nur die Nachwehen eines Traums.“

„Du hast wieder schlecht geträumt.“ Con war der Einzige, dem Alex je von seinen Alpträumen erzählt hatte.

„Ich nehme es an. Direkt erinnern kann ich mich nicht. Ich hatte beim Aufwachen nur das Gefühl …“ Er zuckte mit den Achseln. Selbst seinem Zwillingsbruder wollte er nicht offenbaren, welch abgrundtiefe Furcht ihn in diesen Träumen ergriff, welch lähmendes Gefühl der Ohnmacht. Es handelte sich um eine Form von Schwäche, die er an sich hasste. „Es ist … es lässt sich damit vergleichen, wie wir beide uns fühlen, wenn der andere in Schwierigkeiten steckt. Aber dann doch wieder irgendwie anders. Ich bin mir ganz sicher, dass es nicht um dich ging. Aber auf diese Weise habe ich nie bei irgendeinem anderen unserer Geschwister empfunden.“

„Glaubst du, dass deine Fähigkeiten wachsen? Besser werden?“, erkundigte Con sich beinahe eifrig.

„Das möchte ich nun wirklich nicht hoffen“, entgegnete Alex. „Wenn ich jedes Mal, sobald ein Moreland in Schwierigkeiten gerät, irgendwelche Zeichen empfange, werde ich ja verrückt.“

„Auch wieder wahr. Allein Theos Töchter würden dich Tag und Nacht in Atem halten.“

Alex grinste, wurde aber gleich wieder ernst. „Ich wollte dich fragen, ob du je so empfunden hast. Ob du je irgendetwas gespürt hast, wenn es um andere ging.“

„Nein.“ Con wirkte ein wenig sehnsüchtig. „Du kennst mich doch – ich habe keinerlei Talente. Ich meine, außer unserer Zwillingssprache.“ Seine Miene wurde nachdenklich. „Wenn du glaubst, dass irgendetwas nicht stimmt, sollte ich meine Reise vielleicht verschieben.“

„Nein. Sei doch nicht albern.“ Alex schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass ich mir unnötig Sorgen mache.“

„Aber diese Träume …“

„Du schenkst meinen Träumen mehr Glauben als ich.“

„Wir alle wissen, dass die Morelands bedeutungsvolle Träume haben … außer mir natürlich. Denk doch daran, wie Reed geträumt hat, dass Anna in Gefahr ist, oder die Dinge, die Kyria in ihren Träumen gesehen hat.“

„Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen bedeutungsvollen Traum. Nur Alpträume. Die habe ich seit meinem dreizehnten Lebensjahr.“

„Ja, aber die haben vor Jahren aufgehört. Du träumst erst seit Kurzem wieder, dass du eingeschlossen bist. Das muss doch einen Grund haben.“

„Wahrscheinlich liegt es an dem Täubchen, das ich gestern Abend zum Souper hatte“, erwiderte Alex leichthin.

Con schnaubte, ließ das Thema jedoch fallen. Das war einer der größten Vorteile, wenn man einen Zwilling hatte – man brauchte sich nicht zu verstellen, der andere wusste Bescheid, auch ohne zu fragen.

„Ich mache mich mal besser auf den Weg.“ Con nahm seinen Stock und die kleine Reisetasche, die neben dem Schreibtisch auf dem Boden stand. „Mein Zug geht um zwei, ich will ihn nicht versäumen.“

Er grinste, setzte schwungvoll die Melone auf und ging hinaus. Lächelnd setzte Alex sich auf die Kante von Cons Schreibtisch, streckte die langen Beine aus und dachte über seine Träume nach.

An den von letzter Nacht konnte er sich nicht erinnern, aber in den vergangenen Wochen hatte er so oft schlecht geträumt, dass er den Inhalt kannte. Er lag immer auf einem schmalen Bett in einem dunklen, beengten Raum, er war allein und wusste nicht, wo er war, und ihn hatte eine kalte, lähmende Furcht ergriffen.

Die Alpträume hatten eingesetzt, kurz nachdem er und Con auf Winterset gewesen waren, dem Landsitz ihres Bruders Reed, und beim Spaziergang mit Reeds zukünftiger Frau Anna auf die Leiche eines Bauern gestoßen waren. Der Anblick war für ihn und Con verstörend gewesen, aber nur er hatte sich übergeben müssen. Alex war ins Haus zurückgekehrt, um Reed zu Hilfe zu holen, während Con und Anna bei der Leiche blieben. Er hatte nie eingeräumt, nicht einmal Con gegenüber, wie froh er gewesen war, den blutigen Schauplatz verlassen zu können.

Seltsamerweise hatten die Alpträume, die ihn in den Wochen danach heimsuchten, nicht von dem toten Bauern gehandelt, sondern von einem Vorfall, der sich zwei Jahre davor ereignet hatte – damals war Alex entführt und in einem kleinen, dunklen Raum gefangen gehalten worden.

Natürlich hatte er Angst gehabt, aber er war es gewohnt, ständig in neuen Schwierigkeiten zu stecken – auch wenn er zugeben musste, dass es ohne Con an seiner Seite furchterregender war. Alex hatte einen kühlen Kopf bewahrt und entkommen können, und am Ende hatten ihn Kyria und Rafe und die anderen gerettet. Es war ein aufregendes Erlebnis gewesen, von dem er gern erzählte, und er sonnte sich in Cons Neid auf sein Abenteuer, aber nach dem Zwischenfall in Winterset hatte er angefangen, wieder davon zu träumen.

Mit der Zeit ließ das natürlich nach. Aber es schien den Beginn seiner seltsamen Fähigkeiten einzuläuten. Die Morelands neigten zu derlei Merkwürdigkeiten – bedeutsame Träume, ungewöhnliche Verbindungen in eine unsichtbare Welt, die Angewohnheit, sich auf den ersten Blick unsterblich zu verlieben.

Und so kam es für Alex nicht ganz überraschend, dass er sich mit bruchstückhaft aufblitzenden Gefühlen und Taten konfrontiert sah, wenn er einen Gegenstand in die Hand nahm – obwohl es ihm höchst ungerecht erschien, dass Con keine ähnlich eigentümliche Last aufgebürdet war. Con hingegen wäre nichts lieber gewesen als eine solche Begabung zu besitzen.

Alex hatte sich angewöhnt, seine Fähigkeiten außerhalb der Familie geheim zu halten, und er hatte im Lauf der Zeit auch gelernt, sie zu bezähmen, um nicht davon überwältigt zu werden, wenn er sich etwa an eine Mauer lehnte und dabei, sagen wir, Zeuge eines vor vielen Jahren verübten Mordes wurde. Während er seine Gabe immer besser in den Griff bekam, hatten die Alpträume nachgelassen und waren schließlich ganz verschwunden.

