Tiffany Exklusiv Band 102

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DAS LEBEN IST ZUM LIEBEN DA von JULIE KISTLER
Das Leben ist zum Lieben da – wozu sonst? Zu dieser Erkenntnis kommt Cassie, als sie anstelle ihrer Zwillingsschwester Polly mit dem attraktiven Dylan Wright quer durch die USA reist. Einziges Hindernis: Cassie ist bereits mit einem anderen verlobt.

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Paul sieht einfach verboten gut aus! Doch Gwen ahnt: Sicher kommt für ihn nur eine makellose Schönheit wie ihre Schwester infrage. Aber dann küsst Paul sie so heiß, dass sie nach Atem ringen muss. Hat Mr. Perfect sich etwa in sie verliebt?

DER FREMDE IN MEINEM BETT von ISABEL SHARPE
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  • Erscheinungstag 25.10.2022
  • Bandnummer 102
  • ISBN / Artikelnummer 8066220102
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Julie Kistler, Jo Leigh, Isabel Sharpe

TIFFANY EXKLUSIV BAND 102

1. KAPITEL

21. Mai: Elf Tage vor der Hochzeit

Cassie Tompkins, zukünftige Braut, konnte sich nicht länger zurückhalten.

„Ich bin frei!“ rief sie. „Danke, Polly!“

Sie war sich der Tatsache bewusst, dass diese Worte ihre Zwillingsschwester nicht mehr erreichten, da Polly irgendwo in dem abfahrenden Zug saß. Aber das spielte keine Rolle – Cassie war so glücklich, dass die Worte einfach heraus mussten. Das war alles so aufregend!

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie die Chance, unbeschwert, wild und verantwortungslos zu sein – eine Chance, die ihre Zwillingsschwester ihr auf dem Silbertablett serviert hatte. Indem sie im Zug nach Pleasant Falls saß, verschaffte sie Cassie die Zeit, die sie brauchte, um nicht die zukünftige Braut zu sein. Stattdessen würde sie auf den Putz hauen, sich wie eine glamouröse Großstadtfrau benehmen und einen berühmten Autor durch Chicago begleiten.

Und nicht nur irgendeinen Autor. Nein, es handelte sich um Hiram „Wild Man“ Wright, weithin bekannter Verrückter und außergewöhnlicher Geschichtenerzähler. Cassie hatte nie eines seiner Bücher gelesen, aber natürlich hatte sie ihn schon im Fernsehen gesehen und wusste daher, dass er sehr unterhaltsam und interessant war.

Na schön, manche Leute, besonders solche aus ihrer Heimatstadt Pleasant Falls, würden es vielleicht gemein und fies finden, dass die Zwillinge die Rollen getauscht hatten, besonders so kurz vor der Hochzeit. Aber für Cassie war es ein Geschenk des Himmels.

Während Polly also die pflichtbewusste Verlobte im wahrlich langweiligen Pleasant Falls spielte, würde die echte zukünftige Braut durch die Straßen Chicagos stolzieren. Sie hatte so etwas noch nie getan, aber jeder verdiente doch die Gelegenheit, einmal etwas Verrücktes zu tun, oder? Ganz besonders wenn man in elf kurzen Tagen Skipper Kennigan heiraten sollte, Pleasant Falls spießigsten Bürger.

Aber jetzt würde sie nicht mehr an Skipper denken. Weder an ihn noch an seine herrische Familie oder die Kinder, die sie innerhalb der nächsten fünf Jahre bekommen würden, oder das ganze perfekte Leben, das er für sie beide geplant hatte.

Cassie würde eine Woche in Chicago bleiben und dann nach Pleasant Falls zurückkehren, in ihren alten Trott, und für Skipper die brave Verlobte spielen. Bis dahin jedoch wollte sie weder etwas von Skipper noch von ihrer gemeinsamen Zukunft wissen.

„Juhu!“ rief sie. „Das ist meine letzte Chance auf ein bisschen Spaß, und die werde ich genießen. Mit dem Wild Man!“

Es war so herrlich, dass sie es kaum aushielt. Sie würde Hiram „Wild Man“ Wright am Flughafen abholen. Die schlichte, bescheidene Cassie Tompkins würde den berühmten Wild Man begleiten. Wer hätte das gedacht?

Doch ihr letzter Jubelschrei hatte ihr ein paar seltsame Blicke von den vorbeieilenden Pendlern eingebracht, daher zog sie den Kopf ein, um jede weitere Aufmerksamkeit zu vermeiden. Ihr ganzes Leben lang war sie die ruhige, artige Schwester gewesen, daher war es schwer, aus diesem Verhaltensmuster auszubrechen, auch wenn sie schon Pollys Kleidung und Make-up trug und bereits die Identität ihrer temperamentvolleren Schwester annahm.

Trotzdem fühlte sie sich unendlich frei, während sie dem Zug nachschaute, der ihre Schwester in das öde Pleasant Falls brachte. Am liebsten wäre sie aus der Union Station herausgetanzt und hätte laut gesungen.

Dabei wäre ein solches Verhalten ganz untypisch für sie gewesen. Aber war es etwa typisch für Polly? Cassie runzelte die Stirn. Solange sie Pollys Rolle spielte, würde sie als Public-Relation-Managerin glaubhaft sein müssen, als jemand, den man zu den „25 heißesten Singles der Stadt“ zählen konnte, wie das Magazin „In Chicago“ es tat. Wahrscheinlich führten „heiße Singles“ keinen Freudentanz in der Union Station auf, um ein bisschen Unabhängigkeit zu feiern. Also hielt sie ihre Begeisterung im Zaum, setzte eine kühle Miene auf und gab sich Mühe, wie ein typischer Großstädter an einem normalen Tag auszusehen.

Gleichzeitig empfand sie ein wenig Angst, als sie hinaus in die Sonne trat. Die Absätze der eleganten Manolo-Blahnik-Schuhe ihrer Schwester klapperten auf dem Pflaster. Das modische Schuhwerk war wie ein Symbol des Lebens, das sie sich geborgt hatte. Jetzt, wo sie in Pollys knallroten Pumps lief, gab es kein Zurück mehr.

Was haben wir getan, fragte sie sich auf dem Rückweg zu Pollys schickem Cabriolet. Die Rollen zu tauschen so kurz vor der Hochzeit … Was haben wir getan?

Sie atmete tief durch. „Es wird alles gut werden“, sagte sie mit Bestimmtheit.

Sie startete den Wagen ihrer Schwester, fädelte sich in den Verkehr ein und verfehlte nur knapp die Stoßstange eines Taxis, was ihr wütendes Hupen und deftiges Fluchen des Taxifahrers einbrachte. Sie ignorierte es. So war das Leben in der Stadt. Laut, turbulent, energiegeladen.

Während sie versuchte, die Richtungsschilder zu lesen und sich gleichzeitig auf den Verkehr zu konzentrieren, hätte sie um ein Haar mehrere Unfälle verursacht. Doch ein schnelles Auto an einem schönen Frühlingstag zu fahren, Lastwagen zu überholen und sich zwischen Taxis hindurchzuquetschen … was konnte sie mehr verlangen? „Danke, Polly!“ rief sie erneut in den Fahrtwind.

Ein gut aussehender Mann in einem Mercedes fuhr neben sie, schaute zu ihr herüber und zwinkerte. Es war eindeutig ein sexy Augenzwinkern. Wow! Einen Moment lang war Cassie perplex, aber dann warf sie ihm eine Kusshand zu, trat aufs Gaspedal und brauste davon.

„Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade getan habe“, sagte sie leise und musste lachen bei der Vorstellung, dass Cassie Tompkins unbekannten Männern Kusshände zuwarf. Was für ein wundervoller Tag! Sie war noch nie in einem Cabriolet gefahren, hatte noch nie mit einem Fremden geflirtet und sich die Haare vom Wind zerzausen lassen. Es fühlte sich herrlich an.

22. Mai: Zehn Tage vor der Hochzeit

Cassie wachte wie immer um 6:15 Uhr auf und war ganz wild darauf, den ersten vollen Tag als Polly in Angriff zu nehmen. Als Erstes machte sie Frühstück, was nicht besonders typisch für ihre Schwester war. Aber man musste sich eben nach und nach an solche Sachen gewöhnen.

Eine Weile faulenzte sie und durchstreifte Pollys reizendes kleines Haus in Wicker Park. Es war ein schönes Haus voller Kunstobjekte und moderner Möbel, sehr städtisch und cool. Cassie merkte, wie sie sich allmählich an diese neue Welt gewöhnte.

Allerdings durfte sie sich mit der Eingewöhnung nicht zu lange Zeit lassen, denn sie hatte Arbeit zu erledigen. Sie kehrte in die Küche zurück und ging die Liste durch, die Polly ihr dagelassen hatte. Darin waren die Dinge aufgezählt, die sie beachten musste, um offiziell in das Leben ihrer Schwester schlüpfen zu können.

Polly hatte umfangreiche Listen hinterlassen, Merkzettel und genügend Informationen, so dass sich sogar ein Kind zurechtfinden würde. An erster Stelle standen die Vorbereitungen für die Begegnung mit dem Wild Man am Flughafen heute Abend, und Cassie überflog noch einmal die Veranstaltungstermine, weil das ihr Lieblingsteil war. Eigentlich konnte sie schon alles auswendig, die Radio-Interviews, die Signierstunden, der Auftritt im Zoo und ein Mittagessen im so genannten „Forscherclub“, wo Hiram Wright sich mit der Person treffen wollte, die einen von seinem Verleger gesponserten Wettbewerb gewonnen hatte. Es war alles sehr aufregend.

„Wild Man Wright“, sagte Cassie ausgelassen. „Ich habe ein solches Glück.“

Polly hatte sich vor diesem Auftrag gefürchtet, und Cassie hatte noch immer keine Ahnung, wieso. Wer würde nicht gern mit Wild Man Wright zusammen sein? Er war absolut cool, ob er nun Insekten in TV-Kochkursen zubereitete oder David Letterman in dessen Talkshow die beste Methode beibrachte, sich aus Treibsand zu befreien. Er predigte, man solle sich irgendwie durchs Leben schlagen, ob in Brooklyn oder Borneo, und Spaß dabei haben.

Ja, er war ein verrückter alter Kerl und sehr exzentrisch, aber er verstand es, für Aufregung zu sorgen, wo immer er war. Und das war genau das, worauf Cassie sich freute. Es musste einfach Spaß machen, ihn auf der Werbetour für sein neues Buch „Leben im Grenzbereich“ durch Chicago zu begleiten.

Aber sie erinnerte sich daran, dass es für Polly keine Vergnügungstour gewesen wäre. Es war ihr Job, und Cassie wollte sichergehen, dass sie alles richtig machte.

„Hm …“, überlegte sie und widmete sich wieder den heiklen Notizen darüber, was vor der Ankunft des Wild Man zu tun war. „Ich soll fünf Pfund blaue M&Ms besorgen. Wieso denn nur blaue? Ach, na ja. Wenn es das ist, was der Wild Man will, dann kriegt er es auch.“ Laut las sie die weiteren Anweisungen ihrer Schwester vor. „‚Im Schrank über der Spüle sind etwa zwanzig 500-Gramm-Packungen. Du wirst sie alle ausschütten und die blauen aussortieren müssen.‘“

Cassie runzelte die Stirn und versuchte nicht beleidigt zu sein. „Du liebe Zeit. Glaubt sie wirklich, ich wüsste nicht, wie man blaue M&Ms aussortiert?“

Die nächste Anweisung war jedoch noch ärgerlicher. „‚Füll sie in Körbe – er isst nur aus natürlichem Material.‘“ Natürliche Materialien? Ha!

