Unser sinnliches Geheimnis

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Nie hätte Mycah gedacht, dass sie dem attraktiven Fremden nach der leidenschaftlichen gemeinsamen Nacht jemals wieder begegnen würde. Doch jetzt steht Achilles vor ihr – als ihr neuer Boss! Die Erinnerung an seine wundervollen, aufregenden Küsse ist noch lebendig, und es dauert nicht lange, bis die Versuchung zu groß wird. Mycah stürzt sich in eine heimliche Affäre mit Achilles und genießt die sinnlichen Nächte mit ihm. Bis etwas geschieht, das es ihnen unmöglich macht, die Beziehung noch länger geheim zu halten …


  • Erscheinungstag 01.02.2022
  • Bandnummer 2223
  • ISBN / Artikelnummer 0803222223
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

1. KAPITEL

Achilles Farrell war in seinen dreißig Lebensjahren schon allerhand genannt worden.

Wichser.

Knacki.

Bastard.

Letzteres nur hinter seinem Rücken, weil die meisten Menschen zögerten, sich mit einem eins dreiundneunzig großen Hundert-Kilo-Mann anzulegen.

Aber noch nie war er Erbe genannt worden.

Oder Bruder.

Im Laufe eines Nachmittags war er zu beidem geworden.

Nach einem derartigen Schock brauchte er erst einmal Alkohol. Viel Alkohol.

Achilles starrte auf die Tafel, auf der in leuchtend roten Buchstaben die verschiedenen Biersorten vom Fass angezeigt wurden. Daneben hing ein Poster, das stolz verkündete: Dieser Pub ist das Beste und das Schrecklichste, was Beacon Hill, Massachusetts, zu bieten hat. Blieb nur zu hoffen, dass das nicht auch für die Qualität der Getränke galt.

Es war schon ein paar Stunden her, aber er konnte immer noch fühlen, wie die herabsetzenden Blicke der feinen Bostoner Gesellschaft auf seiner Haut brannten wie ein Heer von Ameisen. Das Gefühl verstärkte seine Gier nach einem perfekt gezapften Guinness, gefolgt von einem hochprozentigen Whiskey. Fast hätte er die Barfrau gleich um eine zweite Runde gebeten, obwohl er noch nicht einmal den ersten Drink bestellt hatte.

„Was kann ich Ihnen bringen?“ Die junge Frau lehnte sich gegen die verschrammte Bar. Trotz der bunten Tattoos auf ihren Armen schien sie nicht alt genug, um selbst den Alkohol trinken zu dürfen, den sie ausschenkte.

„Einen Jameson und ein Guinness.“

Sie nickte. „Kommt sofort.“

Erst als sie mit seinen Drinks zurückkam, atmete er tief durch und spürte, wie etwas von der Anspannung in seinen Schultern nachließ. Wenn er diesen irischen Whiskey intus hatte, verschwand vielleicht auch die Kälte in seinen Knochen nach dieser Farce von einer Beerdigung.

Es war gerade einmal drei Tage her, dass er in seinem kleinen Blockhaus gesessen hatte, ganz allein mit seinen Computern. So, wie er es mochte. Dann kam dieser eingeschriebene Brief, der ihn vom Tod des Mannes in Kenntnis setzte, über den seine Mutter nie hatte sprechen wollen, obwohl sie Achilles seinen Familiennamen gegeben hatte. Achilles pfiff auf Testament und Erbe, aber die Neugier auf den Mann, der seine Mutter geschwängert hatte, bewegte ihn, das bereits bezahlte Flugticket anzunehmen und Tausende von Meilen von einer Küste des Landes zur anderen zu reisen.

Seine spontane Entscheidung hatte er in dem Moment bereut, als er die Maschine verließ und die eisige Miene des Chauffeurs sah, den man ihm geschickt hatte. Er hatte geglaubt, die Zeit im Knast hätte ihm impulsive Reaktionen ausgetrieben. Offensichtlich nicht. Und nun zahlte er den Preis für seine spontane Entscheidung, an der Beisetzung seines sogenannten Vaters und an der Verlesung des Testaments teilzunehmen.