Bis vor Kurzem. Die jetzigen Träume waren nicht dieselben wie damals, denn er war darin zum Mann gereift, während er in den Träumen von früher noch ein halbwüchsiger Bursche gewesen war, und auch der Raum, in dem er lag, schien sich verändert zu haben – er war jetzt dunkler und kälter und kleiner. Aber die Angst war dieselbe. Nein, sie war schlimmer geworden, denn nun war sie von tiefem Grauen durchzogen, von eisigem Schrecken.

Ungeduldig stieß Alex sich vom Schreibtisch ab. Wie kam er dazu, hier herumzulungern? Im Lauf der Jahre hatte er seine Fähigkeit öfter eingesetzt, um Con bei Ermittlungen zu helfen. Das war einer der Gründe, warum die Agentur sich einen so eindrucksvollen Ruf erarbeitet hatte, vor allem beim Aufspüren vermisster Personen. Doch seine Unterstützung war ein peinlich gehütetes Geheimnis. Für jemanden, der wie er der Aristokratie und darüber hinaus einer ziemlich exzentrischen Familie entstammte, war es schwer genug, sich einen Namen als Architekt zu machen, auch ohne dem Ganzen etwas so Ungewöhnliches hinzuzufügen wie die gelegentliche Mitarbeit bei einer Agentur, die sich mit okkulten Dingen befasste.

Und nachdem Con weg war, gab es für ihn keinen Grund, hier zu verweilen. Er sollte in sein eigenes Büro gehen und sich mit seinen eigenen Aufträgen befassen, genau wie er es Con gesagt hatte. Hier herumzusitzen würde das Rätsel um seine geheimnisvollen Vorahnungen oder beunruhigenden Träume nicht lösen.

Alex war schon an der Tür, als ihm plötzlich die Brust eng wurde. Angst, ja Furcht überrollte ihn, doch er wusste, dass nicht er sie empfand – es handelte sich um einen Rückstrom fremder Gefühle. Außerdem spürte er eine … Präsenz. Anders konnte man es nicht beschrieben. Der Eindruck war so stark, dass er sich tatsächlich in dem leeren Büro umschaute, als könnte er dort jemanden stehen sehen. Natürlich war niemand dort.

Und wenn er nun seiner Großmutter nachschlug und Zwiesprache mit Geistern hielt? Er versuchte, den unvermittelten Ansturm der Gefühle von seinen eigenen abzutrennen und die neuen Eindrücke zu analysieren. Es fühlte sich so ähnlich an wie die besondere Verbindung, die zwischen ihm und seinem Zwillingsbruder bestand – das Bewusstsein, dass jemand in der Nähe war, der sich in Schwierigkeiten befand. Aber bis jetzt hatte er so etwas nie empfunden, außer bei Con. Und er war sich sicher, dass es nicht von seinem Zwilling kam. Es war … anders.

Er trat auf den Flur und blickte über das Geländer in den Eingangsbereich im Erdgeschoss. In diesem Moment ging unten die Tür auf, und er beobachtete, wie ein Mann hereinkam. Der Neuankömmling durchquerte die Eingangshalle, stieg die Treppe hinauf – und die Empfindungen kamen mit ihm nach oben. Dieser Mann – vielleicht war es auch nur ein Knabe, denn er war ziemlich klein – war die Präsenz, die Alex spürte.

Der Besucher kam oben an und bewegte sich auf Cons Büro zu. Er war merkwürdig gekleidet – nun ja, nicht direkt merkwürdig, denn der vornehme Anzug selbst war unauffällig. Doch dazu trug er eine Schiebermütze, und nichts von allem schien ihm zu passen. Er schlurfte vorwärts, die Füße schienen viel zu groß für seine zierliche Gestalt. Die Jacke hing an ihm herab, die Ärmel verdeckten seine Hände, und die Hosenbeine waren, obwohl aufgerollt, immer noch zu lang. Die Mütze hatte er fast bis zu den Augen heruntergezogen, sodass die Stirn verborgen war und der untere Teil des Gesichts im Schatten lag.

Als er Alex sah, zögerte er kurz, und ging dann entschlossen weiter. Alex blickte ihm entgegen, und während der Besucher sich ihm näherte, vereinigten sich all die Ungereimtheiten am Äußeren dieses Mannes zu einem einzigen Gedanken.

„Sie sind ja eine Frau!“, platzte Alex heraus. Er wusste sofort, dass er einen Fehler begangen hatte, denn sein Besuch stieß ein leises Quietschen aus und wich einen Schritt zurück. „Nein. Nein, warten Sie, bitte gehen Sie nicht. Kann ich Ihnen helfen?“

Sie nahm die Mütze ab und enthüllte eine Wolke schwarzen Haars, das ihr knapp bis über die Ohren reichte. Ohne die kaschierende Kopfbedeckung konnte er das zarte Kinn, das herzförmige Gesicht, die großen tiefblauen Augen klar erkennen. Und es raubte ihm den Atem.

„Ich suche die Moreland-Agentur zur Erforschung übersinnlicher Phänomene.“

„Das bin ich. Ich meine, ich bin Mr. Moreland. Alex, Alexander Moreland.“ Ihm wurde bewusst, dass er faselte, und zwang sich, den Mund zu halten, bevor er noch ausschweifend erklärte, was es mit seinem Bruder, der Agentur und der Agenturgründerin Olivia auf sich hatte oder was ihm sonst noch so alles einfiel.

Die Frau war wunderschön. Mehr noch, sie war der Fokus seines Gefühl der Verbundenheit und seiner Sorge. Wie konnte er sich einer Fremden so nahe fühlen, jemandem, die nicht zu seiner Familie gehörte? Du liebe Zeit, sie war doch sicher nicht mit ihm verwandt, oder?

Einer Sache war er sich gewiss – er durfte sie nicht weglaufen lassen. Also nahm er alle ihm verbliebene Würde zusammen, neigte den Kopf und wies mit majestätischer Geste auf die offene Tür. „Bitte, treten Sie doch ein.“

Ihr Lächeln war schüchtern, ihre Wangen liefen zartrosa an, und beides war einfach entzückend, fand er. Sie betrat vor ihm das Büro und nahm auf dem Stuhl vor Cons Schreibtisch Platz. Alex ließ bewusst die Tür offen, um seine Besucherin nicht zu verunsichern, und setzte sich an Cons Schreibtisch, ganz so, als gehörte er dorthin.

Das war ja nicht mal wirklich gelogen, beruhigte er sich. Schließlich war er Mr. Moreland, wenn auch nicht der, den sie eigentlich aufsuchen wollte. „Und jetzt sagen Sie mir bitte, wie ich Ihnen helfen kann, Miss …?“

„Ich – ich bin hergekommen, weil … also, ich habe den Droschkenkutscher am Bahnhof gefragt, wohin ich mich wenden sollte. Er sagte, die Moreland-Agentur wäre die beste in ganz London, wenn es darum geht, jemanden zu finden.“ Während sie sprach, drehte sie die Mütze in ihren Händen. Die implizite Frage nach ihrem Namen ignorierte sie.