Sie hatte nicht die Absicht, die Süßigkeiten in Körben zum Flughafen zu schleppen, wenn Plastikbeutel viel besser geeignet waren. Nachdem sie M&Ms. die sich auf Abwegen befanden, unter dem Küchenschrank und hinter der Kaffeemaschine eingesammelt hatte, schüttete sie alle blauen in Plastikbeutel und wog sie, um sicherzugehen, dass es auch fünf Pfund waren. „Puh“, sagte sie, froh, den letzten Beutel verschließen zu können. Sie lud die Beutel und die gewünschten Körbe in eine große Einkaufstüte, um sie mit zum Flughafen zu nehmen.

Dann musste sie bei „Mickeys edle Weine und Spirituosen“ anrufen, um sich nach einer Lieferung eines besonderen Whiskys aus dem schottischen Torfmoor zu erkundigen. Die Inkompetenz des Ladens zwang sie, forscher zu sein, als sie eigentlich wollte, doch nach kurzer Zankerei versprachen sie schließlich, den Scotch in der nächsten Stunde zu liefern.

„Sehen Sie zu, dass Sie ihn schnellstens herbekommen“, befahl sie und kam sich vor wie eine Filmfigur. „Ach, und setzen Sie ihn auf meine Rechnung.“

Sie konnte also durchaus autoritär, forsch und effizient sein. Sie würde Polly sogar noch übertrumpfen!

Als Nächstes kamen die Füllfederhalter an die Reihe. Sie fand die Schachtel mit den speziellen brasilianischen Füllfederhaltern, die der Wild Man zum Signieren seiner Bücher angefordert hatte, und füllte alle mit einer besonderen Tinte aus kleinen Glasflaschen. Eine kleckrige Arbeit. Cassie hoffte nur, dass Polly nicht zu sehr an ihrem Holztisch hing, der jetzt mit Tintenklecksen übersät war.

Auf dem Papier hatte es insgesamt nicht nach viel Arbeit ausgesehen, aber sie fühlte sich bereits ein wenig geschafft.

In der Zwischenzeit tickte die Uhr weiter, und laut Plan, den Polly ihr dagelassen hatte, musste sie in einer halben Stunde zum Flughafen aufbrechen. Dabei war sie noch gar nicht fertig! Und wo war der Lieferant mit dem Torfmoor-Whisky?

Rasch überflog sie die letzten Punkte auf ihrer Liste. „Oh, nein! Ich sollte sein Buch lesen, bevor ich ihn abhole.“

Jetzt war keine Zeit mehr, „Leben im Grenzbereich“ zu lesen. Cassie kaute an einem ausgefransten Fingernagel. Sie war ziemlich verstimmt, weil sie sich einen Nagel beim Öffnen einer Tintenflasche abgebrochen hatte, und hoffte, ihn noch abfeilen zu können, bevor jemand sie so sah. Sobald ihr eingefallen war, was sie wegen des Buches unternehmen konnte, würde sie sich auf die Suche nach einer Nagelfeile machen. Um positiv zu denken, murmelte sie: „Vielleicht habe ich ja Gelegenheit, das Buch auf dem Flughafen zu lesen, während ich warte.“

Dafür musste sie es jedoch erst einmal finden. Sie suchte im Wohnzimmer und in der Küche, wo Polly die meisten Sachen für sie bereit gelegt hatte. Doch diesmal hatte sie kein Glück. Sie fand „Leben im Grenzbereich“ schließlich auf Pollys Nachtschrank. Als sie es an sich nahm, erhaschte sie einen Blick auf sich im Spiegel der Frisierkommode.

„Grundgütiger!“ Und sie machte sich wegen eines abgebrochenen Nagels Sorgen? Nicht nur ihre Hände waren mit Tinte bekleckert, sondern auch auf ihrer Wange und über ihrer linken Brust war ein Fleck. Sie hatte Pollys wundervolles rotes Leinenkleid mit Tinte bekleckert! Was sollte sie jetzt nur machen?

Außerdem sahen ihre Haare aus, als sei ein Tornado über sie hinweggefegt. Mit ihrem geröteten Gesicht und dem verschmierten Augen-Make-up ähnelte sie eher einem Waschbären. So würde sie weder den ersten noch sonst irgendeinen Arbeitstag antreten.

Jeder in Pleasant Falls wusste, dass Cassie Tompkins stolz auf ihr makelloses, gut gekleidetes Äußeres war. Als stellvertretende Geschäftsführerin der Damenabteilung im Kaufhaus Joseph Kennigan & Sons achtete sie sorgfältig darauf, was sie anzog und wie sie aussah. Wie also hatte das passieren können?

Sie war ja bereit, ihren Standard ein wenig zu senken, während sie Polly spielte, die sich nie sonderlich um ihr Äußeres gekümmert hatte. Aber so weit wollte sie nun auch nicht gehen.

Sie versuchte nicht in Panik zu geraten und lief ins Badezimmer, wo sie vorsichtig an dem Fleck herumwischte. Mit einem großen nassen Punkt auf der Brust schnappte sie sich als Nächstes ihren Schminkkoffer und hoffte, dass sie irgendein wirksames Reinigungsmittel für den Fleck auf ihrer Wange dabei hatte. Ihre Lieblingsgesichtsseife richtete jedoch nicht das Geringste aus. Und gerade als sie die sandige Mixtur der Gesichtsmaske auf ihre Wange auftrug, klingelte es an der Tür. Ohne die dicke Paste abzuwischen, rannte sie zur Tür, öffnete sie schwungvoll und riss dem Lieferanten förmlich die verschlossene Sechser-Kiste mit dem Whisky aus den Armen.

„Was …“, war alles, was sie hörte, ehe sie mit dem Po die Tür wieder zuwarf. Sie hatte keine Zeit für zu spät kommende Lieferanten.

Wer hätte gedacht, dass Torfmoor-Whisky mit einem eigenen kleinen Vorhängeschloss geliefert wurde? Cassie betrachtete die Kiste und hatte Zweifel, ob sie das Schloss aufbekommen würde. Was soll’s, dachte sie. Darüber konnte sie sich später noch Gedanken machen. Sie stellte die Kiste auf den Boden neben der Tür zu den anderen Sachen, an die sie noch denken musste.

„Okay, Füllfederhalter, M&Ms. Scotch … alles klar.“ Sie hielt inne. „Und hier ist das Buch, das ich entweder im Auto lesen muss oder am Flughafen.“

Das war natürlich idiotisch, und das wusste sie, aber momentan hatte sie andere Sorgen. Zum Beispiel, wie sie mit einem großen nassen Fleck über der Brust aussah oder mit der Maske auf einer Wange, einer Frisur wie ein Zirkusclown und einem abgebrochenen Fingernagel.

Zum Glück bekam sie den Großteil des Kleckses auf der Wange mit dem Gesichtsreiniger ab, doch ihre Haare jetzt noch in den für sie typischen glatten Bubikopf zu frisieren war ein aussichtsloses Unterfangen.

„Ich sehe aus, als würde ich Madonna treffen“, stellte sie entsetzt fest. Doch es war zu spät, daran jetzt noch etwas zu ändern.

Für ihr Kleid benutzte sie einen Fön, doch nachdem das Wasser getrocknet war, konnte man noch immer einen kleinen Tintenklecks erkennen. Auf Pollys Kommode entdeckte sie eine große orangefarbene Seidenblume, einer Chrysantheme ähnlich, die sie kurzerhand über dem Fleck befestigte.

Dann fand sie einen Dosenöffner, mit dem sie sich am Schloss von der Kiste zu schaffen machte, noch einen Fingernagel abbrach und das verdammte Ding schließlich aufbekam. Sie nahm zwei Flaschen heraus – das würde dem Wild Man doch sicher für eine Nacht reichen, oder? – und schleppte das ganze Zeug in Pollys kleines Auto.

„Puh.“ Endlich war sie auf dem Weg zum Flughafen und nur fünf Minuten hinter ihrem Zeitplan.

Cassie war sehr zufrieden mit dem, was sie bisher erreicht hatte, angesichts der Hürden, die zu überwinden gewesen waren. Und jetzt würde sie Wild Man Wright begegnen. Sie konnte es kaum erwarten!

Jeder aus der Umgebung Chicagos schien zur gleichen Zeit wie Cassie zum O’Hare-Flughafen zu fahren. Ihr ganzes Zeitpolster, das Polly in den Plan eingebaut hatte, schmolz dahin, und langsam fing Cassie an, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie malte sich bereits aus, wie Hiram Wright ungeduldig auf sie wartete und mit jeder Minute wütender wurde. Es war sicher keine gute Idee, jemanden, dessen Spitzname Wild Man war, warten zu lassen.

Wenigstens verschaffte der Stop-and-go-Verkehr ihr Gelegenheit, ein paar Seiten von „Leben im Grenzbereich“ durchzublättern. Von den Kapiteln eins, „Unbeschwertes Wandern“, und zwei, „Ringen mit dem Abenteuer“, bekam Cassie in Grundzügen mit, worum es ging. Im Fernsehen hatte sie ihn unterhaltsam und toll gefunden. Doch sein Buch vermittelte ihr einen anderen Eindruck.

Seine Ratschläge zum Beispiel waren albern. Keine Frau, die noch bei klarem Verstand war, würde ihr Haar in einer Regenpfütze waschen oder auf einen Güterzug springen, um das Land zu sehen. So ein Quatsch.

Deswegen hielt sie allerdings nicht weniger von ihm. Sie war überzeugt, dass Mr. Wright ein liebenswerter Mensch war, auch wenn er die Ansicht vertrat, im Müll nach fast frischen Doughnuts zu suchen sei eine angemessene Art der Nahrungsbeschaffung.

Zu schade, dass in „Leben im Grenzbereich“ nichts darüber stand, wie man einen riesigen Flughafen überlebt. Als Cassie endlich parkte, war sie völlig fertig mit den Nerven. Sie suchte sich ihren Weg über endlose Rolltreppen, Fahrstühle und Rollbänder zum Hauptterminal, ihre geliebte Gucci-Handtasche über der Schulter, zwei Flaschen Scotch und eine Ausgabe von „Leben im Grenzbereich“ in der einen Hand und eine Einkaufstüte voller M&Ms. Körben und Füllfederhaltern in der anderen.

Dieses Flughafengewimmel war neu für sie. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass es so betriebsam, kompliziert und einschüchternd sein würde. Jetzt fehlte nur noch, dass sie ihren ersten Auftrag vermasselte und der Wild Man irgendwo auf dem O’Hare-Flughafen tobte, weil sie zu spät kam. Sie rannte zu den Monitoren, um nach dem richtigen Gate zu suchen.

„Flug 473, New York, Gate K-26, Ankunft um … Gott sei Dank. Sein Flug hat Verspätung.“ Sie seufzte erleichtert.

Als sie es durch die endlose Schlange aus Menschen und Elektrowagen bis zu K-26 geschafft hatte, sollte das Flugzeug auch schon landen. Doch das Gate war verlassen. Hier konnte sie nicht richtig sein.