Ein Jahr.

Er musste ein ganzes Jahr seines Lebens opfern. Musste in Boston bleiben, mit seinen Halbbrüdern, die er nicht kannte. Ein Unternehmen leiten, von dem er keine Ahnung hatte. Ein Unternehmen, mit dem er nichts zu tun haben wollte.

Das war der Preis, den sein Vater verlangte. Einigten die Brüder sich nicht, sollte das Unternehmen zerschlagen und verkauft werden.

Sogar noch im Grab war Barron Farrell ein Egoist, wie er im Buche stand.

Als Junge hatte Achilles seine Mutter oft gebeten, ihm von seinem Vater zu erzählen und ihn kennenlernen zu dürfen. Sie hatte beides abgelehnt. Damals hatte er ihr Vorwürfe gemacht. Wäre sie noch am Leben, würde er ihr jetzt danken.

Er stützte die Ellenbogen auf die Bar und drückte sich Daumen und Zeigefinger gegen die Augen. Was gäbe er nicht dafür, wieder in Tacoma zu sein, in seinem Blockhaus am Fuß des Kaskadengebirges, das zur pazifischen Küste abfiel. Weit weg vom versnobten Beacon Hill an der Ostküste. Die beiden Orte waren Welten voneinander entfernt, nicht nur geografisch.

Natürlich hatte auch die Hafenstadt Tacoma ihre reiche Oberschicht, aber als Sohn einer Kellnerin hatte er nichts mit diesen Leuten zu tun. Seiner Erfahrung nach war aus dieser Richtung nichts Gutes zu erwarten.

Er musste an die Villa seines Vaters denken: an die Bibliothek mit der absurd hohen Decke, dem Holzfußboden, den Ledermöbeln und dem Kamin, in dem Achilles hätte aufrecht stehen können. An der Seite eine Wendeltreppe und alle Wände bis unter die Decke voller Bücherregale. Nicht nur sein schwarzes Flanellhemd, die verblichenen Jeans und die abgetragenen braunen Stiefel hatten ihn von den anderen Männern im Raum getrennt.

Cain Farrell war sein älterer Bruder. Der Erbe. Der Sohn, den Barron Farrell bei sich behalten und anerkannt hatte. Kenan Rhodes war der jüngste und der zweite uneheliche Sohn neben Achilles. Cain und Kenan gehörten der Bostoner Oberschicht an. Es zeigte sich in allem: im eleganten Schnitt ihrer Anzüge. In der kultivierten Sprache. In ihrem arroganten Auftreten.

Achilles kannte Menschen wie sie. Und er verachtete jeden Einzelnen von ihnen.

Nun waren sie seine Brüder.

Das Leben hatte wirklich eine merkwürdige Art, sich über ihn lustig zu machen.

Wieder einmal.

„Deckel oder zahlen Sie gleich?“ Die Barfrau stellte das frisch gezapfte Bier vor ihn hin. Der Schaum lief perlend über den Rand. Daneben stand das Glas mit dem Whiskey.

Perfekt.

„Deckel.“ Ja, das war erst der Anfang. Der ganze Sinn dieses Barbesuchs bestand darin, Erinnerungen herunterzuspülen. Das würde einige Runden brauchen.

„Dann komme ich wieder vorbei.“

Sie musterte ihn ungeniert. Er war schon in der Highschool auf gut einen Meter fünfundachtzig aufgeschossen und später noch weiter gewachsen. An das unverhohlene Interesse in den Blicken der Frauen hatte er sich gewöhnt. Er ging gern darauf ein. Nur eines war noch besser, als sich im Alkohol zu verlieren: heißer, wilder Sex.

