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Meg Avery drehte sich um und spähte zu ihrem Baby auf dem Rücksitz. Die kleine Dana schlief wie ein Engel.
„Na, ist sie gewachsen in den dreißig Sekunden, seit du das letzte Mal nach ihr geschaut hast?“, neckte ihr Mann Joe vom Fahrersitz aus.
„Babys können sich verschlucken oder Angst kriegen oder wer weiß was.“
Natürlich war nichts dergleichen geschehen. Und andernfalls hätte Joe es vermutlich lange vor ihr gespürt. Von dem Moment der Geburt vor einem Monat an hegte er eine geradezu mystische Verbindung zu Dana. Vielleicht lag es daran, dass sie zwei Wochen zu früh gekommen war und er Geburtshilfe geleistet hatte.
Ein Arzt hätte es nicht besser machen können, hatten die Sanitäter bei ihrem Eintreffen versichert. Von Anfang an war Joe der Erste, der nachts aufstand und Dana versorgte, wenn sie weinte.
Meg richtete die Aufmerksamkeit auf die Schnellstraße, die sich meilenlang vor ihnen erstreckte. Sie waren unterwegs zu ihrem Vater, der in Santa Barbara lebte. Früher einmal hatte er ein Alkoholproblem gehabt, doch nun war er trocken und arbeitete als Manager in einem Schuhgeschäft. Er freute sich darauf, sein erstes Enkelkind kennen zu lernen.
Erneut drehte sie sich zu Dana um, der die roten Haare trotz vorhergehender Zähmungsbemühungen widerspenstig vom Kopf abstanden.
„Du brauchst nicht ständig nach ihr zu sehen. Es besteht kein Grund zur Sorge, solange du ein paar einfache Vorsichtsmaßnahmen befolgst“, erklärte Joe in der formellen Art, die sie immer verwunderte. Für einen Kellner, der wie sie nie die High School beendet hatte, drückte er sich manchmal sehr gewählt aus.
„Woher willst du das wissen? Du hattest doch noch nie ein Baby.“
Er rieb sich die Stirn. „Ich weiß nicht, woher ich es weiß.“
„Hast du wieder Kopfschmerzen?“ Obwohl er gesund wirkte, ließ sein häufiges Kopfweh sie befürchten, dass er sich nicht völlig von seinem schweren Unfall vor achtzehn Monaten erholt hatte. „Ich kann fahren, wenn du willst.“
„Es geht mir gut. Aber das Benzin wird knapp. Ich halte an der nächsten Tankstelle an.“
„Gut.“ Sie konnte sich darauf verlassen, dass Joe den Benzinpegel ebenso im Auge behielt wie ihre Finanzen und alle anderen Aspekte ihres Lebens. Wieso er früher einmal als verantwortungslos gegolten hatte, konnte sie nicht verstehen.
Während er nach der nächsten Ausfahrt Ausschau hielt, gönnte sie sich das Vergnügen, das markante Profil des Mannes zu betrachten, mit dem sie seit einem unglaublich glücklichen Jahr verheiratet war.
Die Morgensonne ließ sein blondes Haar wie Gold glänzen, und als er ihr den Kopf zuwandte und sie anlächelte, glänzten seine grünen Augen wie Smaragde.
Joe Avery hätte als perfekter Märchenprinz durchgehen können, und für Meg war er genau das.
Es geschah nicht oft, dass gut aussehende Fremde in Mercy Canyon auftauchten, der Kleinstadt im Süden Kaliforniens, in der sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Die wenigen, die erschienen waren, hatten nicht auf Meg O’Flaherty mit ihren rotbraunen Haaren und Sommersprossen geachtet.
Joe war kaum eine andere Wahl geblieben, dachte sie mit einem Anflug von Humor.
Er war aus Franklin in Tennessee gekommen, um einen Job im Back Door Cafe anzutreten, in dem sie arbeitete. Unterwegs hatte er in dem zwanzig Meilen entfernten Meerbad Oceanside Station gemacht. Beim Angeln auf dem Pier war er ins Wasser gestürzt und hatte sich den Kopf verletzt. Erst nach einer halbstündigen Suche war er von Lebensrettern in einiger Entfernung aus der Brandung gefischt worden.