„Wir werden natürlich unser Bestes tun, um Ihnen zu helfen.“ Er zog die oberste Schreibtischschublade auf und entdeckte dort zu seiner Erleichterung Bleistifte und sogar einen Block. Er legte beides auf die Tischplatte und machte Anstalten mitzuschreiben in der Hoffnung, dabei auszusehen, als wüsste er, was er tat. „Also, wen sollen wir für Sie suchen?“

Sie schaute ihn ernst an. „Mich.“

2. KAPITEL

Wie bitte?“ Er musste sich verhört haben.

„Sie müssen nach mir suchen – natürlich nicht, um meinen Aufenthaltsort herauszufinden, ich bin ja hier, aber Sie müssen herausfinden, wer ich bin.“ Sie seufzte. „Ich weiß es nämlich nicht.“

Alex blinzelte. Ihm kam der Verdacht, dass es sich bei alledem um einen ausgeklügelten Scherz handeln könnte. Vielleicht war diese schöne junge Frau Schauspielerin, und Con … Nein, Con nicht. Wenn Con ihm einen Streich gespielt hätte, wäre er nicht abgereist. Er wäre immer noch hier und würde sich kaputtlachen. Alex sah zur Tür. Er hatte nicht das Gefühl, dass Con noch in der Nähe war. Aber wer sonst würde sich einen derart verrückten Scherz einfallen lassen?

„Verstehe“, sagte er vorsichtig und räusperte sich.

Die junge Frau sprang auf. „Ich weiß. Ich weiß, ich klinge, als wäre ich einer Irrenanstalt entsprungen, aber ich versichere Ihnen, dass das nicht der Fall ist. Ich meine, also, ich fühle mich nicht verrückt … aber wirklich wissen kann ich es wohl nicht, oder?“

Sie hielt inne, wirkte dabei so verloren, dass Alex automatisch zu ihr ging, sie beim Arm nahm und zurück zum Stuhl führte. Er setzte sich auf die Schreibtischkante. „Nein, nein. Sie sind bestimmt nicht verrückt. Es ist nur … ich, ähm … Vielleicht könnten Sie die Lage noch ein wenig ausführlicher erläutern.“

Sie atmete tief durch und verschränkte die Hände im Schoß. Sie sah aus wie der Inbegriff einer vornehmen jungen Dame – wenn man davon absah, dass sie einen schlecht sitzenden Herrenanzug trug. „Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich kann Ihnen meinen Namen nicht sagen, weil ich keine Ahnung habe, wie er lautet. Ich glaube …“ Sie fasste sich an die Kehle, berührte dort etwas unter ihrem Hemd. „Ich glaube, ich könnte Sabrina heißen, weil das in das Medaillon eingraviert ist, das ich trage.“

„Dann also Sabrina.“ Ihm gefiel der Klang, die Intimität, sie mit Vornamen anzusprechen, als würde er sie schon seit Jahren kennen. „Wenn Sie diese, ähm, Vertraulichkeit entschuldigen würden.“

„Natürlich.“ Wieder liefen ihre Wangen in diesem entzückenden Zartrosa an. „Das hat schließlich einen guten Grund, schließlich habe ich keine Ahnung, wie ich mit Nachnamen heiße.“ Sie seufzte tief. „Oder woher ich komme. Oder warum ich so verrückt angezogen bin.“

„Sie wissen gar nichts von sich?“

„Überhaupt nichts. Es fühlt sich einfach schrecklich an.“ Sabrina hob eine Hand, um sich das üppige schwarze Haar aus dem Gesicht zu streichen, und er sah zum ersten Mal den blauen Fleck an der Seite ihres Gesichts. Sie hatte sogar zwei Blutergüsse, einen auf ihrer Stirn, den anderen am Wangenknochen darunter, beide direkt am Haaransatz. Und ihr Handrücken war aufgeschürft.

„Sie sind ja verletzt!“ Zorn stieg ihm auf, so heftig, dass er wieder aufsprang. „Wer hat Ihnen das angetan?“

Er beugte sich über sie, um die Blessuren aus der Nähe zu betrachten, und strich sanft die Locken beiseite. Die weichen Haare hafteten an seinen Händen, und ihn überlief ein wohliger Schauer. Ihm wurde bewusst, dass die Geste zu intim und daher unangebracht war, und er zog seine Hand zurück und zwang sich, an den Schreibtisch zurückzukehren.

„Ich weiß nicht, wer es war. Vielleicht ja gar niemand. Vielleicht bin ich gestürzt. Ich habe noch mehr Verletzungen.“

„Noch mehr?“

„Ja. Ich habe blaue Flecken auf dem Arm.“ Sie schlüpfte aus dem Gehrock und schob einen Hemdärmel fast bis zum Ellbogen nach oben, um ihm ihren Arm zu zeigen. Auf der blassen Haut waren kleine blaue Flecken zu sehen.

„Fingerabdrücke.“ Etwas in seiner Brust zog sich zusammen, kalt und hart. „Irgendwer hat Sie grob am Arm gepackt.“

„Das habe ich mir auch gedacht. Und schauen Sie.“ Sie öffnete den oberen Knopf ihres Hemdes und offenbarte einen langen Kratzer an ihrem Hals. „Und ich glaube …“ Sie runzelte die Stirn und fasste sich an den Hinterkopf. „Ich glaube, ich habe mir den Kopf gestoßen. Da ist eine Stelle, die wehtut, wenn ich sie berühre.“

Rasch ging er um sie herum und beugte sich über sie, um sich die fragliche Stelle näher anzusehen. Vorsichtig teilte er ihr Haar, versuchte die Gefühle zu ignorieren, die diese Berührung in ihm hervorrief, die leise Erregung, die tief in ihm aufkeimte. Er sog die Luft ein. „Sie bluten ja. Ich hätte sehen müssen …“

Er ging zu dem Waschstand in der Zimmerecke und benetzte einen Lappen, kam zurück und tupfte ihr vorsichtig die Wunde ab. Als sie scharf einatmete, sagte er: „Tut mir leid. Ich weiß, dass es wehtut, aber ich muss es säubern.“

„Ich weiß. Es war auch nur diese eine Stelle. Sie machen das ziemlich gut.“

Alex lachte leise. „Wenn ich mich mit irgendetwas auskenne, dann damit, Schnitt- und Schürfwunden zu versorgen.“

„Ihr Beruf ist gefährlich?“

„Meine Kindheit war es.“ Er lächelte, um ihr zu zeigen, dass er es nicht so meinte. „Mein Bruder und ich sind ständig von Bäumen gefallen, Hügel hinuntergekollert oder mit irgendwelchen Dingen zusammengestoßen.“ Nachdenklich hielt er inne. „Wenn ich es mir recht überlege, müssen wir tollpatschige kleine Monster gewesen sein.“

Als er die Wunde fertig gesäubert hatte, legte er den Lappen beiseite und nahm seinen Platz an der Schreibtischkante ein. „Und Sie erinnern sich an gar nichts?“

„Nein. Weder daran, wer ich bin, noch daran, woher ich diese Verletzungen habe, noch daran, wo ich wohne. Nichts.“ In ihren Augen glitzerten Tränen.