Seine Größe, seine Statur und seine blaugrauen Augen – das waren die einzigen Dinge, die sein Erzeuger ihm vermacht hatte, und die Frauen schienen darauf zu stehen. Er nahm das Glas mit dem Whiskey und leerte es in einem Zug. Die Mundwinkel der brünetten Kellnerin hoben sich leicht, und ihr Blick hätte einladender nicht sein können.

„Sagen Sie Bescheid, falls Sie etwas essen möchten. So als Grundlage für den Alkohol. Ich meine, falls Sie später noch was vorhaben …“ Sie lächelte vielsagend, bevor sie zum anderen Ende der Bar verschwand.

„Hmmm. Sehr diskret“, sagte eine Frauenstimme.

Und was für eine Stimme!

Wie ein knisterndes Feuer im Kamin.

Wie Fingernägel auf einer Tafel.

Seidig und sexy wie nackte Haut auf nackter Haut.

Schrill wie ein Becken, das direkt neben seinem Ohr angeschlagen wurde.

Achilles wollte sie und auch wieder nicht.

Etwas warnte ihn. Er sollte die Drinks bezahlen und so schnell wie möglich verschwinden.

Der impulsive, selbstzerstörerische Drang, der ihn nach Massachusetts gebracht hatte, schien noch wirksam zu sein, denn er schlug die innere Warnung in den Wind. Langsam drehte er sich um.

Großer Gott!

Der Impuls zur Selbsterhaltung war richtig gewesen.

Diese Frau war alles, was er für gewöhnlich mied.

Attraktiv. Verwöhnt. Reich. Er musste nicht das Preisschild an dem dunkelroten Hosenanzug sehen, der ihre üppigen Kurven betonte, um zu wissen, dass er mehr gekostet hatte als all sein Gepäck – einschließlich des Koffers.

Ein trojanisches Pferd.

Genau das war sie.

Rein äußerlich erschien sie vollkommen harmlos, aber er wusste, dass sich darunter ein Virus verbarg, der nur darauf wartete, zu infizieren und zu zerstören.

In seinem Job als Software-Entwickler hatte er mehr als genug mit Viren zu tun. Als er sich einmal mit einer Frau wie ihr eingelassen hatte, hatte er ihr Gift auch im übertragenen Sinne zu spüren bekommen.

Die Frau musterte ihn unverhohlen. Sein Puls ging schneller, und er spürte, wie seine Erregung wuchs. Virus oder nicht – es schien seinem Körper vollkommen egal.

Sie hob eine schlanke Hand und winkte die Bedienung herbei. Der Zauber wirkte wie immer bei Menschen ihrer Klasse: Die Barfrau wandte sich von dem Gast ab, mit dem sie gerade sprach, und kam prompt herüber.

Sie streifte Achilles mit einem Blick, bevor sie sich an die Frau neben ihm wandte: „Was kann ich Ihnen bringen?“

„Ich nehme …“ Sie kniff die Augen zusammen und tippte sich mit einem hellrosa lackierten Fingernagel an die etwas zu volle Unterlippe: „Ich nehme einen Bacon-Cheeseburger mit einer Extraportion Zwiebelringe. Auch den Burger bitte extragroß. Und ein Budweiser.“

Wow!

Als hätte sie sein stummes Staunen gehört, zog die Frau eine dunkle Augenbraue hoch.

„Hier gibt es die besten Burger und Zwiebelringe in ganz Boston.“ Sie deutete mit dem Kopf auf die Bedienung, die gerade Richtung Küche verschwand. „Die Frau hat recht. Sie sollten etwas essen. Ich empfehle Ihnen einen der Burger oder Fish and Chips. Wollen Sie nicht nüchtern genug bleiben für … später?“

Flirtete sie mit ihm? Ihn damit aufzuziehen, dass er sich für eine Nacht mit einer anderen wappnete, war ja wirklich eine merkwürdige Art, Interesse zu zeigen. Und gleichzeitig scharf. Vielleicht auch beides.