Zum Glück hatte seine Brieftasche auf dem Pier gelegen, denn er erinnerte sich nicht, wer er war. Der Polizei war in seinem Motelzimmer die Telefonnummer von Megs Chef Sam Hartman in die Hände gefallen, der Joe abgeholt und nach Mercy Canyon gebracht hatte.
Angeblich sollte Joe in der Vergangenheit häufig die Jobs gewechselt und impulsiv die Anstellung in Tennessee angenommen haben, obwohl er dort nicht mehr verdiente als zuvor.
Meg war das einerlei. Sie wusste aus Erfahrung, dass er solide war. Er war zärtlich, witzig und sexy, hatte ihr Herz gestohlen und ihr seines gegeben. Nach einer schweren Kindheit, in der sie und ihr kleiner Bruder Timmy von einem Waisenheim ins nächste weitergereicht worden waren, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Was andere auch von Joe halten mochten, sie vertraute ihm bedingungslos.
Er bog von der Schnellstraße in eine Tankstelle ab und hielt an einer Zapfsäule. Dana begann zu quengeln.
„Sie braucht eine neue Windel“, stellte er fest.
„Ich gehe mit ihr in den Waschraum.“
„Bleib nicht zu lange weg. Ich lasse dich an einem fremden Ort nicht gern aus den Augen.“ Joe war eigentlich kein herrischer Mensch, aber seit seinem Unfall hielt er das Leben für unsicher.
„Wir werden uns beeilen.“ Meg stieg aus, schnappte sich die Windeltasche und nahm Dana aus dem Babysitz.
Sie warf einen letzten Blick auf ihren Mann an der Zapfsäule. Sein muskulöser Körper rief ihr in Erinnerung, dass er in der Tat ihr Beschützer war – und auch ihr bester Freund.
Joe blickte Meg gedankenverloren nach, als sie mit Dana auf der Schulter die Tankstelle überquerte. Ein roter Sportwagen fuhr von einer Zapfsäule ab. Die Frau am Steuer musterte ihn interessiert, und einen Moment lang befürchtete er, sie würde Meg übersehen und anfahren.
Meg und Dana bedeuteten ihm alles. Er hatte niemanden sonst. Er erinnerte sich nicht einmal an die Leute, mit denen er in Franklin zusammengearbeitet hatte. Enge Familienangehörige hätten seinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge helfen können, aber seine Eltern waren vor einigen Jahren gestorben, und er hatte keine Geschwister.
Er wünschte, jemand hätte seine unerklärlichen Gedächtnislücken füllen können. Andererseits war es nicht so wichtig. Er war zufrieden als Manager vom Back Door Cafe und glücklich verheiratet mit einer fröhlichen, warmherzigen Frau, die ihn im Bett verrückt machte.
Die Zapfpistole stellte sich automatisch ab. Joe zog sie heraus. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er die beiden jungen, unförmig gekleideten Männer nicht bemerkt hatte, die sich ihm näherten.
Sonst war niemand in Sicht. Obwohl auf der Schnellstraße dichter Verkehr herrschte, lag die Tankstelle verlassen da. Nicht einmal der Tankwart war in dem Shop zu sehen.
Einer der Männer trat direkt zu Joe, während der andere von hinten um den Wagen herumkam.
Joe betete, dass Meg nicht in diesem Moment zurückkehrte. Er war bereit, den Wagen und seine Brieftasche zu opfern, um seine Familie zu schützen. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ja.“ Der Mann zog eine Pistole aus seiner grauen Jacke. „Steig ein.“
Joe hielt ihm die Wagenschlüssel und seine Brieftasche hin. „Hier.“
Graujacke schnappte sich die Brieftasche und fuchtelte mit der Pistole. „Damit du uns verpfeifen kannst, wie? Steig ein oder ich schieße.“
Sein Kumpel, ein stämmiger Bursche mit blauer Baseballkappe, versperrte den Fluchtweg in der anderen Richtung.
Joe zog in Erwägung, zwischen die Zapfsäulen zu huschen. Doch wenn Meg im falschen Moment aus dem Gebäude kam, konnte es lebensgefährlich werden. „Okay, okay.“ Er setzte sich auf den Fahrersitz. Blaumütze stieg neben ihm ein, während Graujacke sich hinter Joe setzte und ihm die Pistole an den Kopf hielt.