„Na gut.“ Alex schob den Gedanken beiseite, wie gern er die Frau festgehalten und getröstet hätte. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust. „Was ist denn das Erste, woran Sie sich erinnern können?“

„Wie ich im Zug aufgewacht bin. Der Schaffner hat mich an der Schulter gerüttelt und aufgeweckt, weil wir in Paddington angekommen waren. Ich war ziemlich zerschlagen. Ich bin ausgestiegen und durch den Bahnhof gegangen. Es waren furchtbar viele Leute dort, und es war schrecklich laut. Ich war so durcheinander und … und hatte solche Angst. Mir tat der Kopf weh. Ich habe versucht, mich daran zu erinnern, wo ich mich befand und warum ich so gekleidet war. Und ich dachte, dass mich diejenigen, die mich am Bahnhof abholen wollten, ja gar nicht erkennen würden. Und dann wurde mir klar, dass ich nicht nur nicht wusste, wer mich abholen würde, ich wusste auch nicht, wer ich überhaupt war. Das hat mir Angst gemacht, und so habe ich mich eine Weile auf eine Bank gesetzt und versucht nachzudenken.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Ohne Ergebnis.“

„Was haben Sie dann gemacht?“

„Ich … ich hatte Hunger.“ Sie lächelte schwach. „Ziemlich banal in einer solchen Situation, aber so war es eben. Also habe ich mir bei einem fahrenden Händler geröstete Maroni gekauft. Das war der Moment, wo ich erkannte, dass ich Geld hatte – eine Menge Geld, zumindest kam es mir so vor.“ Ihr Blick wurde scharf. „An einige Dinge kann ich mich offensichtlich erinnern – ich kann eine Fünf-Pfund-Note von einem Shilling unterscheiden, und ich wusste, dass vor dem Bahnhof Droschken stehen würden. Ich wusste, dass ich merkwürdig gekleidet war. Ich wusste, dass mich … irgendwer abholen würde. Nur über mich weiß ich überhaupt nichts.“

„Haben Sie den Bahnhof erkannt?“

Ihre Miene wurde nachdenklich. „Nein, ich habe nur den Namen Paddington auf den Schildern gelesen. Ich … Wirklich, ich weiß nicht mehr viel von dem Bahnhof. Ich war wie benebelt. Aber mir kam nichts vertraut vor, und draußen habe ich auch nichts erkannt – weder die Straßen noch irgendwelche Gebäude. Vielleicht war ich noch nie hier gewesen. Oder ich habe einfach auch das vergessen.“

„Sie sagten, Sie hätten ein Medaillon. Fangen wir doch damit an.“

„Ja.“ Sabrina fasste sich in den Nacken, nestelte an etwas und zog unter dem Hemd eine Kette hervor.

Alex streckte die Hand aus, und sie legte das Schmuckstück hinein. Es war noch warm vom Kontakt mit ihrer Haut, was er unerwartet erregend fand. Er schloss seine Finger um das Medaillon, stand auf und setzte sich wieder hinter Cons Schreibtisch. Es war besser, wenn er ihr nicht so nahe war. Außerdem hatte er dann etwas länger Zeit, das Medaillon zu halten und sich ganz darauf zu konzentrieren.

Je länger er einen Gegenstand in der Hand hielt, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er etwas erspüren konnte. Nur sehr starke Spuren von Emotionen oder Ereignissen übertrugen sich sofort auf ihn – ein Umstand, der es ihm definitiv erleichterte, ein normales Leben zu führen. Der beste Weg, seine Fähigkeit einzusetzen, bestand darin, den Gegenstand in der Hand zu halten und die Augen zu schließen, alle anderen Eindrücke auszusperren und sich ganz auf sein Ziel zu konzentrieren.

Dies vor einer fremden Person zu tun, würde jedoch viel zu seltsam wirken. Vor allem vor einer wunderschönen Frau, von der er nicht wollte, dass sie ihn für verrückt hielt. Glücklicherweise strahlte das Medaillon ein starkes Gefühl aus. Es war warm, liebevoll und weiblich. Bisher war ihm nie aufgefallen, dass er auch das Geschlecht erspüren konnte, und er fragte sich kurz, wie weit seine Fähigkeit gehen könnte. Bisher hatte er das nie austesten wollen.

Die stärkste Emotion, die das Medaillon verströmte, entsprach exakt dem Wesenhaften, das er von Sabrina erfühlte. Und er spürte Liebe; das Medaillon war mit Liebe gegeben und empfangen worden. All das half ihm leider nicht, die Identität der jungen Frau zu erkennen.

Er setzte sich, legte das Medaillon auf den Tisch und betrachtete es eingehend. Es war herzförmig und ziemlich klein und hing an einer zarten Goldkette. Er schob den Daumennagel in eine beinahe unsichtbare Spalte und ließ es aufspringen. Auf einer Seite stand ein Datum, auf der anderen der Name Sabrina, wie sie gesagt hatte.

Er hob den Blick. „Könnte es sich bei dem Datum um Ihren Geburtstag handeln?“ Dann würde sie bald einundzwanzig werden – vier Jahre jünger als er. Das Alter schien auf sie zu passen.

Hilflos zuckte sie mit den Achseln. „Ich wünschte, ich wüsste es. Dann wüsste ich schon zwei Dinge über mich – mein Alter und meinen Vornamen.“

„Wir wissen außerdem, dass das ein recht hochwertiges Schmuckstück ist, nicht extravagant, aber sicher nicht billig. Und aus Ihrer Sprechweise und Ihren Manieren schließe ich, dass Sie vornehm erzogen wurden.“

Sabrina grinste. „Das grenzt die Sache wohl nicht allzu sehr ein.“

„Nein.“ Ein wenig widerstrebend gab Alex ihr das Medaillon zurück.

„Vielleicht könnte sich etwas anderes als hilfreich erweisen.“ Sie begann in ihren Taschen zu kramen, zog diverse Gegenstände heraus und legte sie auf den Schreibtisch: eine Taschenuhr an einer Kette, ein Lederbeutel, der klirrte, als sie ihn ablegte, eine Karte, ein zartes Spitzentaschentuch, ein Stück abgerissenes Papier und schließlich einen goldenen Ring.