In seiner Hose regte sich etwas, als sie sich eine braune Locke aus dem Gesicht strich.

Definitiv beides.

Genervt von sich selbst nahm er sein Guinness auf und trank in gierigen Schlucken fast das halbe Glas leer, bevor er es auf die Bar zurückstellte. Das kalte Getränk konnte seine Erregung nicht dämpfen. Nicht, wenn ihm gleichzeitig ein Hauch ihres Parfums in die Nase stieg – etwas Moschus mit Spuren von Lavendel, Zeder und noch etwas anderem, das er nicht zu benennen vermochte. Nicht, während sein Blick auf die üppigen Beine und schlanken Fesseln der Frau traf. In jeder Hinsicht zum Anbeißen.

Er sollte sich weder von dem einen noch von dem anderen verführen lassen.

Frauen wie sie … Sie wollten nur das eine von Männern wie ihm. Natürlich hatte er nichts gegen eine Nacht mit wildem, hemmungslosem, unverbindlichem Sex, wohl aber dagegen, im hellen Licht des Morgens nur noch Verachtung zu spüren. Jemandes schmutziges Geheimnis zu sein, war nicht gut für sein Selbstwertgefühl.

Sie seufzte. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sie eine Serviette zu einem winzigen Quadrat faltete.

„Es tut mir leid, ich wollte nicht aufdringlich oder unhöflich sein.“ Sie unterbrach sich, als die Bedienung zurückkam, eine Flasche Bier vor sie hinstellte und diese öffnete.

Die Frau dankte ihr mit einem Lächeln. Achilles wandte den Blick ab, als er erneut das Prickeln der Lust spürte. In seiner Brust. Und tiefer. Grübchen! Natürlich! Markante Wangenknochen, Augen von der Farbe dunkler Schokolade und Lippen, die eine Spur zu breit und vielleicht einen Hauch zu voll waren – das war nicht genug. Sie musste auch noch Grübchen haben.

„Normalerweise bin ich nicht so offen. Es liegt wohl am Jetlag.“ Sie führte das Bier an die Lippen.

Er hätte wegsehen sollen. Hätte nicht so ungeniert zusehen sollen. So … fast schon gierig, wie sich ihre Lippen um die Öffnung der Flasche legten und wie sich ihr Adamsapfel auf und ab bewegte, als sie schluckte. Seine Finger umklammerten das Glas fester. Die Alternative wäre gewesen, etwas zu tun, das mit Sicherheit seinen Rauswurf oder gar eine Verhaftung zur Folge gehabt hätte. Etwas zu tun wie etwa sich vorbeugen und die Hand um diesen eleganten Hals legen, um ihr Schlucken an seiner Handfläche zu spüren. Um die Vibrationen ihrer rauen Stimme zu hören, wenn sie sprach.

Er heftete den Blick auf den Rest des Biers in seinem Glas. „Jetlag – woher?“

Er sah ihre Überraschung nicht, spürte sie aber. „London“, sagte sie. „Ich war geschäftlich dort, und man sollte meinen, nach einer Woche würde ich jetzt sofort mein Bett ansteuern, aber ich kann nicht …“ Sie unterbrach sich. Achilles sah zu ihr hinüber. Sie brachte den Satz nicht zu Ende, sondern trank noch einen Schluck von ihrem Bier. Dann stellte sie die Flasche ab, um sie zu betrachten. Ihre Miene erhellte sich, als sie zu ihm aufsah. „Ich hatte einfach Heißhunger auf einen fettigen Burger und ein Bier in meiner Lieblingsbar.“

Er spürte sofort, wenn jemand log. Das hatte er früh im Leben lernen müssen: Eine Lüge zu erkennen, konnte einen vor den Prügeln des Mannes bewahren, mit dem die eigene Mutter gerade zusammen war.

„Sie haben sich zu mir gesetzt“, sagte er.