„Fahr schon los. Südlich, nach Los Angeles.“
Joe fuhr an, als sich der Lauf in seinen Nacken bohrte. Er konnte nur hoffen, dass jemand die Entführung beobachtete, damit Meg erfuhr, dass er sie nicht verlassen hatte.
Blaumütze kramte im Handschuhfach und fluchte, als er nichts als Straßenkarten, Bonbons und Papiertücher fand. Beide Männer wurden zornig, als sich herausstellte, dass die Brieftasche nur wenig Geld enthielt.
Offensichtlich waren sie auf Bares zur Beschaffung von Drogen aus. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn anhalten ließen und ausstiegen, wenn sie nichts davon fanden.
Joes Unbehagen wuchs, als immer mehr Meilen zwischen ihn und Meg traten. Das Straßensystem von Los Angeles erschien ihm vertraut, was seltsam war, da er seines Wissens nie in die Gegend gekommen war.
Schließlich befahlen ihm die Entführer, von der Schnellstraße in die Innenstadt abzubiegen. Sie flüsterten miteinander, doch Joe hatte ein gutes Gehör und verstand jedes Wort.
„Nicht hier“, raunte Graujacke. „Irgendwo, wo es ruhiger ist.“
„Nein. Hier hört keiner die Schüsse.“
Joes Magen verkrampfte sich. Warum wollten sie ihn umbringen? Weil er sie für ein geringfügiges Vergehen identifizieren konnte? Er hielt es für allzu drastisch, doch den beiden schien es sehr ernst zu sein.
An einer gelben Ampel hielt Joe abrupt an. Während die beiden um ihr Gleichgewicht kämpften, riss er die Tür auf und sprang aus dem Auto.
Er wollte über die Straße rennen, musste jedoch zurückweichen, als ein Lastwagen auf ihn zuraste. Im Zickzack lief er vorwärts. Blaumütze war auf den Fahrersitz gerutscht und verfolgte ihn.
Im letzten Augenblick sprang Joe auf den Bürgersteig, doch er war noch nicht in Sicherheit. Als er in einer Seitenstraße untertauchte, hörte er einen Schuss.
Verzweifelt machte er einen Satz zur Seite. Er rutschte auf etwas Glitschigem aus, verlor das Gleichgewicht, konnte einen Sturz nicht verhindern und sah eine Hausecke auf sich zukommen.
Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf. Vage hörte er von fern eine Sirene und das Quietschen von Reifen, als die Entführer flohen. Dann wurde es finster um ihn.
„Trotz all der neueren Fortschritte in der Gehirnforschung gibt es immer noch vieles, was wir nicht wissen“, verkündete eine Stimme irgendwo in der Stratosphäre.
Ein stechender Schmerz veranlasste ihn, die Augen geschlossen zu halten. Er roch Desinfektionsmittel und hörte vertraute Geräusche: Aufrufe an Ärzte über Lautsprecher, das Rattern von Medikamentenwagen auf den Korridoren.
„Wie wird sich diese neue Verletzung auf sein Gedächtnis auswirken?“, erkundigte sich eine spröde Frauenstimme.
Er kannte den Klang, konnte die Person aber nicht unterbringen. Im Geiste sah er verschwommen ein rundes Gesicht mit Sommersprossen.
Jemand beugte sich über ihn. Er blinzelte in das grelle Licht und sah eine Frau in den Sechzigern, mit welligem silbrigem Haar und braunen Augen. Instinktiv formten seine Lippen: „Mom.“
Seine Eltern waren tot. Das hatten die Leute gesagt in … Wo? Er versuchte, sich an den Namen der Stadt zu erinnern oder das Gesicht wieder einzufangen, das er zuvor gesehen hatte. Es schien furchtbar wichtig zu sein, doch er sah nur das Gesicht seiner Mutter.
„Hugh ist aufgewacht!“, rief sie.
Hugh. Erleichterung stieg in ihm auf. Natürlich, sein Name lautete Hugh, und er war gerade aus einem riesigen schwarzen Loch aufgetaucht. Das Letzte, das er erinnerte, war eiskaltes Wasser, das über ihm zusammengeschlagen war. Er war mit seinem Freund Rick beim Segeln gekentert. „Wie geht es Rick?“, fragte er besorgt.