Alex drehte es schier das Herz im Leib um. „Ein Ehering?“ Er griff nach dem Ring. „Sie sind verheiratet?“

„Ich weiß es nicht.“ Sie runzelte die Stirn. „Eigentlich glaube ich das nicht. Ich habe nicht das Gefühl, als wäre ich verheiratet. Ich hatte ihn in der Tasche, nicht am Finger.“

Er nahm den Ring, der mit ein paar Diamanten in Blumenform besetzt war. „Vielleicht haben Sie ihn nur abgenommen, weil er nicht zu Ihrer Verkleidung passt.“ Von dem Ring ging ein starkes Gefühl aus, aber es war verworren, kündete nur ganz schwach von ihrer Präsenz, ganz anders als bei ihrem Medaillon. Vielleicht, weil sie ihn in der Tasche getragen hatte. Doch er konnte noch eine weitere Präsenz spüren, was die Verwirrung nur vergrößerte. Es handelte sich also nicht zwangsläufig um ihren Ring.

„Vielleicht.“ Sie betrachtete den Ring mit einer gewissen Missbilligung, worauf es Alex gleich ein wenig leichter ums Herz wurde.

Er legte den Ring beiseite und griff nach dem Taschentuch. Es sah teuer und eindeutig feminin aus. In eine Ecke war ein Monogramm gestickt, ein großes B, in das ein S und ein A eingefügt waren. „Dieses S stützt die Annahme, dass Sie mit Vornamen Sabrina heißen. Und legt nahe, dass Ihr Familienname mit B beginnt.“

Sabrina nickte. „Ja. Aber sosehr ich mir den Kopf zerbrochen habe, so ist mir doch kein Name mit B eingefallen, der mir irgendwie vertraut war. Hier ist das Geld.“ Sie öffnete den Beutel, um ihm den Inhalt zu zeigen.

Alex hob die Augenbrauen. „Sie haben recht. Das ist eine Menge Geld, um sie mit sich herumzutragen, vor allem für eine junge Dame.“

„Es wirkt verdächtig, nicht? Eine Frau, die wie ein Mann gekleidet ist, allein reist, ohne Gepäck, und einen Haufen Geld mit sich führt. Ich muss wohl auf der Flucht sein.“ Sie richtete einen besorgten Blick auf ihn. „Aber wovor?“

„Haben Sie das Gefühl, Sie seien auf der Flucht, oder kommen Sie nur wegen der Hinweise darauf?“

„Ja.“ Sie hielt inne. „Ich weiß es nicht. Ich habe Angst. Als ich hierher unterwegs war, hatte ich das Gefühl, ich müsste so schnell wie möglich ankommen. Aber vielleicht war das auch nur, weil ich mich an gar nichts erinnern kann. Das ist an sich schon furchterregend genug, und natürlich will ich so schnell wie möglich herausfinden, wer ich bin.“

„Da wären aber noch die blauen Flecken. Irgendetwas ist Ihnen passiert.“ Ihr Blick wurde noch ängstlicher, und er bedauerte, es erwähnt zu haben. Hastig fügte er hinzu: „Natürlich wäre es auch möglich, dass Sie in einen Unfall verwickelt waren.“

Allerdings glaubte er selbst keine Sekunde daran. Bei einem Unfall wären andere beteiligt gewesen, zumindest ein Kutscher. Man hätte sie nicht so einfach gehen lassen, benommen und verletzt, wie sie war. Es erklärte auch nicht, warum sie so viel Geld mit sich führte und Männerkleidung trug. Da schien es weitaus wahrscheinlicher, dass irgendwer ihr das angetan hatte … und sie jetzt möglicherweise verfolgte. Dem Himmel sei Dank, dass sie hergekommen war und nicht mehr draußen herumirrte, verloren und allein.

Er schob die Vorstellung beiseite und griff nach dem Stück Papier. Oben war ein Stück abgerissen, der Rest war in elegant verschnörkelter Kursivschrift beschrieben.

… sag doch, dass Du kommst. Wir werden uns prächtig amüsieren. Ein Einkaufsbummel ist bereits in Planung. Meine Tante hat sich netterweise bereit erklärt, uns zu begleiten.

Darauf folgte die genaue Beschreibung eines Huts, den sich die Verfasserin (eindeutig eine Frau) kürzlich gekauft hatte, und dann endete das Schriftstück, wie es begonnen hatte, mitten im Satz.

„Offenbar ein Brief“, sagte Sabrina, „aber das ist alles, was davon übrig ist. Ich habe ihn immer wieder gelesen, kann ihm aber überhaupt nichts entnehmen. Es gibt keine Anrede, keine Unterschrift. Sie nennt nicht mal den Namen der Tante. Wahrscheinlich kommt er von einer Freundin oder einer Verwandten, aber warum sollte ich ihn mit mir herumtragen? Und warum ist die Seite entzweigerissen?“

Auch der Brief enthielt eine Spur von Sabrina, aber auch Hinweise auf eine weitere Person, vielleicht sogar mehr als eine. Gut möglich, dass er durch eine Vielzahl von Händen gegangen war. Was Alex ganz deutlich wahrnahm, gefiel ihm nicht. Schon bei der ersten Berührung hatte er einen Anflug von Ärger, wenn nicht gar Zorn gespürt … was dazu passte, dass der Brief zerrissen war.

Er wandte sich der Taschenuhr zu. Sie wies keinerlei Gravur auf, weder innen noch auf der Rückseite. Sie gehörte offensichtlich einem Mann, das verrieten ihm sowohl der Stil als auch die Ausstrahlung der Uhr. Außerdem ging ein Hauch Gefühl von ihr aus – Kummer? Er war sich nicht sicher. Aber die Uhr war weitaus deutlicher mit Sabrina verbunden als der Ehering, das spürte er. Vielleicht trug sie sie schon lange Zeit bei sich.

Vor seinem inneren Auge blitzte das Bild eines Hauses auf und verschwand gleich wieder. Alex erstarrte, schloss die Finger um die Uhr.

„Was?“, fragte Sabrina. „Haben Sie an der Uhr etwas entdeckt?“

„Was? Oh, nein.“ Lächelnd schüttelte er den Kopf. Dann legte er die Uhr wieder auf den Tisch. Wenn er später allein wäre, könnte er sie länger in der Hand halten, sich besser darauf konzentrieren. Irgendetwas war da, dessen war er sich sicher.

„Ich glaube nicht, dass das hier sonderlich aufschlussreich ist.“ Sabrina reichte ihm den letzten Gegenstand, eine Karte. „Ein Junge am Bahnhof hat sie mir gegeben. Ich glaube, das ist irgendeine Werbung, bin aber nicht sicher wofür. Vielleicht eine Modistin?“

Auf der Karte war eine Fotografie von zwei elegant gekleideten jungen Damen mit reizenden Strohhüten zu sehen, die mit dem Rücken zur Kamera standen. Auf der anderen Seite war eine Adresse aufgedruckt, dazu die Aufforderung „Kommen Sie vorbei, wenn Sie uns von vorne sehen wollen.“

„Ähm … nein, keine Modistin.“ Alex räusperte sich und spürte, dass er rot wurde.