„Entschuldigen Sie“, versuchte sie es am Schalter. „Wann landet das Flugzeug aus New York?“

„Das Gate wurde geändert. Sie müssen zu G-14“, erklärte der Angestellte gelangweilt.

Cassie hätte beinah geflucht, was gar nicht zu ihr passte. Es gelang ihr jedoch, sich zusammenzureißen. Sie atmete tief durch und machte sich auf den Weg zu G-14 – das sich praktisch auf der anderen Seite des Flughafens befand. Und als sie dort ankam, immer noch mit Whisky, Schokolade, Füllern und dem Buch beladen, war auch dieses Gate verlassen.

„Das Flugzeug ist vor wenigen Minuten gelandet“, informierte der Angestellte sie, der wie eine exakte Kopie des ersten aussah. „Wenn derjenige, den Sie abholen wollen, nicht hier ist, können Sie es bei der Gepäckausgabe versuchen oder ihn innerhalb des Flughafens ausrufen lassen.“

Hm … Gepäckausgabe. Wenn sie sich richtig entsann, lautete der Untertitel des ersten Kapitels in Wild Mans Buch „Niemals Gepäck aufgeben“. Darin erläuterte er seine Philosophie, auf jeglichen Firlefanz zu verzichten und nie mehr als ein Schweizer Messer und einen zusammenfaltbaren Poncho einzupacken. Falls er seinen eigenen Rat befolgte, hielt sie es für eher unwahrscheinlich, dass Mr. Wright bei der Gepäckausgabe war. Was wiederum bedeutete, dass er hier sein musste.

„Na schön, Wild Man, wo steckst du?“ Cassie kniff die Augen zusammen und hielt Ausschau. Sie sah eine schlafende Frau, einen Mann mittleren Alters, der eine Zeitung las, und ein paar andere Leute, die auf laufende Fernsehapparate über ihnen schauten. Keiner entsprach Cassies Vorstellung von Hiram Wright.

Um sicherzugehen, stellte Cassie ihre Taschen auf einem Stuhl ab, nahm „Leben im Grenzbereich“ und drehte es um, um sich anhand des Fotos auf dem Buchrücken sein Aussehen in Erinnerung zu rufen. Er war ein normaler älterer Mann, um die sechzig oder siebzig, mit einem dichten grauen Bart, buschigen Augenbrauen und einem streitlustigen Ausdruck in den Augen. An Gate G-14 war so jemand weit und breit nicht zu sehen.

Wo war er? Polly und der Wild Man hatten sich wegen der Vorbereitungen schon eine ganze Weile Faxe hin- und hergeschickt, er wusste also, dass sie ihn abholen wollte. Hätte er dann nicht gewartet?

Doch nach dem, was sie über den Wild Man wusste, könnte er ebenso gut einen Zug durch die Bars machen und die Leute mit seinen Abenteuern vom Amazonas unterhalten. Möglicherweise befand er sich sogar im Tower, wo er jemandem erklärte, wie man ohne Fallschirm aus einem Flugzeug sprang.

„Entschuldigen Sie“, sagte Cassie freundlich zu der Frau am Schalter. „Könnten Sie bitte jemanden für mich ausrufen?“

„Das Telefon ist dort drüben.“ Ohne aufzublicken, zeigte die Flughafenangestellte vage zu einem Telefon an der gegenüberliegenden Wand.

Mit einem Seufzer schleppte Cassie sich und ihre Taschen dorthin. Dann nahm sie den Hörer ab.

„Hallo? Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich bitte, dass Sie …“ Sie wollte darum bitten, den Wild Man auszurufen, aber das kam ihr albern vor. Hiram Wright wollte sie allerdings auch nicht sagen, weil er schließlich eine Berühmtheit war und sich möglicherweise Fotografen und Fans auf ihn stürzten, sobald sie hörten, dass er hier auf dem Flughafen war. Polly hatte ihr extra aufgetragen, niemandem seinen Aufenthaltsort zu verraten.

Mit Rücksicht auf diese Dinge sagte Cassie: „Ich stehe hier an Gate G-14 und suche Mr. Wright, der gerade mit der Maschine aus New York gekommen ist. Könnten Sie ihn bitte für mich ausrufen?“

„Haben Sie den Vornamen?“

„Nein. Aber Sie können meinen Namen nennen. Sagen Sie bitte, dass Cass … ich meine, Polly Tompkins ihn sucht.“

„Möchten Sie nun Cass oder Polly sein?“

„Ich bin Polly“, erklärte sie rasch.

„Ich habe also eine Polly Thompson, die verzweifelt Mr. Wright sucht. Ganz wie Sie möchten.“

„Polly Tompkins“, korrigierte Cassie sie. Dummerweise hatte die Frau am Ausrufschalter bereits aufgelegt.

„Wie unverschämt!“ beklagte Cassie sich. Die Menschen in Pleasant Falls benahmen sich nicht so. Aber die hatten auch keinen Flughafen oder Wild Man.

Cassie blieb bei ihren Taschen stehen und hoffte, die Frau am Ausrufschalter so schnell nicht wieder anrufen zu müssen. Inzwischen fühlte sie sich erschöpft. Hundert Tage in der Damenabteilung waren nicht so anstrengend wie ein Nachmittag am Flughafen O’Hare.

Sie fragte sich schon, ob die Telefonistin, die einfach aufgelegt hatte, den Gesuchten überhaupt ausrufen lassen wollte, als plötzlich über das Lautsprechersystem verkündet wurde: „Mr. Wright aus New York wird an Gate G-14 erwartet. Polly Thomas erwartet Sie an G-14.“

Ihr Name war nicht Thomas, aber er müsste trotzdem wissen, wer gemeint war. Die Durchsage war ziemlich laut. Cassie hielt die Augen offen nach einem alten Mann, der zum Gate geschlendert kam. Aber sie hatte kein Glück. Alles, was sie sah, war …

„Moment mal. Wer ist das?“

Wer immer der Mann war, der sich lässig mit der Angestellten am Schalter unterhielt, er war ganz eindeutig nicht alt. Er war groß und schlank und trug eine weiche Khakihose, die seinen Po faszinierend umspannte.

Cassie ließ den Blick länger auf seinem knackigen Po verweilen, als sie sollte. Dann richtete der Mann sich auf und drehte sich um, so dass sie sein Gesicht besser erkennen konnte. Du liebe Zeit. Er sah umwerfend gut aus.

Er hatte außerdem diese kleinen Falten in den Augenwinkeln, die von zu viel Sonne oder vielem Lachen herrührten. Cassie liebte solche Fältchen.

Mit einem bedauernden Seufzer riss sie sich von seinem Anblick los. So herrlich dieser Augenschmaus auch war, sie musste sich auf andere Dinge konzentrieren. Zum Beispiel, wo Mr. Wright abgeblieben sein könnte.

Doch die Frau am Schalter, die dem gut aussehenden Mann einfältig zulächelte, zeigte in ihre Richtung. Der Mann drehte sich um und musterte sie von oben bis unten. Dann kam er auf sie zu. Cassie nahm Haltung an. Wieso sollte die Frau am Schalter diesen Mann zu ihr schicken? Und warum sah er jetzt noch grimmiger aus?

Vielleicht brauchte er das Telefon für Ausrufe. Sie rückte von dem Telefon weg und sammelte ihre Taschen ein, damit er nicht darüber stolperte. Leider hatte das zur Folge, dass sie sich gerade unvorteilhaft bückte, als er bei ihr ankam, und das war genau das, was sie bei einer möglichen Begegnung mit einem solchen Mann nicht gebrauchen konnte.

„Polly?“ erkundigte er sich ungeduldig.

Sie stutzte, drückte eine Flasche Whisky an ihre Brust und zerquetschte dabei die riesige Blume, die sie dort angesteckt hatte. Die Nähe eines so attraktiven Mannes schien Cassie sprachlos zu machen. Und auf die Idee, dass sie auf den Namen „Polly“ reagieren sollte, kam sie auch nicht.

Sie stand da und starrte ihn einfach nur an.

„Polly?“ wiederholte er, und sie schluckte.

Wer, um Himmels willen, war dieser sexy Kerl? Und was wollte er von ihrer Schwester?

2. KAPITEL

„Polly Tompkins?“ fragte er noch einmal, diesmal lauter. „Sind Sie Polly Tompkins oder nicht?“

„Nein, ich bin … oh, doch, ich bin Polly.“ Cassie nahm sich zusammen und versuchte, den Whisky nicht fallen zu lassen oder die Blume von ihrem Kleid abzureißen. „Aber Sie sind nicht … ich meine, sie können unmöglich …“

„Er hat Sie als flotte Blondine beschrieben“, bemerkte der Mann spöttisch, „aber er hat nicht erwähnt, dass Sie geistig nicht ganz auf der Höhe sind.“

„Das ist nicht wahr!“ Sie war nicht ganz sicher, wie er das meinte, aber sie wusste, dass es eine Beleidigung war. „Ich wollte sagen, natürlich bin ich Polly. Polly Tompkins, PR-Beauftragte bei ‚Lenora Bridge and Associates‘. Zu Ihren Diensten.“ Verwirrt hielt sie inne. „Falls ich Ihnen zu Diensten sein soll, heißt das.“

Er stutzte, als hätte er nicht die leiseste Ahnung, wovon sie sprach. Wenn sie doch nur wirklich Polly wäre, die stets genau zu wissen schien, was sie sagen musste.

„Sind Sie meinetwegen hier?“ fragte Cassie, um sich klarer auszudrücken. „Und sollte ich Ihretwegen hier sein?“

„Allerdings, und zwar vor fünfzehn Minuten. Sie sind zu spät.“

Seine Brauen, eine Spur dunkler als seine ein wenig von der Sonne gebleichten Haare, waren über dem vollkommensten Augenpaar zusammengezogen, das sie je gesehen hatte. Waren sie grün? Oder blau? Irgendein strahlendes Blaugrün, entschied sie. Und wie durchdringend sie waren! Sie schienen förmlich kleine Pfeile auf Cassie abzuschießen. Wie machte er das?

„Würde es Ihnen also etwas ausmachen, mir Ihr Zuspätkommen zu erklären?“ fuhr er in dem gleichen ärgerlichen Tonfall fort. „Oder wollen Sie einfach weiter mit offenem Mund dastehen und mich anstarren?“

Hoppla! Er mochte ja gut aussehen, aber er war auch ziemlich grob. „Verzeihen Sie, aber ich weiß immer noch nicht, wer Sie sind“, entgegnete sie kühl. „Ich erwarte Mr. Hiram Wright, den Autor. Und das sind Sie offensichtlich nicht.“

„Natürlich bin ich das nicht!“

Gott sei Dank. Das hätte ihr noch gefehlt – Hiram Wright, der in einen Jungbrunnen gefallen war und dann so zurückkam. „Wer sind Sie also?“ wiederholte sie ihre Frage und versuchte so professionell zu klingen wie möglich.

„Ich bin Dylan Wright. Sein Neffe. Ich reise mit ihm. Glauben Sie mir, er braucht jemanden, der auf ihn aufpasst.“ Sein Ton verriet seinen unterdrückten Zorn, und Cassie spürte, dass mehr dahinter steckte.