„Oh, Gott sei Dank!“, rief seine Mutter. „Er kann sprechen!“ Sie drückte seine Hand. „Wir reden später über Rick.“
Irgendetwas stimmte nicht, doch er konnte nicht ergründen, was es war. Es war ihm unmöglich, sich zu konzentrieren. Was immer ihn plagte, er konnte sich momentan nicht damit auseinander setzen, und er musste es auch nicht. Er war in Sicherheit an einem Ort, an den er gehörte.
Wo fühlte ein Arzt sich schließlich mehr zu Hause als in einem Krankenhaus?
Meg saß mit ihrem Vater am Küchentisch in seiner Wohnung in Santa Barbara und trank Tee. Sie zitterte noch immer.
Die Ereignisse des Tages erschienen ihr wie ein grauenhafter Albtraum. Sie hatte die Polizei alarmiert und endlose Fragen beantworten und sich Spekulationen über Joes Verschwinden anhören müssen.
„Jemand muss ihn gezwungen haben“, hatte sie immer wieder gesagt, doch es hatten sich keine Zeugen gefunden.
Zack O’Flaherty hatte sie auf ihren Anruf hin abgeholt, ihr ungeschickt mit Dana geholfen und taktvoll seinen Verdacht für sich behalten, den er hegen musste. Dafür war sie ihm äußerst dankbar.
Das Klingeln des Telefons erschreckte sie dermaßen, dass sie ihren Tee verschüttete.
Mit seinem schmalen Gesicht und den geschwollenen Tränensäcken sah Zack älter aus als seine fünfundvierzig Jahre, aber er ging mit sicherem Schritt zum Telefon.
Mit angehaltenem Atem lauschte Meg. Hatte man Joes Leiche gefunden? Sie blickte zu Dana, die in einer Wiege schlief, die eine Nachbarin ihr geborgt hatte. Musste ihre Tochter ohne Vater aufwachsen?
„Aha. Ich verstehe … Wo? … Ja, danke, Officer.“ Er legte den Hörer auf.
Er ist nicht tot, durchfuhr es sie, und sie atmete erleichtert auf.
„Man hat dein Auto an einem Bahnhof in Los Angeles gefunden.“ Zack setzte sich wieder an den Tisch. „Es ist geplündert worden, aber das könnte passiert sein, nachdem es abgestellt wurde.“
„An einem Bahnhof?“, hakte sie nach und versuchte, der Information einen nützlichen Hinweis zu entnehmen.
„Man hat kein Blut im Auto oder in der Umgebung gefunden. Und keine Leichen oder Verletzte. Vorläufig gilt Joe als vermisst.“
„Er wurde gekidnappt“, beharrte Meg.
„Das bezweifle ich nicht, Honey.“ Er legte eine Hand auf ihre. „Er hatte keinen Grund zu verschwinden.“
„Er ist nicht freiwillig verschwunden, Dad. Das weiß ich genau.“
„Sicher hast du recht.“
Meg wusste, dass er nicht sicher sein konnte. Niemand außer ihr konnte sicher sein, denn niemand kannte Joe so gut.
Ein Gurgeln aus der Wiege erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie ging hinüber. Dana zappelte unter der Decke, seufzte dann und schlief wieder ein.
Wo immer Joe sein mochte, was immer ihm zugestoßen war, seine Bindung zu Frau und Kind würde ihn wieder nach Hause führen. Davon war Meg felsenfest überzeugt. Und sie würde die Suche nach ihm niemals aufgeben, wie lange es auch dauern sollte.
Durch die getönten Fensterscheiben des Bürohochhauses blickte Dr. Hugh Menton hinab auf die sonnenüberfluteten Straßen von Los Angeles. Teure Wagen fuhren zwischen gepflegten modernen Gebäuden vorüber.
Es hätte ihn begeistern sollen, dass er und sein Bruder sich eine Praxis in einem derart noblen Viertel leisten konnten. Früher einmal hatte es all seine Wünsche erfüllt, Kinderarzt von Berühmtheiten und reichen Geschäftsleuten zu sein.
Doch obwohl er sich äußerlich völlig von dem noch immer geheimnisvollen Verlust der anderthalb Jahre seines Lebens erholt und seine medizinischen Fähigkeiten nicht verlernt hatte, fühlte er sich nicht wohl dabei, die Reichen zu versorgen.