„Oh.“ Sie klang ein wenig enttäuscht. „Ich fand den einen Hut ziemlich hübsch.“ Sie musterte ihn aufmerksam. „Was ist los mit Ihnen? Geht es Ihnen gut?“

„Doch, doch, alles gut.“ Er hatte das dumpfe Gefühl, dass sein Lächeln höchst unnatürlich wirkte. Zumindest würde es dazu passen, wie er sich im Moment fühlte. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, doch sein Kopf war wie leergefegt. Nun, vielleicht nicht direkt leergefegt, aber das, was er gerade dachte, war als Thema völlig unangemessen.

Sie wartete einen Augenblick. „Um was für einen Laden handelt es sich denn dann?“, erkundigte sie sich dann. „Ich verstehe das nicht.“

„Um einen Laden, für den Damen normalerweise keine Werbung bekommen. Es ist … eine Art … für Männer, ähm …“

Ihre Augen weiteten sich. „Sie meinen, ein Etablissement von zweifelhaftem Ruf?“

„Also … ja.“

„Ach herrje.“ Sie lief noch röter an als er, riss ihm die Karte aus der Hand und betrachtete sie. „Sie sehen so … normal aus.“ Wieder klang sie enttäuscht, so sehr, dass es ihm ein Lächeln entlockte. „Ich dachte, sie würden etwas, nun ja … anderes tragen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Ja, allerdings.“ Es war auf bizarre Weise anregend, hier mit dieser jungen Frau zusammenzusitzen und über Bordelle zu reden, während er gleichzeitig daran dachte, wie sich ihre federnden Locken unter seinen Fingern angefühlt hatten. Der Umstand, dass sie als Mann gekleidet war, machte die Sache nur noch aufreizender. Ursprünglich war er aus Verlegenheit errötet, doch mittlerweile waren seine Wangen aus anderem Grund erhitzt. „Ich glaube, damit soll angedeutet werden, dass sie viel anziehender wären, wenn man sie von der anderen Seite betrachtet.“

„Ach, verstehe.“ Aus der Art, wie sie die Karte betrachtete, schloss er, dass dem nicht so war, doch er enthielt sich jeden Kommentars. „Haben Sie auch schon solche Karten bekommen?“

„Nun ja, hin und wieder.“ Er räusperte sich. „Könnten wir jetzt weitermachen?“

Ihre Augen funkelten amüsiert, als sie die Karte wieder einsteckte. „Oh, und hier ist meine Fahrkarte.“ Sie zog die Hand aus der Tasche und reichte ihm das Ticket. „Aber es steht nur von Newbury nach Paddington darauf.“

„Nun, wenigstens wissen wir jetzt, dass sie von Newbury nach London kamen.“

„Vermutlich wohne ich dort“, sagte Sabrina zweifelnd. „Es klingt nicht vertraut … aber das gilt ja auch für alles andere.“

„Aber es gibt uns schon einmal eine Grundlage.“ Nachdenklich lehnte er sich zurück. „Ich weiß nichts über Newbury, nur, dass es westlich von Reading liegt. Glaube ich. Ich wünschte, Con wäre hier, er kennt sich aus mit Geografie.“

„Wer ist Con?“

„Mein Bruder.“ Plötzlich richtete sich Alex auf und lächelte strahlend. „Das ist es. Ich weiß, wohin wir gehen sollten.“ Er stand auf und wandte sich zur Tür.

„Wohin? Was machen wir jetzt?“ Sie erhob sich ebenfalls, um ihm zu folgen.

„Ich nehme Sie mit nach Hause.“

3. KAPITEL

Was?“ Sabrina erstarrte und schaute ihn erschrocken an. Ihr Magen hatte sich beruhigt, seit sie hier angekommen war, sie hatte sich in Sicherheit gewähnt. Bis zu diesem Augenblick. Nun schossen ihr Warnungen vor fremden Männern und wilde Geschichten von Menschenhändlern durch den Kopf – wirklich, warum konnte sie sich an dergleichen erinnern, während sie gleichzeitig keine Vorstellung davon hatte, wie ihr Name lautete?

„Nein! So habe ich das nicht gemeint“, sagte er hastig. „Es ist nicht mein Zuhause – also, doch, natürlich ist es das, aber was ich sagen wollte, meine Eltern wohnen dort. Meine Familie. Meine Eltern werden dort sein und … und jede Menge andere Leute. Ich versichere Ihnen, dass das vollkommen respektabel ist.“

Er wirkte so verstört, dass sie lachen musste. „Verstehe. Na schön.“

„Ich bitte wirklich um Verzeihung.“ Höflich ließ er ihr beim Hinausgehen den Vortritt und bot ihr den Arm. Sie wollte sich schon automatisch bei ihm einhaken, bevor beiden einfiel, wie sie gekleidet war, und sie auf Abstand gingen. Er fuhr fort: „Ich hätte Ihnen erst erklären sollen, wie ich darauf komme. Mir wurde bewusst, dass wir bei mir zu Hause auf Unterstützung hoffen können. Megan wird wissen, ob über Sie etwas in den Zeitungen steht, oder sie kann es zumindest herausfinden. Dann können wir bei meiner Schwester Kyria vorbeischauen – wenn Sie in London irgendeine Gesellschaft besucht haben, wird sie Sie erkennen. Und was am wichtigsten ist: Sie brauchen einen Ort, an dem Sie in Sicherheit sind.“

„Sie glauben, dass ich in Gefahr schwebe?“ Sabrina war wieder beunruhigt.

„Ich weiß es nicht.“ Alex hielt eine Droschke an, und wieder durchlebten sie die irritierende Situation, dass er ihr in die Kutsche helfen wollte, ehe ihm einfiel, dass sie ja wie ein Mann gekleidet war. „Vielleicht gibt es ja auch eine andere Erklärung für Ihre blauen Flecken, ihren Gedächtnisverlust und Ihre Verkleidung“, fuhr er fort, sobald sie ihre Plätze eingenommen hatten, „aber ich möchte lieber nichts riskieren. Sie etwa?“

„Nein, Sie haben recht. Aber, Mr. Moreland …“

„Sagen Sie doch bitte Alex zu mir. Oder Alexander, wenn Sie es gern ein wenig förmlicher hätten. Aber es kommt mir falsch vor, wenn ich Sie Sabrina nenne und Sie mich Mr. Moreland.“

„Also gut. Alex. Aber Sie wollen Ihren Eltern doch sicher keine Gefahr ins Haus bringen.“ Sabrina schaute ihm ins Gesicht. Er grinste, und das brachte seine kantigen Züge so zum Strahlen, dass es in ihrem Magen zu flattern begann.