„Wenn Sie mit ihm reisen, wo steckt er dann?“

„Er ist mir entwischt“, gestand er düster.

„Er ist Ihnen entwischt?“ Was, um alles in der Welt, sollte das nun wieder heißen?

„Ja, er ist mir entwischt“, wiederholte er. „Wir erreichten am Flughafen LaGuardia pünktlich die Maschine, und da hätte ich eigentlich schon stutzig werden müssen, weil bei meinem Onkel nie etwas planmäßig läuft.“

Polly hatte ebenfalls etwas in dieser Richtung geäußert, und dass Cassie vorbereitet sein sollte, weil der Wild Man bekannt dafür war, Pläne über den Haufen zu werfen. Ein gewisses Unbehagen breitete sich in ihr aus. Wie schlimm würde das alles noch werden?

„Wir nahmen unsere Plätze ein“, fuhr Dylan fort, „und schnallten uns an. Und dann sagte er plötzlich, er müsse zur Toilette. Er kletterte über mich hinweg – es kam mir eher so vor, als würde er auf mich drauffallen – und verschwand. Irgendwann hob die Maschine ab, und er war noch nicht wieder da. Er ist einfach aus der Maschine getürmt und hat mich wie einen Blödmann dasitzen lassen.“

„Er ist weg?“ Cassie versuchte ihre aufsteigende Panik unter Kontrolle zu halten.

„Als mir klar wurde, dass der alte Mistkerl abgehauen war, war es zu spät, um die Verfolgung aufzunehmen“, berichtete Dylan finster.

„Dann ist er gar nicht mitgekommen?“ Wie sollte sie ihn denn abholen und zu seinen Terminen begleiten, wenn er überhaupt nicht da war?

„So überraschend ist das nicht. Er macht solche Spielchen gern, um mich auf Trab zu halten.“

„Sie verstehen mich nicht.“ Cassie verspürte den Wunsch, Dylan Wright am T-Shirt zu packen und zu schütteln. Das ging leider nicht, weil sie eine der Whiskyflaschen in der Hand hielt. Daher musste sie sich damit begnügen, sich an die Flasche zu klammern wie an einen Rettungsring. Der Wild Man ist mein einziger Klient während meiner kurzen Zeit als Polly, dachte sie, und ich kann es nicht einfach vermasseln!

„Doch, ich verstehe.“ Mit einem leisen Fluchen nahm er ihr die Flasche Scotch aus der Hand. „Ihre Aufgabe ist es, ihn zu all seinen Signierstunden und Auftritten zu begleiten. Tja, und sein Hobby ist es, Ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ich dachte, das wüssten Sie.“ Er musterte sie skeptisch. „Sie wussten doch, mit wem Sie es zu tun bekommen, oder?“

„Ja, selbstverständlich. Mit Hiram ‚Wild Man‘ Wright. Aber wo ist er?“ fragte sie ungeduldig.

Dylan schüttelte den Kopf. „Hören Sie denn nicht zu? Er ist nicht mitgeflogen. Der alte Knabe rief mich doch tatsächlich im Flugzeug an, als ich irgendwo über Pennsylvania war. Er behauptete, er sei ausgestiegen, weil er es hasse zu fliegen. Er hasst es tatsächlich zu fliegen, aber möglicherweise hat er das diesmal nur gemacht, damit die Sache interessant bleibt. Bei ihm kann man nie wissen.“

„Das interessiert mich alles nicht.“ Cassie überlegte fieberhaft, was sie jetzt unternehmen sollte. „Glauben Sie, er wird im nächsten Flugzeug sitzen?“

„Auf keinen Fall. Ich habe es Ihnen doch erklärt. Er weigert sich zu fliegen.“

„Er wird überhaupt nicht fliegen? Was machen wir denn dann?“ Polly hatte gesagt, die goldene Regel laute: „Im Zweifelsfall immer im Büro anrufen.“ Andererseits hatte sie auch gesagt: „Ruf nicht im Büro an, wenn du nicht unbedingt musst, denn man könnte merken, dass du nicht ich bist, und dann steckst du wirklich in der Klemme, weil Lenora mir den Hals umdrehen wird dafür, dass ich einen meiner Klienten meiner Schwester überlassen habe, die überhaupt keine Ahnung von PR hat.“ Und dann hatte Polly ihr vorgejammert, dass diese Lenora richtig bösartig war und man sich besser nicht mit ihr anlegte, es sei denn, es handelte sich um einen Notfall, wie zum Beispiel, wenn jemand starb. Das war jetzt nicht direkt der Fall, oder?

Selbst wenn man den Rollentausch nicht gleich durchschaute, konnte Cassie sich gut ausmalen, wie jeder bei „Lenora Bridge and Associates“ mit dem Finger auf sie zeigte und schrie: „Du hast deinen Klienten verloren? Wie blöd bist du eigentlich?“

„Nein, das kann ich nicht machen“, meinte sie laut. „Auf der anderen Seite kann ich auch nicht einfach sämtliche Termine absagen.“ Nur, welche Wahl hatte sie, wenn Mr. Wright nicht da war?

„Schon gut, keine Panik.“ Dylan musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Wenn Sie bei diesem ersten Streich meines Onkels schon schlappmachen, werden Sie es in diesem Job nie schaffen.“

Das war nicht besonders nett von ihm, oder? Na schön, sie war eine Schwindlerin, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie es in diesem Job zu etwas brachte, war verschwindend gering. Nur konnte er das doch gar nicht wissen. Vor allem jetzt noch nicht. Sie hatte doch gerade erst angefangen!

Cassie atmete tief durch und hob das Kinn. Jeder in Pleasant Falls wusste, dass Cassie Tompkins stets die Ruhe selbst war, ganz gleich, was passierte. Sie war vielleicht nicht in allen Dingen die Klügste, aber sie verstand es, jede Situation lächelnd zu meistern, ganz gleich, wie groß die Katastrophe war. Nicht, dass sie jemals mit einer Katastrophe konfrontiert worden wäre. Aber sie hatte schon einige Herausforderungen bewältigt.

„Ich werde mit allem fertig, was Ihr Onkel sich einfallen lässt“, verkündete sie.

„Ja, klar. Mit mir werden Sie bis jetzt nicht so gut fertig“, bemerkte er und betrachtete sie mit diesem umwerfenden Blick. „Dabei bin ich verglichen mit meinem Onkel ein Kinderspiel.“

Er war ein Kinderspiel … du meine Güte. Cassie konnte kaum glauben, welche Spiele ihr plötzlich zu diesem Mann einfielen. Sie spürte, wie sie errötete, und versuchte ihre Gedanken zu ordnen, indem sie sich daran erinnerte, dass er nicht nur äußerst gut aussah, sondern auch sehr grob und unhöflich war. Man soll eben nicht nach dem Äußeren urteilen.

Entschlossen guckte sie ihm in die schönen Augen und sagte vorsichtig: „Kommen wir mal zurück zu Mr. Wright. Wenn er den nächsten Flug auch nicht nimmt und nicht fliegen will, wie gelangt er dann hierher?“

„Gar nicht.“ Dylan lächelte grimmig. „Als er anrief, teilte er mir mit, Chicago habe ein schlechtes Karma, und er würde nicht kommen. Er meinte, er würde stattdessen einen Bus nach Cleveland nehmen. Und wenn ich ihn treffen wolle, könne ich ja morgen Nachmittag am Busbahnhof in Cleveland sein.“

Cassie schluckte. „Cleveland? Morgen Nachmittag? Das kann er nicht machen. Er soll morgen bei einem Radiosender und zwei Buchläden auftreten. Außerdem hat er ein Mittagessen mit dem Gewinner des Wettbewerbs ‚Überleben der Stärkeren‘, Sie wissen schon, das war der Wettbewerb, bei dem man einen Aufsatz darüber schreiben musste, wie man etwas wirklich Schreckliches überlebt, zum Beispiel wenn man von einer Lawine verschüttet wurde oder …“

„Ich kenne den Wettbewerb“, unterbrach er sie. „Ich habe die Aufsätze für ihn beurteilt.“

„Sie?“ Sie starrte ihn verblüfft an. „Ist das fair? Hieß es nicht, der Wild Man persönlich sei der Juror?“

„Meine Güte, seien Sie doch nicht so kleinlich!“

„Na ja, es ist nur …“ Cassie wusste nicht, was sie sagen sollte. „Selbst wenn er die Aufsätze nicht selbst gelesen hat, kann er den Sieger des Wettbewerbs nicht einfach hängen lassen“, argumentierte sie. „Das wird sicher verdammt teuer.“

Dylan zog eine goldblonde Braue hoch. „Sagten Sie ‚verdammt‘ teuer?“

„Ja. Wieso fragen Sie?“ Zu spät wurde ihr klar, dass er sich nur über sie lustig machte. Aber sie hatte jetzt keine Zeit für ihn und seine ärgerlichen Witze. „Passen Sie auf, Sie wollen ihn morgen abholen, richtig? Der morgige Terminplan war nicht so eng, damit er sich langsam daran gewöhnen kann. Deshalb schätze ich, dass ich die morgigen Termine noch am Tag danach unterbringen kann. Das müsste gehen.“

Dylan zuckte mit den Schultern. „Vorausgesetzt, wir können ihn finden, hierher bringen und dazu bewegen, alles andere auch mitzumachen.“

„Das können wir. Das müssen wir einfach.“ Sie plante bereits weiter. Sie hatte das Handy ihrer Schwester. Und Polly hatte ihr eine Liste mit sämtlichen Terminen, Kontakten und Telefonnummern für einen Notfall wie diesen dagelassen.

Sie griff nach dem Handy und hielt inne. Was war mit Cleveland? Sie schaute Dylan an. Sollte sie auch mitfahren?

Sie hatte keine Ahnung, ob PR-Leute für gewöhnlich alles stehen und liegen ließen, um mit fremden Männern in fremde Städte zu fahren und nach ihren Klienten zu suchen. Oder sollte sie lieber hier in Chicago warten und darauf vertrauen, dass Dylan seinen Onkel allein wieder einfing?

Nervös kaute sie an einem Fingernagel. Normalerweise tat sie so etwas nicht, aber mehr konnte sie jetzt nicht tun, während sie nachdachte.

Nach Cleveland aufbrechen? Oder hier bleiben und warten?

Ungeduldig vor dem Telefon zu hocken klang nicht besonders verlockend. Bis jetzt war Dylan schroff, unkooperativ und nicht im Mindesten Vertrauen erweckend gewesen. Sie konnte sich schon ausmalen, wie sie ihre manikürten Nägel herunterkaute, während sie sich fragte, was wohl Hiram Wright und sein ärgerlicher Neffe trieben. Sie würden kreuz und quer durchs Land ziehen, sich amüsieren und niemals auftauchen. Und dann würde Cassie allen Leuten inklusive Lenora Bridge erklären müssen, wieso der Wild Man nicht da war.

Aber konnte sie mit Dylan nach Cleveland fahren? Sie musterte ihn verstohlen und registrierte erneut, wie gut seine Khakihose saß, wie groß und einschüchternd er war und wie unausstehlich mit seinen hochgezogenen Brauen und selbstzufriedenen Blicken.

Da war außerdem das Problem, das Cassie nicht wusste, wo Cleveland genau lag und wie lange es dauern würde bis dahin. Geographie war nie ihre Stärke gewesen.