Sie nickte. „Stimmt.“

„Sie haben ein Gespräch angefangen.“

Um ihre Mundwinkel herum zuckte es verdächtig, weil das unausgesprochene „ungebeten“ förmlich im Raum stand. „Stimmt auch.“

„Und Sie werden mich nach dem heutigen Abend nie wiedersehen.“

Erneutes Nicken.

„Entweder sagen Sie die Wahrheit, oder Sie halten den Mund, aber kommen Sie mir nicht mit Lügen.“

Sie war sichtlich verblüfft. Und nicht nur sie. Er lebte und arbeitete nicht ohne Grund allein: Er mochte Menschen im Allgemeinen nicht. Und noch weniger mochte er es, mit ihnen zu reden. Als Software-Entwickler arbeitete er mit Algorithmen, Code, machte Testläufe und überprüfte laufende Programme. Herausfordernd, aber letztlich nur Logik. Mathematik.

Keine Gefühle. Kein emotionaler Ballast. Keine Geschichten. Es war unwesentlich, wer warum woher kam.

Menschen brachten meist einen Haufen Gefühle ins Spiel, und daran lag ihm nichts.

Was nicht erklärte, wieso er sich gerade auf ein Gespräch mit Ms. Beacon Hill einließ.

Wieder zeigten sich ihre Grübchen, als ihre Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, bei dem ihm ganz heiß wurde.

„Sie haben recht. Es spricht einiges dafür, nur im Hier und Jetzt zu leben. Es ist ein vorübergehender Zustand, der dadurch nur umso wertvoller wird. Umso aufregender.“ Sie reichte ihm die Hand. „Mycah.“

Nach kurzem Zögern erwiderte Achilles die Geste und atmete tief durch, als er ihre kleine Hand mit seiner großen umfasste. „Achilles.“

„Achilles“, wiederholte sie, und er biss die Zähne zusammen, als sie leicht summte, als ließe sie sich seinen Namen auf der Zunge zergehen. Sie befand ihn für gut. „Der Name gefällt mir. Also, Achilles.“ Sie nahm ihre Bierflasche und tippte sie zum Anstoßen in seine Richtung. „Auf die Begegnung von Fremden in der Nacht.“

Er stieß sein Glas an ihre Flasche. Unwillkürlich ließ er den Blick von ihrem Hals hinunter zu ihren Brüsten gleiten. Wunderschönen Brüsten, die vielleicht nicht seine Hände füllten, die aber ins Auge fielen. Ihre offene Jacke gewährte ihm einen ungehinderten Blick auf ihren leicht gerundeten Bauch, den er unglaublich sexy fand. Eine Frau, die aß, was ihr schmeckte. Die sich nicht kasteite …

Er kniff die Augen zusammen und musterte sie noch einmal. Ihre Kleidung, die Schuhe mit den roten Sohlen, die sogar ein Mode-Analphabet wie er kannte, das makellose Make-up und die glatte, gepflegte, dunkle Haut – all das verriet Geld.

Aber die Art ihrer Bestellung, die üppigen Kurven, die jedem Mode-Diktat zuwiderliefen, sogar ihre Wahl der Bar und des Biers – all das sprach für eine Frau, die das Leben genoss. Eine Frau, die wusste, dass Genuss nicht zwangsläufig Kontrollverlust bedeutete.

Wie es wohl wäre, eine solche Frau zur Ekstase zu bringen?

„Auf Fremde in der Nacht.“

Während sie tranken, musste er an Sinatras Strangers in the Night denken. Zwei Fremde, die einander in der Nacht begegneten. Er wurde das Gefühl nicht los, dass der Text prophetischer nicht hätte sein können.

Nur gut, dass er diesen Unsinn nicht glaubte.

2. KAPITEL

„Team Dean oder Team Sam?“ Es ging um die beiden Brüder in der Serie Supernatural.