„Keine Sorge. Es würde ihnen nicht weiter auffallen.“ Als er sah, wie sie zweifelnd die Augenbrauen hob, lachte er. „Sie werden schon sehen. Außerdem setze ich auf unseren Butler, der hält jede Gefahr draußen. Sein Blick ist nachgerade lähmend.“ Er hob den Kopf und blickte so hochnäsig, als hätte er einen üblen Geruch wahrgenommen. Unwillkürlich musste Sabrina lachen.

Es war merkwürdig, dass sie sich bei einem Mann, der im Grunde ein vollkommen Fremder war, so wohlfühlen konnte. Aber sie hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, als würde sie ihn kennen. Das Gefühl war so überwältigend gewesen, dass sie nach Luft geschnappt hatte und wie angewurzelt stehen geblieben war. Einen wilden, hoffnungsvollen Moment hoffte sie sogar, er würde ihren Namen sagen, und alles würde sich auflösen. Aber rasch war ihr klar geworden, dass er sie nicht kannte.

Dennoch hatte sie sich unwillkürlich entspannt, und es war ihr so leichtgefallen, ihm alles zu erzählen. Er strahlte eine Kraft aus, eine Kompetenz, die sie sofort beschwichtigt hatte. Er war einfach so … ruhig. Angesichts ihrer merkwürdigen Erscheinung hatte er mit keiner Wimper gezuckt und mit keinem Wort angedeutet, dass er ihre sogar noch merkwürdigere Geschichte absurd fände. Kein Name, keine Erinnerung, als Mann verkleidet, blaue Flecken und ein Schlag auf den Kopf – nichts davon hatte ihn aus der Fassung gebracht. Er hatte einfach zugehört und genickt, als hätte er jeden Tag mit dergleichen zu tun.

Da sie im Moment weder über Wissen noch über Erfahrung verfügte, konnte sie sich nur auf ihren Instinkt verlassen. Und der sagte ihr, dass sie Alex Moreland vertrauen konnte.

Dennoch fühlte sie sich genötigt, Einwände zu erheben. „Aber das ist doch bestimmt eine zu große Zumutung. Ihre Mutter will bestimmt nicht, dass ihr irgendein Mädchen aufgedrängt wird, das sie überhaupt nicht kennt. Sehen Sie mich doch an.“ Reuig blickte sie an ihrem Aufzug hinab. „Ich bin als Mann verkleidet, und sie weiß nichts von meiner Familie oder von dem, was ich getan habe. Bestimmt schockiert sie das.“

Zu ihrem Erstaunen brach Alex darauf in Gelächter aus. „Glauben Sie mir, es braucht schon mehr, um die Duchess zu schockieren. Mutter wird entzückt sein. Natürlich wird sie Sie zu allem Möglichen befragen wollen.“

„Aber ich kann ihre Fragen nicht beantworten. Ich weiß doch nichts über mich.“

„Oh, das wird sie auch nicht wissen wollen. Sie wird sich dafür interessieren, wie Sie zum Frauenwahlrecht stehen und was Sie von den Arbeitsbedingungen in den Fabriken halten, von Waisenhäusern und dergleichen – und wenn Sie es nicht wissen, wird sie Sie voll Begeisterung aufklären.“

„Oh.“ Sabrina starrte ihn ausdruckslos an und fragte sich, ob er wohl Witze mache. Und wie hatte er seine Mutter genannt? Die Duchess? War das ein liebevoller Spitzname? Irgendein umgangssprachlicher Ausdruck, an den sie sich nicht erinnerte? Die Frau konnte doch nicht wahrhaftig … Nein, das war verrückt, Alex war unmöglich der Sohn eines Dukes.

Sabrina konnte sich kaum vorstellen, dass seine Mutter sie mit der Begeisterung aufnehmen würde, mit der Alex anscheinend rechnete, aber es kam ihr albern vor, auf ihrer eigenen Unschicklichkeit zu bestehen. Außerdem, was hätte sie sonst machen sollen? Sie hatte keinen Ort, an dem sie bleiben konnte, keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte. Wenn sie nur entspannen könnte, etwas Zeit für sich hätte, würde vielleicht alles wieder zurückkommen.

Während die Kutsche dahinratterte, musterte sie Alex. Er sah aus dem Fenster, und sein Gesicht war von der Seite genauso attraktiv wie von vorn. Dann wandte er sich zu ihr um und lächelte sie an, und sie stellte fest, dass er von vorn einfach doch noch besser aussah. Sie konnte sich nicht an ihre Idealvorstellung von einem Mann erinnern, hatte aber das Gefühl, dass Alex Moreland die perfekte Verkörperung darstellen könnte.

Im Gegensatz zur vorherrschenden Mode trug er keine Gesichtsbehaarung – weder Schnurr- noch Voll- oder Backenbart, und sein dichtes dunkles Haar war kurz geschnitten. Aber er hatte auch nichts, was er hätte verbergen müssen. Sein Gesicht war vielleicht ein wenig schmal, aber es passte zu seinen kantigen Zügen. Mit den ausgeprägten hohen Wangenknochen und den geraden schwarzen Brauen hätte er vielleicht ein wenig streng und düster wirken können, doch seine grünen Augen blickten warm, und seine Lippen waren voll und einladend.

Sabrina wurde sich bewusst, dass sie ihn anstarrte, und wandte den Blick ab. Sie kamen gerade an einer eleganten Häuserreihe vorbei – nein, es gab nur eine Tür, also handelte es sich anscheinend um ein einziges Gebäude. Es war aus grauen Stein erbaut und sah aus, als ragte es schon seit Jahrhunderten über der Straße auf. Sie vermutete, dass es sich um irgendein Regierungsgebäude handeln könnte, doch in dem Moment kam die Kutsche zu stehen, und Alex beugte sich über sie, um ihr den Schlag zu öffnen.

Sabrina blieb der Mund offen stehen, und das Herz rutschte ihr in die Hose. War das etwa sein Haus?

Alex, der inzwischen ausgestiegen war, schaute sie auffordernd an. Sie folgte ihm, voll düsterer Vorahnungen, warum er seine Mutter die Duchess genannt hatte.

„Ist das …“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und sie räusperte sich. „Ist das Ihr Zuhause?“

„Was?“ Alex, der gerade den Droschkenkutscher bezahlte, drehte sich um. „Oh, das Haus. Ja, ich weiß, es wirkt ein wenig … düster. Aber innen ist es viel schöner. Sie werden schon sehen.“

Schöner? Sie war sich nicht sicher, was er damit meinte. Prachtvoller konnte es jedenfalls kaum sein. Die Tür wurde von einem Lakaien geöffnet, zumindest trug er keine Livree, was sie bei einem Haus dieser Größe halb erwartet hatte.