Hör auf, dich wie ein Baby zu benehmen, ermahnte sie sich. Na schön, es lief nicht alles optimal. Genau das hatte sie doch gewollt. Freiheit, Spontaneität, Aufregung! Noch dazu mit einem toll aussehenden Mann. Auch wenn er nicht der netteste toll aussehende Mann der Welt war.

Sie würde spontan sein und sich auf die Suche nach dem Wild Man machen.

„Sollen wir Flugtickets kaufen?“ schlug sie vor und zückte die Firmenkreditkarte ihrer Schwester, als sei es ganz normal, spontan irgendwohin aufzubrechen.

„Kein Flugzeug. Ich werde fahren. Wir haben genug Zeit, und notfalls kann ich ihn fesseln und in den Kofferraum werfen, wenn es sein muss“, sagte er und schien sich auf diese Möglichkeit schon zu freuen.

„Das würden Sie doch nicht wirklich tun, oder?“ Den berühmten Wild Man in den Kofferraum sperren? Wie sollte er da atmen?

„Hören Sie, wenn Sie mich begleiten wollen, fein. Aber glauben Sie ja nicht, Sie könnten bei dieser kleinen Mission das Kommando übernehmen.“ Seine ablehnende Haltung gab ihr das Gefühl, dass es ihm ganz und gar nicht passte, wenn sie mitkam. Eher schien es das Letzte auf dieser Welt zu sein, was er wollte.

„Ich versuche gar nicht, irgendein Kommando zu übernehmen“, verteidigte sie sich. „Aber wenn Sie schon schlecht gelaunt sind, bevor wir überhaupt aufgebrochen sind …“

„Ich bin nicht schlecht gelaunt. Ich bin nur …“ Er verstummte und fuhr sich aufgebracht durch die Haare. Er hatte sehr schönes Haar, das jetzt in kleinen sexy Stacheln abstand und Cassie reizte, es zu glätten und zu streicheln … Cassie nahm sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf seine Worte. „Ich weiß, dass es für uns beide ungünstig ist, aber ich brauche Sie bei dieser Sache.“

Sie versuchte, eine Braue hochzuziehen, wie er es machte, und hoffte, dass es ebenso arrogant und überheblich aussah. „Sie brauchen mich?“

„Die Sache ist die, dass ich momentan ein wenig klamm bin“, gestand er gequält. „Das ist ein weiterer Lieblingstrick meines Onkels. Er hat mein Geld und meinen Ausweis gestohlen, als er beim Aufstehen im Flugzeug über mich geklettert ist.“

„Sie machen Witze.“

„Über solche Sachen macht man keine Witze.“ Seine Miene wirkte noch gequälter, falls das möglich war. „Er hält das für einen Spaß. Sie wissen schon, ‚Leben im Grenzbereich‘, wie zum Beispiel ohne Kreditkarten, Bargeld oder Führerschein.“

Sie guckte ihn perplex an. Er besaß weder Kreditkarten noch Bargeld? „Was dachte er denn, wie Sie nach Cleveland kommen? Wie sollten Sie denn ohne Geld überleben können?“

„Ich soll mich durchschlagen und auf meine Sinne verlassen, statt auf meine Kreditkarten. Und da kommen Sie ins Spiel.“

„Ich soll für die Sinne sorgen?“ fragte sie ungläubig.

„Nein, aber vielleicht für ein Auto. Sie haben doch ein Auto, oder?“

„Ja, schon.“ Sie hatte einen Wagen, soweit richtig – nur gehörte der ihrer Schwester. Und sie hatte den Führerschein ihrer Schwester. War es Betrug, die Staatsgrenzen mit einem falschen Ausweis zu überqueren?

„Bestens. Ich brauche nur Ihren Wagen und Ihre Kreditkarten, dann können wir gleich morgen früh los.“ Dylan hängte sich seine Tasche über die Schulter und bückte sich nach der zweiten Flasche Whisky, als traue er ihr nicht zu, den kostbaren Scotch zu tragen, ohne ihn fallen zu lassen. „Gehen wir.“

Bevor Cassie etwas entgegnen konnte, eilte er schon davon.

Hastig suchte sie ihre Sachen zusammen und stolperte hinter ihm her. „Wenn wir erst morgen früh aufbrechen, wohin fahren wir dann jetzt?“

Er blieb unvermittelt stehen und drehte sich um. Mit gerunzelter Stirn nahm er ihr auch die Einkaufstasche ab und schaute sie mit seinem sinnlichen Blick an. „Zu Ihnen natürlich, wohin denn sonst?“

„Zu mir?“

Er lächelte, so dass die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln erschienen. Cassie schmolz dahin.

„Das wird alles schon wieder“, ermutigte er sie. „Kommen Sie.“ Und damit marschierte er weiter.

Cassie lief ihm nach und versuchte herauszufinden, was hier passierte. Eines wusste sie genau – Dylans Lächeln hatte eine verheerende Wirkung auf sie, weil sie sofort schwach wurde und ihm überallhin folgen würde, selbst wenn es die größte Dummheit auf dieser Welt wäre.

Und während sie noch dabei war, dahinzuschmelzen, musste sie sich mit der beängstigenden Tatsache auseinander setzen, dass Dylan Wright, der bestaussehende, ärgerlichste Mann, den sie je kennen gelernt hatte, die Nacht in ihrem Haus verbringen wollte. Nur dass es nicht ihr Haus war, sondern das ihrer Schwester.

Ein Haus, in dem es nur ein Schlafzimmer gab.

Dylan fand allmählich, dass an dieser Polly etwas sehr Merkwürdiges war. Zuerst hatte sie sich eher wie eine Fünftklässlerin aufgeführt, statt wie eine erfahrene Public-Relation-Managerin, indem sie zu spät kam, nervös war und dieses ganze Zeug mit sich herumschleppte, als wüsste sie nicht, dass der Whisky im Hotel stehen sollte und sie vor der Signierstunde morgen weder die Füllfederhalter noch die M&Ms brauchte. Das hätte ihr doch klar sein müssen.

Dann war sie so begriffsstutzig gewesen, dass er Zweifel hatte, ob sie sich noch an ihren eigenen Namen erinnerte. Und jetzt hatte sie vergessen, wo ihr Wagen stand. Hinzu kam, dass sie diese Idee mit Cleveland völlig überrumpelt zu haben schien.

Na schön, das fiel aus dem Rahmen. Aber sie musste doch inzwischen wissen, wie sein Onkel war – die beiden hatten sich seit Wochen Faxe geschickt und telefoniert, und Hiram machte nie ein Geheimnis aus seiner Exzentrik. Im Gegenteil, er lebte sie aus.

Wieso war das alles jetzt plötzlich eine Überraschung für die süße Polly?

„Haben Sie nicht gesagt, es sei ein rotes Cabriolet?“ fragte er freundlich. „Da drüben steht eines.“

„Tja, das sieht aus wie das Richtige.“ Sie untersuchte es einen Moment, während er überlegte, ob er sie fragen sollte, wieso sie ihr Kennzeichen nicht kannte. Aber dann seufzte sie erleichtert und schloss seine Tür auf. „Ja, das ist es.“

Gott sei Dank. Er hatte genug davon, Scotch und was sie sonst noch in diesen Tragetaschen hatte, mit sich herumzuschleppen. Er hoffte nur, dass sie den Rückweg leichter fand als ihren Wagen.

Doch sie überraschte ihn damit, dass sie eine Wegbeschreibung hatte.

„Machen Sie das noch nicht lange?“ erkundigte er sich und bemerkte, wie sie immer wieder auf das Stück Papier schielte.

„Was?“ entgegnete sie abwesend. „Autofahren?“

„Das PR-Business.“

„Public Relations? Noch nicht lange?“ Um ein Haar verfehlte sie beim Abbiegen einen Zementlaster. Mit einer seltsam brüchigen Stimme antwortete sie: „Nein, nein. Tja, ich meine, ich bin schon … ich bin bei ‚Lenora Bridge‘ seit … seit dem College – das übrigens die Northwestern war.“

„Passen Sie auf …“ Doch da waren bereits eine Hupe und quietschende Reifen zu hören. Das war knapp. Nicht, dass Polly überhaupt merkte, dass sie beinah auf einen Van aufgefahren wäre.

„Ich bin jetzt fünfundzwanzig, und damals war ich zweiundzwanzig. Also bin ich seit drei Jahren dabei. Heiliger Bimbam, Mann, drei Jahre.“

„Aha.“ Im Augenblick war er mehr auf ihren Fahrstil konzentriert als auf ihren Lebenslauf. Allerdings fragte er sich unwillkürlich, wer außer irgendwelchen Hinterwäldlern Sachen wie „Heiliger Bimbam, Mann“ sagte. Außerdem sah sie so aus, als müsste sie immer erst fieberhaft darüber nachdenken, bevor sie sprach. Ständig kaute sie auf ihrer Wange oder rümpfte die Nase. Eine Public-Relation-Managerin, die nichts zu sagen hatte, war ihm auch noch nie begegnet.

„Ich habe im Hauptfach Englisch studiert“, erklärte sie plötzlich. „An der Northwestern University.“

„Ja, Sie erwähnten, dass Sie auf der Northwestern waren“, erwiderte er leicht genervt. „Los, Bären!“ rief er fröhlich, obwohl er sehr wohl wusste, dass das Maskottchen der Northwestern University eine Wildkatze war. Aber sie ging weder auf den Köder ein noch korrigierte sie ihn. Hm …

„Und danach fing ich bei ‚Lenora Bridge and Associates‘ an.“ Sie lächelte nervös. „Direkt vom College ins PR-Geschäft.“

„Richtig.“

Zum Glück dauerte es nicht allzu lange bis zu ihrem Haus, denn er fing an, um seine Sicherheit zu fürchten. Polly Tompkins mochte ja äußerst attraktiv sein mit ihren ehrlichen blauen Augen, der kecken blonden Frisur und ihrem sehr kurzen Rock, der ein wohl geformtes Paar Beine sehen ließ. Ihm gefiel sogar die etwas zu groß geratene Blüte, die über ihrer Brust hing, auch wenn das ein merkwürdiger Platz für eine Blume zu sein schien. Doch so süß sie war, so schlecht fuhr sie Auto.

Er zuckte zusammen, als sie auf die Bremse trat und abrupt vor einem kleinen Haus zum Stehen kam, das vermutlich ihres war. Interessantes Haus, dachte er und folgte ihr hinein.

Sein Reihenhaus aus braunem Sandstein stand meistens leer, seit er es gekauft hatte. Er reiste viel mit seinem Onkel, deshalb blieb wenig Zeit, dort sesshaft zu werden oder in Möbel zu investieren. Pollys postmodernes Häuschen verriet dagegen viel Persönlichkeit mit seiner grellblauen Haustür, purpurnen Samtsofas auf nacktem Holzfußboden, Oberlichtern an seltsamen Stellen und großen, dürren Skulpturen aus verdrehter Bronze und Blechstücken, die sich im Luftzug bewegten. Es war alles sehr modern und passte kein bisschen zur altmodischen „Heiliger Bimbam, Mann“-Polly Tompkins.

Dylan betrachtete sie misstrauisch. „Wohnen Sie schon lange hier?“

„Nein.“

Er wartete auf weitere Erklärungen, doch sie schwieg.

„Es ist sehr hübsch“, bemerkte er.