Achilles hob sein Glas Guinness an den Mund. Aus irgendeinem Grund ertappte Mycah sich dabei, dass sie seine Finger betrachtete. Ehe sie an diesem Abend ihre Lieblingsbar in Beacon Hill betreten hatte, war sie davon ausgegangen, dass sie auf Schultern und Arme stand. In der Hinsicht hatte Achilles einiges zu bieten. Das schwarze Hemd war eine wahre Offenbarung.

Aber seine Finger!

Bisher war sie noch nie so von den Proportionen, der Länge und … Eleganz der Finger eines Mannes fasziniert gewesen. Bis jetzt!

„Dean.“ Seine Antwort riss sie aus ihren Betrachtungen. „Ein naturbegabter Führer und selbstlos. Lassen Sie mich raten.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Sam.“

Sie schnaubte empört. „Das klang ja überhaupt nicht herablassend!“

Er starrte sie an.

„Ja, und?“, fauchte sie. „Sam ist belastbar, muss viele Hindernisse überwinden. War ein Halb-Dämon. Hat seine Seele verloren. Und bei alledem lernte er Disziplin. Er musste sich mit Schuldgefühlen und Reue herumschlagen und lernen, sich selbst zu verzeihen. Und nicht zu vergessen: Er war bereit, sich selbst zu opfern.“

„Sie waren doch nur scharf auf seine Muskeln.“

„Sie waren einfach göttlich, das stimmt.“

Oh, wow. Um seine Mundwinkel zuckte es. Die ganze Zeit über hatte sie Bilder von einem richtigen Lächeln im Kopf gehabt. Sie sehnte sich danach. Dieser Wunsch war nicht in Erfüllung gegangen, aber jedes auch nur angedeutete Lächeln, so wie dieses jetzt, ließ ihr Herz höherschlagen. Absurd, wenn man bedachte, dass sie sich gerade erst getroffen hatten und dass sie ihn nicht wiedersehen würde, sobald sie die Bar verlassen hatten, dennoch …

Ein Gottesgeschenk!

Fettige Burger, ein paar Drinks und mehrere Spielrunden von „Wer ist besser?“ hatten das Eis zwischen ihnen gebrochen. Mycah genoss es. Daran konnte nicht einmal das sechste Vibrieren des Handys in ihrer Tasche etwas ändern – sie hatte sogar mitgezählt.

Jetzt ihren Eltern nachgeben, bei ihnen auftauchen und die perfekt dressierte Tochter spielen? Oder lieber hier mit diesem wortkargen, sexy Typen mit dem langen dunklen Haar und dem durchdringenden Blick flirten?

Es hätte kein Harvard-Studium gebraucht, um diese Entscheidung zu fällen.

In diesem Jahr hatte sie vieles in Frage gestellt – ihre beruflichen Ziele, ihre Beziehungen und sogar die Geleesorte auf ihrem englischen Muffin. Die Entscheidung, ihre sonstige Reserviertheit aufzugeben, um sich mit diesem geheimnisvollen Fremden zu unterhalten, gehörte nicht in diese Reihe. Im Gegenteil: Sie fand, es war eine ihrer besseren Ideen gewesen.

Dabei war seine Miene anfangs abweisend gewesen. Man hätte ihm vielleicht mal sagen sollen, dass es nichts nützte, so volle, sinnliche Lippen aufeinanderzupressen – sie waren immer noch einladend.

„Sie starren mich an.“

Mycah zögerte mit der Bierflasche Nummer drei nur Zentimeter von ihrem Mund entfernt. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, als sie den Blick von seinen Lippen zu seinen blaugrauen Augen hob. Wäre es nicht schon die dritte Flasche gewesen, hätte die Verlegenheit sie vielleicht gebremst, aber der Alkohol ließ sie auf alles pfeifen.

Davon einmal abgesehen: Achilles hatte diese Feststellung nicht so ausgesprochen, wie andere Männer es getan hätten– flirtend, mit der offenen Einladung, ihm zu gestehen, wie scharf sie ihn fand.