„Guten Tag, Sir.“ Der Mann nahm Alex’ Hut entgegen und wandte sich abwartend zu ihr. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm ihre Schiebermütze zu überreichen und ihr Haar zu zeigen. Wenn der Lakai von dem seltsamen Bild, das sie präsentierte, überrascht oder verwirrt war, so ließ er es sich nicht anmerken.

„Hallo, Ernest. Wo ist meine Mutter?“

„Ich glaube, sie ist im Sultanzimmer, Sir. Ihr Besuch ist gerade gegangen.“

„Im Sultanzimmer?“, wiederholte Sabrina mit gedämpfter Stimme, als sie die Eingangshalle mit dem marmornen Schachbrettboden durchquerten. Mit großen Augen sah sie sich in der riesigen Halle um, die sich über zwei Stockwerke erstreckte und mit Porträts und Landschaftsbildern geschmückt war, die ebenso groß waren wie sie selbst. Eine Seite der Halle wurde von einer breiten Treppe beherrscht, die ebenfalls aus Marmor war, sich auf dem Treppenabsatz teilte und in zwei entgegengesetzten Richtungen nach oben führte. „Sie haben hier einen Sultan?“

Er lachte. „Nein. Wir hatten auch nie einen, soweit ich weiß, obwohl mein Großvater ein paar ausgefallene Leute kannte, gut möglich, dass da ein Sultan darunter war. Das Zimmer heißt so, weil mein Urgroßvater es neu einrichten ließ, als er gerade eine Art arabisches Fieber hatte. Es sieht aus wie in einem Harem. Oder vielleicht auch im Zelt eines Scheichs, wir waren uns da nie ganz sicher. Jedenfalls ist es scheußlich, aber wir alle haben uns daran gewöhnt, und es ist bequemer als das Gesellschaftszimmer. Großmutter wollte es umbenennen in den roten Salon – Sie werden sehen, warum –, konnte sich damit aber nicht durchsetzen.“

„Warten Sie“, platzte Sabrina heraus und zupfte Alex am Ärmel. „Als Sie Ihre Mutter Duchess nannten, haben Sie das auch so gemeint, oder? Sie ist wirklich eine … eine …“

„Duchess? Ja.“

„Ach herrje.“ Sie spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich. „Dann ist Ihr Vater ein …“

„Ein Duke. He, Moment.“ Er packte sie am Arm, um zu verhindern, dass sie in sich zusammensank. „Sie werden mir doch jetzt nicht in Ohnmacht fallen, oder?“

„Ich bin mir nicht sicher.“

Er führte sie rasch zu einer steinernen Bank, ließ sich auf ein Knie herab und zog sanft ihren Kopf nach unten. „Einfach atmen, dann vergeht es gleich wieder. Ich wäre auch beinahe einmal ohnmächtig geworden, als ich mir den Arm gebrochen hatte, aber es ist vorbeigegangen.“ 

„Sie haben sich den Arm gebrochen?“ Sie schaute zu ihm hoch. Sein Gesicht war dicht vor ihrem, und sein Anblick aus so großer Nähe, der Blick voll warmer Sorge, raubte ihr noch einmal den Atem. Aber diesmal stieg ihr die Röte gleich wieder ins Gesicht.

„O ja.“ Seine Sorge wich leiser Belustigung. „Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich mich mit Schnitt- und Schürfwunden auskenne. Und mit verstauchten und gebrochenen Knochen. Und jetzt … geht es Ihnen besser?“ Als sie nickte, sagte er. „Ich hätte daran denken sollen, Sie zu fragen – haben Sie heute schon gefrühstückt? Ich möchte wetten, dass Sie noch nichts gegessen haben.“

„Ich glaube nicht. Zumindest nicht, seit ich aus dem Zug gestiegen bin.“

„Da müssen wir Abhilfe schaffen. Sobald wir bei Mutter waren, lasse ich Ihnen einen Imbiss bringen.“

„Alex. Ihre Mutter – so können Sie mich ihr doch nicht vorstellen.“ Ihre Stimme hob sich vor Schreck. Sie sah förmlich vor sich, wie seine Mutter, eine eindrucksvolle Frau, vielleicht sogar so ähnlich wie die Königin, steif und hochnäsig, auf sie herabsah, als wäre sie ein Insekt. „Mir war nicht klar, dass sie … dass Ihre Familie so … so hochherrschaftlich ist.“

„Ach, wir sind überhaupt nicht hochherrschaftlich. Im Gegenteil, jeder sagt, wir wären schrecklich plebejisch.“ Er grinste und zog sie hoch. „Kommen Sie, überzeugen Sie sich selbst. Sie ist kein bisschen pompös.“

Sabrina konnte das nicht recht glauben, aber ihr blieb kaum etwas anderes übrig, als ihm zu folgen. Ihre Wangen brannten jetzt schon angesichts der bevorstehenden Demütigung. Alex nahm ihren Arm – ob er sie stützen oder nur am Davonlaufen hindern wollte, war ihr nicht recht klar.

Sie gingen den Gang hinunter und durch eine Flügeltür. Sobald sie den Raum betraten, verstand sie beide Namen, die man diesem Zimmer gegeben hatte. Die Sofas und Sessel und eine Chaiselongue waren mit rotem Damast bespannt, das Rot wurde nur durchbrochen vom dunklen Holz diverser Tische. Die Wände und sogar die Decke waren mit üppigen Stoffbahnen verhüllt, sodass man sich tatsächlich fühlte wie in einem Zelt. Einem sehr luxuriösen Zelt.

„Alex, mein Lieber.“ Eine Frau erhob sich von einem Zweiersofa. Sie war groß, herrlich gekleidet, ihr einst tiefrotes Haar war beinahe ganz ergraut. In jungen Jahren war sie eindeutig eine Schönheit gewesen – und auch jetzt war sie noch schön und tatsächlich eine eindrucksvolle Erscheinung, wenn auch anders, als Sabrina sich das gedacht hatte. Aber dieser Eindruck wurde zerstreut von ihrem warmen Lächeln und ihrem freundlichen Blick. „Wie ich sehe, hast du Besuch mitgebracht. Kommen Sie, mein Kind, setzen Sie sich. Sie sind ja kalkweiß.“ Sie ergriff Sabrinas Hände. „Liebe Güte, und Ihre Hände sind eiskalt. Alex, bestelle uns etwas Tee.“

Alex wandte sich dem Klingelzug zu.

Autor

Candace Camp

Bereits seit über 20 Jahren schreibt die US-amerikanische Autorin Candace Camp Romane. Zudem veröffentlichte sie zahlreiche Romances unter Pseudonymen. Insgesamt sind bisher 43 Liebesromane unter vier Namen von Candace Camp erschienen. Ihren ersten Roman schrieb sie unter dem Pseudonym Lisa Gregory, er wurde im Jahr 1978 veröffentlicht. Weitere Pseudonyme sind...

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