Sie lächelte unsicher und wippte auf ihren sexy Pfennigabsätzen, wobei sie beinah umgeknickt wäre. „Danke.“

„Zeigen Sie mir, wo ich schlafen werde?“

„Na klar.“ Aber sie rührte sich nicht von der Stelle. „Ich überlege noch“, fügte sie dann hinzu. Ihre Augen schienen immer runder und blauer zu werden. „Es gibt nämlich nur ein Schlafzimmer. Ich habe Sie ja nicht erwartet.“

„Ich bin nicht anspruchsvoll“, versicherte er ihr.

„Auf den Namen Ihres Onkels ist allerdings ein Zimmer in einem tollen Hotel reserviert. Es wäre kein Problem, Sie dorthin zu fahren“, meinte sie hoffnungsvoll.

Nach der wilden Fahrt zu ihrem Haus hatte Dylan nicht vor, sich von ihr noch irgendwohin fahren zu lassen. Abgesehen davon, hatte er Gründe, hier übernachten zu wollen. Einer davon war sein tiefer Wunsch, herauszufinden, wer diese verrückte Frau war.

Ihr nannte er einen anderen, vernünftiger klingenden Grund. „Wenn wir schon im Morgengrauen aufbrechen wollen, ist es einfacher vom gleichen Ort zu starten. Dann brauchen wir uns auch nicht mit dem Berufsverkehr auf der Stadtautobahn herumzuärgern. Außerdem können wir einen Plan entwerfen, was wir mit meinem Onkel machen.“

Sie schien Gegenargumente anbringen zu wollen, sprach sie aber dann doch nicht aus. „Ja, da haben Sie wohl Recht“, sagte sie leise.

„Gut. Dann wäre das geklärt.“

Nach einer langen Pause machte sie einen Schritt zurück. „Tja, dann werde ich mal das Schlafzimmer für Sie zurechtmachen.“

Er schaute sich um und betrachtete die purpurnen, samtbezogenen Sofas. Er hatte schon an viel schlimmeren Orten geschlafen, und es widerstrebte ihm, jemand so Nettes wie Polly Tompkins aus ihrem Bett zu vertreiben. „Ehrlich gesagt, kann ich sehr gut hier schlafen.“

„Sind Sie sicher? Es macht mir nichts aus, auf der Couch zu schlafen. Wirklich. Immerhin bin ich kleiner, also habe ich mehr Platz darauf“, argumentierte sie.

„Nicht nötig. Nach den Orten, an denen ich schon mit meinem Onkel übernachtet habe, ist eine Couch der reinste Luxus.“

„Na schön. Dann werde ich Ihnen ein Laken holen. Und ein Kissen. Und Handtücher und Seife und solche Sachen.“ Sie machte einen oder zwei Schritte Richtung Flur und winkte ihm zu. „Ich bin gleich wieder da. Machen Sie es sich doch in der Zwischenzeit bequem.“

„Gern.“ Während sie irgendwohin entschwunden war, entdeckte er die Küche, wo er den Scotch und die anderen Sachen abstellen wollte, die er herumgeschleppt hatte. In der Küche klebten überall kleine gelbe Merkzettel, auf den Arbeitsflächen und Schränken, sogar auf der Spüle. „Nicht vergessen, ‚Leben im Grenzbereich‘ zu lesen, bevor du zum Flughafen fährst“ stand auf einem. „Spezieller Whisky bei ‚Mickeys edle Weine und Spirituosen‘. Liefern, wenn man sie drängt. Keine Ausreden akzeptieren!“ war auf einem weiteren Merkzettel zu lesen.

Es gab genaue Instruktionen, wie man blaue M&M’s aussortierte.

Als Dylan sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank nahm, dachte er über den Grund für all die Merkzettel nach. Entweder hatte Polly die vergesslichste Chefin, die man sich vorstellen konnte, weil sie in Pollys Haus kam und es mit Merkzetteln zupflasterte, oder Polly traute ihrem eigenen Gedächtnis nicht und hatte die gelben Zettel selbst hingeklebt. Aber wer brauchte Anweisung, wie man am besten M&Ms aussortierte?

Es war alles sehr seltsam und trug nur zu seiner wachsenden Neugier bei, wer Polly Tompkins war. Besaß sie kein Kurzzeitgedächtnis? Liebte sie es, Listen anzufertigen? Gefiel es ihr, sich selbst herumzukommandieren?

Wie auch immer die Antwort lautete, Dylan war fasziniert.

Er schlenderte zurück ins Wohnzimmer. Polly war noch nicht wieder da. Sie schien ziemlich lange zu brauchen, um Bettzeug und ein paar Handtücher zu holen. Aus den anderen Teilen des Hauses war außerdem lautes Gepolter und Krachen zu hören, als würde sie Schränke und Kommoden durchwühlen.

Das war ein weiterer Anhaltspunkt zu dem Geheimnis Polly Tompkins. Dylan war sicher, das ganze Puzzle zusammenfügen zu können, wenn er die Gelegenheit bekam, sich hier in Ruhe umzuschauen und vielleicht ein paar Schubladen zu öffnen.

Er schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit zu vertreiben. Es war wirklich ein langer Tag gewesen, und jetzt brauchte er dringend ein paar Stunden Schlaf. Die Analyse von Polly musste warten, bis sein Verstand wieder klar arbeitete. Er warf seinen Rucksack neben eins der Sofas und machte es sich bequem. Er hüpfte ein paar Mal, um die Federn zu testen, und entschied, dass es für eine Nacht kein schlechtes Bett war.

Doch irgendwie kam ihm das Sofa verdächtig wie eine Schlafcouch vor. Er nahm die Polster herunter, entdeckte eine Schlaufe und eine zusammengeklappte Matratze, komplett mit Laken und Decke. „Heiliger Bimbam, Mann!“ rief er laut.

Wusste Polly etwa nicht, dass sie ein ausklappbares Sofa im Wohnzimmer hatte?

„Oh.“ Sie stand im Durchgang zum Flur, jetzt barfuß in ihrem knappen roten Kleid mit der großen Blume über einer ihrer wohl gerundeten Brüste. In der Hand hielt sie eine Zahnbürste, und über dem Arm hatte sie einen Stapel Bettzeug und Handtücher. „Das habe ich anscheinend ganz vergessen.“

„Ja, es sieht so aus.“

„Na ja, ich habe hier Bettzeug für Sie. Und dazu passende Handtücher“, fügte sie triumphierend hinzu. „Ich hatte ein bisschen Mühe, die Sachen zu finden, weil dieses Haus nicht besonders gut organisiert ist, wenn Sie mich fragen. Aber jetzt habe ich ja alles.“

„Freut mich zu hören.“

Als sie auf ihn zuging, offensichtlich in der Absicht, sein Bett zu machen, trat er zur Seite, damit sie sah, dass Bettzeug bereits ordentlich darin verstaut war.

„Oh.“

„Sagen Sie, Polly, haben Sie dieses Haus möbliert gemietet?“

„Ich weiß nicht“, murmelte sie und schien angestrengt nachzudenken. „Die Firma hat mich hier untergebracht. Sie haben das Haus für mich gemietet oder geleast oder so. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern.“ Dann schien es ihr jedoch ganz plötzlich wieder einzufallen. „Ich bin die Haussitterin für diesen Typen, der nach Europa gegangen ist oder so.“

„Ach, das erklärt es.“ Nicht richtig allerdings. Da blieb immer noch die Frage nach dieser naiv wirkenden Frau, die sich kein bisschen wie ein PR-Mensch benahm und nicht genau wusste, wie sie an ihr Haus gekommen war, die selbst das Maskottchen ihres Colleges nicht kannte und Phrasen wie „Heiliger Bimbam, Mann“ in ihrem Wortschatz hatte.

Was war los mit Polly Tompkins? Und wieso fand er sie und ihr seltsames Verhalten so faszinierend?

Dylan klappte das Bett auf und guckte sie erwartungsvoll an, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie ihm noch gern Gesellschaft leisten konnte. Doch sie wich zurück und verschwand eilig aus dem Wohnzimmer.

„Dann gute Nacht!“ rief sie über die Schulter, mit einem nervösen Beben in der Stimme, das ihn amüsierte.

„Gute Nacht, Polly.“

Als er es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, musste er grinsen. Mit all dem hatte er nicht gerechnet. Und doch freute er sich auf diese Fahrt nach Cleveland.

Nicht auf das, was nach ihrer Ankunft käme, wenn er seinen anstrengenden Onkel einfangen und irgendwie seine Kreditkarten und seine Brieftasche zurückbekommen musste. Und dann musste er den alten Schurken, der sich mit Händen und Füßen wehren würde, erst noch zurück nach Chicago bringen.

Aber bevor sie nach Cleveland kamen und mit Onkel Hiram kämpfen mussten … Nun, es versprach eine lange Fahrt zu werden mit viel Zeit, um Polly Tompkins auszufragen. Bald würde er all ihre Geheimnisse kennen.

Das war ein Versprechen.

3. KAPITEL

23. Mai: Neun Tage vor der Hochzeit

„Zeit zum Aufstehen!“ verkündete eine ekelhaft fröhliche Stimme dicht an Dylans Ohr. Und dann fing sie auch noch an zu singen!

Es war kein richtiger Gesang, eher ein Summen. Aber es wirkte heiter und fröhlich.

„Was zur Hölle …“ Dylan hob den Kopf. Er war für gewöhnlich leicht zu wecken und schnell auf den Beinen. Aber diese Uhrzeit war selbst für ihn früh. Er machte ein Auge auf und entdeckte Polly neben dem Bett. Da stand sie – angezogen, wunderschön und fertig zum Aufbruch.

„Guten Morgen!“ flötete sie.

„Grundgütiger“, brummte er und drehte sich auf dem Schlafsofa um. „Wie spät ist es?“

„Fünf.“

Ihr Blick schien auf seine nackte Brust gerichtet zu sein, und seltsamerweise freute es Dylan, dass sie sich offenbar von dem Anblick nicht losreißen konnte.

Er setzte sich auf. „Fünf Uhr morgens? Sind Sie noch bei Trost?“

„Sie sagten im Morgengrauen. Ich bin mir nicht ganz sicher, wann das ist, aber ich wollte eben nicht, dass wir uns verspäten“, erklärte sie.

Dylan fand das gar nicht witzig. Gestern Abend hätte er noch darauf gewettet, dass sie eine Langschläferin war. Aber da hatte er sich wohl geirrt.

Sie war fix und fertig angezogen. Diesmal trug sie ein enges schwarzes, teuer aussehendes Kostüm. Als sie sich über ihn beugte, um mit ihm zu reden, sah er die verlockendsten Wölbungen im Ausschnitt ihrer weißen Bluse. Ihre kinnlange Frisur war anders als gestern Abend, glänzend und modisch. Dazu trug sie große Ohrringe, die unter ihren Haaren herausschauten und sie schon eher wie die elegante PR-Frau wirken ließen. Stilvolles Make-up, klassischer Goldschmuck, ein Paar aufreizender roter Pumps … faszinierend.