Nein, es war einfach eine Feststellung gewesen, so neutral wie sein schwarzes Hemd und die abgewetzten Stiefel. Fast ein Vorwurf. Wieso erregte sie das?

„Stimmt.“ Sie nahm die Herausforderung an. „Wieso irritiert Sie das?“

Er kniff die Augen zusammen. „Ich bin kein Tier im Zoo.“

Sie lehnte sich auf dem Hocker zurück, hielt sich aber an der Bar fest, um nicht die Balance zu verlieren. Sie war schockiert. Verärgert.

Langsam drehte sie sich herum und winkte die Bedienung herbei. Als die junge Frau, die Achilles den ganzen Abend über mit Blicken verschlungen hatte, zu ihnen kam, deutete Mycah auf sein leeres Whiskey-Glas und sein fast ausgetrunkenes Bier. „Noch eine Runde für ihn, bitte. Geht auf mich.“ Sie kam seinem Protest zuvor, indem sie die Hand hob. „Oh, nein, hier geht es um mich, nicht um Sie.“ Sie warf der Frau hinter der Bar ein angespanntes Lächeln zu. „Bitte bringen Sie die Drinks.“

„Was zum Teufel soll das?“, knurrte Achilles unwirsch.

Sie meinte geradezu zu spüren, wie seine tiefe Stimme über ihre Haut glitt, über ihren aufgerichteten Brustwarzen vibrierte und noch viel tiefer ein Echo fand. Seine Stimme löste schon den ganzen Abend ein Chaos an Reaktionen in ihr aus. Auch wenn sie sich angegriffen fühlte von seiner Bemerkung, schien ihr Körper davon unbeirrt.

„Moment mal …“ Sie wartete, bis er einen Whiskey und ein frisches Guinness vor sich stehen hatte. Erst dann beugte sie sich vor und wich seinem Blick nicht aus, als sie ganz nüchtern fragte: „War sie schwarz?“ Als er sie nur verwirrt und wortlos ansah, setzte sie hinzu: „Die Frau, für die Sie mich hier büßen lassen – war sie schwarz?“

Seine abweisende Miene hätte manchen in die Flucht geschlagen, aber nicht sie. „Was soll der Blödsinn? Halten Sie mich für einen Rassisten?“

Sie schlug die Beine übereinander und legte den Kopf auf die Seite. „Wer sich den Schuh anzieht, dem passt er …“

„Hören Sie mal, ich weiß, die Beleuchtung hier ist schwach, aber diese Haut ist braun. Meine Mutter war aus Hawaii.“

Natürlich. Sie hatte es sich schon gedacht. Hawaii oder Polynesien. Man sah es an seiner hohen Stirn, an den ausgeprägten Wangenknochen, den Lippen, dem dichten, schwarzen Haar und der von Sonne und Wind geküssten Haut.

Im Moment konzentrierte sie sich allerdings auf etwas anderes.

War.

Dieses war ließ Trauer durchscheinen, während die Worte Mutter und Hawaii von Stolz erfüllt waren.

„Und Ihr Vater?“

Ein Schatten glitt über seine Züge. „Den kann man vergessen.“

Sie nickte. Das konnte sie nur zu gut nachempfinden. Dieses Gefühl war stärker als alles: ethnische Herkunft, Religion, Glaube und Kultur.

„Sie sind kein Frauenhasser. Oder zumindest sind Sie nicht gegen alle Frauen.“ Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der Barfrau. „Als ich hereinkam, ging es ja zwischen Ihnen und ihr mit Blicken heiß hin und her. Es muss also an mir liegen, dass Sie gleich voreingenommen waren, als ich mich hierhergesetzt und den Mund aufgemacht habe.“

Er sagte nichts, kippte den Whiskey aber in einem Zug hinunter.