Enttäuscht warf er die Morgenpost auf seinen glänzenden Eichenschreibtisch. Noch immer hatte er keine Antwort auf seine Bewerbung zur Teilnahme an einem Forschungsprojekt mit Kindern aus sozial schwachen Familien erhalten, obwohl es im nächsten Monat, im Oktober, beginnen sollte.
„Du hast den Brief nicht bekommen, weil ich deine Post gestohlen und verbrannt habe“, bemerkte eine sonore Stimme vom Korridor her.
Mit einem Grinsen blickte Hugh auf. „Sicherlich.“
„Du wirst es bald leid sein, Dr. Schweitzer zu spielen“, warnte sein Bruder. Trotz seines neckischen Tons lag ein Anflug von Sorge in seinen grünen Augen.
Obwohl Andrew mit siebenunddreißig nur zwei Jahre älter war als Hugh, spielte er unwiderruflich die Rolle des Seniorpartners. Das mochte daran liegen, dass er mit seiner stämmigen Gestalt und dem braunen Haar eher ihrem verstorbenen Vater ähnelte, dem legendären Arzt Frederick Menton. Außerdem hatte er während Hughs Abwesenheit die gesamte Verantwortung für die Gemeinschaftspraxis tragen müssen.
„Du weißt hoffentlich, dass ich bei dir bleiben würde, wenn ich könnte. Aber ich bin so rastlos, seit ich zurück bin.“
„Das habe ich gemerkt. Aber du solltest diesen Impulsen nicht nachgeben. Das sieht dir gar nicht ähnlich. Du hast das schöne Leben früher immer so genossen.“
Das traf durchaus zu. Hugh konnte sich das Gefühl der Unvollkommenheit selbst nicht erklären.
Soweit man wusste, hatte er jene anderthalb Jahre als Gammler verbracht. Er war auf See vor Oceanside verschwunden und fast achtzehn Monate später bewusstlos in Los Angeles aufgefunden worden, mit einer frischen Kopfverletzung und ohne Ausweise. Es gab keinerlei Hinweise auf seinen Aufenthalt dazwischen.
Hugh wusste nur mit Sicherheit, dass ihn die Erfahrung verändert hatte. Einst nach Prestige und materiellem Erfolg strebend, ersehnte er sich nun, etwas Bedeutungsvolles aus seinem Leben zu machen.
„Die Angelegenheit könnte eine akademische Frage sein. Ich habe nichts von dem Projekt gehört. Also sieht es nicht so aus, als würde ich weggehen.“
„Umso besser.“ Andrew blickte zur Uhr. „Kein Wunder, dass Helen uns nicht triezt. Es ist Mittagspause.“
Helen Nguyne war ihre Krankenschwester und hätte sie nie so lange plaudern lassen, wenn Patienten gewartet hätten. Doch zwischen zwölf und ein Uhr wurden keine Termine gelegt.
„Wohin wollen wir gehen?“, fragte Hugh. Jeden Mittwoch lunchten sie zusammen in einem der zahlreichen Restaurants in der Gegend.
Chelsea Byers, die Sprechstundenhilfe, tauchte hinter Andrew auf. „Entschuldigung. Da ist eine Frau ohne Termin.“
„Geben Sie ihr einen für später“, sagte Andrew.
„Wir sind heute Nachmittag voll, und sie sagt, dass sie von weit her kommt. Ihre kleine Tochter hat eine Ohrentzündung.“
„Wenn sie nach der Mittagspause wiederkommt, schiebe ich sie ein“, erklärte Hugh. „War sie schon mal hier?“
Chelsea schüttelte den Kopf. „Sie hat auch keine Krankenversicherung.“
„Herrje, wir sind doch nicht die Wohlfahrt!“, fauchte Andrew. „Wo ist Sandy?“ Sandy Craven war als Praxisleiterin dafür verantwortlich, sich um die Begleichung von Rechnungen zu kümmern.
„Sie ist schon zu Tisch gegangen. Die Frau hat gesagt, dass sie bar bezahlt“, erwiderte Chelsea. „Ich sage ihr, dass sie die Bezahlung mit Sandy und einen Termin vereinbaren soll.“
Verärgerung über Andrews anmaßendes Verhalten veranlasste Hugh zu entgegnen: „Schon gut. Ich empfange sie jetzt.“ Es war höchst ungewöhnlich und eine Bürde für Helen, da sie die Krankengeschichte des Kindes aufnehmen musste, doch Ohrentzündungen waren schmerzhaft, und er wollte nicht, dass die Kleine unnötig litt.