„Also, Sie stehen auf und machen sich fertig, während ich das Frühstück zubereite“, wies sie ihn an und machte sich auf den Weg in die Küche. „Beeilen Sie sich.“

Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass sie gerade angekündigt hatte, sie würde Frühstück machen. Und den Düften aus der Küche nach zu urteilen, handelte es sich dabei nicht um Kuchenreste oder alte Brötchen. Er war noch nie einer Frau begegnet, die morgens aus dem Bett sprang und gleich Essen kochte. Sowohl seine Großmutter als auch seine Mutter waren der Ansicht gewesen, dass Haferflocken zum Frühstück reichten. Und die Frauen, mit denen er in New York ausging, würden lieber tot umfallen, als eine Pfanne in die Hand zu nehmen.

Aber hier duftete es nach Eiern und … Würstchen? Sie machte Würstchen? Etwa echte fettige, politisch unkorrekte Würstchen aus Fleisch, in deren Nähe sich die Frauen aus seinem Bekanntenkreis nicht einmal wagen würden?

Kein Zweifel, in seiner Welt war jemand wie Polly Tompkins eine äußerst merkwürdige Frau.

Sie tauchte aus der Küche auf. „Mir fiel gerade etwas ein.“ Sie blieb abrupt stehen. „Wegen meines Outfits. Finden Sie es in Ordnung? Ich wollte das Prada-Kostüm anziehen, aber dann fand ich, ich sollte vielleicht doch lieber das von Gucci mit den coolen Schnallen nehmen. Aber wenn ich das anziehe, passen die Schuhe nicht mehr, und ich liebe diese Schuhe. Was meinen Sie?“

Dylan hatte keine Ahnung. Er starrte sie an und bemerkte, wie das enge schwarze Kostüm sich um ihre Hüften schmiegte und ihre weiße Bluse ihm gerade genug Einblick gewährte, um eine Sehnsucht nach mehr zu wecken. Die roten Schuhe waren allerdings beängstigend. Sie hatten hohe Absätze und ließen ihre Beine lang und schlank und … Ja, diese Schuhe waren sogar gefährlich.

„Nun, was denken Sie?“ drängte sie ihn und zupfte an ihrem Kostüm herum, was sie nur noch verführerischer wirken ließ.

„Wieso fragen Sie?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher.“ Sie betrachtete skeptisch ihr Kostüm. „Ich habe so etwas noch nie gemacht, wissen Sie. Einfach nach Cleveland fahren, um einen Klienten aufzuspüren. Ich will nichts Falsches tragen, wenn ich Ihrem Onkel zum ersten Mal begegne. Schließlich ist er so berühmt und wichtig, und ich muss korrekt aussehen, wenn ich ‚Lenora Bridge and Associates‘ repräsentiere.“

Wenn sie sich wegen ihrer Begegnung mit Onkel Hiram Sorgen machte, sollte sie am besten eine kugelsichere Weste tragen und eine Peitsche dabeihaben. Sicher gab es kaum etwas Unpraktischeres für eine lange Autofahrt als ein enges schwarzes Kostüm. Nicht, dass er ihr mitteilen würde, sie solle auch nur das kleinste bisschen ändern.

„Ziehen Sie sich nicht um“, antwortete er mit einer Stimme, die viel heiserer klang als beabsichtigt.

„Na schön.“ Sie zuckte mit den Schultern und verschwand wieder völlig unbesorgt in der Küche, während er benommen auf der Couch saß.

„Bin ich paranoid oder verdreht sie mir tatsächlich den Kopf?“ fragte er laut. Sie stand um fünf auf, machte Frühstück und führte ihm schicke knappe Kleider vor – er behielt sie ganz bestimmt im Auge.

Doch während er kurz duschte, sich rasierte und ein schwarzes T-Shirt zu seiner Khakihose anzog, gestand er sich ein, dass er keine Ahnung hatte, wie Polly tickte. Nach dem üppigen Frühstück, das sie zubereitet, serviert und anschließend eine Melodie summend abgeräumt hatte, war er nur noch verwirrter. Sie erklärte ihm, dass das, was er aß, ein „Frühstücksdurcheinander“ aus Eiern und Würstchen und ein Rezept ihrer Mutter sei.

Er war noch nie jemandem begegnet, der auch nur annähernd so etwas gemacht hätte. War sie vielleicht ein Überbleibsel aus den Fünfzigern?

„Woher kommen Sie eigentlich?“

„Aus einer Kleinstadt“, erwiderte sie und errötete. „Von der Sie bestimmt noch nie gehört haben.“

Er hatte geahnt, dass es eine Kleinstadt sein musste. Was ihn nur wunderte, war die Tatsache, dass sie sie jemals verlassen hatte, wo sie so sehr mit diesem Ort verbunden zu sein schien.

Offenbar würde es noch einige Zeit in Anspruch nehmen, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Aber auf dem Weg nach Cleveland würden sie noch lange genug zusammen in dem kleinen Wagen sitzen und Gelegenheit zum Reden haben.

Eine Sache musste er jedoch gleich klären. Er trottete ihr hinterher, als sie mit einer roten Handtasche, die zu ihren Pumps und dem Cabrio passte, zum Wagen marschierte.

„Ich brauche die Schlüssel“, erklärte er.

„Wie meinen Sie das?“

„Ich fahre.“

„Aber das ist mein Wagen!“ protestierte sie. „Und ich bin diejenige, die tankt und die Rechnungen bezahlt und …“

„Darüber wird nicht verhandelt“, unterbrach er sie. „Ich bin gestern Abend mit Ihnen gefahren, und das werde ich nicht noch einmal tun. Ich möchte nämlich gern heil in Cleveland ankommen.“

„Dann … dann finden Sie also, ich bin eine schlechte Fahrerin?“ stammelte sie.

„Schätzchen, Sie sind eine schlechte Fahrerin.“

Sie sah aus, als wollte sie mit ihm streiten und als seien ihr die Argumente ausgegangen.

„Geben Sie mir die Schlüssel“, befahl er und hielt ihr die Hand hin.

Sie schmollte ein wenig, aber schließlich gab sie ihm die Schlüssel. Glücklich war sie damit jedoch nach wie vor nicht, und Dylan merkte ihr an, wie sie innerlich kochte.

„Ach, kommen Sie schon“, sagte er. „Es dürfte Sie doch nicht allzu sehr überraschen, dass Sie eine lausige Fahrerin sind. Sie müssen schon unzählige Unfälle verursacht haben.“

„Habe ich nicht! Ich hatte noch nie einen Unfall.“ Sie zögerte, und Dylan wartete, während er ihr die Tür aufhielt. „Na ja, da war dieses eine Mal bei meiner zweiten Fahrprüfung, als ich gegen die Parkuhr fuhr und den Wagen vorn zerbeulte. Aber das ist alles.“

Er schwieg und warf ihr nur einen amüsierten Blick zu, als er sich auf den Fahrersitz setzte.

„Das ist wirklich der einzige Zwischenfall“, beteuerte sie. „Und es war noch nicht mal meine Schuld.“

Dylan stellte ruhig die Spiegel ein und betätigte den Schalter, um das Dach des Wagens einzufahren. „Wie fährt man denn schuldlos gegen eine Parkuhr? Hat sie sich etwa vor Ihren Wagen geworfen?“

„Okay, technisch gesehen war es vielleicht meine Schuld“, räumte sie ein.

„Aha.“ Er bog auf die Straße ein und war froh, dass sie ziemlich verlassen war um diese Uhrzeit.

„Es war ein kleiner Unfall vor Ewigkeiten, bei dem niemand verletzt wurde.“ Ihre Stimme stockte. „Und so viel fahre ich ja auch gar nicht. Zur Arbeit laufe ich zum Beispiel …“

„Wie laufen Sie denn zur Arbeit?“ Er warf ihr einen fragenden Blick zu. „Liegt Ihr Büro nicht an der Stadtautobahn? Von hier kann man schlecht zu Fuß dorthin gehen.“

„Oh.“ Sie überlegte kurz. „Ich meine ja auch nicht hier. Ich meinte, ich bin früher zu Fuß zur Arbeit gegangen, als ich noch jünger war. Bevor ich Pleasant Falls verlassen habe.“

Jetzt kannte er also auch den Namen der Kleinstadt. Pleasant Falls. Das klang ganz nach einem verschlafenen kleinen Nest.

„Jetzt fahre ich nicht mit dem Wagen, weil ich natürlich die Hochbahn nehme.“

„Natürlich.“

Mittlerweile war er sich sehr sicher, dass Polly die meiste Zeit über log. Nicht, was Pleasant Falls anging. Das hörte sich nach der ersten Wahrheit an, seit sie sich begegnet waren. Nein, es war alles andere, was sie erzählte. Er glaubte nicht, dass sie je die Northwestern University besucht hatte, jemals mit der Hochbahn gefahren war, irgendeine Erfahrung als Public-Relation-Managerin besaß oder schon länger als ein paar Wochen in der Stadt lebte.

Wer also war sie? Wieso log sie?

Und warum machte es so viel Spaß, die Antworten auf diese Fragen herauszufinden?

Cassie gefiel diese Maskerade ganz und gar nicht. Ja, die Kleider waren ausgezeichnet, das Cabriolet war toll – besonders da sie diesmal an ein Kopftuch gedacht hatte, damit ihre Frisur heil blieb – und ja, Dylan konnte sogar amüsant sein, wenn er sich bemühte. Er war der erste Abenteurer, dem sie je begegnet war, und es war faszinierend, wenn er ihr vom Skifahren in Chile erzählte oder wie er im Kajak Tahiti umrundet hatte.

Wie glücklich er sich schätzen konnte, all diese Dinge und verschiedenen Orte gesehen zu haben. Wie glücklich er sich schätzen konnte, einen Onkel wie den Wild Man zu haben, der ihn auf all diese Abenteuer mitnahm.

Leider war der Wagen zu klein, um sich zu entspannen, vor allem wenn seine Hand auf der Gangschaltung lag, sehr nah neben ihrem Schenkel, seine breiten Schultern bis auf ihre Seite herüberreichten und sein Arm jedes Mal ihren streifte, wenn er schaltete.

Außerdem schaute er sie ständig an. Ohne etwas zu sagen, so nachdenklich und geheimnisvoll. Es war ja schmeichelhaft, dass die schlichte Cassie einen so attraktiven Mann in ihren Bann schlug, aber auch ein bisschen unheimlich. Was sah er denn?

Hinzu kam, dass er sich viel zu sehr für ihren Arbeitsweg interessierte, ihren ersten Klienten, ihr Lieblingsrestaurant und ihr bestes Fach in der Grundschule. Er behauptete, sich nur die Zeit mit diesen Fragen zu vertreiben.

Wenn sie sich weiter Märchen ausdenken musste, um auf seine Fragen zu antworten, würde sie im Geschichtenerzählen bald dem Wild Man Konkurrenz machen können.

Sie hoffte, die Geschichten wirkten stimmig. Ich tue mein Bestes, dachte sie, aber sie bekam allmählich Kopfschmerzen davon, den Überblick über ihre Lügen zu behalten und ständig die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken.

Unterdessen sollte sie diese kleine Mission auch noch navigieren, nachdem sämtliche Telefonate mit Buchhandlungen und Radiosendern erledigt waren, und darin war sie nicht sehr gut.

„Haben Sie inzwischen herausgefunden, wo wir sind?“ wollte er wissen, während sie die Karte drehte, um sie besser lesen zu können.

Es half nichts. Außerdem: Wer konnte denn schon richtig eine Straßenkarte lesen?