„Die Tattoos?“ Mycah trommelte nachdenklich mit den Fingernägeln auf der Bar, während sie sich hin und her wiegte und seine ausdruckslose Miene musterte. „Ich könnte unter diesem Hosenanzug ja auch tätowiert sein …“ Plötzlich dämmerte es ihr, und sie setzte sich auf. „Das ist es, oder? Der Hosenanzug. Zu teuer. Sie denken, ich mache mir einen Spaß daraus, mich unter das gemeine Volk zu mischen? Halten Sie mich für arrogant?“

Er schwieg immer noch. Bestätigte ihre Vermutung nicht.

Aber er stritt sie auch nicht ab.

Das tat weh. Mehr als nachvollziehbar, wenn man bedachte, dass er ein Fremder für sie war und sie nicht einmal seinen ganzen Namen kannte.

„Sie kennen mich doch gar nicht“, flüsterte sie.

„Und wieso sind Sie dann hier?“ Er stützte einen Arm auf die Bar und beugte sich zu ihr, bis sie einen Ring von hellerem Blau um seine dunkle Iris erkennen konnte. Bis sie einen Hauch von Tanne und frischem Regen unter dem Biergeruch wahrnahm. „Und lügen Sie mich nicht wieder an“, befahl er in einem leisen Ton, den ein weniger aufmerksamer Mensch als Freundlichkeit gedeutet hätte. Und dieser Mensch wäre ein Idiot.

Sie war versucht, ihn zum Teufel zu schicken. Sie schuldete ihm keine Antworten, weder wahr noch gelogen, aber etwas in ihr drängte sie danach, ihm seinen Irrtum zu beweisen. Sie musste etwas mit ihm teilen, das sie sonst mit niemandem teilen konnte. Obwohl sie ihn nie wiedersehen würde. Oder vielleicht auch gerade deshalb. Er konnte dieses Wissen nicht gegen sie verwenden. Es ihr nicht um die Ohren schlagen. Sie nicht undankbar nennen oder ihr mangelnde Loyalität vorwerfen.

Sie wollte ehrlich sein. Ein einziges Mal in ihrem Leben wollte sie mit jemandem – und mit sich selbst – ehrlich sein.

„Familie.“ Das Bekenntnis kam ihr über die Lippen, ehe sie es zurückhalten konnte. „Ich verstecke mich vor meiner Familie.“

Sie hätte ihm so viel mehr sagen können. Zum Beispiel, dass seit ihrer Landung auf dem Logan International Airport ihr Handy pausenlos klingelte. Es waren ihre Eltern, die zunehmend wütendere Nachrichten auf ihrer Mailbox hinterließen und darauf bestanden, dass sie nach Hause kam, um an einer Dinnerparty teilzunehmen. Es spielte keine Rolle, dass sie eine einwöchige Geschäftsreise und einen achtstündigen Flug hinter sich hatte. Es gab kein „Willkommen zu Hause“ für sie. Kein „Wir haben dich vermisst“. Nur: „Komm sofort nach Hause, wir haben Gäste. Janet Holloway bringt ihren Sohn mit, der in der Vermögensberatung tätig ist. Sei vorzeigbar, und um Gottes willen langweile niemanden mit Geschichten von deinem Job.“

Sie hielt es durchaus für möglich, dass ihre Eltern den Butler – so etwas gab es bei ihnen noch! – zu ihrem Haus schickten, um sie zu holen. Daher war sie in die Bar geflohen.

Mycah sagte nichts davon. Beließ es nur dabei, dass sie sich vor ihrer Familie versteckte. Das allein war schon unglaublich … traurig.

Kaum hatte sie es ausgesprochen, hätte sie es am liebsten zurückgenommen.

Achilles’ Gesichtsausdruck blieb so unbewegt wie zuvor, aber seine Augen … Sein Blick spiegelte ein Gefühl, das über Mitgefühl hinausging.

„Ich auch.“

Sie war schockiert. Es waren nur zwei Worte, aber sie erklärten seinen Blick. Zeigten plötzlich eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen: Leid. Und so etwas wie Dankbarkeit.

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