„Geh du nur ohne mich“, sagte er zu Andrew.
„Ich habe keinen Hunger.“ Obwohl Andrew verärgert war, gab er sich ohne weiteren Einwand geschlagen.
„Es tut mir leid, dass ich dir einen Teil der Mittagspause gestohlen habe“, sagte Hugh zu Helen, als sie ihm einige Minuten später ein Krankenblatt reichte. „Du brauchst nicht länger zu warten.“
„Aber vielleicht brauchst du mich.“
„Danke, aber ich komme schon zurecht.“
Nachdem sie gegangen war, studierte er die Karteikarte. Das Kind hieß Dana Avery und war zwei Jahre alt. Bisher waren weder operative Eingriffe erfolgt noch größere medizinische Probleme aufgetreten. Die Mutter hieß Meg, der Vater Joe.
Joe Avery. Es klang irgendwie vertraut, aber er konnte den Mann nicht einordnen.
Hugh klopfte an die Tür und betrat das Untersuchungszimmer. Ein kleines Mädchen mit leuchtend grünen Augen und roten Haaren saß auf der Pritsche, die Hände im Schoß gefaltet.
Der Anblick der Frau, die danebenstand, beschleunigte seinen Atem. Trotz der abgetragenen Jeans und der schlichten Bluse, trotz der gekräuselten rotbraunen Haare, die zu einem wenig schmeichelhaften Pferdeschwanz gebunden waren, hatte sie etwas Fesselndes an sich.
Auch sie starrte ihn an.
„Hallo, ich bin Dr. Menton.“ Hugh reichte ihr die Hand, die sie benommen schüttelte.
Er wollte sie fragen, warum sie so aufgewühlt wirkte, aber es erschien ihm zu aufdringlich. „Du musst Dana sein“, sagte er zu dem Mädchen. „Welches Ohr tut denn weh?“
Sie deutete auf das linke. Sie hatte zarte Züge und einen ebenso wachsamen Ausdruck wie ihre Mutter. „Bist du Daddy?“, fragte sie, als er ihr Ohr untersuchte.
„Dana!“, tadelte Meg.
„Mommy, du hast doch gesagt …“
„Nein, Honey. Es tut mir leid, Doktor.“
„Schon gut. Kleinkinder sehen jeden männlichen Erwachsenen als einen Daddy an. Es ist ein Gattungsbegriff.“
„Gattungsbegriff …“ Nervös strich sie sich eine Locke aus dem Gesicht. „So hast du früher immer gesprochen, mit diesen formellen Ausdrücken, und ich konnte es mir nicht erklären.“
„Wie bitte?“
„Ich meine, dass jemand, den ich kenne, so redet.“
„Ihre Tochter hat wirklich eine Ohrentzündung.“ Er griff nach seinem Rezeptblock. „Ich werde ihr Antibiotika verschreiben. Sorgen Sie dafür, dass sie die Tabletten regelmäßig einnimmt, und bringen Sie sie in zwei Wochen zur Nachuntersuchung. Sie können auch zu Ihrem Kinderarzt gehen, wenn Sie möchten.“
Meg presste die Lippen zusammen, während sie den Zettel entgegennahm.
„Falls Sie sich die Rezeptgebühr nicht leisten können, kann ich Ihnen kostenlose Proben geben.“
Rasch schüttelte sie den Kopf. „Ich bezahle meine Rechnungen.“
„Es tut mir leid.“ Er hatte ihren Stolz nicht verletzen wollen und ahnte instinktiv, dass sie davon eine gehörige Portion besaß.
Überhaupt hatte er das Gefühl, sehr viel von ihr zu wissen. Dass ihr Lachen ansteckend wirkte. Dass sie ein weiches Herz für Freunde in Not hatte, aber stahlhart zu jedem war, der sie auszunutzen versuchte.
„Sie erkennen mich wirklich nicht, oder?“, fragte sie.
„Nicht aus dem Stegreif. Kennen wir uns denn?“
„Ich weiß nicht.“ Sie zögerte und trat unsicher von einem Fuß auf den anderen.