„Ich glaube, wir sind hier“, versuchte sie es und zeigte mit dem Finger auf eine geschlängelte blaue Linie.

„Das ist die Mitte eines Flusses.“

„Ist es nicht.“ War es doch. „Ich müsste gar nicht in die Karte sehen, wenn Sie wie jeder normale Mensch den Highway genommen hätten. Aber nein, das wäre ja zu einfach gewesen.“

Er zog schon wieder so sexy eine Braue hoch. „Ach, kommen Sie. Der Highway ist doch langweilig. Man fährt endlos vor sich hin. Aber das hier …“ Er winkte mit dem Arm aus dem Wagen und deutete auf die sanft hügelige grüne Landschaft. „Das ist viel echter und näher am wahren Amerika.“

„Hier kommen wir an öden Kleinstädten und Farmen vorbei. Das kenne ich alles zur Genüge.“ Sie rutschte tiefer in ihren Sitz, um eine bequeme Position zu finden, trotz Sicherheitsgurt und zu kurzem Rock, der ständig hochrutschte und mehr Bein entblößte, als sie beabsichtigte. Es kam ihr so vor, als säßen sie schon ewig zusammen in diesem Wagen, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Verärgert stieß sie die Luft aus. „Na schön, wo ich herkomme, ist es nicht so flach, aber im Prinzip ist es dasselbe. Total langweilig. Ich dachte, diese Fahrt würde uns durch glitzernde Großstädte führen“, murrte sie, „und nicht durch verschlafene Nester.“

„Soll ich anhalten und auf die Karte schauen?“

„Nein, ich will nicht, dass Sie anhalten. Ich will einfach bloß wissen, wann wir in Cleveland sind.“

„Mit Ihnen zu reisen erinnert mich an Familienurlaube, als ich ungefähr zehn war“, sagte er. „Meine Eltern hatten diesen klapprigen alten Lieferwagen, und mein Bruder und ich stritten uns darum, wer das letzte Stück Schokolade kriegte oder wer die Wachsmalstifte am Fenster hatte liegen lassen, so dass sie in der Sonne geschmolzen waren und …“

„Genau wie bei mir und meiner Schwester“, meinte sie lachend. „Nur dass es kein Lieferwagen war, sondern ein Kombi. Und wir stritten uns darüber, wo wir die Grenze auf dem Rücksitz zogen.“

„Dann haben Sie also eine Schwester?“ fragte er rasch.

Oje. Cassie dachte einen Moment darüber nach. Wenn sie verriet, dass sie eine Schwester hatte, gab sie doch damit nicht automatisch zu viel preis, oder? Verdammt! Bis jetzt war sie so vorsichtig gewesen. Nein, es schadete bestimmt nichts, wenn er wusste, dass sie eine Schwester hatte.

„Ja, zwei, um genau zu sein.“ Sofort lenkte sie das Thema wieder auf ihn. „Und Ihr Bruder, ist der jünger oder älter? Wie heißt er?“

„Sein Name ist James, und er ist drei Jahre jünger. Er ist Buchhalter und eine große Enttäuschung für meine Hippie-Eltern.“ Er grinste. „Und was ist mit Ihren Schwestern?“

Na gut, jetzt wurde es kompliziert. Was ihre kleine Schwester Ashley betraf, war es kein Problem. Aber sollte sie die echte Polly beschreiben oder sich selbst? Schließlich war sie Pollys Schwester und die Person, die Polly beschreiben würde, wenn sie hier wäre. Sollte sie von sich erzählen? Die smarte, selbstbewusste Frau aus der Großstadt spielen oder der Niemand Cassie aus der Kleinstadt sein?

„Meine jüngste Schwester ist vierzehn, und die andere … ist näher an meinem Alter, aber sehr langweilig“, erwiderte sie und ging damit auf Nummer sicher. „Da gibt es nicht viel zu erzählen.“

„Aha.“

„Oh, sehen Sie nur!“ Cassie setzte sich auf und zeigte auf ein Schild, froh über die Ablenkung. „Cleveland – sechzehn Meilen. Puh, ich dachte schon, wir würden nie dort ankommen.“

„Auf dem Schild stand, dass der Greyhound-Busbahnhof in dieser Richtung liegt!“ rief Polly. „Sie haben die Abfahrt verpasst.“

„Wir fahren nicht zum Greyhound-Busbahnhof. Mein Onkel reist immer mit der Red-Dog-Linie.“

„Von Red Dog habe ich noch nie etwas gehört“, entgegnete sie zweifelnd. „Was für eine Buslinie ist denn das?“

„Ein bisschen einfacher und schlichter. Onkel Hiram gefällt die Linie, weil er da aus dem Fenster hängen und seine Zigarren rauchen darf.“ Dylan zuckte bei der Erinnerung an frühere solcher Reisen innerlich zusammen. „Man hat nichts erlebt, wenn man noch nicht mit Wild Man Wright zusammen im Red Dog gefahren ist.“

„Du meine Güte“, war alles, was Polly neben ihm hervorbrachte.

Sobald sie seinen Onkel gefunden hatten, würde sie sich auf eine Feuertaufe gefasst machen müssen. Sie sollte sich lieber wappnen, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatte.

„Etwa hier entlang?“ fragte sie nervös. Dylan merkte, wie sie versuchte, weder die heruntergekommene Straße noch einen ihrer ebenso heruntergekommen Bewohner anzustarren.

„Nur ein paar Blocks von hier.“ Er war schon einmal am Red-Dog-Busbahnhof gewesen, da Cleveland eines der Lieblingsziele seines Onkels war. Onkel Hiram hatte überall Freunde, aber ein ganzer Haufen von ihnen schien sich in und um Cleveland herumzutreiben.

Nachdem er schon mehrmals in Red-Dog-Bussen in die Stadt hinein- und wieder hinausgefahren war, erinnerte Dylan sich genau daran, wo der Busbahnhof lag. Trotzdem wünschte er jetzt, er hätte daran gedacht, das Dach des Cabriolets zu schließen, bevor sie diese üble Gegend der Stadt erreichten. Er war an ein abenteuerliches Leben gewöhnt, aber irgendwie bezweifelte er, dass Polly dafür bereit war.

Zum Glück gelangten sie ohne größere Probleme zum verfallenen Busbahnhof. Polly wurde sehr still, als sie das Red-Dog-Schild an der Tür erblickte. Dylan hatte ihr lieber nicht erzählt, dass es von Kugeln durchlöchert war. Als sie das Gebäude betraten, hielt sie sich dicht an seiner Seite, und er hatte nichts dagegen.

„Sehen Sie ihn?“ flüsterte sie.

Er war nicht sicher, wieso sie flüsterte – der Ort war voller lärmender Leute und dröhnender Ghettoblaster. Flaschen klirrten, Dosen klapperten, es spielte sogar jemand Mundharmonika, also hätte man Polly nicht einmal gehört, wenn sie auf den Tresen gesprungen wäre und „Yankee Doodle Dandy“ geschmettert hätte. Allerdings fiel sie in ihrem eleganten, knappen schwarzen Kostüm und mit ihren großen blauen Augen, die mit jeder Minute größer wurden, trotzdem an diesem elenden Ort auf.

Dylan spähte auf der Suche nach seinem Onkel in die düsteren Ecken des kleinen Busbahnhofs. Normalerweise war es nicht schwierig, seinen Onkel zu finden, da er es stets schaffte, einen Aufruhr zu verursachen, wohin er auch ging. Diesmal jedoch nicht.

„Ich kann ihn nirgends entdecken“, stellte er beunruhigt fest. Verdammt. Der alte Knabe sollte ihn hier lieber nicht versetzen. Nicht, nachdem Dylan bis nach Cleveland gefahren war, um ihn zu finden, und Polly pflichtbewusst sämtliche seiner Termine des ersten Tages in Chicago verschoben hatte, um dem alten Ziegenbock den Rücken freizuhalten. „Vielleicht ist sein Bus noch nicht hier. Wir schauen lieber mal nach.“

Während sie sich ihren Weg durch den überfüllten Wartesaal in der Red-Dog-Station bahnten, klammerte Polly sich an seinen Arm und schmiegte sich eng an ihn. „Nein, ich sehe ihn nicht“, murmelte sie.

Als er einen Angestellten fragte, ob der Bus aus New Jersey schon angekommen sei, ließ sie seinen Arm wieder los.

„War er das?“ flüsterte sie aufgeregt und entfernte sich von ihm.

„Sie sollten lieber bei mir bleiben“, riet er ihr, doch da war sie schon weg. Sie stieg einfach über Gepäck und ausgestreckte Beine und lief zu den zerbeulten Erfrischungsautomaten.

„Der Bus aus Newark ist früh angekommen“, erklärte ihm der Mann hinter der Glasscheibe und lenkte Dylans Aufmerksamkeit wieder in seine Richtung. „Er ist schon seit gut zwei Stunden hier.“

„Na gut, danke.“ Zwei Stunden? Das war viel zu viel Zeit für den Wild Man, um nicht in irgendwelchen Ärger zu geraten. Dylan beobachtete, wie Polly sich den Erfrischungsautomaten näherte und ein schmieriger Kerl in Army-Kluft ihr den Weg versperrte. Das sah nicht gut aus. Dylan näherte sich vorsichtig der Szene und versuchte sich im Hintergrund zu halten.

„Was machst du hier, Janine?“ brüllte der Mann und packte sie am Ellbogen. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst mir vom Hals bleiben. Alle Ausgänge werden nämlich bewacht!“

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin nicht Janine“, erwiderte sie, doch der Mann in der Army-Kluft wurde nur noch lauter und weigerte sich, sie vorbeizulassen.

„Janine, ich warne dich – man wird uns beide verhaften!“

„Verdammter Mist.“ Das Letzte, was Dylan gebrauchen konnte, war eine Schlägerei mit einem Irren im Wartesaal des Red-Dog-Busbahnhofs. Doch Polly riss sich von dem Verrückten los und hielt verzweifelt nach Dylan Ausschau. 

Autor

Julie Kistler
Julie Kistler kommt bei Komödien, alten Filmen, Musicals, Katzen und großen, dunkelhaarigen und gut aussehenden Männer wie ihrem eigenen Ehemann, mit dem sie seit 20 Jahren verheiratet ist, ins Schwärmen.
Früher war sie Rechtsanwältin, hat sich dann aber für eine Karriere als Romance-Autorin entschieden und sich durch ihre humorvollen Liebesromane...
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Jo Leigh

Seit Jo Leigh 1975 bei der großen Filmgesellschaft 20-Century-Fox als Lektorin in der Abteilung für Comedys einstieg, ist sie im Filmgeschäft zu Hause. Sie war für die Mediengesellschaften CBS, NBC und verschiedene andere große Produktionsfirmen tätig, wobei sie zunehmend Drehbücher konzeptionierte und bearbeitete. Kein Wunder, dass bei so viel Sachkenntnis...

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Isabel Sharpe
Im Gegensatz zu ihren Autorenkollegen wurde Isabel Sharpe nicht mit einem Stift in der Hand geboren. Lange Zeit vor ihrer Karriere als Schriftstellerin erwarb sie ihren Abschluss in Musik auf der Yale Universität und einen Master in Gesangsdarbietung auf der Universität von Boston. Im Jahre 1994 rettet sie die Mutterschaft...
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