„Hat Sie jemand zu mir geschickt?“
„Nein. Doch. Mein Bruder Tim hat Ihr Foto in der Zeitung gesehen. Er ist LKW-Fahrer und kommt gelegentlich hier durch.“
Hugh und Andrew waren kürzlich bei einem Ärztekongress fotografiert worden. Das erklärte jedoch nicht, warum diese Frau ihn aufgesucht hatte. Er blickte auf das Krankenblatt. „Sie leben in Mercy Canyon. Wo liegt das?“
„San Diego County. Es ist verblüffend. Sie sehen aus wie er, und Sie reden auch so.“
Ein unliebsamer Verdacht stieg in Hugh auf. „Wie wer?“
Obwohl in dem letzten Artikel sein früheres Verschwinden nicht erwähnt wurde, hatten die Zeitungen damals darüber berichtet, und das hatte zu unglückseligen Betrugsversuchen geführt.
Angeblich hatte Hugh bei einem Mann große Spielschulden und war einem Ehepaar Hunderte von Dollar Miete schuldig. Keiner konnte Zeugen oder unterschriebene Dokumente vorbringen, und die Androhung polizeilicher Ermittlungen hatte den Forderungen ein Ende gesetzt.
Wollte diese Frau ihm nun auch Geld entlocken? Sie schien nicht der Typ zu sein, aber vielleicht war sie von jemandem geschickt worden.
Meg hob ihre Tochter auf den Arm. „Sie können Dana nicht vergessen haben. Sie haben sie zur Welt gebracht.“
„Ich habe seit meiner Assistenzzeit kein Baby mehr entbunden.“
„Die Sanitäter haben gesagt, Sie hätten es so gut wie ein Arzt gemacht, und das konnte ich mir nicht erklären, weil Sie nicht mal die High School abgeschlossen haben. Sie haben wie ich in einem Restaurant gearbeitet. Dann sind Sie mit meinem Auto verschwunden. Sie haben uns an einer Tankstelle zurückgelassen. Erinnern Sie sich nicht?“
„Mrs. Avery, Sie sind offensichtlich anderer Überzeugung und sehr aufgeregt“, sagte Hugh sanft, „aber ich habe Sie noch nie gesehen.“
„Je länger ich mit Ihnen rede, umso sicherer bin ich, dass Sie mein Mann sind. Moment! Ich kann es sogar beweisen.“ Sie setzte Dana auf einen Stuhl und kramte in ihrer Handtasche.
Andrew spähte zur Tür herein und fragte: „Was ist los?“
„Er ist mein Ehemann“, erklärte Meg.
Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch. „Sie glauben, mein Bruder sei Ihr Ehemann?“
Hugh verspürte Mitgefühl mit der Frau. Sie sprach so aufrichtig und eindringlich. Und das Kind sah ihm ähnlich, vor allem die ungewöhnlich grünen Augen.
„Da.“ Meg drückte ihm ein Foto in die Hand.
Es war ein Schnappschuss von ihr und einem Mann. Beide lachten in die Kamera. „Er sieht tatsächlich aus wie ich.“ Er gab das Foto an Andrew weiter.
„Fotos können manipuliert werden. Außerdem wollen Sie mir doch wohl nicht einreden, dass Sie einen Mann geheiratet haben, ohne zu wissen, wer er ist.“
„Ich wusste es oder glaubte es zu wissen. Joe stammt aus Tennessee. Gleich nach seiner Ankunft in Kalifornien ist er in Oceanside vom Pier gefallen und beinahe ertrunken, und er hat sein Gedächtnis verloren. Er hatte einen Ausweis, aber …“ Sie hielt verwirrt inne.
„Aber was?“, hakte Hugh nach.
„Na ja, nach seinem Verschwinden fielen mir kleine Dinge auf. Dass zum Beispiel das Foto in seinem Führerschein ihm nicht sehr ähnlich sah. Und dass eine falsche Körpergröße drinstand.“
Andrew starrte sie zornig an. „Sie glauben also, dass mein Bruder, ein angesehener Kinderarzt, jemandes Papiere gestohlen und Sie geheiratet hat und dann geflohen ist?“
„Moment mal“, warf Hugh ein. „Niemand weiß, was ich getan habe, während ich an Amnesie litt. Ich war eine ganze Weile vermisst.“
„Wann?“, fragte Meg.
„Ich bin vor zwei Jahren wieder aufgetaucht.“